1Q84. Buch 3 - Haruki Murakami - E-Book + Hörbuch

1Q84. Buch 3 Hörbuch

Haruki Murakami

4,5

Beschreibung

»Nie triumphiert die Liebe bei Murakami auf so bedingungslose Weise« FAZ Als Tengo seinen komatösen Vater im Krankenhaus besuchen will, findet er in dessen Krankenbett eine ›Puppe aus Luft‹ vor, die ein Abbild Aomames als junges Mädchen in sich birgt. Er greift nach ihrer Hand, und eine unsichtbare Verbindung entsteht. Fortan wartet Tengo darauf, der Puppe nochmals zu begegnen, doch vergebens. War das Signal nicht stark genug, um die zwischen Leben und Tod schwankende Aomame zu retten? Unterdessen setzt die gefährliche Sekte alles daran, um den Mord an ihrem ›Leader‹ aufzuklären. Aomames Spur wird von einem so unheimlichen wie unangenehmen Agenten aufgenommen. Er ermittelt mit tödlicher Präzision, doch schließlich bringt er mehr in Erfahrung, als gut für ihn ist … Im dritten Teil des Epos beweist Murakami erneut aufs Eindrucksvollste, dass sich die Schraube des gnadenlos packenden Erzählens immer noch etwas weiter drehen lässt. Auch die jüngste Episode seines größten Werks wird Sie mit dem Wunsch zurücklassen, diese unfassbare Geschichte möge niemals enden.

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Zeit:17 Std. 14 min

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Als Tengo seinen komatösen Vater im Krankenhaus besuchen will, findet er in dessen Krankenbett eine ›Puppe aus Luft‹ vor, die ein Abbild Aomames als junges Mädchen in sich birgt. Er greift nach ihrer Hand, und eine unsichtbare Verbindung entsteht. Fortan wartet Tengo darauf, der Puppe nochmals zu begegnen, doch vergebens. War das Signal nicht stark genug, um die zwischen Leben und Tod schwankende Aomame zu retten?

Unterdessen setzt die gefährliche Sekte alles daran, um den Mord an ihrem ›Leader‹ aufzuklären. Aomames Spur wird von einem so unheimlichen wie unangenehmen Agenten aufgenommen. Er ermittelt mit tödlicher Präzision, doch schließlich bringt er mehr in Erfahrung, als gut für ihn ist …

Im dritten Teil des Epos beweist Murakami erneut aufs Eindrucksvollste, dass sich die Schraube des gnadenlos packenden Erzählens immer noch etwas weiter drehen lässt. Auch die jüngste Episode seines größten Werks wird Sie mit dem Wunsch zurücklassen, diese unfassbare Geschichte möge niemals enden.

Credit: © Markus Tedeskino/Ag. Focus

HARUKI MURAKAMI, 1949 in Kyoto geboren, lebte über längere Zeit in den USA und in Europa und ist der gefeierte und mit höchsten Literaturpreisen ausgezeichnete Autor zahlreicher Romane und Erzählungen. Sein Werk erscheint in deutscher Übersetzung bei DuMont. Zuletzt erschienen ›Von Beruf Schriftsteller‹ (2016) und ›Birthday Girl‹, illustriert von Kat Menschik (2017).

HARUKI MURAKAMI

1Q84

Buch 3

Roman

Aus dem Japanischen

von Ursula Gräfe

Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel ›1Q84 Book 3‹

bei Shinchosha, Tokio

© 2009 Haruki Murakami

eBook 2011

© 2011 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln

Alle Rechte vorbehalten

Übersetzung: Ursula Gräfe

Umschlag: Zero, München

Datenkonvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

ISBN eBook: 978-3-8321-8572-5

www.dumont-buchverlag.de

Buch 3

Oktober bis Dezember

Kapitel 1

Ushikawa

Am äußeren Rand des Bewusstseins

»Herr Ushikawa, würden Sie bitte nicht rauchen.«

Ushikawa sah den stämmigen kleinen Mann an, der ihm an seinem Schreibtisch gegenübersaß, und blickte dann auf die noch nicht angezündete Seven Stars zwischen seinen Fingern.

»Wenn es Ihnen nichts ausmacht«, fügte der Mann höflich hinzu.

Ushikawa schaute verdutzt. Er schien sich zu fragen, wie die Zigarette überhaupt in seine Hand gekommen war.

»Selbstverständlich, entschuldigen Sie«, sagte er. »Der Griff zur Zigarette ist schon beinahe ein Reflex bei mir.«

Der stämmige kleine Mann bewegte das Kinn ruckartig etwa einen Zentimeter auf und ab, sah Ushikawa jedoch weiter gerade in die Augen. Letzterer steckte die Zigarette in die Schachtel zurück und verstaute sie in einer Schublade.

Der mit dem Pferdeschwanz lehnte, fast ohne den Rahmen zu berühren, in der Tür und musterte Ushikawa, als sei dieser ein Fleck an der Wand. Diese Typen sind wirklich unheimlich, dachte Ushikawa. Jetzt traf er schon das dritte Mal mit den beiden zusammen, aber ganz gleich, wie oft er ihnen noch begegnen würde, beunruhigend würde es immer bleiben.

Sie befanden sich in Ushikawas nicht allzu großem Büro.

Der untersetzte Mann mit dem kahlgeschorenen Schädel stellte die Fragen, während der mit dem Pferdeschwanz Ushikawa die ganze Zeit stumm und reglos anstarrte wie einer von diesen steinernen Löwenhunden, die die Tore von Shinto-Schreinen bewachen.

»Es sind jetzt drei Wochen vergangen«, sagte der Kahle.

Ushikawa überprüfte die Notiz auf seinem Tischkalender und nickte. »Stimmt. Genau heute vor drei Wochen haben wir uns das letzte Mal gesehen.«

»In der ganzen Zeit haben Sie uns nicht einmal Bericht erstattet. Obwohl wir uns, wie ich Ihnen bereits erklärt hatte, in einem Wettlauf gegen die Zeit befinden.«

»Ich weiß«, sagte Ushikawa und spielte nun statt mit der Zigarette mit seinem goldenen Feuerzeug. »Wir dürfen keine Zeit vergeuden. Darüber bin ich mir durchaus im Klaren.«

Der Kahlkopf wartete darauf, dass Ushikawa fortfuhr.

»Aber häppchenweise Informationen zu liefern entspricht nicht meiner Arbeitsweise. Hier ein bisschen und da ein bisschen – das widerstrebt mir. Ich muss zuerst die Dinge im Zusammenhang sehen und sie auch mal von der anderen Seite betrachten, um mir ein vollständiges Bild machen zu können. Es mag selbstgefällig klingen, aber das ist eben mein persönlicher Stil. Voreilige Schlüsse bringen häufig mehr Schaden als Nutzen, Herr Onda.«

Der mit Onda Angesprochene musterte ihn kalt. Ushikawa wusste, dass dieser Mann keinen positiven Eindruck von ihm hatte. Was ihm allerdings kaum etwas ausmachte. Solange Ushikawa denken konnte, hatte er eigentlich nie irgendwo einen guten Eindruck gemacht. Für ihn war das ein ganz alltäglicher Zustand. Weder seine Eltern noch seine Geschwister hatten viel für ihn übrig gehabt, seine Lehrer und seine Mitschüler ebenso wenig. Nicht einmal seine Frau und seine Töchter hatten ihn gemocht. Wahrscheinlich hätte es ihn sogar beunruhigt, wenn ihn plötzlich jemand sympathisch gefunden hätte. Abneigung dagegen ließ ihn völlig kalt.

»Herr Ushikawa, wir möchten Ihren Stil nach Möglichkeit respektieren. Bisher haben wir das auch immer getan. Aber diesmal ist es etwas anderes. Wir haben leider nicht die Zeit zu warten, bis Sie alle Fakten beisammenhaben.«

»Gewiss, Herr Onda. Andererseits drehen Sie ja auch nicht nur Däumchen und warten darauf, dass ich mich bei Ihnen melde«, sagte Ushikawa. »Bestimmt haben Sie parallel zu meinen Nachforschungen Ihre eigenen angestellt.«

Onda gab keine Antwort. Seine Lippen blieben fest versiegelt. Auch seine Miene änderte sich nicht. Doch Ushikawa wusste, dass keine Antwort auch eine Antwort war. Die beiden hatten der Frau in den vergangenen drei Wochen auf anderem Wege nachgespürt als er. Aber sie hatten keinen Erfolg gehabt, weshalb das unheimliche Paar wieder bei ihm aufgetaucht war.

»Eine Schlange erkennt die andere«, sagte Ushikawa mit ausgebreiteten Händen, als würde er sie in ein erfreuliches Geheimnis einweihen. »In Wahrheit bin ich eine Schlange. Vielleicht sehe ich nicht besonders gut aus, aber mein Geruchssinn ist unschlagbar. Ich bin imstande, auch die schwächste Witterung aufzunehmen und zu verfolgen. Aber wie es der Natur der Schlange entspricht, kann ich nur nach meiner Methode und in meinem Tempo arbeiten. Mir ist völlig klar, wie entscheidend der Zeitfaktor ist; dennoch bitte ich Sie, noch ein wenig zu warten. Mangelnde Geduld kann alles verderben.«

Onda beobachtete gelassen, wie Ushikawa sein Feuerzeug in den Händen drehte. Schließlich hob er den Kopf. »Ich möchte Sie bitten, uns mitzuteilen, was Sie bisher herausgefunden haben, auch wenn Ihre Erkenntnisse noch bruchstückhaft sind. Wir verstehen Ihre Situation, aber wir müssen unseren Vorgesetzten wenigstens ein paar konkretere Ergebnisse liefern. Wir verlieren sonst unser Gesicht. Außerdem ist die Lage, in der Sie sich befinden, auch keineswegs erquicklich, Herr Ushikawa.«

Diese Typen können einen ganz schön in die Enge treiben, dachte Ushikawa. Man hatte sie zu Leibwächtern des Leaders gemacht, weil sie ausgebildete Kampfsportler waren. Aber dann wurde ihr Schutzbefohlener direkt vor ihrer Nase ermordet. Oder nein, dafür, dass es ein Mord gewesen war, gab es keinen unmittelbaren Beweis. Sekteneigene Ärzte hatten die Leiche untersucht, aber keine äußeren Verletzungen feststellen können. Allerdings gab es auf dem Gelände der Vorreiter nur eine ziemlich einfach ausgestattete Krankenstation. Hinzu kam, dass sie unter Zeitdruck gestanden hatten. Eine gründlichere Autopsie durch einen Spezialisten hätte vielleicht etwas ergeben. Aber dafür war es mittlerweile zu spät. Die Vorreiter hatten den Leichnam bereits in aller Heimlichkeit in ihrem Hauptquartier entsorgt.

