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Hideo Yokoyama

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Beschreibung

Zwei Fälle, zwei Ermittler, ein Schauplatz: Japan, Polizeipräsidium Präfektur D. Fall 1: Inspektor Futawatari wird mit der personellen Umstrukturierung der Präfektur beauftragt, doch Kriminalpolizei-Legende Michio Osakabe weigert sich überraschend, in Ruhestand zu gehen. Osakabe wird zu einem Sandkorn im Getriebe der Polizeibürokratie – bis Futawatari darauf stößt, dass Osakabe nicht aufgehört hat, in einem grausamen Fall zu ermitteln, der nie gelöst wurde … Fall 2: Abteilungsleiterin Tomoko Nanao wird benachrichtigt, als eine junge Polizistin plötzlich nicht mehr zur Arbeit erscheint. Nanao ist für alle weiblichen Polizeikräfte der Präfektur verantwortlich und hat einen dunklen Verdacht. Als Nanao im Polizistinnen-Wohnheim erfährt, dass die vermisste Frau von einem mysteriösen jungen Mann umworben wurde, beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit.

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Hideo Yokoyama

2

Thriller

Aus dem Englischen von Sabine Roth

Personen

Mitsuko Adachi, Polizeimeisterin im Kommissariat Jugendkriminalität, Präsidium Präfektur D

Akama, Direktor der Verwaltungsabteilung

Aoki, Chauffeur von Osakabe

Funaki, Pressedirektor

Futawatari, Inspektor in der Verwaltungsabteilung

Toshie Hatsuda, Hausmutter der Unterkunft für Polizeibeamtinnen

Junko Hayashi, Beamtin in der Verkehrsabteilung, Zimmergenossin von Mizuho Hirano

Mizuho Hirano, Kommissarin bei der Spurensicherung, wohnhaft in der Unterkunft für Polizistinnen

Kudo, Direktor der Kommunalen Sicherheit

Maejima, Dezernatsleiter in der Kriminalabteilung, Direktion W

Kikyo Maejima, seine Frau

Miyagi, Geschäftsführer der Stiftung zur Überwachung der Entsorgung von Industriemüll

Morishima, Abschnittsleiter in der Kriminaltechnik

Tomoko Nanao, Gruppenleiterin in der Verwaltungsabteilung

Yachio Nanao, ihr Sohn

Ogino, Dezernatsleiter in der Versorgungsstelle

Oguro, zunächst Direktor der Verwaltungsabteilung, später Leiter der Regionalbehörde

Osakabe, Vorstandsvorsitzender der Stiftung zur Überwachung der Entsorgung von Industriemüll, ehemaliger Direktor des Kriminaluntersuchungsamts im Präfekturpräsidium

Megu Osakabe, seine jüngste Tochter

Saito, zunächst Mitarbeiterin von Futawatari, dann versetzt in die Kriminalabteilung von Direktion W

Sasaki, Beamter in der Kriminalabteilung

Shirota, Dezernatsleiter in der Verwaltungsabteilung

Takegami, Dezernatsleiter in der Innenrevision

Uehara, Abschnittsleiter in der Verwaltungsabteilung

Yuasa, Leiter der Spurensicherung

Zeit der Schatten

1

Hier im Zimmer bekam man nichts mit vom Wind oder vom Frühling mit seiner unendlichen Vielfalt an Stimmen. Die Fenster waren immer geschlossen, die schweren Vorhänge dicht zugezogen. Die Klimaanlage lief, aber man musste nur kurz an einem der Schreibtische sitzen, um zu merken, dass sie im Wesentlichen Krach machte und sonst nichts.

Die gut sechzehn Quadratmeter große Dependance der Verwaltungsabteilung lag im Nordflügel des Polizeipräsidiums Präfektur D im ersten Stock. Da sie nicht durchgängig genutzt wurde, hieß sie auch »das Sommerhaus« oder »die Klause« – natürlich nur bei den Verwaltungsmitarbeitern selbst. Die übrigen Beamten des Präsidiums heuchelten Gleichgültigkeit und sprachen einfach vom »Personalbüro«, manche mit wissendem Grinsen, andere mit einer merklichen Beklommenheit im Blick.

