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Sechs Menschen auf der Flucht vor dem Weltuntergang: Sie fliehen aus dem sterbenden, berstenden Wien - werden sie die rettende Burg Spaldenstein erreichen? Wird morgen wieder ein Erdentag sein?
Am 16. April 1986 beginnt das große Abenteuer, der Kampf ums Überleben im Chaos einer Stunde Null, das todbringend um die Erde rast.
Während Kontinente zu wandern beginnen, andere versinken, während tödliche Strahlen der Sonne und Kälte-Einbrüche aus dem Kosmos Fauna und Flora zerstören oder mutieren lassen, erwartet die sechs auf ihrer kleinen Insel im Meer der Vernichtung ein modernes Robinson-Schicksal inmitten einer Umwelt voller Überraschungen. Anders als dem historischen Vorläufer stehen ihnen dabei auch Mittel und Möglichkeiten der untergegangenen hochtechnisierten Zivilisation zur Verfügung; sie bieten ihnen unter anderem die Chance, mit Überlebenden in Verbindung zu treten; daraus schöpfen sie die Hoffnung, die Basis für eine Fortexistenz des Menschen zu gewinnen...
Der Roman 1986 - Unternehmen Stunde Null des Schriftstellers und Wissenschaftsjournalisten Gerhard R. Steinhäuser (geboren im September 1920 in Brünn, Tschechoslowakei; gestorben im September 1989) gilt als moderner Klassiker der deutschsprachigen Science-Fiction-Literatur und wurde erstmals im Jahre 1973 veröffentlicht. Der Roman überzeugt durch seine exzellent recherchierten und aufbereiteten Fakten wie die Glaubwürdigkeit des gesamten Szenarios, das inmitten Europas angesiedelt ist - weder Wissenschaft noch Abenteuer kommen dabei zu kurz. Unternehmen Stunde Null ist in Zeiten von Klimawandel und ungebrochener Umweltzerstörung heute - im Jahr 2020 - auf geradezu erschreckende Weise aktueller denn je.
Der Roman erscheint als durchgesehene Neuausgabe in der Reihe APEX SCIENCE-FICTION-KLASSIKER.
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Veröffentlichungsjahr: 2020
GERHARD R. STEINHÄUSER
1986 -
Unternehmen Stunde Null
Roman
Apex Science-Fiction-Klassiker, Band 63
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
1986 - UNTERNEHMEN STUNDE NULL
Die Insel der letzten Zuflucht
Wettlauf mit dem Weltuntergang
Wenn das Magnetfeld zusammenbricht
Ein Mensch kommt aus dem Nichts
Ein totes Mammut und ein Luftballon
»Tod - Tod!«, schrien die Wahnsinnigen
Robinsons lernen überleben
Ein Horror-Film wird Wirklichkeit
Doch niemand wollte die Zeichen sehen
Pierre Blanchards Flug
Requiem für einen Kontinent
Nylon, Schnaps und tote Mädchen
Ein leerer Zug steht auf dem Geleise
Das Geheimnis der Wirbeltrichter
Stützpunkt »Cato I« gibt Antwort
Vulkane, Webstühle und eine neue Geographie
Aktion Ultima Thula ist angelaufen
Kerosin für einen Start...
Da, wo einst die Alpen standen
Ein Computer schaltet auf Selbstmord
Krokodile retten Spaldenstein
Verzweiflungsflug an die Donau
Auf der Spur der Nibelungen
Ein Dampfschiff strandet in Carnuntum
Morituri te salutant...
Und auf der Wiese saß das Monstrum
Der König der letzten Zigeuner
Da schoss ich auf den Menschenfresser
Flammen über der Stadt der Toten
Die Rückkehr der Franz Joseph
Abschied am Leopoldsberg
Bilanz einer verlorenen Epoche
Dort, wo einst der Nordpol lag
Zwei Gänse und ein Hoffnungsschimmer
Besuch aus der anderen Zeit
Fracht für Podkamennaja Tunguska
Die letzten Tage von Paris
Programm für eine neue Welt
Alles, was übrig bleibt...
Sechs Menschen auf der Flucht vor dem Weltuntergang: Sie fliehen aus dem sterbenden, berstenden Wien - werden sie die rettende Burg Spaldenstein erreichen? Wird morgen wieder ein Erdentag sein?
Am 16. April 1986 beginnt das große Abenteuer, der Kampf ums Überleben im Chaos einer Stunde Null, das todbringend um die Erde rast.
Während Kontinente zu wandern beginnen, andere versinken, während tödliche Strahlen der Sonne und Kälte-Einbrüche aus dem Kosmos Fauna und Flora zerstören oder mutieren lassen, erwartet die sechs auf ihrer kleinen Insel im Meer der Vernichtung ein modernes Robinson-Schicksal inmitten einer Umwelt voller Überraschungen. Anders als dem historischen Vorläufer stehen ihnen dabei auch Mittel und Möglichkeiten der untergegangenen hochtechnisierten Zivilisation zur Verfügung; sie bieten ihnen unter anderem die Chance, mit Überlebenden in Verbindung zu treten; daraus schöpfen sie die Hoffnung, die Basis für eine Fortexistenz des Menschen zu gewinnen...
Der Roman 1986 - Unternehmen Stunde Null des Schriftstellers und Wissenschaftsjournalisten Gerhard R. Steinhäuser (geboren im September 1920 in Brünn, Tschechoslowakei; gestorben im September 1989) gilt als moderner Klassiker der deutschsprachigen Science-Fiction-Literatur und wurde erstmals im Jahre 1973 veröffentlicht. Der Roman überzeugt durch seine exzellent recherchierten und aufbereiteten Fakten wie die Glaubwürdigkeit des gesamten Szenarios, das inmitten Europas angesiedelt ist - weder Wissenschaft noch Abenteuer kommen dabei zu kurz. Unternehmen Stunde Null ist in Zeiten von Klimawandel und ungebrochener Umweltzerstörung heute - im Jahr 2020 - auf geradezu erschreckende Weise aktueller denn je.
Der Romanerscheint als durchgesehene Neuausgabe in der Reihe APEX SCIENCE-FICTION-KLASSIKER.
»Wenn ich die derzeitige Situation auf der Erde betrachte, drängt sich mir der Gedanke auf, dass die Menschheit in bezug auf die biologischen Vorgänge auf diesem Planeten viel Ähnlichkeit mit einer Krebserkrankung hat: sie wuchert hemmungslos, bildet überall Tochtergeschwüre (Metastasen) und vergiftet den gesamten Organismus.
In einem solchen Fall würde jeder Human-Arzt zu einer Radikaloperation raten. Falls man der Natur so etwas wie ein Gesetz oder Vernunft zubilligen will (was angesichts ihrer Gesamtentwicklung - der Evolution - nur logisch wäre), wäre es also für die Natur an der Zeit, zu einer solchen Operation zu schreiten: zur Ausmerzung der sie tödlich bedrohenden Krankheit. Das Messer würde dann zwangsläufig nicht nur die erkrankten Teile, sondern auch viele gesunde mitnehmen. Es wäre eine Operation auf Leben und Tod...«
(Notiz des Verfassers aus dem Jahre 1973)
Burg Spaldenstein, 20. September 1987
Gestern hätte ich Geburtstag gehabt - den siebenundfünfzigsten. Aber wer rechnet noch so; nach unserer neuen Zeitrechnung bin ich (wie die anderen hier auch) erst ein Jahr, fünf Monate und vier Tage alt. Am 16. April vorigen Jahres hat es begonnen, als wir mit drei Wagen und sieben Menschen losfuhren. Hierher in die Wälder, zu unserer Burg. Wenn ich mich recht erinnere, war es auch ein 16. April - im Jahre 1972 -, als es im Osten Österreichs das erste starke Erdbeben seit Menschengedenken gab. An diesem Tag ist in mir der Plan entstanden, dem wir später den Namen Unternehmen Stunde Null, gaben.
Ungefähr drei Jahre danach habe ich dann mit meinem letzten Geld die Burg gekauft. Meine Frau war nicht gerade begeistert, ein Grundstück bei Wien wäre ihr lieber gewesen, aber die Gelegenheit war günstig.
