50 - Hideo Yokoyama - E-Book

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Hideo Yokoyama

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Beschreibung

Der 49-jährige Sochiro Kaji genießt als vorbildlicher Polizist einen tadellosen Ruf – bis er sich eines Tages vor seine Kollegen stellt und berichtet, seine Frau getötet zu haben. Im anschließenden Verhör gibt er an, dass seine Frau an Alzheimer erkrankt war und ihn gebeten habe, ihr Leben zu beenden. Der Fall scheint aufgeklärt, doch Kriminalkommissar Kazumasa Shiki findet keine Ruhe. Als er auf eigene Faust weiterermittelt, stößt er in der Wohnung von Sochiro auf eine geheimnisvolle Kalligrafie mit dem Text: "50 Jahre – ein Leben". In Shiki keimt der Verdacht, dass Sochiro sich mit fünfzig das Leben nehmen wollte. Shiki beschließt, das Rätsel um jeden Preis zu lösen – und taucht immer tiefer ein in die dunkle Geschichte eines Ehepaares, für das der Tod keine Sache des Zufalls war.

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Seitenzahl: 334

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Hideo Yokoyama

50

Kriminalroman

Aus dem Japanischen von Nora Bartels

© Atrium Verlag AG, Zürich, 2021

Alle Rechte vorbehalten

Die Originalausgabe erschien 2002 unter dem Titel

Han’ochi bei Kōdansha Ltd, Tokio.

© 2005 by Hideo Yokoyama

Publication rights for this German edition arranged

through Kōdansha Ltd., Tokyo.

Aus dem Japanischen von Nora Bartels

Lektorat: Claudia Jürgens, Berlin

Covergestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung eines Fotos von © Liyao Xie/Getty Images

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

ISBN978-3-03792-157-9

 

www.atrium-verlag.com

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www.instagram.com/atriumverlag

Personen

 

Der Polizeiapparat

Higashiyama, Vizeleiter des Dezernats I für Gewaltverbrechen der Zentralstation

Hisamoto, Abteilungsleiter in der Verwaltung

Ishizaka, Angestellter der Zentralstation

Iwamura, Leiter des Kriminaldezernats

Iyo, Leiter der Verwaltung

Kagami, Leiter der Zentralstation der Präfektur W

Kaji, Polizeihauptmeister, Vizedirektor der Ausbildungsabteilung

Keiko, seine Frau

Masao, sein Vater

Shōsuke, sein Großvater

Toshiya, sein Sohn

Tsune, seine Mutter

Kamata, Leiter der ersten Einsatzgruppe

Komine, Leiter der Kriminalabteilung der Zentralstation

Kurita, Assistent des Chefs der Personalabteilung

Morozumi, Mitarbeiter der ersten Division im Shinjuku-Polizeirevier

Okonogi, Abteilungsleiter im Dezernat I

Sasaoka, Beamter in der Verwaltung

Shiki, Abteilungsleiter im Dezernat I

Michiko, seine Frau

Miki, seine Tochter

Tatsumi, Beamter im Dezernat I

Tsuchikura, Wachtmeister

Yamazaki, Polizeiobermeister in der Zentralstation

 

Die Justiz

Akita, Sekretär

Fujibayashi, Richter

Masami, seine Tochter

Sumiko, seine Frau

Takashi, sein Sohn

Norio Fujimi, Anwalt

Taizō Fujimi, Anwalt

Iwakuni, Oberstaatsanwalt

Kawai, Richter

Kuwashima, Unterstaatsanwalt

Sase, Staatsanwalt

Chizuko, seine Exfrau

Minoru, sein Sohn

Suzuki, Staatssekretär

Tsujiuchi, Richter

Uemura, Anwalt

Akiko, seine Frau

Ken’ichi, sein Bruder

Mami, seine Tochter

 

Die Justizvollzugsanstalt

Asada, Gefängniswärter

Karino, Leitender Beamter in der Abteilung Strafvollzug

Koga, Gefängniswärter

Akihiko, sein Sohn

Haruka, seine Schwiegertochter

Misuzu, seine Frau

Motohashi, Gefängnisleiter

Sakurai, Abteilungsleiter Strafvollzug

Takeuchi, Unterabteilungsleiter Strafvollzug

Yamamura, Leiter der Buchhaltungsabteilung

 

Die Presse

Akutsu, Mitarbeiter der Tōyō

Katagiri, Leiter der lokalen Zweigstelle der Tōyō

Kojima, Mitarbeiter der Tōyō

Emi Kuribayashi, Schreibkraft bei der Tōyō

Miyauchi, Mitarbeiter im Hauptstadtbüro der Tōyō

Nakao, Mitarbeiter der Tōyō

Shitara, Vizeleiter der lokalen Zweigstelle der Tōyō

Tatara, Mitarbeiter der Kenmin Times

Yamabe, Mitarbeiter der Tōyō

 

Weitere Zivilpersonen

Ikegami, Angestellter eines Nudelrestaurants

Yasuko Shimamura, Schwester von Keiko, Schwägerin von Sōichirō Kaji

Mitsugu Takano, Kunstdozent, Serienvergewaltiger

Tanuma, Augenzeuge vom Bahnhof

Yaeko Yamaguchi, ehemalige Angeklagte

Kazumasa Shiki

1

Der kleine Stiel eines Teeblatts schwamm aufrecht in der Tasse.

Das bedeutete natürlich nicht automatisch Glück, war aber nicht unwillkommen. Die Wanduhr neben dem Hausaltar zeigte 5.40 Uhr. Bald. Bei Tagesanbruch würde jemand vom Dezernat I zur Ermittlung von Gewaltverbrechen, einen Haftbefehl in der Brusttasche versteckt, ins »Apartment Komori«, Wohnung Nr. 508, eindringen. Pädophiler Serientäter, Vergewaltigung von acht Mädchen, alle im Grundschulalter. Seit der Aufnahme der ersten Anzeige waren zwei Monate vergangen, und insgesamt dreitausend Ermittler hatten ein riesiges systematisches Fahndungsnetz geknüpft, um nur diesen einen Fisch zu fangen.

Gebt euer Bestes!

Kazumasa Shiki trank seine Tasse leer, das Teeblatt gleich mit. Abteilungsleiter des Dezernats I für Gewaltverbrechen der Zentralstation der Präfektur W. 48 Jahre. Im Frühjahr zum Hauptkommissar befördert, war er auf einem Spitzenposten der Kriminalpolizei gelandet – sonst würde er jetzt wohl gemeinsam mit den Leuten vom Dezernat I im Auto nahe dem Apartment seinen Atem anhalten. Allein und in absoluter Stille am Schreibtisch des Kripo-Dezernats I wartete er auf den Bericht der Truppe; eine nervtötendere Rolle als diese konnte es nicht geben.

Zehn vor sechs … Shikis Blick fiel auf das Telefon mit der Standleitung. Er hatte den Schreibtisch so nah herangezogen, dass er den Hörer greifen konnte, ohne sich dafür nach vorn beugen zu müssen. Eine Festnahme. Bevor er nicht die Stimme von Kamata, dem Leiter der ersten Einsatzgruppe, gehört hatte, ging er nicht mal aufs Klo. Draußen war es noch dunkel. Der Fuß des Berges war in einem matten Orange gefärbt, doch für eine Razzia musste man früh raus. Furchtbar, dieses Warten. Die Erdumdrehung ging schneller voran als das hier.