Jetzt hocken sie wieder beisammen, da oben im Personalbüro.

Alle sagten sie das.

In fünf Tagen würden die internen Bescheide herausgehen; die jährliche Liste der Versetzungen war so gut wie fertig. Gerade einmal dreitausend Stellen im höheren und gehobenen Dienst waren auf dem Prüfstand, und bei längst nicht allen stand tatsächlich eine Versetzung an: In jedem normalen Jahr wären sämtliche Teile des Puzzles zu diesem Zeitpunkt bereits an ihrem Platz gewesen.

Doch ein ominöser Anruf aus der Innenrevision hatte den Prozess am Nachmittag ins Stocken gebracht. Grund war der Leiter von Direktion S im Norden der Präfektur, der seinen Schwiegereltern durch den Landschaftsgärtner einer Feriensiedlung in seinem Bezirk einen Garten hatte anlegen lassen, und das, wie es schien, für ein bestenfalls symbolisches Entgelt.

Dieser Idiot!

Shinji Futawatari verwünschte den Mann, dessen Gesicht jetzt aus seinem Bildschirm zu ihm heraussah.

Der Direktionsleiter, ein Mensch mit länglichem Gesicht und sanften Zügen, hatte seine Stelle erst letztes Frühjahr angetreten. Insofern war er eigentlich kein Versetzungskandidat gewesen. Nun aber, da sein Fehltritt bekannt war, konnte man ihn unmöglich in einer Position belassen, in der er das Aushängeschild seiner Direktion war. Futawataris Vorgesetzter in der Verwaltung hatte ihm unmissverständlich aufgetragen, die Pläne bis zum nächsten Morgen so umzuarbeiten, dass für den Mann ein weniger sichtbarer Posten gefunden wurde.

Futawatari konnte auf eine lange Zeit im Personalwesen zurückblicken. In seinen insgesamt sechs Jahren als Polizeiratsanwärter und dann Polizeirat, gefolgt von der Beförderung zum Polizeioberrat und anschließender Ernennung zum Verwaltungsinspektor mit allgemeineren leitenden Aufgaben, hatte er durchgehend bei der Ausarbeitung der Versetzungspläne mitgewirkt. Es schien wenig wahrscheinlich, dass die Oberen jemanden mit seiner Erfahrung ziehen lassen würden. Zumindest nicht, ehe sein Bereich – der denkbar unterbesetzt war – zum Dezernat hochgestuft wurde.

Krisen wie diese waren nichts Neues für ihn.

Er hatte unter einem Präsidenten gearbeitet, der besonders anfällig für Speichelleckerei war und wie ein verblendeter Potentat Beförderungen vornahm, eine aberwitziger als die andere. Er hatte mehrere Direktoren über sich gehabt, die sich alle angemaßt hatten, beim Versetzungspuzzle mitzumischen, ohne jede Rücksicht auf örtliche Gegebenheiten oder Gebräuche. Er wusste, es war zwecklos, sich aufzuregen, wenn so etwas passierte. Dank der oft willkürlichen Anordnungen dieser ichbezogenen Bürokraten ging es nur selten ohne eine Reihe von Nachtschichten ab.

Dennoch war dies das erste Mal, dass er sich gezwungen sah, eine Änderung zu einem Zeitpunkt vorzunehmen, da er im Begriff stand, die vom Präsidenten bereits abgezeichnete Liste zum Ausdrucken zu Versorgung und Personalentwicklung hinüberzuschicken. Und schuld war nicht die Laune eines Karrierebeamten, sondern das Fehlverhalten eines Direktionsleiters, eines Menschen also, der auf derselben Seite hätte stehen sollen wie er.

Nicht einmal Futawatari konnte da gleichmütig bleiben.

Soll er doch irgendwo versauern, vielleicht bei Fortbildung oder Polizeilichem Markenrecht.

Futawatari fuhr mit seiner Maus die Kästchen des Organigramms ab auf der Suche nach dem passenden Exil.