Der dicke Viehhändler, der keineswegs, wie ihm der Vorbesitzer weisgemacht, mit der Ruine auch den Titel des Freiherrn von Spaldenstein erworben hatte (das krebsrote Gesicht, das er bekam, als er mir das heimlich beichtete, werde ich nie vergessen), war heilfroh, den nutzlosen Steinerhaufen, wie er ihn nannte, wieder loszuwerden. Solche Trümmer waren in den Jahren modischer Bungalows nicht sonderlich beliebt. Jetzt gibt es fast nur noch Steinerhaufen, und Spaldenstein dürfte einer der gemütlichsten und wohnlichsten sein.
Von außen sieht man zwar nur verwitterte Mauern und leere Fensterhöhlen und, wenn man durchs vordere Tor kommt, überwucherte Schutthalden - aber dann kommt das innere Tor, und das ist fest und gut verschlossen. Für einen möglicherweise herumstreunenden Plünderer bietet sich die Burg sicher nicht als lohnendes Objekt an, und wenn er allzu neugierig sein sollte, dann gibt es in der inneren Wehrmauer noch ein paar Schießscharten, durch die man nicht nur eine alte Armbrust aus dem Rittersaal, sondern auch den Lauf einer Maschinenpistole jüngeren Datums stecken kann. Darüber ragt der Turm, der Bergfried. Er ist so massiv, dass er alle Beben, die es auch hier gab, überstanden hat. Nicht ein Riss hat sich gebildet. Was waren das früher für Maurer und Baumeister! Wie sorgsam wählten sie aber auch ihre Bauplätze aus. Die dicken Eichenbohlen der Treppe haben ebenfalls standgehalten; das kleine Fenster oben im Turm ist frisch verglast und selbst aus der Nähe nicht erkennbar. Dahinter steht der schwere Tisch, an dem ich sitze, und auf ihm das Funkgerät, dessen Antenne am Turmrand als dürres Bäumchen getarnt ist.
Niemand soll merken, dass es hier Menschen, Vorräte und Waffen gibt - ja sogar noch meine gute alte Schreibmaschine...
Vor zwei Tagen hat es zum ersten Mal seit Wochen wieder ausgiebig geregnet. Der Bach am Felsen, durch den ein langer Riss geht (deshalb der Name Spaldenstein), führt wieder Wasser und treibt das Schaufelrad des versteckten Generators und damit die Funkanlage, die unsere letzte Verbindung zur großen weiten Welt - so hieß es doch einmal in einer Zigaretten-Reklame? - darstellt.
Im Übrigen beleuchten wir unsere Gemächer im Parterre sonst mit Öllampen oder Kerzen - es ist gut, wenn sich meine Söhne beizeiten an diese primitive Technik gewöhnen.
Der Spannungsmesser am Apparat (ob ihn das österreichische Bundesheer inzwischen vermisst hat?) klettert über die Minimal-Marke; ich stülpe mir die Kopfhörer auf und schalte auf Empfang. Aus Gewohnheit, und weil es wieder einmal Strom gibt. Was soll es denn schon Besonderes zu hören geben?
Aber da ist etwas: Ich drehe an der Feineinstellung, und jetzt kommt der Sender schwach herein: »...hier ist OXKW Freilassing... ich rufe alle, die mich hören können... ich befinde mich neben dem Krankenhaus. Wir haben siebzehn Typhuskranke und keine Medikamente, vielleicht kann jemand helfen... Die Autobahn Richtung Salzburg scheint noch frei zu sein, der Ort Freilassing ist zu fünfundachtzig Prozent zerstört, es gibt ungefähr neunzig Überlebende, vermutlich aber alle strahlengeschädigt... Die Strahlungsdosis beträgt derzeit... Freilassing OXKW, ich rufe alle...«
Ich habe automatisch mitnotiert. Eine Notiz neben vielen anderen ähnlichen, ein sinnloses Notizbuch des Schreckens, denn wir können nicht helfen, selbst wenn wir wollten und die Medikamente hätten. Zwischen uns und dem Salzburger Land, in dem ja auch Freilassing jenseits der früheren deutschen Grenze liegt, erstreckt sich von Norden nach Süden eine riesige Lößwüste. Vom Abbruch der Berge des Waldviertels bis über die Gegend hinaus, wo einst Linz war. Wir müssten Kamele haben, um da durchzukommen. Woher aber sollten wir Kamele nehmen?
Dass es so ist, haben meine beiden Söhne Johannes und Alexander und Dr. Jelinek erst kürzlich festgestellt, als sie mit dem Range-Rover vorzustoßen versuchten und trotz Vierradantrieb und 180 PS steckenblieben. Sie fanden nur totes Gebiet. Schade um den Sprit. Löß, Lehm, Sand - ganze Höhenzüge davon, die der Super-Sturm (ich finde keinen anderen Ausdruck für dieses Ereignis) im Sommer aus Sibirien oder der Sahara hierher getragen hat. Binnen 24 Stunden. Geologisch unmöglich, hätte man früher gesagt. Aber dieser Sturm war eine Realität. Vor einigen zehntausend Jahren soll es ähnlich gewesen sein; damals, als die Löß- und Lehmhügel am Rand der Donau entstanden, in die man später die herrlichen Weinkeller grub. Nun, jetzt ist es wieder soweit - aber wird diesmal jemand Weinstöcke auf der neuen Erde pflanzen und Keller graben...?
Wein - drei Fässer liegen noch im untersten Turmverlies gut und kühl. Als Erinnerung sozusagen und als Medizin für besondere Fälle (ich bin öfter so ein Fall). An Bier wage ich gar nicht zu denken, und einen grässlich riechenden Schnaps habe ich mit einem zusammengestöpselten Destillierapparat im Winter gebraut, da waren offensichtlich Vor- und Nachlauf und zu viele ätherische Fuselöle mit hineingeraten. Im »Winter« - das darf man allerdings nicht mehr so wörtlich, sondern nur noch kalendarisch nehmen, denn die Jahreszeiten gehen kunterbunt durcheinander. Bald leiden wir unter meterhohem Schnee und können nur noch durch den halb eingefallenen Geheimgang der Burg hinüber zum Hueber-Bauer, neben dessen Kuhstall er endet bald sind wir von Wasser eingeschlossen, und dann wieder dörrt plötzlich einsetzende, wochenlange Hitze die Wälder aus, so dass fast jeder der ungezählten Blitzschläge zündet. Und Gewitter gibt es mehr als genug. Ohne die wolkenbruchartigen Regen wäre der Waldbestand längst vernichtet. Gerade zieht wieder ein Gewitter herauf. Der einsame Rufer aus Freilassing ist still geworden, ich schalte ab auf Erdung.
Das hat ja alles keinen Sinn. Wir wissen nicht einmal, ob es noch Überreste von Wien gibt, oder von München, Berlin oder anderen Städten. Das alles sind nur noch Namen. Der Funkempfang ist durch die dauernden magnetischen Stürme fast ununterbrochen gestört. Mit einem primitiven Sextanten, gebaut nach dem »Lehrbuch für Physik für die höheren Schulen Österreichs«, Jahrgang 1967, habe ich unlängst einmal versucht, unsere »Position« zu bestimmen, so wie es die alten Segelschiffkapitäne taten. Dabei kam ich - ich kann mich natürlich irren - auf ganz verrückte Werte. Wenn sie stimmen sollten, dann müssten wir uns samt unserer Burg und wahrscheinlich der ganzen alten Landmasse, auf der sie steht, gute einhundertfünfzig Kilometer nördlich und zwei- bis dreihundert Kilometer westlich bewegt haben. Zumindest Teile der Kontinente scheinen zu wandern und zu treiben; Alfred Wegener selig, der einst die Kontinentalverschiebungs-Theorie entwickelte, hätte seine helle Freude daran.
Wie sich das alles wieder einmal einpendeln und ordnen wird - wer kann das sagen? Welche Lebewesen werden dann die veränderte Erde bevölkern und beherrschen? Menschliche Mutanten, oder...?
Ich erinnere mich eines Fernsehvortrages, den ich vor vielen Jahren hörte und sah. Da hat jemand erklärt, die Reptilien, also Schlangen, Echsen usw., könnten als einzige höhere Organismen harte Strahlungen auf längere Dauer aushalten - und deshalb hätten sie auch bisher kosmische Katastrophen wiederholt überlebt, wenn der magnetische Schutzmantel der Erde zeitweise zerfiel, wie eben jetzt wieder, und die harten Strahlungen der Sonne und aus dem Kosmos weltweite Veränderungen der Fauna und Flora auslösten.