Shiki zündete sich eine Zigarette an, zog daran und blies den Rauch nach oben in die Luft.

Der abgerissene Perlmuttknopf vom Poloshirt eines zehnjährigen Mädchens … Eine winzige Menge Farbe daran … Es hatte 62 Tage gedauert, bis diese dünne Spur schließlich zu dem Kunstdozenten einer Kurzzeit-Uni führte. Mitsugu Takano. 29 Jahre. Alleinstehend. Vor Shiki lagen Fotos. Ein ausgesprochen nichtssagendes Gesicht. Der dritte Sohn einer reichen Bauernfamilie mit vielen Zweigen. Aufgehoben im gemächlichen Leben seiner Familie musste er sich keine Sorgen um seinen Unterhalt machen und spielte sich als Künstler auf.

Das hatte heute ein Ende.

Shiki verglich die Zeit der Wanduhr mit der seiner Armbanduhr. Beide zeigten 6.07 Uhr.

Dann sind sie jetzt vielleicht drin. Als er sich das vorstellte, spannte sich sein ganzer Körper an. Sein Herz schlug schneller als damals, da er selbst noch an solchen Aktionen teilgenommen hatte. Er zündete sich eine zweite Zigarette an. Tagesanbruch. Vor dem Fenster sah man das erste Licht seine Strahlen voranschicken. 6.10 Uhr. Jetzt sind sie wohl drin.

Er starrte aufs Telefon. Klingel schon!, wollte er es drängen. Und dann:

»Herr Shiki!«

Shiki wandte seinen Blick in die Richtung, aus der die Stimme kam. Ganz hinten im weiträumigen Dezernat steckte Wachtmeister Tsuchikura sein kindliches Gesicht durch die offene Tür des Bereitschaftszimmers der Sonderuntersuchungsabteilung für Diebstahl. Neben der Wache am Eingang des Regierungsgebäudes hatte auch Tsuchikura im Dezernat übernachtet, als Kontaktperson bei nächtlichen Vorkommnissen.

»Was gibt’s?«

Auf diesen lauten Zuruf erhob Tsuchikura ebenfalls seine Stimme: »Telefon!«

»Weiterleiten!«, schrie Shiki nun wirklich verärgert und schnalzte mit der Zunge. Dieser verdammte Kamata, dabei hatte er doch extra gesagt, dass er ihn über die Standleitung anrufen sollte! Er drückte die Zigarette aus und griff nach dem Hörer des internen Telefons. Es klingelte und vibrierte. Er schnappte es sich.

»Hier Shiki!«

»Entschuldigen Sie die Störung am frühen Morgen.«

Das war nicht Kamatas Stimme.

»Hier spricht Ishizaka von der Zentrale. Wir haben da ein kleines Problem …«

Es war der Wachdienstleiter der zentralen Polizeiverwaltung der Präfektur W. Er klang äußerst angespannt.

»Was ist passiert?«, fragte Shiki, die Augen immer noch auf die Standleitung vor sich gerichtet.

»Gerade ist Polizeihauptmeister Kaji von der Ausbildungsabteilung des Präsidiums hergekommen und hat sich selbst angezeigt.«

Wie bitte?

»Was sagen Sie da?«

»Mord. Er sagt, er hat seine Frau umgebracht.«

Shiki bekam eine Gänsehaut, angefangen vom Ohr, das den Hörer berührte, bis hin zum Nacken.

Sofort tauchte das Gesicht von Sōichirō Kaji vor seinem inneren Auge auf. Lehrer. Kalligraf. Freundlich. Ernst. Wie Pfeile durchdrangen die bruchstückhaften Erinnerungen und Eindrücke seinen Kopf. Vor Jahren war Kajis einziger Sohn an einer Krankheit gestorben. Kaji war ein Jahr vor Shiki in den Dienst getreten. Zwar hatten sie nie direkt miteinander zu tun gehabt, doch sie hatten im selben Hauptquartier gearbeitet. Wenn sie sich im Flur oder auf den Treppen trafen, grüßten sie sich stumm.

Dieser Mann hatte seine Frau getötet?

Es dauerte einige Sekunden, bis Shiki wieder sprechen konnte.

»Es ist ganz sicher er?«

»Ganz sicher. Ich kenne ihn gut.«

»Was sagt er?«

»Dass seine Frau an einer Krankheit litt und er sie erwürgt hat.«

An einer Krankheit …? Davon, dass Kajis Frau krank war, hatte er noch nie gehört. Nein, Shiki, der immer Polizeiinspektor hatte werden wollen, und Kaji, der langjährige Lehrer an der Polizeischule, waren zwar Mitglieder derselben Präfekturpolizei, lebten aber in verschiedenen Welten. Wenn Shiki keine persönlichen Gerüchte zu Ohren gekommen waren, war das nicht weiter verwunderlich.

»Und der Chef Ihrer Kriminalabteilung?«

»Ist informiert. Er befindet sich gerade auf dem Weg hierher. Ähm … was sollen wir bis dahin tun?«

Seine Stimme troff vor Unbehagen.

»Begleiten Sie ihn ins Zimmer für freiwillige Verhöre im Kriminaldezernat. Nehmen Sie auf jeden Fall zwei Leute mit. Lassen Sie ihn nicht aus den Augen.«

Fliehen wird er wohl nicht, aber nicht auszuschließen, dass er sich aus dem Fenster stürzt, dachte Shiki. Erst verliert er seinen Sohn an eine Krankheit, und jetzt hat er seine kranke Frau mit eigenen Händen stranguliert. Er muss unglaublich verzweifelt sein, dass er sich jetzt selbst angezeigt hat.

»Also ohne Verhaftung, richtig?«

»Wenn der Chef der Kriminalabteilung angekommen ist, wird erst einmal der Leichnam obduziert, und dann nehmen wir ihn in Gewahrsam. Sobald das erledigt ist, möge man mich kontaktieren.«

»Verstanden. Vielen Dank.«

Schichtleiter Ishizaka klang erleichtert und legte auf. Er war Chef der Verkehrsabteilung und hatte mit Skandalen wenig am Hut. Wahrscheinlich war er deswegen so verwirrt gewesen. Nein, ein Polizist hatte seine Frau umgebracht. Das würde jeden aus dem Konzept bringen.

Und dann noch ein Polizeihauptmeister, der sich selbst anzeigte. Leiter einer angesehenen Präfekturpolizei. Die Medien würden durchdrehen. Es würde die Polizei der Präfektur W erschüttern.

Shiki fühlte sein Herz beben.

»Tsuchikura!«

Kaum hatte er sich umgedreht und gerufen, kam schon von weit her eine Antwort, und wie ein Blitz stürmte der Mann mit dem Kindergesicht herein. Tsuchikura blieb so stramm vor Shiki stehen, dass sein Rücken sich wie ein Bogen durchdrückte.