Auf alle Fälle waren die beiden Leibwächter durch ihr Unvermögen, den Leader zu schützen, in eine heikle Lage geraten. Daher war es nun ihre Pflicht und Schuldigkeit, die verschwundene Frau ausfindig zu machen, und wenn sie dazu jeden Stein in ganz Japan einzeln umdrehen mussten. Aber bisher hatten sie keine konkreten Anhaltspunkte. Sie besaßen zwar die für ihre Aufgaben als Bodyguards erforderlichen Voraussetzungen, aber um eine Person aufzuspüren, die vorsätzlich ihre Spuren verwischte, fehlte ihnen das Know-how.

»Einverstanden«, sagte Ushikawa. »Ich erzähle Ihnen, was ich bislang herausgefunden habe, aber es sind eben nur Bruchstücke, die noch kein Gesamtbild ergeben.«

Onda kniff kurz die Augen zusammen. Dann nickte er. »Das genügt. Ein paar Dinge wissen wir auch. Vielleicht sind sie Ihnen ebenfalls bekannt, vielleicht auch nicht. Am besten, wir tauschen unsere Erkenntnisse aus.«

Ushikawa legte das Feuerzeug beiseite und verschränkte die Hände auf dem Schreibtisch. »Also, beginnen wir von vorn: Eine junge Frau namens Aomame wurde in eine Suite im Hotel Okura bestellt. Sie sollte ein Muskelstretching bei dem Leader Ihrer Religionsgemeinschaft durchführen. An diesem Abend, es war Anfang September, ging ein heftiges Unwetter über der Innenstadt nieder. Nachdem die junge Frau den Leader etwa eine Stunde lang allein in seinem Zimmer massiert hatte, ging sie. Der Leader sei eingeschlafen, sagte die Frau und riet Ihnen, ihn etwa zwei Stunden lang nicht zu stören. Woran Sie sich auch hielten. Allerdings schlief der Leader zu diesem Zeitpunkt nicht, sondern war bereits tot. Sein Körper wies keinerlei äußere Verletzungen auf. Anscheinend war er an plötzlichem Herzversagen gestorben. Doch unmittelbar darauf verschwand die Frau. Zuvor war sie bereits aus ihrer Wohnung ausgezogen, und am folgenden Tag erhielt das Sportstudio, in dem sie gearbeitet hatte, ihr Kündigungsschreiben. Die Sache scheint bis ins Detail geplant gewesen zu sein. Ausgeschlossen, dass das nur Zufälle waren. Die Indizien lassen keinen anderen Schluss zu, als dass diese Aomame den Leader vorsätzlich umgebracht hat.«

Onda nickte. Bis dahin hatte er nichts einzuwenden.

»Ihre Aufgabe ist es nun, die Wahrheit herauszufinden. Und deshalb müssen Sie diese Frau unbedingt kriegen.«

»Wenn diese Aomame ihn wirklich getötet hat, wie wir vermuten, müssen wir den Grund dafür und sämtliche Einzelheiten in Erfahrung bringen.«

Ushikawa betrachtete seine auf dem Tisch verschränkten Finger, als handele es sich um eine erstaunliche Kuriosität. Dann sah er seinem Gegenüber ins Gesicht.

»Aomames familiären Hintergrund haben Sie ja bereits überprüft. Die Familie gehört der Gemeinschaft der Zeugen an. Die Eltern sind noch eifrig dabei, und der vierunddreißigjährige Bruder hat sogar einen Posten in der Hauptstelle in Odawara. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder. Seine Frau ist ebenfalls treues Mitglied der Zeugen. Aomame ist als Einzige ausgetreten. Sie ist eine ›Abtrünnige‹, wie sie es nennen. In der Folge kam es zum Bruch, und sie hat seit fast zwanzig Jahren keinen Kontakt mehr zu ihrer Familie. Ich halte es für ausgeschlossen, dass Aomame von ihren Verwandten versteckt gehalten wird. Sie hat mit elf Jahren jede Verbindung abgebrochen und seither weitgehend für sich selbst gesorgt. Eine Zeitlang hat sie im Haus eines Onkels gewohnt, ist aber seit der Oberschule ganz unabhängig. Hut ab. Eine beherzte Frau.«

Der Kahlkopf schwieg. All dies war ihm wohl längst bekannt.

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Zeugen in die Sache verwickelt sind. Sie sind doch für ihre pazifistische und gewaltlose Überzeugung bekannt. Höchst unwahrscheinlich, dass sie dem Leader nach dem Leben trachteten. Da würden Sie mir doch zustimmen?«

Onda nickte. »Nein, die Zeugen haben nichts damit zu tun. Das wissen wir. Wir haben den Bruder befragt. Sicherheitshalber. Aber er hatte überhaupt keine Ahnung.«

»Haben Sie ihm wenigstens die Nägel ausgerissen? Sicherheitshalber?«, fragte Ushikawa.

Onda ignorierte die Frage.

»Jetzt machen Sie doch nicht so ein grimmiges Gesicht«, sagte Ushikawa. »Das war nur ein Scherz. Zugegeben, ein schlechter. Sie wissen doch, dass ich überzeugter Pazifist bin und jegliche Art der Gewaltanwendung ablehne. Na schön, der Bruder hatte also keinen blassen Dunst, was Aomame tut oder wo sie sich aufhält. Das heißt, sie steht weder in Verbindung mit ihrer Familie noch mit den Zeugen, was aber noch lange nicht bedeutet, dass sie die Sache allein durchgezogen hat. Ohne Helfer hätte sie einen so ausgefeilten Plan nicht ausführen können. Irgendjemand hat dieses raffinierte Set-up geschaffen, und sie ist seinen Anweisungen kaltblütig gefolgt. Anschließend hat sie sich wie durch Hexerei in Luft aufgelöst. Dahinter muss eine Menge Geld und Einfluss stecken. Die Person oder die Organisation, die hinter Aomame steht, wollte den Leader unter allen Umständen aus dem Weg räumen. Aus welchen Gründen auch immer. Die Sache war also bis ins Kleinste geplant. Auch in diesem Punkt sind wir uns einig?«

Onda nickte. »Im Großen und Ganzen.«

»Dummerweise haben wir keine Ahnung, um welche Organisation es sich handeln könnte«, sagte Ushikawa. »Sie haben natürlich auch Aomames Bekanntenkreis und ihr ganzes Umfeld unter die Lupe genommen?«

Onda nickte schweigend.

»Auch wenn man eigentlich nicht von einem Bekanntenkreis sprechen kann«, sagte Ushikawa. »Offenbar hat sie keine Freunde und auch keinen Liebhaber. Ihr Umgang mit den Kollegen ist normal, beschränkt sich aber auf den Arbeitsplatz, außerhalb ist sie mit niemandem persönlich bekannt. Ich konnte zumindest nichts finden. Bei einer gesunden jungen Frau, die gar nicht so übel aussieht, kommt man da schon ins Grübeln, oder?«

Ushikawa sah den Mann mit dem Pferdeschwanz an, der die ganze Zeit über weder seine Haltung noch seine Miene verändert hatte. Allerdings war sein Gesicht von vornherein so ausdruckslos, dass es vielleicht auch nicht viel zu verändern gab. Ushikawa fragte sich, ob dieser Mann einen Namen hatte. Es hätte ihn kaum überrascht, wenn nicht.

»Sie beide sind die Einzigen, die Aomame gesehen haben«, sagte Ushikawa. »Ist Ihnen irgendetwas Besonderes an ihr aufgefallen?«

Onda schüttelte leicht den Kopf. »Wie Sie schon sagten, sie ist an sich eine attraktive junge Frau. Aber keine aufsehenerregende Schönheit. Sie wirkte ruhig, gelassen und selbstbewusst. Sie schien sehr überzeugt von ihren beruflichen Fähigkeiten. Ansonsten ist mir nichts an ihr aufgefallen, auch äußerlich nicht. An ihr Gesicht kann ich mich kaum erinnern. Es ist schon fast seltsam.«

Ushikawa sah den Mann mit dem Pferdeschwanz an. Vielleicht hatte er etwas hinzuzufügen. Doch wie immer blieb er völlig unbewegt.

Ushikawa wandte den Blick wieder dem Kahlen zu. »Sie haben natürlich überprüft, mit wem Aomame in den letzten Monaten telefoniert hat?«

Onda schüttelte den Kopf. »Nein, bisher nicht.«

»Das rate ich Ihnen aber dringend.« Ushikawa lächelte. »Man glaubt nicht, wo so ein Mensch überall anruft und von wo aus er angerufen wird. Sie brauchen nur seine Telefonate zu verfolgen, und sein Leben liegt vor Ihnen wie ein offenes Buch. Selbst Aomame ist da keine Ausnahme. Es ist nicht ganz einfach, Aufzeichnungen über private Telefonate in die Hände zu bekommen, aber unmöglich ist es nicht. Ich sag’s ja, eine Schlange kennt die andere.«

Schweigend wartete Onda darauf, dass er fortfuhr.

»Aus den Aufzeichnungen von Aomames Telefonaten lassen sich einige Fakten herauslesen. Es ist untypisch für eine Frau, aber Aomame telefoniert offenbar nicht gern. Ihre wenigen Gespräche sind in der Regel sehr kurz. Die meisten hat sie mit dem Sportstudio geführt, aber da sie auch freiberuflich gearbeitet hat, geht es bei einigen um Privatstunden. Mit diesen Klienten hat sie offenbar direkt verhandelt und auch die Termine selbst mit ihnen abgesprochen. Keines dieser Telefonate erscheint irgendwie verdächtig.«

Hier machte Ushikawa eine Pause, musterte seine nikotingelben Finger von allen Seiten und dachte ans Rauchen. In Gedanken zündete er sich eine Zigarette an, zog daran und stieß den Rauch aus.

»Bis auf zwei Ausnahmen. Erstens hat sie zweimal bei der Polizei angerufen. Keine Notrufnummer, sondern die Verkehrspolizei im Revier Shinjuku. Außerdem hat sie selbst mehrere Anrufe von dort erhalten. Aomame fährt nicht Auto, und Polizisten nehmen keine privaten Trainingsstunden in teuren Sportstudios. Also ist sie wahrscheinlich mit jemandem aus diesem Revier persönlich bekannt. Mit wem, weiß ich nicht. Zweitens wurde sie mehrmals von einer nicht identifizierbaren Nummer angerufen. Es waren immer lange Gespräche. Sie selbst hat nie dort angerufen. Es war unmöglich, diese Nummer zurückzuverfolgen. Natürlich gibt es Geheimnummern, aber mit etwas Mühe kann man den dazugehörigen Namen in der Regel herausfinden. Bei dieser wollte es mir jedoch partout nicht gelingen. Die Nummer ist unentschlüsselbar. Das zu erreichen ist fast unmöglich.«

»Das heißt, diese Person vermag das Unmögliche.«

»So ist es. Auf alle Fälle hat da ein Profi die Finger im Spiel.«

»Noch eine Schlange«, sagte Onda.