Diesbezüglich bin ich übrigens erstaunt: entweder hat uns der Zufall maßlos begünstigt, oder der Untergrund aus Urgestein und vor allem die großen, tiefen Wälder wirken so stark abschirmend, wie man das früher nicht gewusst hat. Jedenfalls ist die Strahlung zurzeit bei uns nahezu wieder normal.
Das war nicht immer so; im Vorjahr, als der Magnetschirm der Erde endgültig zusammengebrochen war und unvorstellbare Strahlungsstürme die letzte, schützende Hülle der Atmosphäre aufrissen und durchbrachen, da hockten wir tage-, ja wochenlang unter den meterdicken Mauern und Felswänden im Keller und warteten auf das Ende der tobenden Gewalten oder unser eigenes. Wer hinter einfachen Ziegel- oder Betonwänden saß, war verloren. Mein Sohn Johannes und der junge Neuner, den wir seinerzeit auf der Flucht aufgelesen hatten (er ist ein Klassenkamerad von Johannes), diese beiden Vorzugsschüler in Mathematik und Physik, hatten schon früher, auf meine düsteren Prophezeiungen hin, in Wien irgendein angebliches Ionisations-Abschirmgerät zusammengebastelt, das (nach ihren Behauptungen) in einem kleinen Bereich und mit relativ geringer Energie stärker strahlungsabweisend wirken sollte als Blei. Das etwas poppig-futuristisch aussehende Gerät, gespeist von vier hintereinander geschalteten Autobatterien, surrte und summte jedenfalls ganz vertrauenerweckend - und nachträglich behaupteten die beiden Abiturienten, sie hätten uns damit das Leben gerettet. Ob das stimmt, kann ich nicht sagen, ich bin ein Laie. Mir leuchten ihre Erklärungen insofern ein, als früher auch die Raumkapseln landender Astronauten bei ihrem Eintritt in die Lufthülle von einem Mantel ionisierter Moleküle umgeben wurden, die jeden Kontakt mit der Umwelt unterbrachen. Auf einem ähnlichen Prinzip sollte das Ding der jungen Leute auch funktionieren - wer weiß, vielleicht ist das Teil einer Technik von morgen? Tatsache ist, dass wir alle von Strahlungsschäden verschont blieben. Von den fünf Kühen des Hueber-Bauern sind übrigens jene drei, die auf dem dicken Stroh des Stalles bzw. unter dem Heu der Tenne standen, völlig gesund, die beiden, die auf der offenen Weide waren, aber so schwer geschädigt, dass wir weder ihre Milch noch ihr Fleisch verwenden werden können. Und: Hirsche, Rehe und Hasen, die während der Strahlungseinbrüche im dichten Wald waren, zeigen auch vorerst keine Veränderungen. Seltsam - vielleicht haben die alten Bauern doch recht gehabt, die behaupteten, dass Stroh und Reisig gegen »böse Geister« abwehrend wirken? Nun, die schlimmste Zeit scheint vorbei zu sein. Der Geigerzähler tickt nur noch ab und zu stärker, vermutlich dann, wenn unsichtbare Atomwolken aus China oder dem Pazifik noch vorüberziehen.
Wie viele Millionen Menschen hat es dort vor dem letzten Wahnsinnskrieg gegeben? Vierzehnhundert oder sechzehnhundert? Sie sind nicht mehr. Wie ich verstümmelten Funksprüchen von Amateuren aus Frankreich entnehmen konnte (die ihre Informationen wieder von Gott weiß wem erhielten), dürfte Indien zum Teil von der Landkarte verschwunden sein. Dass die Küstengebiete von Westeuropa langsam im höher steigenden Meer versinken, habe ich auch gehört. Da dort ohnehin kaum noch jemand lebt, ist das auch gleichgültig. Südamerika soll sich an der Westküste in eine einzige Kette von Vulkanen verwandelt haben - ein Zeichen dafür, dass dieser Kontinent ebenfalls wieder in Bewegung geraten ist. »Panta rhei« - alles fließt hat der griechische Philosoph Heraklit, den sie wegen seiner Ideen »den Dunklen« nannten, einmal gesagt. Damit behielt er jedenfalls recht.
Eines steht fest: das Ernährungs- und Bevölkerungsproblem ist auch ohne UNO-Konferenzen nunmehr gelöst. Keiner hungert mehr. Die Hungernden sind tot.
Wen und was werde ich hinterlassen, wenn ich sterbe? Zwei Söhne, jetzt achtzehn und einundzwanzig Jahre alt, deren einer vielleicht für immer ledig bleiben wird, weil es weit und breit kein jüngeres weibliches Wesen mehr zu geben scheint. Die Maria vom Hueber-Bauer haben wir im Frühjahr mit meinem Älteren, dem Alexander, in der kleinen Burgkapelle getraut.
Und da ist noch meine Frau, Gertrude, geborene Stemmer, die mich später begraben oder verbrennen wird; da ist der alte Hueber mit seiner Frau, unser Dr. Jelinek, vormals praktischer Arzt in Wien-Brigittenau (Sprechstunden Montag-Freitag von 9 Uhr 30 bis 12 Uhr 30), und der junge Neuner, dessen Vater die längst fällige Verleihung des Hofrat-Titels nun doch nicht mehr erlebt hat.
Er und Johannes werden sich, wenn sie eine Frau haben wollen, eines Tages aufmachen müssen. Sie werden dann drei Pferde haben - die noch rüstigen Wallache vom Hueber-Bauer (die Autos werden längst ohne Batterie und verrostet sein) und Bogen, Pfeile und Vorräte für einige Tage. Ein Gewehr, zwei Pistolen und eine MP mit hinreichend Munition. Das müsste genügen.
Dr. Jelinek, obwohl er erst 39 Jahre alt ist, will nicht mitgehen. Seit er so gut wie nichts zu tun hat, außer uns ab und zu einen Zahn zu behandeln (man merkt, dass er das nie richtig gelernt hat), ist er ein Snob geworden und erklärt, er habe nicht die Absicht, eine Generation neuer Neandertaler zu begründen.
Wir werden dann also zwei Reitern und drei Pferden nachwinken - und hoffen und warten, dass sie zurückkehren. Mit Frauen... Nicht anders, als es die Menschen vor Jahrhunderten oder Jahrtausenden taten, wenn einige von ihnen ins Unbekannte und Ungewisse aufbrachen. Und alles wird wieder von vorne beginnen...
Es könnte sein, dass jemand in dreißig oder fünfzig oder hundert Jahren diese unterdessen leicht vergilbten Blätter in die Hand bekommt (und dann noch lesen kann). Er könnte dann den Eindruck gewinnen, dass ich selbst snobistisch-zynisch-gemütlich - wie es in den siebziger Jahren vielfach Mode war - gedacht und geschrieben hätte. Dazu, und diesem eventuellen Leser, möchte ich folgendes erklären: Es gibt eine Grenze des Grauens, die keine Steigerung mehr zulässt. Wer sie in vollem Bewusstsein erlebt und überschritten hat, kehrt entweder krank oder verrückt wieder - oder mit einem Lächeln, das nicht mehr nach gewohnten Maßstäben zu messen ist. Es ist weder irre noch arrogant, noch zynisch - es ist mein Lächeln.
Das Gewitter hat sich nun doch hinter die nördlichen Waldberge verzogen; die Wolken reißen auf, geben das Bild einer sinkenden Sonne frei, die in einem Gemisch von Grün, Gelb und Blau irisiert. Natürlich hat sich die Sonne selbst nicht verändert, und ihre weiterhin starke Aktivität ist im Sinne ihrer Periodik nahezu normal; was sich verändert hat, ist die Atmosphäre und damit die Lichtbrechung. Man wird sich daran gewöhnen, man gewöhnt sich an vieles.