»Sie hatten während der Ausbildung doch sicher bei Kaji Unterricht?«

»Jawohl!«

»Wie war Kaji als Lehrer?«

»Freundlich!«

»Freundlich? Gibt es solche Lehrer überhaupt?«

»Der Assistent, Polizeiobermeister Satō, war streng. Herr Kaji ist dagegen ein wirklich warmherziger Mensch; wir waren alle begeistert von ihm.«

»Woran machen Sie das denn fest?«

»Ah! Also, zum Beispiel … hat er uns geraten, wenn wir ausgesendet werden, um bei einem Zugunglück mit vielen Toten und Verletzten zu helfen, die Körper der Verstorbenen so zu behandeln, als wären es unsere eigenen Eltern oder Geschwister.«

»Verstehe. Sie können abtreten.«

Das entsprach ganz seinem eigenen Eindruck. Ein sanftmütiger Menschenfreund mit Sinn für gute Manieren. Warum sollte der seine Frau töten, selbst wenn sie krank war? Vielleicht gerade wegen seines Charakters? Einerseits häuften sich Shikis Zweifel, doch andererseits legte sich die Aufregung in seiner Brust merklich.

Es lohnte nicht, darüber zu grübeln. Vom Standpunkt eines Abteilungsleiters, der drei Gewaltverbrechen-Einheiten anführte, handelte es sich hier schlicht um den Mord an einer Ehefrau mitsamt einer Selbstanzeige von Sōichirō Kaji. Der hatte die Tat nicht nur gestanden, er war sogar bereits in Polizeigewahrsam. Aber ein Serienvergewaltiger, der bei helllichtem Tag die Türen von Wohnhäusern aufbrach, den Mädchen, die allein zu Hause waren, Spielzeughandschellen anlegte und sie mehrfach missbrauchte, lief noch frei herum. Nicht nur war der Anruf von Kamata bisher ausgeblieben, man musste sogar in Erwägung ziehen, dass der Täter Mitsugu Takano noch auf freiem Fuß war.

Shiki blickte zur Wanduhr.

6.28 Uhr. Zu spät. Der Himmel war doch längst strahlend blau.

Während Shiki die Standleitung mit bösen Blicken bedachte, rief ihn auf dem Apparat daneben Ermittler Okonogi, Abteilungsleiter im Dezernat I, aus dessen Dienstwohnung an.

Als Shiki von Kajis Selbstanzeige sprach, kam er ins Straucheln. Einen Augenblick brachte er kein Wort hervor.

»Verstehe. Ich werde es dem Polizeimeister selbst sagen. Ist die Sache mit dem Kunstlehrer erledigt?«

»Noch nicht, aber ich hoffe, es dauert nicht mehr lang.«

Mit diesem Wunsch legte er den Hörer auf. Gleichzeitig blickte er zur Uhr. 6.35 Uhr. Unwillkürlich ließ er die Faust auf den Tisch fallen.

Was war da los?

Irgendwas läuft schief. Dieser Gedanke durchfuhr seinen Körper wie Gift. War er entkommen? Undenkbar. Takanos Wohnungstür und alle Fenster wurden ununterbrochen durch Ferngläser beobachtet. Sollte er auf Kamatas Handy anrufen? Nein, er hatte es garantiert für die Zeit von Sonnenaufgang bis zur Razzia ausgeschaltet. Shiki schnalzte mit der Zunge. Seine Beine zitterten. Er streckte seine Hand nach der dritten Zigarette aus.

Ein Klingeln durchbrach die Totenstille. Die Standleitung …

Shiki atmete tief aus und nahm den Hörer auf.

»Er ist uns zuvorgekommen!«

Kamatas Stimme vibrierte an Shikis Trommelfell. Sofort verschwand der Glücksteestiel aus seinen Gedanken.

»Er hat Pestizide getrunken. Wir hatten zigmal gerufen, und als keine Antwort kam, sind wir eingedrungen. Da hat er sich schon auf dem Küchenboden gekrümmt.«

Hat er geahnt, dass er überwacht wird?

»Heißt das, er wusste, dass Sie kommen?!«

»Das weiß ich nicht.«

»Welches Pestizid?«

»Grand Kison!«

Ein hochgiftiges Schädlingsbekämpfungsmittel. Shiki wusste, dass er bleich geworden war.

»Unverdünnt?«

»Scheint so! Es lag eine alte Flasche herum. Wie viel er getrunken hat, weiß ich aber nicht.«

»Geben Sie ihm Salzwasser, damit er sich übergibt! Kippen Sie so viel in ihn rein, wie reingeht!«

»Wird gemacht!«

»Wenn er sich übergeben hat, sofort ins Kumano-Krankenhaus. Verstanden?«

Das war der beste Ort zum Magenauspumpen. Außerdem hatten die alles für die Dialyse. Und vor allem war es in der Nähe.

Aber dass es gerade Grand Kison war … Hauptbestandteil war Paraquat; wenn das in den Körper eindrang, schalteten sich die Organe über den Blutkreislauf eins nach dem anderen ab. Selbst wenn man den Magen auspumpte oder er sich einer Dialyse unterzog, wäre er nicht zu retten, wenn sein Körper bereits zu viel aufgenommen hatte. Die Frage war also, zu welchem Zeitpunkt er wie viel getrunken hat.

Scheiße!

Shiki trat gegen den Papierkorb.

Takanos Straftaten rechtfertigten natürlich seinen Tod. Wären die Eltern der Mädchen jetzt in Apartment 508 zugegen, würden sie sich wünschen, dass dieser Kerl einen qualvollen Tod starb. Auch Shiki hatte eine Tochter. Seine Gefühle waren also ganz ähnlich. Aber selbst wenn das so war, durfte Takano nicht auf diese Weise sterben. In letzter Zeit gab es viele solche Typen, die das machten. Erst begingen diese Bestien Straftaten, und dann, wenn sich abzeichnete, dass sie für ihre Taten würden einstehen müssen, brüllten sie hysterisch herum, dass sie nicht mehr leben wollten, und die Selbstherrlichkeit gipfelte dann darin, dass sie sich in die Sicherheitszone Tod flüchteten. Unverzeihlich. Die durfte man nicht sterben lassen. Man musste sie am Leben halten und der ganzen Welt ihre Schande aufzeigen!

»Herr Abteilungsleiter! Der Krankenwagen ist da. Wir fahren jetzt!«

»Gut. Ich komme zum Krankenhaus!«

Kaum aufgelegt, klingelte es noch einmal.

»Was ist?!«

»Hier Kagami.«

Für eine Sekunde blieben Shikis Gedanken stehen. Das war der oberste Chef. Yasuhiro Kagami, Leiter der Zentralstation der Präfektur W.

»Kommen Sie sofort in mein Büro. Ich will, dass Sie das Verhör von Polizeihauptmeister Kaji übernehmen.«

2

Im zweiten Stock saßen die Verantwortlichen aller Abteilungen. Shiki, dessen Büro im fünften Stock lag, war noch nicht oft in diese Korridore gekommen. Ganz zu schweigen vom Büro des Präsidiumschefs; hierher hatte es ihn erst ein Mal verschlagen, als er befördert wurde.

Aber er empfand keine Nervosität. Je weiter er lief, desto wütender wurde er. Warum wollte man ihn für diese Aufgabe einspannen? Auch wenn es sich für die Präfekturpolizei um einen gravierenden Fall handelte – Sōichirō Kaji stand schließlich unter strengster Beobachtung in der Zentralstation. Er würde da weder fliehen noch sterben.