Ushikawa rieb sich mit der flachen Hand über den unregelmäßigen Schädel und grinste. »Genau. Noch eine Schlange. Ein würdiger Gegner.«

»Es wird immer klarer, dass Aomames Hintermänner Profis sein müssen.«

»Ja, Aomame muss einer Organisation angehören. Und diese Leute sind keine Anfänger.«

Onda beobachtete Ushikawa unter halbgeschlossenen Lidern hervor. Dann wandte er sich um und wechselte einen Blick mit dem Pferdeschwanz, der zum Zeichen, dass er verstanden hatte, einmal kurz nickte.

»Und jetzt?«, fragte Onda.

»Jetzt«, sagte Ushikawa, »bin ich an der Reihe, Fragen zu stellen. Haben Sie mir etwas Wissenswertes mitzuteilen? Fällt Ihnen vielleicht irgendjemand ein, der es auf Ihren Leader abgesehen hatte?«

Onda zog seine langen, geraden Augenbrauen zu einer Linie zusammen. Über seiner Nase bildeten sich drei Falten.

»Herr Ushikawa, ich bitte Sie. Wir sind eine religiöse Gemeinschaft. Wir streben nach innerem Frieden und geistigen Werten. Wir leben im Einklang mit der Natur und bestellen unsere Felder. Unser alltägliches Leben ist der Meditation und Askese gewidmet. Wer sollte uns feindlich gesinnt sein? Und welchen Vorteil sollte er daraus ziehen?«

Ein vages Lächeln umspielte Ushikawas Mundwinkel. »Fanatische Menschen gibt es überall. Niemand weiß, was sie bewegt und was sie denken. Ist es nicht so?«

»Ich haben Ihnen jedenfalls in dieser Hinsicht nichts zu berichten«, erwiderte Onda ausdruckslos, ohne die Ironie in Ushikawas Worten zu beachten.

»Wie ist es mit Akebono? Gibt es da noch versprengte Reste?«

Onda schüttelte wieder – diesmal entschieden – den Kopf. Unmöglich. Die Vorreiter hatten die Akebono-Gruppe kompromisslos zerschlagen. Da war keiner übrig geblieben.

»Also gut. Es gibt nichts, das ich wissen müsste. Aber Tatsache ist doch, dass irgendjemand, irgendeine Organisation, Ihrem Leader nach dem Leben getrachtet und ihn umgebracht hat. Auf raffinierteste Weise. Und sich dann quasi in Luft aufgelöst hat. Das können Sie nicht leugnen.«

»Und wir müssen die Hintergründe aufklären.«

»Ohne die Polizei einzuschalten.«

Onda nickte. »Es ist unser Problem, nicht das der Justiz.«

»Gut. Ihr Problem. Ganz klar. Leicht verständlich«, sagte Ushikawa. »Eine Frage möchte ich Ihnen noch stellen.«

»Bitte«, sagte Onda.

»Wie viele Personen in Ihrer Gemeinschaft wissen, dass der Leader tot ist?«

»Ich und mein Kollege«, sagte Onda. »Dann die beiden Männer, die uns geholfen haben, seine sterbliche Hülle fortzuschaffen. Sie sind uns unterstellt. Sonst wissen nur noch unsere fünf obersten Führer davon. Das macht neun. Die drei Priesterinnen haben wir noch nicht eingeweiht. Aber sie werden bald davon erfahren. Da sie sich stets in der Nähe des Leaders aufhalten, wird man sein Ableben nicht lange vor ihnen verbergen können. Und dann Sie, Herr Ushikawa. Sie wissen es auch.«

»Insgesamt also dreizehn Personen.«

Onda schwieg.

Ushikawa seufzte. »Darf ich Ihnen meine ehrliche Meinung sagen?«

»Bitte.«

»Eigentlich ist es müßig, noch davon anzufangen, aber Sie hätten sofort, als sie seinen Tod entdeckt haben, die Polizei rufen und ihn offiziell bekanntgeben sollen. Einen so schwerwiegenden Vorfall kann man auf Dauer nicht geheim halten. Ein Geheimnis, das mehr als zehn Personen kennen, ist kein Geheimnis mehr. Aber jetzt können Sie nicht mehr zurück.«

Der Kahlgeschorene verzog keine Miene. »Das zu beurteilen ist nicht meine Aufgabe. Ich folge nur meinen Befehlen.«

»Und wessen Aufgabe ist es?«

Keine Antwort.

»Die eines Stellvertreters?«

Onda schwieg beharrlich weiter.

»Na gut«, sagte Ushikawa. »Jedenfalls haben Sie auf Befehl von oben die Leiche des Leaders heimlich beiseite geschafft. Solche Befehle gelten in Ihrer Organisation als absolut. Doch nach dem Gesetz haben Sie eine Straftat begangen, nämlich illegal eine Leiche beseitigt. Es ist sogar ein ziemlich schweres Vergehen. Aber das wissen Sie natürlich.«

Onda nickte.

Wieder stieß Ushikawa einen tiefen Seufzer aus. »Und für den Fall, dass die Polizei zufällig doch Wind davon bekommen sollte, halten Sie mich bitte raus. Ich habe nichts vom Tod des Leaders gewusst. Schließlich will ich keine Strafsache am Hals haben.«

»Schon gut, Herr Ushikawa, Sie wussten von nichts. Wir haben Sie lediglich als privaten Ermittler damit beauftragt, herauszufinden, wo diese Frau namens Aomame sich aufhält. Das ist nicht gegen das Gesetz.«

»Das genügt. Ich weiß von nichts«, sagte Ushikawa.

»Uns wäre es auch lieber gewesen, keinen Außenstehenden einzuweihen. Aber dadurch, dass wir Sie auf Aomame angesetzt hatten, waren Sie ja bereits in die Sache verwickelt, Herr Ushikawa. Wir brauchen Ihre Unterstützung bei der Suche nach ihr. Wir rechnen mit Ihrer Verschwiegenheit.«

»Diskretion ist die Basis meines Berufs. Da können Sie ganz unbesorgt sein. Aus meinem Mund erfährt niemand ein Sterbenswörtchen.«

»Wenn etwas nach außen dringt, und wir finden heraus, dass Sie nicht dichtgehalten haben, wird es sehr ungemütlich für Sie.«

Ushikawa senkte den Blick auf den Schreibtisch und betrachtete abermals seine kurzen, dicken Finger. Er sah aus, als sei er überrascht, dort zufällig seine Hände zu entdecken.

»Ungemütlich«, wiederholte er und blickte auf.

Onda kniff nur die Augen zusammen. »Wir müssen den Tod des Leaders unter allen Umständen geheim halten. Und dabei können wir nicht wählerisch sein, was unsere Mittel angeht.«

»Bei mir ist Ihr Geheimnis sicher. Sie können wirklich ganz beruhigt sein«, sagte Ushikawa. »Bisher ist unsere Zusammenarbeit doch immer gut verlaufen. Wie viele heikle Angelegenheiten habe ich schon diskret für Sie erledigt. Mitunter war das gar nicht so einfach. Und Sie haben mich stets großzügig entlohnt. Mein Mund ist doppelt versiegelt. Ich bin zwar nicht religiös, aber ich habe Ihrem verstorbenen Leader persönlich viel zu verdanken und werde alles tun, was in meiner Macht steht, um diese Aomame zu finden. Mich bemühen, alles über die Hintergründe dieser grauenhaften Tat in Erfahrung zu bringen. Ich werde mein Bestes geben. Haben Sie also bitte noch etwas Geduld. Sicher habe ich bald gute Nachrichten für Sie.«

Onda veränderte seine Sitzhaltung ein wenig. Wie als Reaktion darauf verlagerte auch der Pferdeschwanz ganz leicht sein Gewicht von einem Bein auf das andere.

»Ist das alles, was Sie uns momentan mitteilen können?«, fragte Onda.

Ushikawa dachte kurz nach. »Wie gesagt, Aomame hat zweimal bei der Verkehrspolizei in Shinjuku angerufen und wurde selbst mehrmals von dort zurückgerufen. Den Namen der anderen Person kenne ich noch nicht. Bestimmt ist sie bei der Polizei, und die würde ihn auf direkte Anfrage sowieso nicht preisgeben. Allerdings hatte ich damals eine Art Geistesblitz. Irgendetwas war mit der Verkehrspolizei in Shinjuku gewesen. Ich grübelte wie verrückt. Was war das nur? Irgendetwas hatte sich am Rand meines kümmerlichen Gedächtnisses festgesetzt. Es dauerte ziemlich lange, bis mir einfiel, was es war. Das Alter ist wirklich eine Plage. Das Gedächtnis lässt immer mehr nach. Früher funktionierte es wie geschmiert. Jedenfalls ist es mir dann vor ungefähr einer Woche endlich eingefallen.«

Ushikawa machte eine effektvolle Pause und lächelte triumphierend. Der Kahle wartete geduldig darauf, dass er fortfuhr.

»Letzten August ist eine junge Polizistin aus ebendiesem Revier in einem Love Hotel in Shibuya-Maruyama tot aufgefunden worden. Erdrosselt. Splitternackt und mit ihren eigenen Handschellen gefesselt. Natürlich war das ein Riesenskandal. Aomames Telefonate mit diesem Revier konzentrieren sich auf einige Monate vor diesem Ereignis. Danach fand kein einziges mehr statt. Was meinen Sie? Ist das nicht ein seltsamer Zufall?«

Onda schwieg eine Weile. »Sie meinen also, die Person, mit der Aomame telefoniert hatte, könnte die ermordete Polizistin gewesen sein?«

»Sie hieß Ayumi Nakano und war sechsundzwanzig Jahre alt. Ein hübsches Ding. Ihr Vater und ihr älterer Bruder sind ebenfalls bei der Polizei. Ayumi galt als ausgezeichnete Polizistin. Ihre Kollegen ermitteln natürlich, aber den Mörder haben sie bisher nicht gefunden. Entschuldigen Sie die Frage, aber wissen Sie vielleicht Näheres darüber?«

Onda blitzte Ushikawa mit seinen harten, kalten Gletscheraugen böse an. »Ich weiß nicht, was Sie meinen«, sagte er schneidend. »Denken Sie vielleicht, wir hätten etwas mit diesem Verbrechen zu tun, Herr Ushikawa? Jemand von uns hätte diese Polizistin in ein zwielichtiges Hotel gelockt, mit Handschellen gefesselt und erwürgt?«