Wenn ich daran denke, dass ich Spaldenstein erst vor etwas mehr als elf Jahren, im Grundbuch festgelegt, erworben habe... Damals war - nein: schien - die Welt wenigstens als Planet noch heil, und nicht einmal die ärgsten Pessimisten hätten geglaubt, dass alles so schnell gehen würde. Selbst sie unterlagen einem Irrtum des Denkens, den man nachträglich leicht festhalten kann: ein System, gleich welcher Art, bricht nicht erst dann zusammen, wenn es auf dem Nullpunkt angelangt ist, sondern schon viel früher.
Ein Mensch erstickt nicht erst dann, wenn es kein einziges Sauerstoffmolekül mehr zu atmen gibt, sondern bereits dann, wenn ein großer Bruchteil der benötigten Menge fehlt.
Die Ozeane sind nicht, wie es Jacques Cousteau und andere Forscher seit 1967/68 voraussagten, zwanzig Jahre später gestorben, sondern viele Jahre früher, als die Giftmenge eine bestimmte Grenze überschritt.
Es geschah überhaupt manches, das die Naturwissenschaftler überrascht hätte (zum Teil haben sie es ja noch erlebt). Heute könnte ich anhand meiner Unterlagen ein Buch vom Untergang schreiben, das aber letztlich nur für die Untergegangenen von Interesse wäre.
Alles, was ich seit nun gut siebzehn Jahren an diesbezüglichen Aufzeichnungen, Notizen, Ausschnitten, Tonbändern usw. gesammelt habe, liegt in einem Stahlblechkasten verwahrt, den meine Söhne »Die Bundeslade« getauft haben, denn ebenso eifersüchtig, wie einst die Juden ihre Gesetzeslade, habe ich diese Kiste gehütet. Sie war auch das erste, was ich ins Auto packte, als wir die Flucht vorbereiteten. Nicht der Eitelkeit wegen - wem gegenüber sollte ich jetzt schon Beweise anführen? -, sondern weil alle diese Vorgänge vielleicht doch später einmal den Nachgeborenen wichtige Hinweise geben können.
Da sind zum Beispiel die Vorgänge im Magnetfeld der Erde, das es momentan in der alten Form nicht mehr gibt. Bis 1987 hatte es unseren Planeten wie ein Schutzmantel gegen die harte Strahlung der Sonne und aus dem Weltraum abgeschirmt und das Leben auf ihr bewahrt. Dass das nicht immer so war, stellten schon in den sechziger Jahren holländische und andere Forscher fest, und ich las erstmals in dem Buch Kinder des Weltalls von Hoimar von Ditfurth darüber.
Für mich wurden die Ereignisse alarmierend, als ich 1971 in einem der Kosmos-Hefte, dem deutschen Naturwissenschafts-Magazin, eine relativ bescheidene Notiz las, dass die erdmagnetischen Observatorien von Wingst bei Cuxhaven und Fürstenfeldbruck bei München Messungen amerikanischer Gelehrter bestätigt hätten, wonach die Intensität des irdischen Magnetfeldes seit Beginn der Messungen um 1830 sich um fünfzehn Prozent verringert habe und weiterhin abnehme. Das bedeutete innerhalb dieses Nichts an erdgeschichtlicher Zeit unerhört viel. Seither verfolgte ich die Messungen, ich legte Tabellen an, verglich diese Zahlen mit der Zahl und Intensität der Erdbeben. 1973 bestätigte mir die Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik in Wien, dass die Zahl und Stärke der Beben in Österreich 1972 dreimal so hoch gewesen war als in den Jahren zuvor, und als ab 1973 das Magnetfeld sich neuerdings prozentual rasch abschwächte, zweifelte ich kaum noch daran, dass der Countdown zum nächsten Polsprung, zum nächsten Weltuntergang begonnen hatte.
Ich habe diese Einsichten ja keineswegs für mich behalten, weiß Gott nicht! Ich schrieb darüber, sprach darüber in Diskussionen: der größte Effekt, den ich erreichte, war ein zustimmendes Nicken - schließlich gab ich es auf. Ich fand mich mit den alten Worten ab: Wen die Götter strafen wollen, den schlagen sie zuvor mit Blindheit. Ein schwacher Trost, dass es nicht nur mir so erging, sondern prominenteren, wie Professor Dr. Grzimek in Deutschland, Dr. Koenig in Österreich, Jacques Cousteau in Frankreich sowie englischen, skandinavischen und sonstigen Fachleuten. Sie alle beschworen und warnten: sie predigten tauben Ohren wie einst die Kassandra in Troja.
Hätte man noch etwas verhindern können? Ich glaube, ich fürchte ja. Ich fürchte für jene, für das Gewissen jener, die nicht hören und sehen wollten, denn zumindest eines wäre möglich gewesen: die äußerste Anstrengung, möglichst viele Menschen zu retten, das Menschenmögliche, um den Anteil der Menschheit am Untergang unserer Welt zu verringern.
Nun, die Dinge nahmen ihren Lauf, man lebte weiter wie bisher. Industrie und Wirtschaft wurden entwickelt, wie es so schön hieß - sie expandierten ohne Rücksicht auf Verluste und auf die Natur -, und manchmal beschleicht mich das Gefühl, als wäre das alles nicht ganz ohne Einfluss auf die Katastrophe geblieben, die wir erleben mussten und müssen wie, das weiß auch ich nicht, aber die seltsame Parallele zwischen der Abnahme des Magnetfeldes und der wachsenden industriellen Expansion gibt mir zu denken.
Ja, und dann geschah es - früher als zu erwarten gewesen wäre: 1980 war das Magnetfeld der Erde bereits um 20 Prozent schwächer, 1985 schon um 45 Prozent, und 1986 erfolgte der Kollaps. Bei etwa 60 Prozent. Da stand der Dynamo der Erde von einem Tag zum anderen still, brach ihr Schutzfeld zusammen. Ein Motor, ein Auto bremst aus voller Fahrt zunächst langsam ab, aber dann immer schneller und zuletzt ruckartig.
Die kleine Lampe an der unverputzten Turmwand beginnt zu flackern, obwohl sie theoretisch noch genug Spannung hätte - auch da ist eben eine Minimalgrenze erreicht. Vielleicht klemmt auch das Wasserrad des Generators wieder, oder der Bach hat nicht mehr genug Kraft. Ich werde hinuntergehen zu den anderen in den wenigstens vom flackernden Kaminfeuer erhellten Saal des früheren Palas, in dem wir als seltsame Ritter des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts vornehmlich hausen und wohnen.
Burg Spaldenstein, 1. Oktober 1987
Heute war ein großer Tag. Alexander, mein Älterer, frischgebackener Ehemann, ist einundzwanzig Jahre alt geworden. Nach einem Gesetz, das nicht mehr existent ist, wäre er somit großjährig. Wichtiger erscheint mir allerdings der Umstand, dass Alexander gerade heute sein erstes Kaninchen mit dem Pfeil erlegt hat. Mit dem schweren Komposit-Bogen trifft er beinahe jedes Ziel, und das allein ist jetzt entscheidend für ihn und seine spätere Familie. Bei der Gemeinde Wien, wo er bis zuletzt Dienst tat, wäre er vielleicht ein mittelmäßiger Beamter geworden, jetzt wird er in den Erinnerungen seiner Nachfahren vielleicht einmal als der »große Jäger« weiterleben. Nicht nur die Kontinente, auch die Maßstäbe haben sich verschoben.
Das Kaninchen (zuvor mit dem Geigerzähler untersucht) war ein solennes Festmahl. Meine Frau, die früher nur auf ihre Stimme bedacht war, beginnt, noch gut kochen zu lernen.
Wie hieß es in den alten Lesebüchern: »Unsere Vorfahren ernährten sich vor allem von der Jagd, dem Ackerbau und der Viehzucht.« So weit sind wir auch wieder.
In der versteckten Waldschneise habe ich einen Kartoffelacker angelegt. Wenn wir Glück haben, bringt er Früchte, die nicht radioaktiv sind. Einmal müssen wir von den Vorräten unabhängig werden, wenn sie auch noch lange Zeit ausreichen würden.
Niemand wird uns je wieder Konserven verkaufen, und auch die Schachtel mit den Farbbändern für meine Schreibmaschine wird einmal leer sein. Dann werde ich eben mit einer Kielfeder weiterschreiben, solange ich will und kann. Bei aller Voraussicht haben wir doch nicht an alles gedacht. Zum Beispiel nicht daran, dass es niemanden gibt, der einen Farbfilm entwickeln und kopieren könnte. Was ich seit dem 16. April 1986 in Farbe fotografiert habe, kann ich wegwerfen.