»Guten Tag.«

Als Shiki eintrat, sah er auf einem luxuriösen Ledersofa drei Personen sitzen, denen die Müdigkeit ins Gesicht geschrieben stand. Es waren die Männer an der Spitze des Polizeipräsidiums der Präfektur W: Kagami, Leiter der Zentralstation. Iyo, Leiter der Polizeiverwaltung. Iwamura, Leiter des Kriminaldezernats. Kagami und Iyo galten als Karrierebeamte, von der Nationalen Polizeibehörde temporär hierher versetzt, und wahrscheinlich waren sie deswegen weniger entspannt als Iwamura, der aus der Präfektur stammte.

Doch jetzt sahen sie alle ernst aus, Iwamura eingeschlossen. Kagami, der gerade erst 40 geworden war, wirkte sogar etwas traurig.

»Sind Sie mit Polizeihauptmeister Kaji befreundet?«

Verwaltungsleiter Iyo hatte das Wort als Erster ergriffen.

»Nein. Ich kenne ihn vom Sehen, aber wir haben keine persönliche Beziehung.«

»Das ist gut.«

Iyo mit seinem fleischigen Doppelkinn nickte und schob eine dicke Mappe über den Tisch, direkt vor Shiki. Darin befanden sich Einträge aus Kajis Personalakte. Das erste Blatt war sein Lebenslauf. 49 Jahre alt. Seit 31 Jahren im Dienst. Nach Stationierungen in diversen Kōban, den Polizeihäuschen, und mehreren Revierverwaltungen hatte er seit neun Jahren als Ausbilder an der Polizeischule gearbeitet. Im letzten Frühjahr zum Vize der Ausbildungsabteilung aufgestiegen. Keine besonderen Vorkommnisse. Eltern bereits verstorben. Besitzer eines Eigenheims. Lebte mit seiner Frau Keiko allein.

»Uns bleibt keine Zeit. Wenn Sie das überflogen haben, gehen Sie zur Zentralstation und beginnen mit der Ermittlung.«

Moment mal. Wollte Shiki zumindest sagen. Er unterstand schließlich nicht der Polizeiverwaltung.

Shiki blickte auf Kriminaldezernatsleiter Iwamura hinunter. Der hatte die Augen geschlossen.

»Wissen Sie, dass ich gerade …«, begann Shiki, die Augen wieder auf Iyo richtend, als er von ihm unwirsch unterbrochen wurde.

»Ja, ich weiß. Den Fall wird irgendwer anders übernehmen. Kaji hat jetzt erst mal höchste Priorität. Und Sie sind ja wohl derjenige mit den besten Vernehmungsfähigkeiten, nicht wahr?«

Shiki blickte erneut auf Iwamura. Immer noch geschlossene Augen.

Natürlich hatte er lange als Vernehmungsbeamter gearbeitet und während seiner Zeit als Polizeiobermeister auch den Beinamen »Geständnis-Shiki« erhalten. Aber gerade deswegen war er jetzt ratlos – Kaji hatte den Mord an seiner Frau selbst angezeigt. Das Motiv war eindeutig. Kurz, Kaji war von Anfang an komplett geständig. Es schien nicht nötig, ihn streng zu vernehmen und dafür extra Shiki zu holen, der schließlich schon in einen anderen Fall involviert war.

»In der Zentralstation gibt es auch Vernehmungsbeamte.«

Als Shiki das gesagt hatte, riss Iyo seine Augen auf.

»Das können wir nicht jemandem von der Polizeidienststelle überlassen! Begreifen Sie überhaupt, was für ein Skandal das ist! Ein Polizeibeamter hat einen Mord begangen!«

»Das verstehe ich schon. Aber mein aktueller Fall ist ebenfalls …«

»Ich hab Ihnen doch gesagt, ich weiß, worum es geht. Was ist da das Problem? Irgend so ein Kunstlehrer, der Pestizide getrunken hat, bevor wir in seine Wohnung eingedrungen sind, richtig?«

»Richtig, aber …«

»Na, dann gibt es doch kein Problem. Wenn er es getrunken hätte, nachdem wir eingedrungen waren, dann hätte das als unser Fehler ausgelegt werden können, aber so …«

Das war also sein Maßstab.

Die eigenen Interessen fest im Blick, dafür war er bekannt. Und trotzdem trafen seine Worte einen Nerv. Jedes Mal, wenn dieser Elite-Boss, dieser Karrierebeamte von außerhalb, der noch nie eine Leiche schultern musste, alle bis hin zum Kriminaldezernat mit dem Wörtchen »wir« bedachte, pochte eine Ader auf Shikis Stirn.

Er starrte Iwamura unverhohlen an. Warum ließ der diesen Möchtegern-Kriminologen einfach so daherreden?

Plötzlich, als hätte er einen Einfall gehabt, wandte sich Iwamuras viereckiges Gesicht Shiki zu.

»Tatsumi soll den Künstler übernehmen.«

Shiki traute seinen Ohren nicht.

Machte der einfach das, was die Verwaltung verlangte?

Er beugte sich vor.

»Aber Herr Direktor, Takano wird gerade ins Krankenhaus gebracht, und wir brauchen einen Durchsuchungsbefehl.«

Iyo schnalzte mit der Zunge, aber Shiki fuhr einfach fort. Zur Hälfte, um Iyo dazu zu zwingen, sich das anzuhören.

»Selbst wenn sich dessen Zustand verbessert, hat Grand Kison Langzeiteffekte, und wenn es bis zur Lunge vorgedrungen ist, wird Takano binnen einer Woche sterben. Für sein Verhör muss auch ein Arzt einbezogen werden, weswegen es ein besonders schwieriges Unterfangen wird.«

»Wollen Sie damit sagen, dass Tatsumi das nicht kann?«

Shiki wurde von Iwamuras Blick durchbohrt und blieb an dessen Frage hängen. Tatsumi hatte dieselbe Stellung wie er selbst inne, ein Untersuchungsbeamter mit der Befugnis, landesweit zu ermitteln. Und Shiki hegte keinerlei Abneigung gegen ihn.

»Das nicht. Ich will damit sagen, Polizeihauptmeister Kaji könnte von jedem vernommen werden. Es ist nicht schwer, einen Verdächtigen zu vernehmen, der bereits ein volles Geständnis abgelegt hat.«

»Wir wissen nicht, ob es vollständig ist.«

»Was?«

»Dass Kaji seine Frau umgebracht hat, ist drei Tage her.«

Shiki fühlte sich wie nach einem Peitschenschlag.

Dann hatte er sich nicht sofort nach dem Mord selbst angezeigt?