Ushikawa schürzte die Lippen und schüttelte den Kopf. »Aber nein, das ist doch absurd. So etwas würde ich niemals denken. Ich wollte wirklich nur fragen, ob Sie etwas darüber wissen, mehr nicht. Irgendetwas. Denn jede auch noch so kleine Spur könnte wertvoll sein. Sosehr ich mir auch den Kopf zerbreche, ich komme einfach auf keinen Zusammenhang zwischen dem Tod der Polizistin in dem Love Hotel in Shibuya und dem Mord an Ihrem Leader.«

Onda musterte Ushikawa abschätzig. Langsam stieß er den angehaltenen Atem aus. »Also gut«, sagte er. »Ich werde Ihren Bericht nach oben weiterleiten.« Er nahm ein Heft hervor und machte sich Notizen. »Ayumi Nakano. 26 Jahre alt. Shinjuku Verkehrspolizei. Eventuell Beziehung zu Aomame.«

»Genau.«

»Noch etwas?«

»Ja, eine Sache möchte ich unbedingt noch wissen. Irgendjemand aus Ihrer Gemeinschaft muss Aomame doch ins Gespräch gebracht haben. Wer hat als Erster erwähnt, dass in Tokio eine kompetente Trainerin und Stretching-Expertin dieses Namens lebt? Später war ich – Sie sagten es bereits – damit betraut, sie und ihr Umfeld zu durchleuchten. Ich will mich gar nicht herausreden, aber ich bin, wie es meine Art ist, der Sache sehr gewissenhaft nachgegangen. Dennoch habe ich keinerlei Ungereimtheiten oder Verdachtsmomente entdeckt. Sie war durch und durch sauber. Daraufhin haben Sie sie in die Suite im Hotel Okura bestellt. Was dann geschah, wissen wir. Aber wer hat Ihnen diese Frau eigentlich empfohlen?«

»Ich weiß es nicht.«

»Sie wissen es nicht?« Ushikawa zog ein Gesicht wie ein Kind, das ein unverständliches Wort gehört hat. »Jemand aus dem inneren Kreis Ihrer Gemeinschaft hat Aomame erwähnt, und Sie können sich nicht erinnern, wer das war? Im Ernst?«

»So ist es«, sagte Onda mit unbewegter Miene.

»Das ist doch sehr verwunderlich«, sagte Ushikawa in einem Tonfall, der deutlich machte, wie sehr es ihn verwunderte.

Onda schwieg.

»Äußerst rätselhaft, finden Sie nicht? Plötzlich taucht irgendwann wie aus dem Nichts ihr Name auf. Sie hat sich quasi von selbst empfohlen?«

»Offen gesagt war es der Leader, dem von Anfang an sehr an dieser Begegnung gelegen war.« Onda wählte seine Worte mit Bedacht. »Tatsächlich waren innerhalb der Führung einige der Ansicht, dass es nicht ungefährlich sei, sich auf diese Weise in die Hände einer Unbekannten zu begeben. Und als seine Leibwächter teilten wir diese Meinung natürlich. Aber der Leader selbst machte sich da gar keine Gedanken. Er bestand ganz einfach darauf.«

Ushikawa nahm wieder sein Feuerzeug zur Hand, öffnete den Deckel und zündete es an, als wolle er es ausprobieren. Dann schloss er es sofort wieder.

»Soweit ich weiß, war Ihr Leader ein äußerst umsichtiger Mensch«, sagte er.

»Das stimmt. Er war extrem aufmerksam und immer auf der Hut.« Tiefes Schweigen folgte.

»Ich möchte noch etwas fragen«, sagte Ushikawa. »Es geht um Tengo Kawana. Er hatte eine Affäre mit einer älteren verheirateten Frau. Sie kam einmal in der Woche zu ihm in die Wohnung, um intim mit ihm zu sein. Wenn man jung ist, kann so etwas ja mal vorkommen. Doch eines Tages erhielt Herr Kawana plötzlich einen Anruf vom Ehemann der Dame. Dieser teilte ihm mit, seine Frau könne ihn künftig nicht mehr aufsuchen. Seither ist jeder Kontakt zu ihr abgerissen.«

Onda zog die Brauen zusammen. »Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen. Ist Tengo Kawana irgendwie in den Vorfall verwickelt?«

»Das ist noch nicht geklärt. Jedenfalls fürchtet er, dass dieser Dame etwas passiert sein könnte. Sie hätte ihn ja wenigstens einmal anrufen können. Wo sie doch bisher eine intime Beziehung hatten. Aber sie verschwindet mir nichts, dir nichts, ist wie vom Erdboden verschluckt. Ich frage nur zur Sicherheit, weil es mir unangenehm ist, mit so etwas zu tun zu haben – wissen Sie etwas darüber? Sie heißt Kyoko Yasuda.«

»Mir ist nicht das Geringste über diese Dame bekannt«, sagte Onda gleichgültig. »Kyoko Yasuda. Hatte eine Beziehung mit Tengo Kawana.«

»Sie ist zehn Jahre älter als er und verheiratet.«

Onda trug auch das in sein Heft ein. »Ich werde meinen Vorgesetzten davon Meldung machen.«

»Gut«, sagte Ushikawa. »Ach ja, und was ist eigentlich mit Eriko Fukada. Wo ist sie?«

Onda hob das Gesicht und musterte ihn wie einen schiefhängenden Bilderrahmen. »Woher sollten wir wissen, wo Eriko Fukada sich aufhält?«

»Interessiert Sie das denn nicht?«

Onda schüttelte den Kopf. »Sie kann sich aufhalten, wo sie will, das geht uns nichts an. Sie ist ein freier Mensch.«

»Und für Tengo Kawana interessieren Sie sich auch nicht?«

»Er hat nichts mit uns zu tun.«

»Vor nicht allzu langer Zeit schienen Sie sich aber sehr für die beiden zu interessieren«, sagte Ushikawa.

Onda kniff einen Moment die Augen zusammen. »Im Augenblick konzentriert sich unser ganzes Interesse auf Aomame«, sagte er.

»Sie haben häufig wechselnde Interessen, nicht wahr?«

Onda verzog nur leicht die Lippen und würdigte ihn keiner Antwort.

»Haben Sie den Roman gelesen, den Eriko Fukada geschrieben hat, Herr Onda? Die Puppe aus Luft?«

»Nein. In unserer Gemeinschaft ist es nicht gestattet, andere als religiöse Schriften zu lesen.«

»Haben Sie die Bezeichnung ›Little People‹ schon einmal gehört?«

»Nein«, antwortete Onda wie aus der Pistole geschossen.

»Ich verstehe«, sagte Ushikawa.

Damit war das Gespräch beendet. Onda erhob sich langsam von seinem Stuhl und richtete den Kragen seines Jacketts. Der Pferdeschwanz entfernte sich von der Tür und machte einen Schritt nach vorn.

»Herr Ushikawa, ich wiederhole mich, aber der Zeitfaktor ist in dieser Angelegenheit entscheidend.« Onda sah von oben auf Ushikawa, der noch auf seinem Stuhl saß, herunter. »Wir müssen Aomame so schnell wie möglich finden. Natürlich tun auch wir alles, was in unserer Macht steht, aber Sie müssen uns zuarbeiten. Wenn wir diese Frau nicht finden, stecken Sie auch mit drin. Sie sind der einzige Außenstehende, der unser Geheimnis kennt.«

»Viel Wissen bringt viel Verantwortung mit sich.«

»Ganz recht«, sagte Onda in emotionslosem Ton. Er drehte sich um und verließ, ohne sich noch einmal umzusehen, den Raum. Der Pferdeschwanz folgte ihm und zog geräuschlos die Tür hinter sich zu.

Kaum waren die beiden fort, zog Ushikawa die Schreibtischschublade auf und schaltete den Kassettenrekorder ab. Er öffnete den Deckel, nahm die Kassette heraus und schrieb Datum und Uhrzeit auf das Etikett. Die eleganten Schriftzeichen standen in Widerspruch zu seinem Äußeren. Er holte die Schachtel Seven Stars aus der Schublade, steckte sich eine in den Mund und zündete sie mit seinem Feuerzeug an. Er nahm einen tiefen Zug und blies den Rauch zur Decke. Das Gesicht nach oben gewandt, schloss er eine Weile die Augen. Als er sie wieder öffnete, warf er einen Blick auf die Wanduhr. Halb drei. Diese Typen sind wirklich nicht geheuer, dachte Ushikawa wieder.

Wenn wir diese Frau nicht finden, stecken Sie auch mit drin, hatte der Kahlkopf gesagt.

Zweimal war Ushikawa bisher im Hauptquartier der Vorreiter in den Bergen von Yamanashi gewesen. Damals hatte er auch den großen Brennofen in dem Wäldchen hinter den Anlagen gesehen. Er diente der Müllverbrennung, aber bei den hohen Temperaturen würde auch von einem menschlichen Leichnam nicht viel übrig bleiben. Ihm war klar, dass schon mehrere Leichen darin verbrannt worden waren. Die des Leaders war nur eine davon. Natürlich wollte Ushikawa nicht das gleiche Schicksal erleiden. Wenn er schon sterben musste, dann bitte auf eine etwas friedlichere Art.

Selbstverständlich gab es eine ganze Reihe von Fakten, die Ushikawa den beiden verschwiegen hatte. Es war nicht seine Art, alle Karten auf den Tisch zu legen. Ein paar konnte man zeigen, aber die meisten deckte man lieber nicht auf. Vor allem brauchte er ein paar Trümpfe als Rückversicherung. Wie zum Beispiel die Kassette mit dem Gespräch, das er heimlich aufgezeichnet hatte. Ushikawa war ein Experte in diesem Spiel. Die Erfahrungen, die er gemacht hatte, unterschieden sich sehr von denen irgendwelcher junger Bodyguards.

Ushikawa kannte die Namen der Leute, denen Aomame Privatstunden gegeben hatte. Wenn man etwas Zeit investierte und ein gewisses Know-how besaß, kam man an die meisten Informationen heran. So hatte er herausgefunden, dass Aomame zwölf Personen auf privater Basis trainierte. Acht Frauen und vier Männer. Alle waren hochangesehene Leute und finanziell gut gestellt. Keiner von ihnen würde eine Mörderin dingen. Allerdings befand sich unter ihnen eine reiche, etwa siebzigjährige Dame, die eine Einrichtung für geschlagene Frauen gestiftet hatte. Sie hatte ein Gebäude auf ihrem eigenen ausgedehnten Grundstück für Opfer häuslicher Gewalt zur Verfügung gestellt und ließ die Unglücklichen dort wohnen.