Wenn sich ein Beamter in exponierter Stellung etwas zuschulden kommen ließ, das zu einem Gesichtsverlust führen konnte, war es üblich, ihn für vier, fünf Jahre den Blicken entzogen irgendwo im Präsidium zu parken, bis Gras über die Sache gewachsen war. Eine zu offensichtliche Herabstufung musste vermieden werden – damit riskierte man es, die Aufmerksamkeit der Presse zu erregen, und wie Futawatari nur zu gut wusste, durchschauten einige alte Hasen unter den Reportern das innerpolizeiliche Prozedere besser als viele Beamte selbst. Dann wuchs die Gefahr, dass die Verstöße publik wurden. Zum Glück war das Personalbüro sehr versiert darin, Posten in der Hinterhand zu haben, die so ungreifbar und nebulös waren, dass eine Versetzung dorthin intern zwar als Strafe erkennbar war, sich nach außen aber dadurch rechtfertigen ließ, dass Dienststelle X oder Y »verstärkt« werden musste.

Wohin mit dem Mann?

Angenommen, der Direktionsleiter wurde zu Markenrecht oder Fortbildung verbannt, musste der nächste Schritt sein, einen geeigneten Führungsbeamten für die frei gewordene Stelle in Direktion S zu finden. Ein direkter Tausch wäre das Wünschenswerteste, aber für den derzeitigen Leiter des Markenrechts war es ein entschieden zu großer Karrieresprung. Und der Leiter der Fortbildungsstelle kam erst recht nicht infrage. Bei ihm stimmten zwar Alter und Erfahrung, aber seine Heimatstadt lag im Zuständigkeitsbereich der Direktion. Ein solches Vorgehen war tabu und würde Fragen aufwerfen. Futawatari würde nicht umhinkommen, eine Begründung für die Versetzung zu liefern.

Arschloch.

Wieder fluchte Futawatari. Er atmete tief durch und machte sich dann daran, das schon abgesegnete Puzzle in seine Einzelteile zu zerlegen. Es half nichts, er musste alles wieder aufdröseln. Den Leiter von Markenrecht hinüberschieben zu Direktion G, die eine Stufe unter Direktion S lag. Den Leiter von Direktion G zurück zur Jugendkriminalität im Präfekturpräsidium holen. Den Leiter der Jugendkriminalität bei der Kommunalen Sicherheit unterbringen. Den Leiter der Kommunalen Sicherheit zu …

»Futawatari. Haben Sie eine Minute Zeit?«

Er blickte auf, sein Gesicht noch immer grimmig, und sah Dezernatsleiter Shirota, der ihm von der halb offenen Eingangstür her Zeichen machte. Hier drüben gab es keine Telefone. Das war ein ganz bewusstes Signal; nicht nur drangen auf diese Weise weniger Informationen nach außen, es konnte auch niemand anrufen und Sonderwünsche anmelden. Selbst Shirota, der ranghöchste unter den Dezernatsleitern im Präsidium, musste den weiten Weg aus der Verwaltungsabteilung auf sich nehmen, durch den langen gekachelten Verbindungsgang, der vom Hauptgebäude zum Nordflügel herüberführte. Futawatari nickte und stand auf. Zum ersten Mal seit Stunden warf er einen Blick auf die Uhr an der Wand.

Schon nach neun.

»Es ist ein Problem aufgetreten. Wenn Sie so freundlich wären, mich ins Büro des Direktors zu begleiten?« Die Sorgenfalten auf Shirotas Stirn waren selbst in dem dämmrigen Korridor zu erkennen.

Was denn nun schon wieder?

»Wenn es um Direktion S geht – ich habe schon angefangen …« Futawatari brach den vorschnell begonnenen Satz ab. Von dieser Sache hatte Shirota bereits Kenntnis, wenn er sich also persönlich herbemühte, musste das andere Gründe haben. Und es klang ganz so, als wäre der Abteilungsdirektor noch in seinem Büro statt wie sonst um diese Zeit zu Hause bei einem Glas Brandy. Futawatari trat noch einmal kurz an den Schreibtisch. Er schloss die geöffneten Dateien, nahm die Diskette heraus und sperrte sie im Tresor ein. Dann folgte er dem nervös vorausgehenden Shirota den Gang entlang.