»Auch die Autopsie hat ergeben, dass der Tod schon einige Tage zurückliegt. Diese zwei fraglichen Tage beschäftigen mich. Deswegen haben wir uns sicherheitshalber entschieden, Sie dafür auszuwählen.«

»Aber …«

»Es geht hier auch um Rangfragen. Selbst wenn er ein Verbrechen begangen haben sollte; Kaji ist ein 49-jähriger Polizeihauptmeister. Den kann man nicht einfach von einem jungen Assistenz-Polizeiobermeister oder einem Polizeihauptmeister gleichen Ranges befragen lassen. Die lokale Staatsanwaltschaft will Sase mit der Untersuchung beauftragen, einen der drei ranghöchsten Staatsanwälte. Da können wir hier nicht irgendeinen Neuling ranlassen.«

Shiki wusste darauf nichts zu antworten. Ihm war durchaus klar, was er sagen wollte, aber da er mit Iwamura den Leiter des Kriminaldezernats gegen sich hatte, hätte weiterer Widerstand zur Folge gehabt, dass er seinen Posten als Abteilungsleiter an den Nagel hängen konnte.

»Shiki, bitte übernehmen Sie das.«

Zum ersten Mal meldete sich der Leiter der Zentralstation Kagami zu Wort.

»Und berichten Sie uns bis halb zehn von den Ergebnissen.«

Shiki blickte überrascht auf.

Bis halb zehn? Unmöglich.

»Da beginnt die Pressekonferenz«, ergänzte Iyo. Aber das würde Shiki nicht reichen. Er fragte zurück:

»Meinen Sie halb zehn abends?«

»Morgens natürlich.«

Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Sie stand schon auf 7.30 Uhr. Noch zwei Stunden.

»Kaji wurde heute Morgen um sieben in Gewahrsam genommen. Wenn die Deadline für die Abendausgabe der Zeitungen überschritten ist und wir den Reportern mitzuteilen versuchen, dass wir die Verlautbarung zum Schutze der Angehörigen verschoben haben, wird das unweigerlich zu großem Aufruhr führen. Und was es noch schlimmer macht, ist, dass der Mord von einem Leiter der Präfekturpolizei verbockt wurde. Wir können nicht zulassen, dass ein einzelner Idiot unsere Organisation gleich zweimal beschämt.«

Verbockt? Ein einzelner Idiot?

Shiki dachte, dass so etwas nur jemand sagen konnte, der von außen kam. Wahrscheinlich hatte dieser Iyo Shikis vorherige Worte als Ungehorsam aufgefasst; er blickte jetzt auch nicht in seine Richtung.

Es blieb keine Zeit.

Shiki schob sich die Dokumente unter den Arm und stand auf.

Aus der Akte fiel ein Porträtfoto auf den Tisch. Freundliche Züge. Die Augen, die an ein kleines Tier erinnerten, blickten Shiki still an.

Lehrer. Ernst. Sohn verstorben. Frau schwer krank. Stranguliert. Zwei fragliche Tage. Selbstanzeige …

Als Vernehmungsbeamter stellte sich ihm die erste Frage: Warum hatte sich Sōichirō Kaji nach dem Mord an seiner Frau nicht umgebracht?

3

Shiki fuhr ins Hauptquartier, mit dem Fahndungsfahrzeug, wie es Abteilungsleitern vorbehalten war.

Da es zu lange gedauert hätte, den Fahrer dafür herbeizurufen, hatte er kurzerhand Wachtmeister Tsuchikura, der Nachtdienst gehabt hatte, das Steuer überlassen. Kaum eingestiegen, erzählte Shiki ihm auch schon vom Fall Sōichirō Kaji. Das Rot in Tsuchikuras Augen, das sich im Rückspiegel zeigte, kam vermutlich nicht allein vom durch Schichtdienst bedingten Mangel an Schlaf.

Mit dem Auto dauerte es etwa 15 Minuten bis zur Zentralstation von W. Shiki saß auf der Rückbank, hatte den Ton des Polizeifunks heruntergedreht und unterhielt sich übers Diensttelefon mit Gruppenleiter Kamata.

Mitsugu Takano war inzwischen im Krankenhaus Kumano angekommen, und sein Magen wurde ausgepumpt. Er war bei schwachem Bewusstsein. Bei der Untersuchung seines blutigen Urins ließen sich Paraquat-Bestandteile nachweisen. Keine vorteilhaften Umstände. Shiki erklärte dem Krankenhausdirektor die Situation und wies ihn an, im Behandlungszimmer stets eine verantwortliche Person zu belassen. Sicher war sicher. Nicht, dass Takano zu vollem Bewusstsein gelangte und sich womöglich noch die Zunge durchbiss; dann wäre alles verloren.

Den Selbstmord verhindern …

Warum hatte Kaji nicht den Tod gewählt?

Das dachte Shiki erneut, als er aus dem Auto stieg. Natürlich hatte Kaji völlig andere Gründe als Takano. »Dadurch, dass ich diese einem Polizisten unwürdige Handlung begangen habe, leidet das Vertrauen in die Präfekturpolizei erheblich. Ich möchte Verantwortung übernehmen. Mein Tod ist meine Entschuldigung.« Hätte Kaji Selbstmord begangen und solch einen Brief hinterlassen, wäre der Schock geringer gewesen als bei der Nachricht, dass er sich selbst angezeigt hatte. Das gehörte sich nicht für Polizisten. Zumal Kaji als Ausbilder ein Vorbild für junge Leute sein musste.

Shiki betrat die Zentralstation. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Exakt 8 Uhr. Im dritten Stock angekommen, öffnete er die Tür zur Kriminalabteilung, woraufhin alle Anwesenden gleichzeitig von ihren Sitzen aufsprangen und ernste Gesichter machten.

Egal, in welche Bezirksdirektion man ging, als Abteilungsleiter für Gewaltverbrechen wurde man mit Respekt empfangen. In der ersten Ermittlungseinheit des Hauptquartiers gab es, neben dem Chef und seinem Vize, die drei Funktionen: Abteilungsleitung, Gerichtsmedizin und die landesweit befugten Untersuchungsbeamten. Auch wenn die Zuständigkeit jährlich wechselte, hatte das Wort dieses Abteilungsleiters, sobald etwas vorgefallen war, höchstes Gewicht. Mord. Raub. Brandstiftung. Vergewaltigung. Nur jemand, der seit langer Zeit der Einheit angehörte, die sich ausschließlich mit solchen blutigen und gefährlichen Fällen beschäftigte und immer wieder Tatorte besuchte, konnte das Recht erwerben, in diesen Posten aufzusteigen. Doch im Verhältnis zu seinen Vorgängern war Shiki insofern ein »Sonderfall«, als er, neben seinen Erfahrungen am Tatort, außerordentliche Fähigkeiten als Vernehmungsbeamter bewiesen hatte.

»Uns bleibt keine Zeit.«

Shiki griff nach der Teetasse, die ihm angeboten worden war, und ließ sich von Komine, dem Chef der Kriminalabteilung, zum alten Amtsgebäude führen. Den kurzen Verbindungskorridor bis zum Verhörzimmer kannte Shiki gut; es war sein früherer »Pendelweg«, den er schon bis zum Erbrechen hin- und hergegangen war.

»Ist Yamazaki da?«

»Ja. Zimmer acht.«

Shiki hatte als Assistenten Polizeiobermeister Yamazaki von der Polizeistation W gewählt. Der war dafür verantwortlich, die Aussagen von Verdächtigen zu protokollieren, und dafür schien ein Sinn für die sich von Moment zu Moment ändernde Stimmung im Zimmer ebenso wichtig wie ein Gefühl für die Koordination der Abläufe mit den Kollegen außerhalb. Nicht jeder konnte das bewältigen. Yamazaki und Shiki hatten zuvor bereits fünf Jahre zusammengearbeitet und waren aufeinander abgestimmt wie Zahnräder einer gut geölten Maschine. Zimmer acht zu wählen war typisch. Verdächtige, die nur schwer zu verhören waren, hatten wundersamerweise schon oft in Zimmer acht gestanden.