An sich ein sehr hochherziges Unterfangen. Es war auch nichts Fragwürdiges daran. Und dennoch trat irgendetwas gegen den äußeren Rand von Ushikawas Bewusstsein. Und wenn das geschah, war er stets entschlossen, herauszufinden, was dieses Etwas war. Er besaß so etwas wie einen animalischen Geruchssinn und verließ sich sehr stark auf seine Instinkte. Ihnen war es zu verdanken, dass er schon mehrmals knapp dem Tode entronnen war. Gewalt war in diesem Fall vielleicht das Schlüsselwort. Auch diese alte Dame musste in irgendeiner Form mit Gewalt in Berührung gekommen sein und bot den Opfern von Gewalttaten nun großzügig ihre Hilfe an.

Ushikawa machte sich auf den Weg, um sich das Frauenhaus einmal anzusehen. Es befand sich in Azabu, einem der vornehmsten Viertel der Stadt. Das auf einer Anhöhe gelegene Holzgebäude war zwar alt, doch sehr stilvoll. Durch das Gittertor blickte man auf ein hübsches Blumenbeet und eine ausgedehnte Rasenfläche, die von einer großen, immergrünen Eiche beschattet wurde. In die Eingangstür war gemustertes Glas eingesetzt. Solche Häuser wurden in letzter Zeit immer seltener.

Allerdings war das Gebäude im Gegensatz zu seinem friedlichen Anblick äußerst scharf bewacht. Die hohen Mauern waren mit Stacheldraht versehen. Hinter einem soliden, fest verschlossenen Eisentor wachte ein Deutscher Schäferhund, der sofort laut zu bellen begann, als Ushikawa sich näherte. Mehrere Überwachungskameras waren installiert. Auf der Straße vor dem Haus gab es so gut wie keine Fußgänger, und es wäre zu auffällig gewesen, sich länger dort aufzuhalten. In dem ruhigen Wohnviertel befanden sich sonst nur noch einige ausländische Botschaften. Ein Mann von Ushikawas verdächtigem Aussehen würde sofort angehalten und gefragt werden, was er dort zu suchen habe. Selbst für ein Frauenhaus hatten all diese Sicherheitsvorkehrungen etwas Übertriebenes, und Ushikawa nahm sich vor, so viel wie möglich darüber in Erfahrung zu bringen. Ganz gleich, wie streng die Bewachung war, er musste sie durchbrechen. Nein, je strenger sie war, desto notwendiger war es, dass er sie durchbrach. Er musste sich eine Strategie überlegen. Und wenn er sich dafür das Gehirn zermartern musste.

Er erinnerte sich an Ondas Reaktion, als er ihn nach den Little People gefragt hatte.

»Haben Sie die Bezeichnung ›Little People‹ schon einmal gehört?«

»Nein.«

Ondas Antwort war zu prompt gewesen. Hätte er bis dahin wirklich noch nie von den Little People gehört, dann hätte er zumindest einen Augenblick gezögert. Little People? Er hätte überlegt und dann geantwortet. Das wäre die normale Reaktion gewesen.

Onda musste schon einmal von den Little People gehört haben. Ob er nur wusste, was der Name bedeutete, oder ob er sie selbst kannte, war noch unklar. Aber gehört hatte er von ihnen.

Ushikawa drückte seine heruntergebrannte Zigarette aus. Eine Weile saß er in Gedanken versunken da, dann zündete er sich eine neue Zigarette an. Er hatte schon vor langer Zeit beschlossen, nicht mehr über die Möglichkeit nachzudenken, dass er Lungenkrebs bekommen könnte. Er brauchte die Wirkung des Nikotins, um sich zu konzentrieren. Man konnte das eigene Schicksal nicht einmal zwei oder drei Tage weit voraussagen. Warum sollte man sich also um den Zustand seiner Gesundheit in fünfzehn Jahren sorgen?

Als er die dritte Seven Stars rauchte, hatte Ushikawa eine Idee.

Ja, dachte er, so könnte es gehen.

Kapitel 2

Aomame

Allein, aber nicht einsam

Sobald es dunkel wurde, setzte Aomame sich auf den Balkon und sah hinüber zu dem kleinen Spielplatz jenseits der Straße. Diese tägliche Übung war von großer Bedeutung für sie, ja, sie war zum Mittelpunkt ihres Lebens geworden. Sie saß auf ihrem Posten, ganz gleich, ob die Sonne schien, ob es bewölkt war oder ob es regnete. Es war inzwischen Oktober und schon recht kühl. An besonders kalten Abenden trug sie mehrere Schichten Kleidung übereinander, legte sich eine Decke über die Knie und trank heißen Kakao. Bis halb elf beobachtete sie die Rutschbahn, anschließend nahm sie genüsslich ein Bad und legte sich dann ins Bett.

Natürlich war es nicht ausgeschlossen, dass Tengo bei schönem Wetter einmal tagsüber auftauchte. Aber sie glaubte nicht daran. Falls er in den Park kam, würde es nach Einbruch der Dunkelheit geschehen, wenn die Straßenlaternen brannten und die Monde deutlich zu sehen waren. Es war jeden Tag der gleiche Ablauf, ohne Ausnahme. Aomame aß kurz zu Abend, kämmte sich die Haare und machte sich bereit, nach draußen zu gehen. Dort setzte sie sich auf den Gartenstuhl und richtete den Blick auf die Rutschbahn im abendlichen Park. Die Heckler & Koch und das kleine Fernglas von Nikon lagen stets griffbereit neben ihr. Aus Furcht, Tengo könnte erscheinen, wenn sie gerade auf der Toilette war, trank sie nicht mehr als den Kakao.

Sie las nicht, und sie hörte auch keine Musik, sie starrte nur, unablässig lauschend, auf den Park. Dabei änderte sie ihre Haltung so gut wie nie. In klaren Nächten hob sie nur hin und wieder den Kopf, um sich zu vergewissern, ob es noch immer zwei Monde waren. Doch dann richtete sie ihren Blick sofort wieder auf die Rutschbahn. Sie beobachtete den Park, und die beiden Monde beobachteten sie.

Aber Tengo tauchte nicht auf.

Es waren nicht viele Menschen, die nachts in den Park kamen. Hin und wieder verirrten sich junge Liebespaare dorthin, setzten sich auf die Bank, hielten Händchen und tauschten kurze, nervöse Küsse wie zwei Vögelchen. Der Park war zu klein und zu gut beleuchtet. Meist gaben sie bald auf und gingen woanders hin. Manche kamen auch, um die öffentliche Toilette zu benutzen, und zogen enttäuscht (oder empört) von dannen, sobald sie erkannten, dass sie verschlossen war. Mitunter legte auch ein Angestellter auf dem Heimweg eine Rast ein und saß, vielleicht, um nüchtern zu werden, eine Weile mit hängendem Kopf auf der Bank. Am späten Abend kamen bisweilen einsame alte Leute, die ihre Hunde spazieren führten. Sowohl die Hunde als auch die alten Menschen wirkten gleichermaßen still, als hätten sie jede Hoffnung verloren.

Doch in der Regel war der Park verlassen. Nicht einmal eine Katze huschte hindurch. Nur das unpersönliche Licht der Laterne fiel auf die Schaukel, die Rutschbahn, den Sandkasten und das verschlossene Toilettenhäuschen. Beim Anblick dieser Szenerie hatte Aomame häufig das Gefühl, auf einem unbewohnten Planeten zurückgelassen worden zu sein. Es war wie in diesem Film, in dem die Welt nach dem Atomkrieg geschildert wurde. Wie hieß er noch mal? Das letzte Ufer?

Dennoch beobachtete sie weiter den Park. Mit aller Konzentration, wie ein Seemann, der ganz allein vom höchsten Mast die Weiten des Ozeans nach Fischschwärmen oder dem unheilvollen Schatten eines Periskops absucht. Ihre ganze Aufmerksamkeit war nur auf ein Ziel gerichtet: Tengo Kawana.

Aber womöglich lebte Tengo ja in einer anderen Stadt und hatte sich an jenem Abend nur zufällig hierher verirrt. In diesem Fall wäre die Aussicht, dass er den Park noch einmal aufsuchen würde, gleich null. Doch Aomame glaubte nicht, dass es so war. Tengos Kleidung und sein ganzes Verhalten hatten so beiläufig gewirkt, als unternehme er einen kurzen Abendspaziergang durch die Nachbarschaft. Er war in den Park gekommen und auf die Rutschbahn geklettert. Vermutlich, um die Monde zu betrachten. Falls das stimmte, musste seine Wohnung von hier aus zu Fuß zu erreichen sein.

Im Stadtteil Koenji eine Stelle zu finden, von der aus man den Mond sehen konnte, war nicht ganz leicht. Die Gegend war flach, und es gab so gut wie kein höheres Gebäude, auf das man steigen konnte. Somit bot sich die Rutschbahn für eine Mondbetrachtung geradezu an. Der Park selbst war ruhig, und man wurde von niemandem gestört. Aomame war sicher, dass Tengo zurückkehren würde, um die Monde zu sehen. Doch sofort überkamen sie Zweifel. Vielleicht hatte er längst einen geeigneteren Aussichtspunkt auf einem Hochhaus gefunden.

Aomame schüttelte kurz und entschieden den Kopf. Sie durfte nicht zu viel grübeln. Ich habe keine andere Wahl, dachte sie, als hier auszuharren und daran zu glauben, dass er zurückkommt. Ich sitze hier fest. Der Park ist der einzige Berührungspunkt zwischen ihm und mir.

Aomame hatte nicht abgedrückt.

Es war Anfang September gewesen. Sie stand, in grelles Sonnenlicht getaucht, auf einem Pannenstreifen der Stadtautobahn Nr. 3 und hatte den schwarzen Lauf ihrer Heckler & Koch im Mund. Sie trug ihr Kostüm von Junko Shimada und die hochhackigen Schuhe von Charles Jourdan.

Der Verkehr staute sich, und die Leute starrten sie aus ihren Autos an, ohne eine Ahnung zu haben, was vor sich ging. Die nicht mehr ganz junge Dame in dem silbernen Mercedes-Coupé. Sonnenverbrannte Männer, die von der Höhe ihres Lastwagens zu ihr hinunterschauten. Aomame beabsichtigte, sich vor aller Augen mit einer Neun-Millimeter das Gehirn wegzupusten. Für sie das einzige Mittel, sich aus dem Jahr 1Q84 herauszukatapultieren. Der Leader hatte ihr versprochen, im Austausch für ihr Leben Tengos Leben zu retten. Als Gegenleistung hatte er seinen eigenen Tod verlangt.

Aomame bedauerte es nicht sonderlich, sterben zu müssen. Wahrscheinlich war ihr Schicksal schon besiegelt gewesen, als sie in das Jahr 1Q84 hineingesogen worden war. Sie folgte nur dem unausweichlichen Lauf der Dinge. Was hatte es für einen Sinn, allein auf dieser unverständlichen Welt mit ihren zwei Monden zu leben, auf der Wesen wie die Little People über das Schicksal der Menschen bestimmten?