Futawatari sah blass aus, auch ohne den Widerschein des Bildschirms.

Welches Problem konnte noch größer sein als das jetzige?

Sie nahmen Kurs auf das Hauptgebäude, durcheilten Korridor um Korridor, bis sie den roten Teppich erreichten, mit dem der ganze lange Gang bis zum Amtszimmer des Präsidenten ausgelegt war. Rechter Hand fiel ein Lichtschein durch die Glasscheibe in der Tür des Direktors. Futawatari straffte die Schultern und folgte Shirota hinein. Augenblicklich fühlte sich der Teppich unter den Füßen dicker an. Direktor Oguro, der auf einem Sofa saß, sah ihnen entgegen. Seine Augen waren unmutig zusammengekniffen.

»Es ist ein Problem aufgetreten.« Oguro zeigte auf ein zweites Sofa, wartete aber nicht erst ab, bis sie saßen, ehe er dieselben Worte hervorknurrte wie vor ihm Shirota.

»Welcher Art, Herr Direktor?«

Shirota mied Futawataris Blick. Der für seinen Teil war bereits jetzt auf das Schlimmste gefasst.

»Osakabe. Er hat uns mitgeteilt, dass er seinen Posten nicht räumen will.«

»Was?«, entfuhr es Futawatari, ehe er seine Verblüffung überspielen konnte.

»Tja, es wirkt sehr so, als wäre der Herr auf Ärger aus.« Oguro unternahm gar nicht erst den Versuch, seine Gereiztheit zu kaschieren.

Aber das ist … undenkbar.

Michio Osakabe. Der Mann gehörte zu den ganz Großen bei der Polizei. Er hatte das Kriminaluntersuchungsamt geleitet, bis er vor drei Jahren aus dem aktiven Dienst ausgeschieden war, um einen Vorstandsposten zu übernehmen, den die Verwaltung geschaffen hatte. Seine Amtszeit sollte zur jetzigen Versetzungsrunde auslaufen. Als sein Nachfolger war Direktor Kudo von der Kommunalen Sicherheit vorgesehen, der seinerseits dieses Jahr in den Ruhestand ging.

Das wars dann mit dem Puzzle.

Shirota hatte Osakabe vor nicht einmal einer Stunde zu Hause angerufen, um die Übergabe zu besprechen. Doch als er das Thema anschnitt, hatte Osakabe ihm eröffnet, dass er nicht gehen würde, und das Gespräch kurzerhand abgebrochen.

Futawataris Herz hämmerte. Osakabe weigerte sich, seinen Posten zu räumen. Wohin dann mit Kudo? Eine der Schlüsselaufgaben der Verwaltung war die Schaffung von Posten, in die leitende Beamte bei der Pensionierung wechseln konnten. Das war eine Möglichkeit für die Abteilung, ihre Kompetenz unter Beweis zu stellen. Das Personalbüro blamierte sich bis auf die Knochen, wenn für jemand so Hochrangigen wie den Direktor der Kommunalen Sicherheit kein Posten bereitstand. Und jedes Versagen des Personalbüros warf ein schlechtes Licht auf die Verwaltung als Ganzes.

Verdammt.

»Hat er einen Grund genannt?«, fragte Futawatari. Er versuchte beherrscht zu klingen, aber in seiner Stimme schlug die Anspannung durch.

»Wenn er das getan hätte, wäre die Sache einfacher«, fauchte Oguro.