Aber gerade heute war kein Tag für Aberglaube.

»Wir nehmen Zimmer drei. Sagen Sie das Yamazaki.«

Mit diesen Worten, an Komine gerichtet, drückte Shiki die Tür zu Zimmer drei auf.

Abgestandene Luft drang ihm entgegen. Hier war es auch nicht besser. Ein enges Zimmer von sechseinhalb Quadratmetern. Ein vergittertes Fenster auf Hüfthöhe. Stahltisch. Zwei einander gegenüberstehende Stühle. Links ein langer Schreibtisch mit Stuhl für den Assistenten. Mehr nicht. In diesem kargen Zimmer stand man den Verdächtigen gegenüber. Das war früher Shikis »zentraler Kampfplatz« gewesen. Hier entschied sich im Psychokrieg, ob man jemanden durchschaute oder selbst durchschaut wurde. Er drehte sich beim Geräusch der Tür um und sah Yamazakis unbekümmertes Gesicht.

»Hey.«

»Lange nicht gesehen.«

»Du bist ganz schön alt geworden.«

»Das geb ich gern zurück.«

Ohne zu lächeln, hielt Yamazaki Shiki ein Bündel von Unterlagen hin.

»Hier erst mal der Haftbefehl und die Aufzeichnung seines Geständnisses.«

Plötzlich klopfte es, ein unerwartetes Gesicht erschien im Türspalt.

»Shiki, ich muss mal kurz stören.«

Es war Sasaoka aus der Verwaltung des Hauptquartiers. Shiki und er hatten zwar zur selben Zeit an der Polizeischule gelernt, doch Sasaoka war ein arroganter Mann, der eine unangenehm elitäre Ausdrucksweise pflegte. Da weder Shiki von Sasaoka noch dieser von ihm besonders nett dachte, konnte Sasaoka kein persönliches Anliegen haben, sondern musste im Auftrag der Polizeiverwaltung hergekommen sein.

Was will der denn?

Hinter Sasaoka stand ein junger Mann im Anzug. Ein Gesicht, das unter dem Seitenscheitel glatt und strahlend war wie das einer Bauchrednerpuppe.

»Das ist mein Untergebener Kurita. Assistent des Chefs der Personalabteilung.«

»Dann ist er … Polizeihauptmeister?«

»Ja, jung, aber fähig. Also benutzen Sie ihn ruhig.«

»Benutzen? Wie meinen Sie?«

»Wissen Sie nichts davon? Er wird Sie unterstützen.«

Wie bitte?

Das Mondgesicht von Iyo, dem Leiter der Polizeiverwaltung, tauchte vor Shikis innerem Auge auf.

»Soll das heißen, dass wir unsere Untersuchungen unter Ihrer Aufsicht durchführen sollen?«

»Nun regen Sie sich mal ab. Der Kollege ist nur als Kontaktperson da.«

»Wir haben selbst genug Assistenten. Ihr Auftritt ist erbärmlich. Nehmen Sie das Kind mit und verschwinden Sie.«

Sasaoka war bis zu den Ohren errötet.

»Das ist ein Befehl des Chefs.«

»Des Chefs welcher Einheit? Des Kriminaldezernats oder der Polizeiverwaltung?«

»Von beiden. Davon können Sie ausgehen. Der Chef des Kriminaldezernats hatte jedenfalls keine Einwände.«

Mit diesen direkten Worten hatte Sasaokas Gesicht einen siegesgewissen Ausdruck angenommen.

Shikis Blut kochte, so enttäuscht war er. Iwamura hatte keine Einwände? Wie weit reichte die Macht der Polizeiverwaltung? Wenn sie Kagami, den Leiter der Zentralstation, als Speerspitze einsetzen konnten, wurde die Polizeiverwaltung, der die Entscheidungen über Personal und Finanzen oblagen, wohl zu einer Ausnahmegewalt, die ihren ungewaschenen Fuß sogar in der Tür zum »inneren Palastzimmer« des Kriminaldezernats, dem Verhörzimmer, hatte.

Sollen die doch machen, was sie wollen.

Shiki ließ sich auf den für die Vernehmungsbeamten reservierten Stuhl fallen.

»In zehn Minuten beginnt die Befragung, also entschuldigen Sie mich.«

»Ja, ich gehe, aber Kurita wird …«

»Hauen Sie ab!«

Es gibt eine bestimmte »Zeremonie« für Vernehmungsbeamte. Yamazaki, der sich dieser Gepflogenheit wohl bewusst war, entfernte sich sofort aus dem Zimmer. Sasaoka und Kurita folgten ihm mit befremdeten Gesichtern.

Das Verhörzimmer war komplett still.

Shiki schloss die Augen. Atmete tief ein und aus.

Vergiss es. Wahrscheinlich ist gar nichts …

Er durfte sich nicht ablenken lassen. Er musste sich konzentrieren. Autosuggestion. Er fing an, innerlich zu flüstern.

Genau.

Ein Verhör ist ein Buch. Der Verdächtige ist die Hauptfigur des Buches. Und diese Bücher erzählen viele verschiedene Geschichten. Aber ihre Gemeinsamkeit ist, dass die Hauptfigur nicht aus ihnen entkommen kann. Erst wenn wir die Bücher öffnen, werden sie uns etwas erzählen. Manchmal wollen sie uns zu Tränen rühren. Manchmal rufen sie Wut hervor. Sie wollen erzählen. Sie wünschen sich, dass man ihre Geschichte liest. Es genügt, wenn wir leise ihre Seiten umblättern. Sie warten. Warten ungeduldig. Denn wenn wir nicht umblättern, werden sie ihre Geschichte nicht erzählen können.

Shiki öffnete die Augen.

Es war nicht so wie früher. Aber trotzdem hatte er sich beruhigt. Jetzt ließ er sie rufen.

Etwa zehn Minuten später kamen Yamazaki und Kurita ins Zimmer und blieben am Assistentenstuhl stehen. Eine weitere Minute später öffnete sich die Tür hinter Shiki. Jemand wartete, dass er sich umdrehte.

In Shikis Sichtfeld rückte, den Tisch umrundend, ein Mann im Anzug und ohne Krawatte. Er stellte sich direkt vor Shiki, den Tisch zwischen ihnen, das Fenster im Rücken. Ein junger Gefängniswärter löste die Handschellen und Fesseln. Seine Finger zitterten leicht.

»Bitte setzen Sie sich.«

Kurita riss die Augen auf. Denn Shikis Stimme klang wie die eines anderen Menschen. Yamazaki reagierte nicht. Es war genau der »Geständnis-Shiki«, den er fünf Jahre lang erlebt hatte.

Doch innerlich war Shiki aufgewühlt: Als Sōichirō Kajis Gesicht nach seiner Verbeugung sichtbar wurde, war es noch ruhiger und ausgeglichener als Shikis eigenes. Seine Augen kristallklar. Wie können seine Augen so klar sein, obwohl er einen Menschen getötet hat? Obwohl er seine Frau mit eigenen Händen getötet hat, wie können diese Augen …

Shiki warf einen Blick auf seine Armbanduhr.