Aber am Ende hatte sie doch nicht abgedrückt. Hatte im letzten Augenblick den Zeigefinger ihrer rechten Hand vom Abzug genommen und den Lauf aus ihrem Mund gezogen. Hatte, wie ein Mensch, der vom Meeresgrund auftaucht, tief ein- und ausgeatmet. Um den gesamten Sauerstoff in ihrem Körper auszutauschen.

Dass Aomame sich gegen den Tod entschieden hatte, verdankte sie der Stimme, die sie aus der Ferne vernommen hatte. Zunächst hatte völlige Stille sie umgeben. Als sie den Finger an den Abzug gelegt hatte, waren alle Geräusche um sie herum verstummt. Die Tiefe der Stille hatte sie an den Grund eines Schwimmbeckens erinnert. Der Tod hatte jegliche Düsterkeit und jeglichen Schrecken für sie verloren. Er war ihr so natürlich und selbstverständlich erschienen wie einem Embryo das Fruchtwasser. Nicht schlecht, hatte Aomame gedacht. Beinahe hatte sie sogar gelächelt.

Dann hörte sie die Stimme.

Sie schien von irgendwo weit her und aus einer fernen Zeit zu kommen. Sie konnte sich nicht an die Stimme erinnern, denn diese hatte auf ihrem langen, gewundenen Weg ihre spezifische Klangfarbe und ihre Eigenheiten verloren. Geblieben war nicht mehr als ein dumpfer Widerhall bar jeder ursprünglichen Bedeutung. Dennoch erkannte Aomame eine vertraute Wärme darin. Die Stimme schien ihren Namen zu rufen.

Aomame entspannte den Finger am Abzug und lauschte aufmerksam. Sie bemühte sich, die Worte zu verstehen, die die Stimme aussandte. Aber alles, was sie hörte oder zu hören glaubte, war ihr Name. Der Rest war nur ein dumpfes Heulen wie von einem Windstoß, der durch eine Höhle fährt. Bald entfernte sich die Stimme und verlor immer mehr an Deutlichkeit, bis sie schließlich ganz von der lautlosen Stille verschluckt wurde. Das Vakuum, das Aomame umgab, zerbarst, und mit einem Schlag kehrte der Lärm zurück. So, als habe man irgendwo einen Stöpsel herausgezogen. Ehe sie sichs versah, hatte sie ihre innere Entschlossenheit zu sterben eingebüßt.

Vielleicht kann ich Tengo wiedersehen, dachte Aomame. In dem kleinen Park. Sterben kann ich auch danach noch. Nur einmal noch will ich mein Glück versuchen. Leben – und nicht sterben – beinhaltete zugleich die Möglichkeit, Tengo zu begegnen. Ich will leben, dachte sie entschlossen. Es war ein seltsames Gefühl. Hatte sie es überhaupt schon einmal verspürt?

Sie entspannte den Hahn ihrer Automatik, sicherte sie und packte sie wieder in ihre Schultertasche. Sie straffte ihren Rücken, setzte die Sonnenbrille auf und machte sich gegen den Verkehrsstrom auf den Weg zurück zu ihrem Taxi. Die Leute beobachteten schweigend, wie sie auf ihren hohen Absätzen die Autobahn entlangschritt. Sie brauchte nicht weit zu gehen. Das Taxi hatte sie ungeachtet des dichten Staus fast eingeholt.

Der Fahrer ließ die Scheibe herunter, als Aomane dagegenklopfte.

»Lassen Sie mich wieder einsteigen?«, fragte sie.

Der Fahrer zögerte. »Das war doch eine Waffe, die Sie sich da eben in den Mund gesteckt haben?«

»Ja.«

»Ist die echt?«

»Ach, kommen Sie.« Aomame kräuselte die Lippen.

Der Fahrer öffnete die Tür, und Aomame stieg ein. Sie nahm ihre Schultertasche ab, legte sie auf den Sitz und wischte sich mit einem Taschentuch über den Mund.

»Und? Gibt es da eine Treppe für Notfälle?«, fragte der Fahrer.

Aomame schüttelte den Kopf.

»Na also. Sonst hätte ich ja davon gehört«, sagte er. »Und jetzt? Wollen Sie noch immer zur Ausfahrt Ikejiri?«

»Ja, bitte«, sagte Aomame.

Der Fahrer öffnete sein Fenster, winkte mit der Hand und wechselte vor einem großen Bus auf die rechte Spur. Der Taxameter zeigte noch den gleichen Betrag an.

Aomame lehnte sich zurück. Ruhig atmend betrachtete sie die altvertraute Esso-Reklametafel. Den Tankschlauch in der Pfote, wandte der Tiger ihr lächelnd sein Profil zu. »Pack den Tiger in den Tank«, stand da.

»Der Tiger im Tank«, flüsterte Aomame.

»Wie bitte?«, fragte der Fahrer mit einem Blick in den Rückspiegel.

»Nichts. Ich habe nur mit mir selbst gesprochen.«

Sie würde noch eine Weile am Leben bleiben und abwarten, wie die Dinge sich entwickelten. Zum Sterben war dann immer noch Zeit. Wahrscheinlich.

Als sie am Tag darauf einen Anruf von Tamaru erhielt, erklärte sie ihm, dass sie ihre Pläne geändert habe. Sie werde sich nicht von dort fortbewegen, sagte sie. Weder werde sie ihren Namen ändern, noch sich einer Gesichtsoperation unterziehen.

Am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen. Tamaru stellte im Geiste verschiedene Theorien auf.

»Das heißt, du willst nirgendwo anders hinziehen?«, fragte er dann.

»Genau«, antwortete Aomame knapp. »Ich will noch eine Weile hierbleiben.«

»Die Wohnung ist als Langzeitversteck nicht geeignet.«

»Wenn ich mich ruhig verhalte und nicht rausgehe, wird mich schon keiner finden.«

»Wir sollten diese Leute nicht unterschätzen. Sie könnten dein Umfeld ausspionieren und dir dadurch auf die Spur kommen. Dann könnte es auch für mich gefährlich werden.«

»Tut mir leid. Aber ich brauche noch etwas Zeit.«

»Etwas Zeit klingt ziemlich vage«, sagte Tamaru.

»Genauer kann ich es leider nicht sagen.«

Tamaru überlegte. Aus Aomames Ton schloss er, dass es ihr ernst war.

»Ich bin ein Mensch, für den seine berufliche Stellung absoluten Vorrang hat. Das weißt du doch?«

»Ja.«

Wieder verfiel Tamaru in Schweigen.

»In Ordnung«, sagte er schließlich. »Damit ich dich nicht falsch verstehe: Du hast sicher einen Grund für diesen Entschluss?«

»Ja, habe ich«, sagte Aomame.

Tamaru räusperte sich kurz in den Hörer. »Wie gesagt, von unserer Seite aus steht der Plan, und alles ist vorbereitet. Wir bringen dich an einen sicheren, entfernten Ort, tilgen jede Spur von dir, ändern deinen Namen und dein Gesicht. Wir machen einen – ich sage nicht völlig, aber beinahe völlig – anderen Menschen aus dir. Darüber sind wir uns wohl einig.«

»Ja, natürlich. Nicht, dass ich Einwände gegen den Plan an sich hätte. Es hat sich nur etwas Unerwartetes ereignet. Und für mich ist es lebensnotwendig, noch länger hierzubleiben.«

»Ich kann das nicht entscheiden«, sagte Tamaru und gab ein leises Brummen von sich. »Es kann ein bisschen dauern, bis ich dir Antwort geben kann.«

»Ich bin immer hier«, sagte Aomame.

»Gut«, sagte Tamaru und legte auf.

Am nächsten Morgen kurz vor neun klingelte das Telefon drei Mal. Dann wurde aufgelegt, und kurz darauf klingelte es wieder. Es konnte nur Tamaru sein.

»Madame hat große Bedenken dagegen, dass du weiter in der Wohnung bleibst«, begann er sofort, ohne sich mit einer Begrüßung aufzuhalten. »Wir können deine Sicherheit dort nicht ausreichend gewährleisten. Und sie allein ist entscheidend. Wir sind uns einig darüber, dass du dich möglichst schnell an einen sicheren fernen Ort begeben solltest. Verstehst du das so weit?«

»Ja, ich verstehe.«

»Aber du bist ruhig und besonnen. Du machst keine dummen Fehler und hast Mut. Wir vertrauen dir uneingeschränkt.«

»Danke.«

»Wenn du darauf bestehst, noch eine Weile in dieser Wohnung zu bleiben, hast du sicher einen guten Grund dafür. Wir kennen ihn nicht, aber bestimmt handelt es sich nicht nur um eine Laune. Deshalb ist Madame der Ansicht, wir sollten deinen Wunsch unterstützen.«

Aomame hörte wortlos zu.

»Du kannst also noch bis zum Ende des Jahres dortbleiben. Aber das ist das Äußerste.«

»Das heißt, ich soll zu Neujahr umziehen.«

»Wir bemühen uns, deinen Wünschen so weit wie möglich entgegenzukommen.«

»Einverstanden«, sagte Aomame. »Ich bleibe für den Rest des Jahres hier. Dann ziehe ich um.«

In Wirklichkeit hatte sie keineswegs diese Absicht. Sie würde sich keinen Schritt aus dieser Wohnung fortbewegen, bis sie Tengo gesehen hatte. Doch im Moment war es klüger, das für sich zu behalten. Ihr blieb noch Zeit bis zum nächsten Jahr. Über alles Künftige konnte sie nachdenken, wenn es so weit war.

»Gut«, sagte Tamaru. »Von nun an werden wir dich einmal in der Woche mit Lebensmitteln und Dingen, die du sonst noch brauchst, versorgen. Jeden Dienstag um ein Uhr nachmittags kommt ein Lieferdienst. Während dieser Zeit schließt du dich im Schlafzimmer ein. Du zeigst dich auf keinen Fall. Du sprichst auch nicht. Wenn der Lieferdienst wieder geht, klingelt er einmal an der Tür. Dann kannst du das Schlafzimmer verlassen. Wenn du etwas Besonderes brauchst oder möchtest, kannst du es mir sagen. Ich lege es dann der jeweils nächsten Lieferung bei.«

»Ich wäre dankbar für irgendein Gerät, mit dem ich meine Muskulatur trainieren kann«, sagte Aomame. »Die Wirkung von Übungen ohne Geräte ist begrenzt.«

»Ein professionelles Kraftsportgerät kann ich dir nicht bieten. Wärst du auch mit einem Heimtrainer zufrieden, der nicht so viel Platz wegnimmt?«

»Ja, es kann ruhig etwas ganz Einfaches sein«, sagte Aomame.

»Ein Fahrrad und etwas für den Muskelaufbau. Genügt das?«

»Klar. Und wenn möglich noch einen Softball-Schläger aus Metall.«

Tamaru schwieg ein paar Sekunden lang.