Oguro hasste und fürchtete Versagen auf jeglicher Ebene. Er war im südlichen Teil der Präfektur geboren und hatte es in seiner Bezirksdirektion zum Revierleiter gebracht. Nach ein paar Jahren dort hatte er sich, vielleicht einer spontanen Regung folgend, für die Prüfung zum höheren Dienst angemeldet, sie bestanden und so in die Karriereschiene gewechselt. Dennoch blieb er in vielerlei Hinsicht ein Zwitter. Auf Präfekturebene mochte er noch so viel gelten, aus Sicht Tokios, wo die »reinrassigen« Bürokraten den Kampf um die Spitzenposten unter sich austrugen, blieb er ein kleiner Fisch. So war er zwischen den Regionaldirektionen hin und her gereicht worden, mit gelegentlichen unbedeutenden Tokioter Gastspielen, die ihn jedoch zu keiner Zeit hatten vergessen lassen, dass ihm die wichtigste Voraussetzung für den Aufstieg fehlte: eine eigene Seilschaft. In seinem Alter hatte er nur noch einen oder zwei Posten vor sich. Er hoffte sicher, eine Direktionsleitung zu ergattern, bevor er seine Uniform an den Nagel hängte. Eine kleine Direktion wäre schon genug – vielleicht irgendwo in der Ebene, wo das Klima milder war.

Untersteht euch und versaut mir das.

Für Futawatari hätte die Warnung genauso gut laut ausgesprochen sein können.

»Die Versetzungspläne kann Abschnittsleiter Uehara fertig machen – Sie finden heraus, was in Osakabe gefahren ist.«

Auch Shirota hatte die Drohung demnach gehört; in dem Blick, mit dem er Futawatari seinen Befehl erteilte, lag fast schon etwas Flehentliches.

2

Auf dem Weg zurück durch den dunklen Korridor hätte Futawatari am liebsten das Gesicht in den Händen vergraben. Auch wenn Shirota es nicht in dieser Deutlichkeit gesagt hatte: Die Lösung des Problems wurde von ihm, Futawatari, erwartet. Was immer Osakabe plante, die Mühlen des Präsidiums hatten bereits zu mahlen begonnen. Futawatari würde nichts anderes übrig bleiben, als dem Mann die Kündigung zu überreichen. So viel schien unvermeidlich. Dafür werden Sie schließlich bezahlt. Futawatari hatte sich einen Kommentar verkniffen. Er wusste ohnehin, was Shirota – immer der Erste, wenn es galt, die eigenen Interessen zu wahren – geantwortet hätte: Sie wissen doch besser als jeder andere, was es mit dem Posten auf sich hat.

Ein halbes Jahr vor Osakabes Eintritt in den Ruhestand hatte eine Gruppe von Baufirmen der Verwaltungsabteilung ihren Plan unterbreitet, eine Stiftung einzurichten, deren Aufgabe es war, die Entsorgung von Industriemüll zu überwachen. Der Schritt fiel nicht zufällig in eine Zeit, in der die Branche mit einer Welle von Korruptionsvorwürfen zu kämpfen hatte. Nach viel Kopfzerbrechen über die Frage, wie sich die Beziehungen zum Präfekturpräsidium verbessern ließen, waren die Firmen auf die Idee mit der Stiftung verfallen und boten der Polizei nun einen Vorstandsposten an.

Der Verwaltung ihrerseits war der Vorschlag sehr gelegen gekommen. Bedarf an gehobenen Positionen gab es immer, und in dem Jahr schieden gleich mehrere leitende Beamte aus dem Dienst, für die noch ein Posten gefunden werden musste. Das Dezernat selbst hatte keine Gefälligkeiten zu verteilen, sollten der Baubranche Untersuchungen bevorstehen – dennoch blieb ein Rest Unbehagen, verschleiert allerdings durch die Tatsache, dass niemand das Thema offen ansprach.

Der Direktor der Verwaltungsabteilung hatte Osakabe zum ersten Vorstandsvorsitzenden der Stiftung ernannt und seine Amtszeit auf drei Jahre begrenzt. In der Präfektur D wurden Positionen dieser Art für drei bis sechs Jahre vergeben. Bei Osakabe hatte man die kürzestmögliche Dauer gewählt, um die Anzahl der in den nächsten fünf Jahren zur Pensionierung anstehenden Spitzenbeamten mit der Zahl der frei werdenden Posten in Einklang zu bringen.

Hatte Osakabe mit dieser Regelung gehadert? Das war Futawataris erster Gedanke. Er selbst war Abschnittsleiter im Personalbüro gewesen, als der Posten zu besetzen war. Er hatte es alles selbst durchgerechnet. Er hatte die Zahlen vorgelegt.