Schade darum. Denn was sich jetzt an Color-Effekten am Himmel abspielt, ist unbeschreiblich. Fluoreszierende Wolken in den bizarrsten Formen rasen dahin, Nordlichter ziehen gigantische Vorhänge wallender Lichtschleier hinter sich her, und immer wieder sieht man jene hellen trichterförmigen Wirbel, die noch vor zwei Jahrzehnten als UFOs missverstanden wurden.
Wie hat man damals darum gestritten und debattiert!
Vor allem, nachdem am 18. März 1972 der Chefpilot der AUA (Austrian Airlines) Alexander Raab und sein deutscher Lufthansa-Kollege Brouwer solche Erscheinungen von ihren Flugzeugen aus gesehen und genau beschrieben hatten. Die UFO-Jünger jubelten - die Meteorologen erklärten kühl und bestimmt (wenn auch falsch), dass es sich um Teile eines Meteors gehandelt habe. Keiner von beiden hatte recht. Weder waren es die kleinen grünen Männlein vom Mars, die landen wollten, noch Relikte eines Himmelskörpers.
Was es wirklich war - nämlich Vorboten überdimensionaler Energie-Einbrüche in die Atmosphäre, wie wir sie seither, häufiger als uns lieb ist, erlebt haben -, habe ich damals als einer der ersten vermutet. Aber davon wollte niemand etwas wissen, und schon gar niemand wollte es drucken. Jetzt wird es erst recht keiner mehr tun; die Verleger sind wohl mit den meisten anderen Lebewesen für lange Zeit ausgestorben.
Nein - es ist unterdessen keiner jener »Götter« gelandet, die früher einmal unseren Planeten heimgesucht haben sollen (und vielleicht auch heimgesucht haben), und auch der Heiland der Christenheit ist nicht strahlend und triumphierend auf den Wolken erschienen, wie es so manche erhofften. Als in Europa wie anderswo die Städte und Dome zusammenbrachen, flehte der letzte Papst vergebens seinen Gott um Beistand an.
Allein im Stephansdom zu Wien dürften es fünfzehnhundert gewesen sein, die zu einem Gottesdienst versammelt waren, als der mächtige gotische Turm und die Mauern des »Steffel« einstürzten, die selbst der U-Bahn-Bau nicht erschüttert hatte.
Die Staubwolke, die sich erhob, war höher als die der anderen einstürzenden Gebäude. Man sah sie wie ein Fanal selbst bei uns im XX. Bezirk. Sie war auch das letzte, was wir von Wien, der Stadt, die einst den Türken getrotzt hatte, bewusst wahrnahmen. Denn in diesem Augenblick - es waren bestimmt noch keine drei Minuten nach dem Einsetzen des Bebens vergangen - traten wir die Gaspedale unserer Wagen bis zum Anschlag durch und rasten, zwischen im Zeitlupentempo einfallenden Häusermauern, parkenden und brennenden Fahrzeugen kurvend, über die wie in schwerem Seegang schlingernde Nordbrücke zur Stadt hinaus.
Man sagt, Sterbende erlebten ihr ganzes bisheriges Dasein nochmals wie in einem Zeitraffer - nun, ich erlebe als Beinahe-Gestorbener die letzten Stunden und Minuten in Wien und unsere Flucht auch immer wieder wie in einem Stummfilm...
Rückblende auf den 16. April 1986,12 Uhr
Wir sitzen in Wien in unserer Wohnung beim Mittagessen. Meine Frau und ich, die beiden Buben und unser Hausarzt und Freund Dr. Jelinek. Diese Gruppierung hat sich seit längerem so eingebürgert und gehört - ohne besonderen Aufwand - mit zu unserem privaten Alarmplan. Denn so friedlich und gemütlich wie früher ist es längst nicht mehr, auch wenn der Fernostkrieg uns noch nicht direkt berührt, abgesehen von den rapiden Verteuerungen und den Rationierungen von Treibstoff, Heizöl und Lebensmitteln. Um der Wahrheit die Ehre zu geben: als vor zehn oder zwölf Tagen bekannt wurde, dass das »Rote Reich der Söhne Maos« (wie China seit acht Jahren offiziell hieß) durch einen »bedauerlichen Irrtum« der sowjetischen Führung mit Orbital- und Mehrfachsprengköpfen bombardiert und praktisch ausradiert worden sei, gab es in der restlichen Welt mehr Gleichgültigkeit als empörte Reaktionen. Diese Welt hatte mehr als genug mit sich selbst zu tun. In Afrika schlachteten die beiden schwarzen Militärblöcke einander und die letzten Weißen rücksichtslos ab; Südamerika befand sich mitten in einer großen Hunger-Revolution, und in den USA tobte der zweite Nord-Süd-Krieg zwischen weißen und schwarzen Fanatikern und den Mafia-Organisationen dazwischen. Europa war demgegenüber eine Insel friedlicher Stagnation - das aber nicht aus gutem Willen oder eigenem Antrieb, sondern weil sich hier vor allem das bereits 1983/84 erfolgte totale biologische Absterben des Mittelmeers und der Ostsee mit einer enormen Verschlechterung der Luftqualität bemerkbar gemacht hatte. Im Ruhrgebiet hatte man viele Industrien stilllegen und ganze Städte, wie Gelsenkirchen und Bochum, räumen müssen. In Belgien, Nordfrankreich und der DDR sah es nicht viel besser aus.
Ein nahezu perfektes Management politisch-wirtschaftlicher Art vermochte sogar noch die Folgen dieser Katastrophen aufzufangen und zum Teil in Geschäft umzusetzen: Sauerstoff in druckfesten Plastikbehältern erlebten einen enormen Boom.
Nur in Wien lebte man noch natürlich und fuhr - wenn man Benzin hatte, mit dem Auto, sonst mit der Straßenbahn - zum Heurigen nach Grinzing oder Stammersdorf, nachdem der zum fünften Mal gewählte Bundeskanzler Kreisky, 83, versichert hatte: »Ich meine, dass das alles halb so schlimm wird...«
Doch dann ist vor vier Tagen Wiener Neustadt mit einigen anderen Orten nach einem Beben der Stärke 7,8 bis 8,8 zerstört worden. Dank rechtzeitiger Warnung gab es nur 214 Tote. Zwar ist Wiener Neustadt zu 67 Prozent dem Erdboden gleich, aber das Rote Kreuz führte einen vorbildlichen Katastropheneinsatz durch, die Obdachlosen wurden in Zelten untergebracht. Am Graben oder auf der Rotenturmstraße merkte man wenig davon, aber die Kirchen wurden stärker frequentiert.
Vor zwei Tagen bekam ich die letzte Fernverbindung mit meinem Freund in München - die Tendenzen zur Abspaltung des noch »gesunden« Bayern vom bundesdeutschen Reststaat werden immer stärker - und erfuhr von ihm, das Observatorium in Fürstenfeldbruck habe ihm vertraulich mitgeteilt, dass der Magnetschirm der Erde dabei sei, »umzufallen«. Das war für uns das »rote Telefon«.
12 Uhr 05: Es ist ein milder, schöner Vorfrühlingstag. In der Nacht hat es geregnet. Wenn ich aus dem Fenster sehe, glitzern noch die Tropfen auf den Dächern der drei Wagen vor dem Haus, als wären sie gerade aus der Waschanlage gekommen. Da ist der knallgelbe Range-Rover, den sich Alexander - natürlich auf Kredit - gemeinsam mit seinem Bruder Johannes angeschafft hat; da ist unser uralter Opel Admiral, und daneben parkt der etwas protzige Vanguard Mark XIII von Dr. Jelinek. Die Autos stehen still, wie die meisten anderen auch. Aber in einem unterscheiden sie sich von den andern: seit zwei Tagen sind sie vollgepackt und vollgetankt, die Wohnung ist eigentlich nur noch ein leerer Wartesaal. Wir warten. Worauf? Es gibt eben Dinge, die man einfach nicht zur Kenntnis nehmen will, und man zögert und zaudert bis zum letzten Augenblick...