»So einen Schläger kann man für verschiedene Dinge benutzen«, sagte Aomame. »Auf mich wirkt es schon beruhigend, ihn einfach nur in der Hand zu halten. Weil ich quasi damit aufgewachsen bin.«

»In Ordnung. Ich kümmere mich darum«, sagte Tamaru. »Sollte dir noch etwas einfallen, schreibst du es auf ein Blatt Papier und legst es auf die Küchentheke. Du bekommst es dann bei der nächsten Lieferung.«

»Danke. Aber im Augenblick fehlt mir nichts.«

»Bücher, Videos oder so was?«

»Mir fällt nichts ein.«

»Wie wäre es mit Auf der Suche nach der verlorenen Zeit von Proust?«, fragte Tamaru. »Falls du es noch nicht gelesen hast, wäre jetzt eine gute Gelegenheit.«

»Hast du es gelesen?«

»Nein. Bisher war ich noch nicht im Gefängnis oder musste für längere Zeit untertauchen. Angeblich ist es ohne eine solche Gelegenheit schwer, den ganzen Roman durchzubekommen.«

»Kennst du jemanden, der es geschafft hat?«

»In meinem Bekanntenkreis gibt es schon ein paar Leute, die eine Weile gesessen haben, aber die sind nicht der Typ, der sich für Proust interessiert.«

»Ich versuche es mal«, sagte Aomame. »Schick mir die Bücher beim nächsten Mal mit.«

»Ehrlich gesagt hatte ich sie schon dazugelegt.«

Am folgenden Dienstag um Punkt ein Uhr erschien der »Lieferdienst«. Tamarus Anweisungen folgend, schloss Aomame sich im Schlafzimmer ein und verhielt sich mucksmäuschenstill. Sie hörte, wie die Tür aufgeschlossen wurde und Leute die Wohnung betraten. Wer den von Tamaru angekündigten Dienst erledigte, wusste sie nicht. Den Geräuschen und Bewegungen nach zu urteilen handelte es sich wahrscheinlich um zwei Personen, aber Stimmen waren nicht zu hören. Offenbar trugen sie mehrere Kartons in die Wohnung und sortierten dann alles ein. Es war zu hören, wie sie etwas im Spülbecken wuschen und Dinge in den Kühlschrank legten. Vermutlich war genau abgesprochen, wer für welche Aufgaben verantwortlich war. Etwas wurde ausgepackt. Kartons und Papier wurden weggeräumt. Anscheinend nahmen sie auch den Abfall in der Küche mit. Aomame konnte ihn ja schlecht selbst nach unten in die Mülltonne bringen.

Die Helfer kamen auf leisen Sohlen und gingen effizient und ohne überflüssiges Rumoren zu Werke. Nach etwa zwanzig Minuten waren sie fertig. Die Eingangstür wurde geöffnet, sie gingen hinaus und schlossen von außen ab. Es klingelte einmal an der Tür – das Signal. Zur Sicherheit ließ Aomame noch fünfzehn Minuten verstreichen. Erst dann verließ sie das Schlafzimmer, vergewisserte sich, dass niemand mehr da war, und verriegelte die Tür von innen.

Der große Kühlschrank war mit Lebensmitteln für etwa eine Woche bestückt worden. Diesmal waren es keine leicht in der Mikrowelle zuzubereitenden Fertiggerichte, sondern frische Nahrungsmittel. Verschiedene Gemüse und Obst. Fisch und Fleisch. Tofu, Wakame und Natto. Milch, Käse und Orangensaft. Ein Dutzend Eier. Um überflüssigen Abfall zu vermeiden, war alles ausgepackt und auf praktische Weise neu verpackt worden. Offenbar wussten sie ziemlich genau, welche Lebensmittel Aomame täglich verwendete. Woher nur?

Am Fenster stand ein kleiner, aber hochwertiger Heimtrainer. Ein Display zeigte Geschwindigkeit, zurückgelegte Kilometer und Energieverbrauch an. Man konnte die Radumdrehungen pro Minute und die eigene Herzfrequenz überprüfen. Außerdem hatte man ihr noch eine Übungsbank aufgestellt, auf der sie ihre Bauch- und Rückenmuskeln und den Deltamuskel stählen konnte. Die Zusatzteile waren ganz leicht an- und abzumontieren. Aomame kannte sich mit der Bedienung solcher Geräte aus. Dieses befand sich auf dem neusten Stand, und die Ergebnisse, die sie hier mit einfachen Mitteln erzielen konnte, genügten ihr. Diese beiden Geräte würden es ihr ermöglichen, ihren Fitnessstand zu halten.

Auch ein Kasten mit einem metallenen Softball-Schläger stand bereit. Sie nahm ihn heraus und schwang ihn mehrere Male. Mit einem scharfen Sausen durchschnitt der nagelneue, silbern glänzende Schläger die Luft. Das vertraute Gewicht gab Aomame ein Gefühl von Sicherheit. Die Berührung erinnerte sie an Tamaki Otsuka und ihre gemeinsame Teenagerzeit.

Auf dem Esstisch lag eine fünfbändige Ausgabe von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Sie war nicht neu, wies jedoch keine Gebrauchsspuren auf. Aomame griff nach einem der Bände und blätterte ein wenig darin. Außerdem hatte man ihr noch mehrere Wochen- und Monatszeitschriften gebracht und fünf ganz neue, noch verschweißte Videofilme. Wer sie ausgewählt hatte, wusste sie nicht, aber sie hatte jedenfalls noch keinen dieser neuen Filme gesehen. Allerdings war Aomame keine regelmäßige Kinogängerin, und Filme zu finden, die sie nicht kannte, war nicht schwer.

In einer großen Einkaufstüte befanden sich drei neue, unterschiedlich dicke Pullover, zwei warme Flanellhemden und vier langärmlige T-Shirts. Alles einfarbig, schlicht geschnitten und in der richtigen Größe. Dicke Socken und Strumpfhosen waren auch dabei. Sie würde die Sachen brauchen, wenn sie bis Ende Dezember hierblieb. Sehr vorausschauend gedacht.

Aomame brachte die Kleidungsstücke ins Schlafzimmer, wo sie sie in Schubladen legte oder aufhängte. Als sie anschließend in der Küche einen Kaffee trank, klingelte das Telefon drei Mal, dann wurde aufgelegt, und es klingelte erneut.

»Ist alles angekommen?«, fragte Tamaru.

»Ja, danke, ich glaube, jetzt habe ich alles, was ich brauche. Die Geräte genügen mir vollkommen. Jetzt muss ich mir nur Proust zu Gemüte führen.«

»Wenn wir irgendetwas vergessen haben, sagst du es mir einfach, in Ordnung?«

»Mache ich«, sagte Aomame. »Aber es ist ziemlich unwahrscheinlich, dass mir da etwas einfällt.«

Tamaru räusperte sich. »Vielleicht ist es überflüssig, aber darf ich dir einen Rat geben?«

»Welchen denn?«

»Es ist gar nicht so einfach, längere Zeit allein auf engem Raum eingesperrt zu leben, ohne jemanden zu sehen oder mit jemandem zu sprechen. Auch der härteste Mensch kann daran zerbrechen. Vor allem, wenn er zusätzlich noch gejagt wird.«

»Meine bisherige Wohnung war auch nicht gerade riesig.«

»Das könnte sich tatsächlich als Pluspunkt erweisen«, sagte Tamaru. »Trotz allem solltest du auf dich aufpassen. Bei dauernder Anspannung können die Nerven, ohne dass du es selbst merkst, irgendwann reißen. Dann wird es schwierig, sie wieder in ihren ursprünglichen Zustand zu versetzen.«

»Ich werde mich in Acht nehmen«, sagte Aomame.

»Ich habe es ja schon mal gesagt: Du bist ein besonnener Mensch. Du hast Ausdauer. Und du überschätzt dich nicht. Aber auch der Wachsamste kann einmal unkonzentriert sein und dann Fehler machen. Einsamkeit kann zu einer Säure werden, die den Menschen zerfrisst.«

»Ich glaube nicht, dass ich einsam bin«, sagte Aomame, halb zu Tamaru, halb zu sich selbst. »Allein vielleicht, aber nicht einsam.«

Am anderen Ende der Leitung herrschte kurz Schweigen. Vermutlich dachte Tamaru über den Unterschied zwischen Alleinsein und Einsamkeit nach.

»Jedenfalls werde ich noch stärker auf der Hut sein. Ich danke dir für deinen Rat«, sagte Aomame.

»Ich möchte, dass du eins weißt«, sagte Tamaru. »Wir geben dir Rückendeckung, so weit wie möglich. Falls bei dir jedoch irgendwann eine Notsituation eintritt – welcher Art auch immer –, könnte es passieren, dass du auf dich selbst gestellt bist. Vielleicht bin ich, auch wenn ich mich noch so sehr beeile, nicht rechtzeitig bei dir. Oder irgendwelche Umstände hindern mich daran, dir überhaupt zu Hilfe zu kommen. Falls zum Beispiel unsere Verbindung zu dir plötzlich als nicht mehr opportun gilt.«

»Ich bin mir dessen absolut bewusst. Ich bleibe sozusagen auf eigene Gefahr hier, also muss ich darauf gefasst sein, mich selbst zu schützen. Mit dem Metallschläger und dem Ding, das du mir gegeben hast.«

»Das Leben ist hart.«

»Wo es Hoffnung gibt, muss es auch Prüfungen geben«, sagte Aomame.

Wieder schwieg Tamaru einen Augenblick lang. »Hast du schon mal von dem ultimativen Test gehört, den die Beamten bei der stalinistischen Geheimpolizei absolvieren mussten?«

»Nein.«

»Der Anwärter wurde in einen quadratischen Raum gebracht, in dem nur ein ganz gewöhnlicher kleiner Holzstuhl stand. Sein Befehl lautete: ›Bring diesen Stuhl dazu, dass er ein Geständnis ablegt, und fertige ein Protokoll davon an. Vorher tust du keinen Schritt aus diesem Zimmer.‹«

»Klingt ziemlich surreal.«

»Ganz und gar nicht. Die Geschichte ist real bis in die letzte Konsequenz. Stalins totalitäres System war so real, dass er damit eine Million Menschen in den Tod schickte. Fast alle waren Landsleute von ihm. Wir leben ganz real in einer solchen Welt. Das sollte man sich immer wieder vor Augen führen.«

»Du kennst eine Menge herzerwärmender Geschichten.«

»So viele nun auch wieder nicht. Ich verfüge nur über den notwendigen Vorrat. Da ich keine systematische Ausbildung genossen habe, blieb mir nichts anderes übrig, als mir solche wirklich nützlichen Dinge nach und nach selbst anzueignen. Wo es Hoffnung gibt, muss es auch Prüfungen geben. Ein wahres Wort. Allerdings sind die Hoffnungen in der Minderzahl und meist abstrakt, während die Prüfungen zahlreich und konkret sind. Ebenfalls eine Erkenntnis, die mich das Leben gelehrt hat.«

»Und welches Geständnis hat der angehende Geheimpolizist dem Holzstuhl am Ende abgepresst?«

»Der Wert dieser Frage liegt im Nachdenken darüber«, sagte Tamaru. »Wie bei einem Kōan im Zen.«

»›Zen und die Kunst, einen Stuhl zu verhören.‹«

Nach einer kurzen Pause legte Tamaru auf.