Oder …

Ein zweites, noch beunruhigenderes Szenario begann sich abzuzeichnen. Ein eigenes Büro, eine Sekretärin, ein Dienstwagen mit Chauffeur, ein Gehalt, das mindestens so hoch war wie sein altes. Wie, wenn ihm all das zu lieb geworden war, um es aufzugeben? Ganz ausgeschlossen schien es Futawatari nicht. Wenn Osakabe tatsächlich gierig geworden war, verkomplizierte das die Sache. Seine Amtsdauer war zwar auf drei Jahre begrenzt, aber die Abmachung war nur eine mündliche. Wie jedes Gentlemen’s Agreement galt sie nur so lange, bis eine Seite sie aufkündigte.

Das war selbstredend noch nie vorgekommen.

Noch mehr als jeder andere Apparat bildete die Polizei ihre eigene, in sich geschlossene Gemeinschaft. Man gehörte ihr von dem Moment an, in dem man auf die Polizeischule kam. Man verschrieb sich dieser Gemeinschaft mit Leib und Seele, und man blieb bis zum letzten Atemzug Teil von ihr. Die Pensionierung bedeutete lediglich das Ende der aktiven Dienstzeit. Sie hatte keine Auswirkungen auf den Grad der Verbundenheit. Insofern war ein Gentlemen’s Agreement mehr als nur ein Versprechen. Es war Gesetz. Dass Osakabe sich nun darüber erhob, sich gegen die Gemeinschaft stellte – die Vorstellung schien absurd. Es kam einem Selbstmord gleich, sein Leben als Polizist wäre damit beendet.

Wieder in seinem Büro, eröffnete Futawatari Uehara, dass ab sofort er sich mit dem Versetzungspuzzle herumschlagen durfte. Er gab ihm noch rasch ein paar Tipps, dann setzte er sich an seinen Schreibtisch. Er schob eine Diskette mit der Aufschrift »Ehemalige« in das Laufwerk, holte einmal tief Atem und rief die Akte von Michio Osakabe auf.

Sie las sich eindrucksvoll.

Der Mann war zu einer Zeit in den Polizeidienst eingetreten, als es die alten Regionalverwaltungen noch gab. Als junger Beamter in einer kleinen Polizeiwache hatte er eine Bande von Fahrraddieben ausgehoben. Daraufhin hatte man ihn in die Kriminalabteilung seiner Bezirksdirektion geholt. Nachdem er dort weitere drei Jahre Diebstahlsfälle bearbeitet hatte, war er ins Kriminaluntersuchungsamt des Präfekturpräsidiums berufen worden, ins Kommissariat Gewaltverbrechen in Dezernat I, das polizeiweit als eines der prestigeträchtigsten galt. Danach bekleidete er eine Reihe von Posten auf Bezirksebene, alle mit dem Schwerpunkt Gewaltverbrechen. Vierzehn Jahre hatte er auf diese Weise zugebracht, fünf davon als Einsatzleiter. Von da aus war er schnell aufgestiegen: erst stellvertretender Leiter von Dezernat I, dann Chefberater, dann Dezernatsleiter. Schließlich war er dann Direktor geworden und damit die Nummer eins im KUA.

Dazu hatte er im Lauf der Jahre die Kriminalabteilung seiner Region sowie zwei Polizeidirektionen geleitet und war erst stellvertretender Leiter und dann Leiter des Kriminaldauerdiensts gewesen. Und auch in Tokio hatte er Lorbeeren geerntet, bei einer zweijährigen Entsendung in die Fahndungsstelle der Nationalen Polizeibehörde, kurz NPB.

Nur zwei bedeutende Fälle während seiner Laufbahn waren ungelöst geblieben. Der erste war ein bewaffneter Banküberfall, in dem er als Leiter von Dezernat I ermittelt hatte. Der zweite war der brutale Mord an einer Büroangestellten, der kurz nach seiner Beförderung zum Direktor verübt worden war. Dagegen waren die Fälle, die er persönlich aufgeklärt hatte, kaum zu zählen. Futawatari scrollte mit der Maus durch die Liste, aber sie schien schier unendlich.