»Erdbeben!«, schreit Johannes, und da fallen auch schon die Vasen von den Schränken, die Bilder von den Wänden. »Raus!«, brülle ich und erwische noch das Köfferchen mit Geld und Dokumenten, während der Verputz von der Decke kommt.
12 Uhr 10: Das Haus torkelt und wankt. Nur als Schuljunge bin ich noch schneller drei Stockwerke hinuntergerast, während die Treppen ächzen und einzelne Stufen sich von den Wänden lösen.
Unser Haus ist ein älterer Ziegelbau und darum vielleicht etwas elastischer im Abfangen von Erdstößen. Das Betonhochhaus schräg gegenüber ist ein zusammengeklapptes Sandwich, als wir ins Freie kommen. Alles ist erfüllt von Dröhnen, Bersten und Staub. Zwei kalkweiße Gestalten taumeln uns entgegen: der immer elegante und geschäftstüchtige Drogist von nebenan und der junge Neuner, der anscheinend als einziger aus dem Beton-Konglomerat vis-à-vis entkommen ist. Er schreit immerfort: »Mein Papa, meine Mama...!«
Für Fragen und Nachsehen bleibt keine Zeit. Ich packe ihn buchstäblich am Kragen und stoße ihn rückwärts in den Vanguard; der fesche Drogist hat sich blitzschnell, aber nicht ohne den Mörtel von der neuen Hose zu klopfen, in unseren Admiral verkrümelt. Alexander und Johannes starten mit ihrem Range-Rover, und meine Frau bringt das Wunder fertig, die alte Familienkutsche der Firma Opel hinterherzusteuern. Der Vanguard heult unter den so geschickt wie bei einer Operation manipulierenden Händen von Dr. Jelinek auf und schießt nach. Es ist wie in einem Film, aber es ist Wirklichkeit.
12 Uhr 13: Dort, wo unsere Straße in die Auffahrt zur Nordbrücke einmündet, sieht man vorne und ganz nahe den Kahlen- und Leopoldsberg, und rückwärts in Richtung Osten sieht man über dem Dächermeer der Stadt die gezackte Silhouette des Stephansturmes.
Jetzt ist alles eine graue Masse, und an Stelle des Turmes steht ein riesiger Rauch- und Staubpilz.
Der Wagen schlingert, und ich weiß: in diesen endlosen Sekunden stirbt, was einst Wien war.
12 Uhr 20: Jenseits der Donau wird es etwas ruhiger. Zwar liegen auch hier viele Häuser in Schutt und Asche, und die Autobahn nach Stockerau sieht beinahe aus wie ein Kurvenlineal aber sie reißt und bricht wenigstens (noch) nicht.
Nur vereinzelt tauchen hinter uns andere Wagen auf, zum Teil mit Koffern, Matratzen und Möbelstücken derart überladen, dass sie kaum vorwärts kommen. Das sind die wenigen Vorsichtigen und Misstrauischen - die Masse glaubte einfach nicht »daran« und handelte nach der typisch österreichischen Maxime: »Es wird schon nichts passieren...« Noch dazu um die geheiligte Mittagszeit! Auch uns erscheint es wie ein Wunder, dass es hier relativ so friedlich ist.
»Kannst du dir das erklären?«, fragt mich Dr. Jelinek, ohne den Fuß auf dem Gashebel auch nur einen Millimeter zu bewegen und den Blick von der bizarr geformten Fahrbahn zu nehmen.
»Eigentlich schon«, antworte ich langsam und nachdenkend, »schau, die Donau ist ja die alte geologische Bruchlinie, der erste Stoß hat sich hier noch nicht so ausgewirkt, aber der nächste wird es bestimmt tun. Erinnere dich an die früheren Beben: in Wiener Neustadt sind die Häuser umgefallen, und bei uns in Wien haben kaum die Teller und Gläser im Schrank geklirrt. Aber jetzt wird bald alles und überall klirren...«
Wir hetzen weiter. Wir wissen, dass uns der Tod auf den Fersen ist. Es ist wie in einem Fiebertraum: Da und dort ist ein Bauernhaus eingestürzt, die Fahrbahndecke aufgewölbt und gerissen, und wir fahren mit wimmernden Reifen Slalom - dann ist wieder alles unversehrt und beinahe sonntäglich-ruhig: ein Bauer zieht mit einem Traktor über ein Feld, Fasanen schrecken neben der Straße hoch, während unsere wilde Jagd vorüberbraust, Bäume und Sträucher stehen im ersten zarten Frühlingsgrün. Ein halbleerer Autobus zockelt uns entgegen, das nächste Dorf ist wie ausgestorben; die Leute essen, schlafen oder sind auf dem Feld.
In einem solchen Ort halten wir kurz an - keine Stunde nach unserem Aufbruch von Wien. Und hier wird das Traumgeschehen perfekt: aus dem kleinen Dorfwirtshaus tritt der verschlafene Wirt mit der Schürze um den Bauch und fragt, auf die zwei Tische vor dem Eingang deutend: »Was darf’s denn sein?« Aus der Küche riecht es nach Gulasch und Sauerkraut.
»Nur einen Schluck Wasser oder Wein...«, sage ich und dränge ihn ins Haus, »aber schnell - ja haben Sie denn nichts gehört?«
»Was...? Ach ja, ein Erdbeben soll es gegeben haben, aber jetzt ist das Radio kaputt, ich weiß nichts. No ja, morgen wird es eh in der Zeitung stehen...«
Wir gießen den köstlich-kühlen Wein durch die vor Angst ausgetrockneten Kehlen. »Noch ein Viertel...?«, fragt der Dicke mit der Schürze. Alexander wirft ein paar Münzen auf den Schanktisch: »Nein, nein - und schau’n Sie, dass Sie wegkommen!«
»Ja warum denn?«
Wir springen in die Autos, und als wir losfahren, beginnt auch hier das unheimliche Dröhnen und Rumoren aus dem Untergrund, im Rückspiegel sehe ich, dass das Dach des Wirtshauses wie eine zusammengefaltete Serviette nach innen klappt. Die Straße torkelt und wankt wieder. Der Traum ist zu Ende, die nächste Bebenwelle hat uns erreicht.
13 Uhr 23: Die ersten Steigungen liegen hinter uns, vom Löß- und Schwemmgebiet sind wir (geologisch gesprochen) längst auf den alten, festen Granitsockel der böhmischen Festlandsmasse übergewechselt. In den Wäldern, die wir passieren, sieht es zwar auch stellenweise aus, als hätte ein Tornado eine tiefe Bahn durch sie gezogen, aber noch wirkt das meiste verhältnismäßig heil.
Horn - enge Straßen, das Bezirksstädtchen ist ein wilder Ameisenhaufen durcheinanderlaufender Menschen. Zu unserem Glück hat die Panik noch keine bestimmte Richtung eingeschlagen. Jelinek, meine Frau und Johannes vollbringen wahre Rallyewunder am Steuer. Einige - oder Dutzende? - Kilometer später scheint es endgültig aus. Während wir um eine Kurve biegen, die in ein kleines Tal in den Waldhügeln hinabführt, steigt vor uns auf einmal und im Zeitlupentempo die Straße samt einer kleinen Brüche hoch und bricht dann sozusagen tropfenweise ab. Zwei, drei Wagen, die eben noch vor uns waren, purzeln wie Kinderspielzeug durcheinander, einer fängt Feuer, eine Flammenwand lodert hoch und dichter Rauch.
Johannes springt mit dem Feuerlöscher aus dem Range-Rover. »Lass das, es hat keinen Sinn!«, brüllt ihm Dr. Jelinek zu.
Nein, es hat keinen Sinn. Auch für uns nicht? Der »Vanguard« steckt mit einem Hinterrad in einer Mini-Erdspalte, es dauert lange bange Minuten, bis wir ihn mit vereinten Kräften wieder frei gemacht haben. Ein Glück, dass wir diese Gegend in vielen Jahren wie unsere Hosentasche kennengelernt haben.
»Da links...«, deutet meine Frau, »da geht doch der Feldweg ab...« Wir fahren ihn. Er bedeutet nicht nur vier Kilometer Abkürzung, er bedeutet für uns das Überleben.