An diesem Nachmittag trainierte Aomame mit ihren neuen Geräten. Nach der langen Zeit genoss sie es, sich einmal wieder richtig zu verausgaben. Anschließend spülte sie sich unter der Dusche den Schweiß ab. Sie schaltete einen UKW-Sender ein und bereitete sich zu seinen Klängen eine leichte Mahlzeit zu. Anschließend sah sie sich die Abendnachrichten an (es war nichts dabei, was sie interessiert hätte). Als der Tag zur Neige ging, setzte sie sich auf den Balkon, um den Park zu beobachten. Mit einer leichten Decke, dem Fernglas und der Pistole. Und dem schönen, glänzenden Metallschläger.

Wenn Tengo sich nicht mehr blicken lässt, dachte sie, werde ich mein eintöniges Leben in diesem Teil von Koenji weiterführen, bis dieses rätselhafte Jahr 1Q84 zu Ende geht. Ich werde kochen, trainieren, Nachrichten sehen und Proust lesen, während ich darauf warte, dass Tengo in dem Park auftaucht. Auf ihn zu warten ist zu meiner Lebensaufgabe geworden. Der seidene Faden, an dem mein Leben hängt. Ich bin wie eine der Spinnen, die ich auf der Treppe an der Stadtautobahn gesehen habe. Wie eine winzige schwarze Spinne, die in ihrem kümmerlichen Netz im Winkel eines schmutzigen Metallrahmens lauert. Der Wind zerrt daran, löst es, zerfetzt es. Damals hatte ich Mitleid mit ihnen. Und jetzt bin ich fast in der gleichen Lage wie diese Spinnen.

Ich muss eine Kassette mit der Sinfonietta von Janáček haben. Ich brauche sie zum Trainieren. Dieses Stück verbindet mich mit irgendeinem unbestimmbaren Ort. Sie hat die Aufgabe, mich zu etwas hinzuführen. Ich muss sie auf die Liste für Tamarus nächste Lieferung setzen.

Es war schon Oktober, und ihre Frist betrug nur noch drei Monate. Die Uhr tickte unaufhaltsam. Aomame rutschte tiefer in ihren Gartenstuhl und beobachtete zwischen den Kunststoffblenden hindurch den Park und die Rutschbahn. Die Quecksilberlaterne tauchte den kleinen Spielplatz in bläulich weißes Licht. Die Szenerie erinnerte Aomame an die verlassenen Gänge in einem abendlichen Aquarium. Unsichtbare, phantastische Fische schwammen lautlos zwischen den Pflanzen umher. Niemals unterbrachen sie ihr stilles Gleiten. Am Himmel standen die beiden Monde und forderten Aomames Anerkennung.

»Tengo«, flüsterte Aomame. »Wo bist du?«

Kapitel 3

Tengo

Tiere, die Kleidung tragen

Nachmittags besuchte Tengo seinen Vater in dessen Zimmer im Sanatorium, schlug das jeweilige Buch auf, das er mitgebracht hatte, und las vor. Nach etwa fünf Seiten legte er eine Pause ein und las dann weitere fünf Seiten. Eigentlich las er sich die Bücher selbst laut vor. Romane, Biographien oder naturwissenschaftliche Werke. Das Wichtige war seine Stimme, nicht der Inhalt der Texte.

Tengo hatte keine Ahnung, ob sein Vater ihn hören konnte oder nicht. An seinem Gesicht war zumindest keinerlei Reaktion zu erkennen. Der ausgezehrte alte Mann lag mit geschlossenen Augen reglos in seinem Bett, und nicht einmal sein Atem war zu hören. Natürlich atmete er, aber Gewissheit darüber war nur zu erlangen, indem man ein Ohr auf seine Brust legte oder ihm einen Spiegel vor den Mund hielt. Eine Infusionsflüssigkeit rann aus einem Tropf in seinen Körper, und die geringe Menge seiner Ausscheidungen wurde durch einen Katheter abgeführt. Lediglich dieser langsame, minimale Austausch zeigte, dass er noch am Leben war. Mitunter rasierte ihn eine Krankenschwester mit einem elektrischen Rasierapparat und schnitt ihm mit einer Schere die weißen Haare, die aus Nase und Ohren sprossen. Sogar seine Augenbrauen wurden gestutzt. Bei diesem Anblick verwischte für Tengo ganz allmählich der Unterschied zwischen Leben und Tod. Existierte dieser Unterschied überhaupt? Oder glaubten die Menschen nur aus Bequemlichkeit so fest an ihn?

Gegen drei Uhr kam für gewöhnlich der Arzt und unterrichtete Tengo über den Zustand seines Vaters. Seine Erläuterungen waren stets kurz und gleichen Inhalts. Es gab keine Veränderung. Der alte Mann schlief einfach, und seine Lebenskraft schwand immer mehr. Anders ausgedrückt, er bewegte sich langsam, aber sicher auf seinen Tod zu. Die Möglichkeit, ihn medizinisch zu behandeln, bestand momentan nicht. Man konnte ihn nur in Ruhe schlafen lassen. Mehr konnte der Arzt auch nicht sagen.

Gegen Abend kamen zwei Pfleger, die Tengos Vater in einen Behandlungsraum transportierten, wo er untersucht wurde. Die Pfleger wechselten tageweise, aber keiner von ihnen sprach je ein Wort. Vielleicht lag es an dem großen Mundschutz, den sie trugen. Einer von ihnen schien Ausländer zu sein. Er war zierlich und von dunkler Hautfarbe und lächelte Tengo stets hinter seinem Mundschutz zu. Dass er lächelte, erkannte Tengo an den Augen des Mannes. Er lächelte zurück und nickte.

Nach einer halben bis einer Stunde wurde sein Vater in sein Zimmer zurückgebracht. Welche Untersuchungen man an ihm durchführte, war Tengo unbekannt. Er ging, sobald sein Vater abgeholt wurde, in die Cafeteria und trank einen heißen grünen Tee. Nachdem er dort etwas Zeit totgeschlagen hatte, kehrte er in das Krankenzimmer zurück – in der Hoffnung, auf dem leeren Bett noch einmal die Puppe aus Luft mit Aomame als Mädchen vorzufinden. Aber das geschah nicht mehr. In dem halbdunklen Raum erwartete ihn nur der Geruch nach Krankheit und das leere Bett mit der Einbuchtung, die der Körper seines Vaters hinterlassen hatte.

Tengo stellte sich ans Fenster und schaute nach draußen. Jenseits der Rasenfläche verlief das als Schutz gegen den Wind dienende Kiefernwäldchen. Dahinter rauschten laut und dumpf die rauen Wellen des Pazifiks wie das vereinte Flüstern zahlloser Geister, von denen jeder eine Geschichte zu erzählen hatte.

Tengo hatte das Sanatorium in Chikura bereits im Oktober zweimal aufgesucht. An freien Tagen war er in aller Frühe mit dem Expresszug dorthin gefahren, hatte am Bett seines Vaters gesessen und ihn ab und zu angesprochen. Der Vater hatte tief schlafend auf dem Rücken gelegen und keinerlei Reaktion gezeigt. Die übrige Zeit verbrachte Tengo fast ausschließlich damit, auf die Landschaft vor dem Fenster zu starren. Er erwartete, dass irgendetwas geschehen würde, sobald es Abend wurde. Aber nichts geschah. Die Sonne ging unter, und nichtssagende Dunkelheit hüllte das Zimmer ein. Resigniert war Tengo mit dem letzten Expresszug nach Tokio zurückgekehrt.

Irgendwann kam ihm der Gedanke, dass er vielleicht dortbleiben und sich seinem Vater stellen musste. Wahrscheinlich genügte es nicht, ab und zu einen Krankenbesuch zu machen und dann wieder nach Hause zu fahren. Jetzt war vermutlich ein stärkeres Engagement gefordert.

Mitte November beschloss Tengo, regulär Urlaub zu nehmen. Als Begründung gab er an, dass sein Vater schwer krank und pflegebedürftig sei, was ja nicht einmal gelogen war. Er bat einen ehemaligen Kommilitonen, ihn zu vertreten. Dieser Mann war so gut wie der einzige Studienkollege, zu dem Tengo noch losen Kontakt unterhielt. Er war ein Exzentriker, wie es bei Mathematikern häufiger vorkommt, aber ein exzellenter Kopf. Ungeachtet seines Universitätsabschlusses ging er weder in die Forschung, noch nahm er eine feste Stelle an und schlug sich stattdessen mit Nachhilfeunterricht durchs Leben. Seine übrige Zeit verbrachte er mit der Lektüre unzähliger Bücher und dem Angeln in Bergbächen. Außerdem war er von Haus aus nicht arm und nicht unbedingt auf eine Anstellung angewiesen. Zufällig wusste Tengo, dass er auch als Lehrer sehr begabt war. Er hatte Tengo schon einmal vertreten, und die Resonanz bei den Schülern war sehr positiv ausgefallen. Als Tengo ihn anrief und ihm die Sachlage erklärte, sagte er spontan zu.

Dann war da noch die Frage, was mit Fukaeri geschehen sollte, die ja bei ihm wohnte. Tengo konnte nicht einschätzen, ob es vernünftig wäre, das weltfremde, junge Mädchen länger in seiner Wohnung allein zu lassen. Zu allem Überfluss durfte ja niemand sie sehen. Also fragte er Fukaeri selbst, ob sie allein bleiben könne, solange er fort war, oder zeitweise woanders wohnen wolle.

»Wo fahren Sie hin«, fragte Fukaeri und sah ihn ernst an.

»In die Stadt der Katzen«, sagte Tengo. »Mein Vater ist schon seit einiger Zeit bewusstlos, und im Sanatorium sagen sie, es wird vielleicht nicht mehr lange dauern.«

Er verschwieg, dass eines Tages nach Sonnenuntergang eine Puppe aus Luft in dem Krankenzimmer erschienen war. Und Aomame als Mädchen darin schlief. Und diese Puppe aus Luft derjenigen aus Fukaeris Geschichte bis aufs Haar glich. Und er die Hoffnung hegte, dass sie wieder auftauchen würde.