»Es ist der 7. Dezember, 8.23 Uhr. Wir beginnen jetzt mit dem Verhör. Mein Name ist Shiki, vom Hauptquartier, Dezernat I der Kriminalpolizei, Leiter der Abteilung Gewaltverbrechen.«

»Ich bin Sōichirō Kaji. Freut mich.«

Er sprach deutlich und ohne zu stocken.

Shiki klärte ihn über sein Recht zu schweigen auf und spürte dabei, wie sein Verhörer-Blut in Wallung geriet.

Welche Geschichte würde er jetzt lesen?

Die Zeit war begrenzt. Deswegen musste er zuerst das Schlusskapitel lesen und konnte nicht am Anfang beginnen, wie er, einen Moment enttäuscht, dachte.

4

Ihn beim Titel zu nennen gehörte zur Samurai-Ehre. In diesem Moment wurde im Hauptquartier ein Komitee für das Disziplinarverfahren einberufen, in dem über Sōichirō Kajis Entlassung entschieden werden würde. Man beeilte sich, damit man bei der Pressekonferenz nicht etwa von einem Angestellten, sondern von einem »ehemaligen Polizisten« reden konnte.

Andererseits rief es in Shikis Herz auch starken Widerwillen hervor, Kaji mit dem Titel »Polizeihauptmeister« anzusprechen. Er spürte, dass es ihm unangenehm war, einen Kollegen als Verdächtigen zu vernehmen. Es war eben doch wie eine Familie. Egal, ob man jeden Tag Kontakt miteinander hatte oder nicht.

Dennoch musste man zuerst an die gegenwärtige Situation denken.

»Die Tat, die Sie begangen haben, erschüttert die Polizei der Präfektur W.«

»Ja …«

Kaji senkte den Kopf in einer Geste der Scham.

»Ich habe dadurch alle Mitglieder der Präfekturpolizei in Schwierigkeiten gebracht, und mir fehlen die Worte, mich dafür zu entschuldigen.«

Shiki nickte ein Mal.

»Da die Tat von einem Polizisten begangen wurde, müssen wir uns auf die Reaktion der Massenmedien einstellen. Insofern wird dieses Verhör etwas anders als gewöhnlich. Ich werde Sie zuerst direkt zum Vorfall befragen.«

Es war gut, die üblichen einleitenden Fragen auslassen zu können, wie nach dem Geburtsort, den Vorstrafen, dem Lebenslauf und dem Rangregister. Das alles wurde dokumentiert, wenn jemand als Polizist eingestellt wurde.

Shiki warf einen Blick auf die Unterlagen vor sich.

Keiko Kaji. 51 Jahre.

»Also, dann beginne ich. Haben Sie Ihre Ehefrau Keiko Kaji umgebracht?«

Kaji richtete sich auf und fing nach kurzer Pause an zu sprechen.

»Weil sie … mir leidtat.«

»Ihre Frau war krank?«

Kaji nickte kurz.

»Bei Keiko wurde Alzheimer diagnostiziert.«

Das brachte Shiki ziemlich aus der Fassung.

»Es gab schon seit etwa zwei Jahren Anzeichen. Sie hatte immer häufiger Kopfschmerzen und Schwindel und hat ständig Medikamente dagegen genommen. Aber weil es nicht besser wurde, sondern sich sogar verschlimmerte, habe ich sie, obwohl sie sich gesträubt hat, im April ins Krankenhaus gebracht. Ich hab ihr die Diagnose nicht mitgeteilt, aber sie scheint etwas geahnt zu haben. Sie hat Medizinbücher konsultiert und sich immer öfter gefragt, ob sie nicht vielleicht Alzheimer haben könnte …«

Die Krankheit war also ungewöhnlich schnell fortgeschritten.

Man verwechselt Daten oder Wochentage. Manchmal kann man die Uhr nicht mehr lesen. Man verliert Dinge und vergisst wichtige Verabredungen. Um solche Verfehlungen zu reduzieren, macht man sich Notizen, vergisst dann aber, dass man sich etwas notiert hat. Und wenn man merkt, was man vergessen hat, ist das zutiefst verstörend. Man kämpft gegen die Angst. Fragt sich, wie lange man noch ein Mensch bleibt …

»Im Sommer war sie sich sicher, an welcher Krankheit sie litt. Sie hat immer wieder ›Ich will sterben, ich will sterben‹ zu mir gesagt. Ich habe ihr Mut gemacht. Ihr gesagt, dass ich ohne sie nicht weiß, was ich tun soll. Sie gefragt, wer, wenn sie stirbt, die Blumen auf Toshiyas Grab gießen soll …«

Shiki blickte auf die Unterlagen.

Toshiya Kaji. Vor sieben Jahren an akuter myeloischer Leukämie verstorben. Dreizehn Jahre zum Zeitpunkt des Todes.

»Aber das hat eher das Gegenteil bewirkt … Das war vor drei Tagen.«

Die Beschreibung des Verbrechens begann also.

»Am 4. Dezember, richtig?«

»Ja. An Toshiyas Todestag.«

Er hatte seine Frau am Todestag seines Sohnes umgebracht …

Shiki fühlte sich, als würde man ihm mit einem schweren Gegenstand aufs Herz schlagen.

»Mittags sind wir zusammen zum Friedhof gegangen. Keiko hat das Grab gefegt, den Grabstein gründlich gereinigt und lange Zeit gebetet. Wenn er nicht gestorben wäre, wäre er an dem Tag volljährig geworden. Sie hätte gern ein Foto von ihm in festlicher Kleidung gemacht. Ihr standen Tränen in den Augen, als sie das gesagt hat. Aber …«

Kaji hörte auf zu reden und blickte ins Leere. In seinen Augen spiegelte sich die Szene wohl gerade noch einmal.

Shiki wartete schweigend.

Kajis trockene Lippen bewegten sich.

»Am Abend war Keiko sehr aufgeregt. Dass sie noch nicht zum Grab gegangen sei. Ich sagte ihr immer wieder, dass sie schon gegangen war, aber vergeblich. Sie konnte sich nicht erinnern. Keiko ist fast wahnsinnig geworden. Dass sie Toshiyas Todestag vergessen habe. Dass sie keine Mutter mehr sei. Kein Mensch mehr sei. Sie hat geschrien, dass sie sterben will … mit Händen und Füßen um sich geschlagen, ist herumgetobt und gegen Dinge gestoßen, hat mit Gegenständen um sich geworfen … Ich hab verzweifelt versucht, sie aufzuhalten, aber Keiko hat nur laut geweint und immer wieder gerufen: ›Bitte bring mich um, bring mich um! Ich will sterben, bevor ich Toshiya vergesse … Ich will wenigstens als Mutter sterben …‹ Hat meine Hände zu ihrem Hals geführt und gesagt: ›Ich flehe dich an, ich flehe dich an!‹«

Shiki ballte seine Hände im Schoß.