Solche Feld- und Waldwege mögen früher einmal der Schrecken aller Autofahrer gewesen sein - für uns sind sie jetzt die Rettung. Und da erweist sich ihr bisher nicht erkannter Vorteil: ihre Fahrbahndecke ist elastisch, weil sie nur aus Erde besteht und aus Schotter, sie ist zwar auch gewellt, aber nirgendwo geborsten.
Die Stoßdämpfer krachen fürchterlich, und die Ölwannen der Autos knirschen oft gefährlich über Stein und Schotter, aber wir schaffen es. Nach wenigen Kilometern sind wir wieder auf der Hauptstraße, und hier ist sie noch intakt.
Sie ist leer, kein anderes Fahrzeug weit und breit. So leer habe ich Straßen zuletzt Ende des Zweiten Weltkrieges gesehen, als... Ich habe keine Zeit für solche Gedanken, die Jagd geht weiter. Wir fahren durch ein menschenleeres Gebiet. »Kommen Sie ins Waldviertel, hier finden Sie noch Ruhe und Erholung...«, fällt mir ein alter Werbeslogan ein. Ja, das mit der Ruhe, das stimmt jetzt. Durch die offenen Fenster des Wagens duftet der Wald. An den Zweigen der riesigen Fichten hängen dicke Zapfen. Jetzt anhalten, aussteigen und Spazierengehen...
13 Uhr 45: »Noch zwanzig Minuten...«, reißt mich die Stimme von Dr. Jelinek aus solchen kurzen Träumen. Mein Blick geht hinauf zum Himmel, und was ich sehe, lässt mein Herz einen Augenblick schneller schlagen: Das bisher wolkenlose helle Blau ist einem stumpfen Grauton gewichen, und wenn man genau beobachtet, sieht man ab und zu blassrote Zungen von Horizont zu Horizont zucken. Was das bedeutet, ahne ich ungefähr.
Diese Verfärbung bedeutet nichts weniger, als dass Hunderte von Kilometern über uns die Luftmassen von irrsinnigen Stürmen auseinandergerissen wurden und dass schon bald erste Einbrüche von Weltraumkälte erfolgen werden. Jetzt geht es um Minuten.
Noch fünfzehn Minuten; die Straße steigt stetig an, der Wald wird noch dichter.
Zehn Minuten: jetzt kommt die Abzweigung von der Bundesstraße, da ist sie schon. Schief und mit heulenden Reifen kurven die drei Wagen nacheinander um die Ecke. Der junge Neuner weint wieder leise vor sich hin.
Eine scheinbar endlos dahinschlängelnde Wald-Landstraße letzter Ordnung mit unzähligen Schlaglöchern. Noch eine Abzweigung mit dem verwaschenen Schild Privatstraße, Einfahrt verboten. Nur noch ein Feldweg, über den die Bäume ein dichtes Dach bilden. Es riecht nach Harz und Holz. Ein steiler Buckel, eine morastige Senke, dahinter runde Kuppen und einzelne Felsen. Ein dunkelrotes Ziegeldach - der Hueber-Hof, die ehemalige Meierei der Burg Spaldenstein.
Überhitzte Reifen knirschen im Sand vor dem Haus. Von den Bremsen steigt zitternde Wärme auf. Schlagartig herrschen Ruhe und Stille. Hühner gackern, eine Kuh gibt ein dumpfes Brummen von sich, Bienen summen. Der Himmel, den wir jetzt wieder sehen, ist dunkelgrau geworden.
Ich stoße die quietschende Tür auf. Der Hueber-Bauer liegt auf der Ofenbank und schnarcht aus vollem Halse. Ich rüttle ihn hoch: »Franzi, Franz - los, komm!« Die Hueberin kommt aus der Küche, wo sie das Mittagsgeschirr gewaschen hat. Sie wischt sich die Hände an der Schürze ab, um uns zu begrüßen. Hinter ihr taucht die flachsblonde Maria auf und lächelt wie ein pausbäckiger Barockengel, als sie Alexander erblickt.
Alexander und Johannes nehmen die beiden wortlos an den Armen und eskortieren sie zu den Wagen. Den noch halb schlafenden Hueber-Bauer drücke ich dem verdatterten Drogisten in den Schoß, dann rollen wir nochmals an und holpernd und krachend die fünfhundert Meter verwachsenen Fahrweg durch den Wald bis zur Burg.
Die morschen Bohlen der Zugbrücke dröhnen unter dem Gewicht der überladenen Fahrzeuge, dann stehen wir endgültig still.
Unser Drogist weiß noch immer nicht recht, wie ihm geschieht; er wird einfach mitgenommen. Fernes Grollen aus der Erde treibt uns voran. Der Himmel ist nun beinahe violett und von lautlosen Blitzen wie von Adern durchzogen, obwohl kein Windhauch zu spüren ist. Die Sonne ist eine glatte gleißende Scheibe nahe dem Zenit. Wir stolpern über Steine und Unkraut durch das innere Tor zum Turm. Da ist die Pforte und die Treppe, die nach unten führt. Scheppernd fällt hinter uns die Stahltür ins Schloss. Einer drückt auf den Beleuchtungsknopf unten geht schmatzend die dicke Luftschutztür auf, nachdem Dr. Jelinek das Kombischloss geöffnet hat. Jetzt liegen vier bis fünf Meter Fels und Mauerwerk über uns und vor uns ein langes Gewölbe. In den Regalen glänzen und schimmern Gläser, Kanister, Werkzeuge und Waffen - das Ergebnis von zehn langen Jahren oft sinn- und nutzlos scheinender Planung, Sparsamkeit und schwerer Arbeit.
Es ist kühl und ein bisschen feucht hier unten. Dennoch lassen wir uns aufatmend auf die Stühle und Liegen zwischen Kisten und Säcken fallen. Johannes und Alexander verriegeln die Stahlbetontür. Das Notstrom-Aggregat springt an, es wird etwas heller, aber auf dem Bildschirm des Fernsehers sind nur wirre Muster zu sehen, und aus dem Radio kommt nur Rauschen und Zischen. Niemand sendet mehr. Programmgestaltung und technische Leitung liegen jetzt allein bei den Regisseuren des Jüngsten Tags, der soeben begonnen hat.
Er naht sich röhrend und krachend, unüberhörbar selbst in unserem Felsverlies. Die Pilgerväter auf der »Mayflower« mögen sich während der schwersten Stürme der Überfahrt zum neuen Kontinent kaum verzagter gefühlt haben als wir, die wir uns minutenlang aneinander festklammern, weil auch hier die Erde in Bewegung gerät. Wir fluchen und beten.
In mir wird die Erinnerung an die Bombentage und -nächte des Zweiten Weltkriegs wach, die ich als halbwüchsiges Kind miterlebte. Und an das Ende, das auch niemand sehen und wahrhaben wollte. In meiner Heimatstadt Brünn ging ja auch noch alles seinen ganz »normalen« Gang, als die Russen schon bis auf dreißig oder vierzig Kilometer heran waren. Die Straßenbahnen fuhren, Lebensmittelkarten wurden verteilt und eingetragen, der Volkssturm übte Gewehrgriffe. Eine Woche später war alles aus, und jene, die keiner Warnung hatten glauben wollen, starben zu Hunderten auf der Flucht am Straßenrand.
Vielleicht war dies das Trauma, das mich hellhörig und wach gemacht hat, als sich um das Jahr 1972/73 die ersten Sturmböen der Apokalypse ankündigten.
Übrigens: unser Drogist hat sich keineswegs anders verhalten als jene Unbelehrbaren. Als am 18. April 1986 Beben und Stürme plötzlich nachließen und einer trügerischen Ruhe Platz machten, während die nach dem Tiefkälte-Einbruch erstarrten Bäume und Wiesen wieder auftauten und dampften, war er nicht mehr zu halten. Er wollte unbedingt zu seiner (geschiedenen) Frau und zu seiner Tochter, die in Bibione auf Urlaub waren; er wollte zu Fuß oder per Auto-Stop bis zum nächsten Bahnhof und nach Italien.
Dass es kein Auto, keinen Bahnhof und keinen Zug und schon gar kein Bibione mehr geben konnte - das ging über sein Fassungsvermögen, obwohl ich gerade die ersten Hiobsbotschaften aus der Umwelt empfangen hatte. Er wanderte los, wie er war. Weit kann er nicht gekommen sein, denn Stunden später war die Hölle wieder los, und wir mussten hinunter in die Kellergewölbe. Nun waren wir also noch sechs, die von Wien aufgebrochen waren, und neun insgesamt.