Er seufzte tief.

Wie immer nötigte ihm die Leistung Bewunderung ab. Osakabes Polizeilaufbahn erstreckte sich über zweiundvierzig Jahre, und jedes einzelne davon hatte der Verbrechensaufklärung gedient. Ein paar andere Kriminalbeamte gab es, die ähnlich lange an vorderster Front standen wie er. Aber Futawatari wusste mit absoluter Sicherheit, dass keiner von ihnen es schaffen würde, zum Direktor des Kriminaluntersuchungsamts aufzusteigen, auch wenn sie dem KUA ihr ganzes Leben gewidmet hatten.

Die Regionalpräsidien waren anders strukturiert als die in den Ballungsräumen, wie etwa die Tokioter Polizei. Hier konzentrierte sich, organisatorisch gesehen, alles in den fünf großen Abteilungen: Verwaltung, Kriminaluntersuchungsamt, Kommunale Sicherheit, Ordnungs- und Schutzaufgaben sowie Kfz-Wesen. Die Direktoren von Verwaltung und von Ordnungs- und Schutzaufgaben wurden durch die NPB in Tokio besetzt, sodass nur drei Direktorenposten blieben, die man als Regionalbeamter anstreben konnte. Von diesen dreien war das KUA der ehrenvollste.

Man hätte erwarten können, dass der Platz an der Spitze von einem Mann eingenommen wurde, der seine ganze Laufbahn in der Abteilung abgeleistet hatte, aber de facto lief es darauf fast nie hinaus. Beamten, die rund um die Uhr Verbrechen aufklärten, blieb wenig Zeit, um für Prüfungen zu büffeln, und falls ihnen dieses Kunststück doch gelang, gab es genügend Geschichten von Kripo-Männern der alten Schule, die ihre Kandidaten am Abend vor der Prüfung mit Alkohol abfüllten. Üblicherweise waren es stattdessen die Leute, die nur einen kleinen Teil ihrer Zeit der Ermittlungsarbeit widmeten und den weit größeren Teil anderen Tätigkeiten – solchen, bei denen sie Ergebnisse einfahren und den Prüfungsparcours durchlaufen konnten –, die es bis ganz an die Spitze schafften.

Unter bestimmten Umständen konnte es sogar sein, dass das Amt jemandem angetragen wurde, der nie bei der Kriminalpolizei gewesen war, jemandem, der keine Ahnung von echter Ermittlungsarbeit hatte. Vorrang bei der Besetzung dieses Postens, des bedeutendsten auf Regionalebene, hatte in solchen Fällen für gewöhnlich der, der es in seiner Generation am frühesten zum Polizeioberrat gebracht hatte.

Und das hieß: Futawatari.

Er hatte diesen Schritt schon mit vierzig geschafft, womit er seinen Altersgenossen eine Länge voraus war. Er war dünn, vom Typ her mehr Bankbeamter als Polizist, und hätte kaum gewusst, wie man eine Verhaftung vornahm, doch dank seiner langen Erfahrung im Personalbereich war ihm klar, dass er in zehn oder fünfzehn Jahren der aussichtsreichste Kandidat für die Rolle sein würde.

Ob er wollte oder nicht.

Vielleicht war das der Grund, weshalb er sich angesichts von Osakabes Lebensleistung klein und unbedeutend fühlte und sich vager Neid in ihm regte.

Nicht daran denken.

Direktor des KUA zu werden, diese unstrittige Krönung einer Polizistenlaufbahn – das war ein Traum, dem sich fast jeder Polizeibeamte irgendwann im Leben hingab.

Osakabes Karriere war in mehr als nur einer Hinsicht einzigartig in der Geschichte der Personalabteilung. Gut, zu seinen Anfangszeiten waren nicht nur die befördert worden, die bei Prüfungen gut abschnitten, sondern auch die, die sich im praktischen Einsatz hervortaten. Trotzdem, dachte Futawatari bei sich, verdankte er seinen Aufstieg sicher auch einer Portion Glück.