»Ich habe sie erwürgt … sie tat mir so leid, … dass ich sie mit eigenen Händen erwürgt habe. Es tut mir so leid …«

Tötung auf Verlangen …

Dann ein Quietschen. Kurita hatte seinen Stuhl zurückgeschoben und war aus dem Zimmer geeilt. Viertel nach neun. Der wollte wohl in der Pressekonferenz Kajis Geständnis weitergeben.

Shiki drehte sich wieder um.

In Kajis Augen standen Tränen. Aber sie waren immer noch genauso klar wie zuvor. Er hatte seine Frau von ihrem Leid befreit. War das der Grund dafür, dass seine Augen so klar waren?

Shiki wollte dieses Buch erst einmal schließen.

Eine gewichtige Aussage. Mit eincem Inhalt und einer Schwere, die seine Brust nicht tragen konnte. Es fühlte sich an, als würde Keikos Weinen und Schreien im Verhörzimmer widerhallen.

Doch bevor er eine Pause einlegen konnte, gab es noch eine Sache, die Shiki fragen musste. Und die hatte mit den »zwei fraglichen Tagen« zu tun, die der Leiter des Kriminaldezernats, Iwamura, erwähnt hatte.

»Polizeihauptmeister Kaji.«

Shiki blickte Kaji in die Augen.

»Was haben Sie nach der Tat gemacht?«

Kaji erwiderte Shikis Blick sofort.

Aber … er antwortete nicht.

15 Sekunden … 30 Sekunden … eine Minute …

Kaji war einfach still. Es war kein böser Wille zu erkennen. Keinerlei Widerstand. Nicht einmal seine Lippen zitterten. Der verkrampfte Körper von Protokollant Yamazaki sprach von seiner Anspannung. Die Stille war undurchdringlich.

Erstaunlich. Vor wenigen Minuten war Kaji noch ein Paradebeispiel für ein »volles Geständnis« gewesen.

Shiki beugte sich über den Tisch.

Kaji überlegte wohl, was die Frage bedeutete. Mit dieser kleinen inneren Hoffnung fragte Shiki ein zweites Mal.

»Nach der Tötung Ihrer Frau bis zu Ihrer Selbstanzeige sind zwei ganze Tage vergangen. Wo waren Sie währenddessen und was haben Sie getan?«

Kaji saß mit noch immer verschlossenen Lippen da.

Für einen Moment kreuzten sich Shikis und Yamazakis Blicke. Sie gaben sich ein Signal. Ihre Augen sagten:

Sōichirō Kaji ist »zur Hälfte geständig«.

5

Seit zehn Minuten saß Kaji wie ein Stein da.

Shiki hatte es nicht eilig.

Die »Nachbefragung« war, wie der Name schon sagte, lediglich eine Befragung zu den Ereignissen nach dem Verbrechen, etwas, das die Polizei der Form halber vor der gerichtlichen Verhandlung zu erledigen hatte. Und selbst wenn man nicht aufklären konnte, was nach dem Verbrechen passiert war, brachte das die Gerichtsverhandlung nicht ins Wanken. Kaji hatte bereits die Anbahnung des Verbrechens, die Tatzeit und den Verlauf gestanden. Der Inhalt seiner Aussage stimmte bis ins Detail, ließ keinen Raum für Unstimmigkeiten. Wollte man das Protokoll jetzt fertigstellen, gäbe es keinerlei Schwierigkeiten bei der Übersendung an die Staatsanwaltschaft, der Anklageerhebung oder dem Gerichtsverfahren. Kurz gesagt war die Nachbefragung nur eine Möglichkeit für den Verdächtigen, seine Geschichte zu Ende zu erzählen – nichts weiter.

Aber ihn als Vernehmungsbeamten hatte gerade dieser Punkt, man könnte ihn als »Verbrechens-Klatsch« beschreiben, aufmerken lassen. Wieso konnte er so locker über einen Mord reden, das schwerste aller Verbrechen, und dann in der Nachbefragung verstummen? Darüber brauchte man nicht lange nachzudenken. Für Kaji selbst war die wichtigere Story die, die nach dem Verbrechen passiert war; wichtiger als der Inhalt des Geständnisses.

Shiki nahm sich vor, erst einmal dieses Schweigen zu sezieren.

»Polizeihauptmeister Kaji … Ist Ihnen bewusst, dass Sie gerade schweigen?«

»…«

»Darf ich das so auffassen, dass Sie von Ihrem Recht zu schweigen Gebrauch machen?«

»…«

»Das bedeutet, dass Sie nicht über die Dinge sprechen wollen, die Sie zwischen dem Verbrechen und Ihrer Selbstanzeige getan haben, richtig?«

»Also …«, meldete sich Kaji zu Wort. Seine Stimme drohte wieder zu versiegen. »Muss ich es erzählen?«

Shiki verstand, was Kaji sagen wollte. Dass er seine Tat gestanden hatte und das Polizeipräsidium der Präfektur W den Fall an die Staatsanwaltschaft übergeben konnte.

Dass mehr nicht nötig sei.

»Sie müssen natürlich nicht.«

Als Shiki so antwortete, hob Kaji zum ersten Mal seinen Kopf.

»Ich habe nicht vor, es zu verschweigen. Aber kann ich Sie bitten, die Sache dann ruhen zu lassen?«

Ruhen lassen?

Im ersten Moment dachte er, die Tür sei eingetreten worden. Kurita kam mit ohrenbetäubendem Lärm ins Zimmer gestürmt.

»Herr Shiki! Bitte rufen Sie sofort bei der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit im Hauptquartier an! Der Leiter der Polizeiverwaltung wartet auf Ihren Anruf!«

»Aha …«, sagte Shiki desinteressiert und stand langsam auf.

»Wir machen hier um 13 Uhr weiter. Essen Sie in der Zelle zu Mittag und ruhen Sie sich etwas aus. Sie sind doch seit heut früh auf den Beinen.«

Kurita drängte weiter.

»Ich bitte Sie! Beeilen Sie sich!«

Sie verließen zu zweit den Raum. Im nächsten Augenblick hatte Shiki Kuritas zur Seite gescheiteltes Haar gegriffen und zog ihn daran den Korridor entlang. Zwei, drei Türen passierten sie, bis er ihn ins vierte Verhörzimmer brachte und ihn mit derselben Wucht zu Boden warf.

»Verdammter Scheißkerl! Wenn du noch mal so laut im Verhörzimmer rumbrüllst, brech ich dir das Genick!«

Kurita fiel vor Schreck über den plötzlich veränderten Shiki in sich zusammen. Er lag in Abwehrposition auf dem Fußboden, zusammengezogen wie eine Schildkröte, und sagte kein Wort.

Sasaoka kam hereingestürmt.

»Shiki, beruhigen Sie sich! Bitte beruhigen Sie sich. Iyo wartet am Telefon!«

»Der Bengel hier hat doch alles schon weitergeleitet!«

»Hören Sie. Der Leiter der Zentralstation hatte während der Pressekonferenz einen Totalausfall.«

Einen Totalausfall?

»Gerade eben. Die Fragen der Reporter konzentrieren sich alle auf die zwei fraglichen Tage.«

Shiki blickte auf Kurita, der noch auf dem Boden lag. Er nickte kaum merklich.

Alles über das Verbrechen war bekannt. Und natürlich hatte er gedacht, dass die Reporter das begreifen würden.