Es ist rasch wieder dunkel geworden. Nach meinen Berechnungen hat sich die Tageslänge um eine Stunde verkürzt, was bedeuten würde, dass sich die Erde schneller dreht - ein Zeichen vielleicht, dass ihr Dynamo doch wieder in Bewegung kommt.
Burg Spaldenstein, 15. Oktober 1987
Es war leider ein Irrtum: die Erde dreht sich nicht rascher, meine Uhr ging falsch, vielleicht ist sie magnetisch geworden, was nicht verwunderlich wäre.
Wie lange es noch dauern wird, bis der »Dynamo Erde« wieder funktioniert und ein Magnetfeld aufbaut? Die Schätzungen der Wissenschaftler bewegten sich früher zwischen einigen Jahrzehnten und einigen Jahrtausenden - man weiß es nicht.
Der Turm zittert leise. Irgendwo jenseits der Bruchlinie der Donau - wer weiß, ob sie überhaupt noch fließt? - scheint ein Vulkan ausgebrochen zu sein; von der Turmkrone aus sahen wir im Süden einen rötlichen Schimmer, aber der berührt uns hier wenig. Es wäre schön, wenn es für uns endlich so etwas wie ein Verschnaufen gäbe, eine Pause, die wir seit unserer Ankunft hier noch nicht hatten. Über ein Jahr lang gab es für uns nichts als einen ununterbrochenen Kampf um das nackte Überleben, oft kamen wir wochenlang nicht aus dem Keller an die Oberwelt und vegetierten nur von unseren Vorräten. An Schreiben war überhaupt nicht zu denken.
Jetzt ist ein früher Winter eingebrochen, das Thermometer zeigt minus 13 Grad, ab und zu schneit es leicht. Vor einer Stunde bin ich mit Dr. Jelinek lehmverschmiert aus dem Geheimgang gekommen. Der Hueber-Bauer hat Grippe und hohes Fieber. Dr. Jelinek hat ihm Streptomyzin gespritzt. Den Gang müssen wir, sobald der Lehm fester wird, ordentlich abpölzen und sichern.
Ein Glück, dass wir während der kurzen heißen Tage genug Holz geschlagen haben. Jetzt profitieren wir davon. Das Haupthaus ist immer wohl temperiert, und auch mein Turmzimmer hier. Nahrungssorgen gibt es in diesen Tagen nicht. Wir brauchen nur in unserer warmen Winterkleidung in den Wald zu gehen und erfrorene Hasen und Rehe einzusammeln.
Rittersaal und Frauengemächer sind mit Fellen ausgekleidet, wie es sich für eine mittelalterliche Burg gehört.
Gestern hatten wir eine lange Debatte über die Probleme des irdischen Magnetfeldes und seine Funktionen. Darüber waren sich bis zuletzt auch die Fachleute nicht ganz im Klaren gewesen.
»Wie ist es also damit?«, fragte der Neuner-Franzi. »Also«, begann ich und wühlte dabei in meinen Unterlagen, »das ist oder war ungefähr so...« (Endlich hatte ich die zwei gesuchten Zeichnungen gefunden!) »Hier seht ihr, wie die Magnetlinien der Erde, die Kraftfelder - und die Erde ist ja ein großer Magnet mit Nord- und Südpol - nach der Theorie normal verliefen oder hätten verlaufen sollen. Natürlich haben sie das nie exakt getan. Der Sonnenwind verformt das irdische Magnetfeld etwa so, wie eine Seifenblase verformt wird, wenn man leicht gegen sie pustet - das sieht dann so aus.«
Ich hielt ihnen die zweite Skizze hin, die ich vor vielen Jahren aus einer Zeitschrift ausgeschnitten hatte.
»Der sogenannte Sonnenwind ist eine harte Strahlung aus Elektronen und Neutronen. Träfe er unvermindert auf die Erde, würde er auf die Dauer wahrscheinlich das Leben auf ihr zerstören. Das tut er zwar momentan auch, aber die Erde hat außer ihrem Magnetfeld noch eine zweite Schutzhülle: die Atmosphäre.
Planeten, die weder ein Magnetfeld noch eine Lufthülle haben wie Mond oder Mars, sind tot - das wisst ihr. Denn außer der harten Strahlung der Sonne gibt es dort die noch härtere Strahlung aus dem Weltraum, Höhenstrahlen nannte man sie. Sie werden normalerweise vom Magnetfeld aufgefangen und abgeleitet. Die in den sechziger Jahren entdeckten Van-Allen-Gürtel wirken wie Käfige, in denen sich diese Strahlung fängt - die von der Sonne und die aus dem freien Weltraum und dort tobt sie mit ungeheuren Geschwindigkeiten, erreicht aber die Erde nicht. Sie war ein großes Problem für die Raumfahrt; die Techniker mussten Vorsorge treffen, dass die Rakete diesen Strahlengürtel schnell durchstieß, die Menschen darin wären sonst getötet worden.«
»Und jetzt haben wir diesen Schutzgürtel nicht mehr?«, wirft Johannes ein.
»Nein, leider nicht. Wir können nur hoffen, dass wenigstens das Unterkleid der Erde, die Lufthülle, standhält, sonst ist es aus mit uns; und was geschieht, wenn Strahlungen durchkommen, habt ihr selbst miterlebt. Über drei Milliarden Menschen haben das nicht überlebt...«
»Wenn die Erde eine Art Magnet ist«, beharrt Johannes, »wie funktioniert er, wer treibt ihn an?«
»Über die Entstehung und Antriebsenergien des Magnetfeldes der Erde hat es nur Theorien gegeben. Die allgemein anerkannte: Der Erdkern rotiert etwas schneller als die äußeren Schichten, dadurch wirkt die Erde wie ein riesiger Dynamo, wobei auch der Mond eine Rolle zu spielen scheint. Trotzdem pendeln die magnetischen Pole der Erde dauernd, sie wandern, und von Zeit zu Zeit bleibt der Dynamo auch stehen: im Lauf der letzten sechsundsiebzig Millionen Jahre war dies nicht weniger als einhundertsiebzigmal der Fall, in jüngster geologischer Zeit verkürzten sich die Intervalle, dann sprangen die Pole, und oft waren Nord- und Südpol dabei richtig umgetauscht...«
»Dann wird der Kompass aber bald nach Süden zeigen...?«, fragte Franzi Neuner.
»Denkbar wäre es, wenn wir eine völlige Umpolung erleben. Dass unsere Kompassnadeln spinnen, habt ihr selbst schon öfters erlebt. Wie es später sein wird, kann niemand sagen, ich am allerwenigsten, denn meine ganze Weisheit stammt auch nur aus Büchern und Artikeln...«
»Und wann war die letzte Umpolung?«
»Vor ungefähr 600.000 Jahren. Aber sicher hat es später immer wieder Störungen des Magnetfeldes gegeben - und zwar immer häufiger. Der Wiener Schriftsteller Peter Kaiser, der sich mit diesen Fragen befasste, hat 1971 aufgrund aller bekannten Daten von einem Groß-Computer den nächsten Polsprung für die Zeit zwischen 1982 und 2000 errechnen lassen.«
»Dann hat er ja recht behalten...«
»Ja, leider...«
»Aber was hat das Wandern der Erdteile damit zu tun?«, fragte Johannes.
»Viel: Veränderte erdelektrische Verhältnisse - das haben die Russen schon 1953 festgestellt - können nicht nur Erdbeben auslösen, sondern unter Umständen ganze Kontinente in Bewegung setzen. Das sind unerhört komplizierte Zusammenhänge, von denen man eigentlich kaum eine Ahnung hatte, bevor es geschah.«
»Dann können wir also nur abwarten...«, schloss Dr. Jelinek das Gespräch, »ein bisschen gescheiter bin ich. doch geworden!«
Ich war froh, mich nicht völlig blamiert zu haben. Die Zeichnungen packte ich wieder in die Stahlkiste. Weiß der Himmel, wann ich sie wieder brauchen würde.
Heute sitze ich allein im Turm, schreibe und fühle mich gesättigt und wohl. Noch vor drei Jahren war ich nicht so satt.