64 - Hideo Yokoyama - E-Book
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64 E-Book

Hideo Yokoyama

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Beschreibung

Im Januar 1989 wird in Tokio ein siebenjähriges Mädchen entführt. Fünf lange Tage versuchen die verzweifelten Eltern alles, um die Forderungen des Entführers zu erfüllen. Doch alle Bemühungen sind vergebens. Der Entführer entkommt unerkannt mit dem Lösegeld, kurz darauf wird die Leiche des Mädchens gefunden. Die Ermittlungen der Polizei laufen ins Leere. Der Fall geht unter dem Aktenzeichen 64 als ungelöstes Drama in die Kriminalgeschichte Japans ein. Vierzehn Jahre später verschwindet die Tochter von Yoshinobu Mikami, dem Pressesprecher eines kleinen Polizeireviers. Mikami, selbst Gefangener eines übermächtigen Verwaltungsapparats, stößt kurz darauf auf ein geheimes Memo zu Fall 64. Getrieben von einer dunklen Ahnung beginnt er, auf eigene Faust zu ermitteln – und öffnet eine Tür, die besser für immer verschlossen geblieben wäre.

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Seitenzahl: 909

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Hideo Yokoyama

64

Thriller

Aus dem Englischen von Sabine Roth und Nikolaus Stingl

Deutsche Erstausgabe

© by Atrium Verlag AG, Zürich, 2018

Alle Rechte vorbehalten

Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel64 bei Bungeishunjū Ltd., Tokio

©2012 by Hideo Yokoyama

 

Aus dem Englischen von Sabine Roth und Nikolaus Stingl

Lektorat: Claudia Jürgens, Berlin

Covergestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung zweier Fotos von © Chris Jongkind/Getty Images und © Amana Images Inc/Getty Images

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

ISBN978-3-03792-104-3

 

www.atrium-verlag.com

www.facebook.com/atriumverlag

www.instagram.com/atriumverlag

Die wichtigsten Personen

Familie des Protagonisten

Mikami, Pressedirektor der Polizei

Minako, seine Ehefrau

Ayumi, ihre Tochter

 

Familie des 1989 entführten Mädchens

Amamiya, Vater

Toshiko, Mutter

Shoko, entführtes Mädchen

 

Der Polizeiapparat

 

Nationale Polizeibehörde (NPB), Tokio

Kozuka, Generalinspekteur

 

Präsidium, Präfektur D

Tsujiuchi, Präsident

 

Kriminaluntersuchungsamt (KUA)

Arakida, Direktor

Ashida, Kommissariatsleiter Organisierte Kriminalität

Hiyoshi, ehemaliges Mitglied der 64-Vor-Ort-Einheit

Inomata, Chef der Kriminaltechnik

Itokawa, stellvertretender Leiter von Dezernat II

Kakinuma, 64-Ermittlungsgruppe, ehemaliger stellvertretender Leiter der Vor-Ort-Einheit

Kitou, Gewaltverbrechen, Kommissariat 2

Koda, ehemaliges Mitglied der 64-Vor-Ort-Einheit

Matsuoka, Leiter von Dezernat I

Mikura, Stellvertretender Leiter von Dezernat I

Minegishi, Sonderermittlungen

Mochizuki, pensionierter Kriminalbeamter

Mizuki Murakushi, geb. Suzumoto, ehemalige Polizeibeamtin

Ochiai, Leiter von Dezernat II

Odate, ehemaliger Direktor

Ogata, Gewaltverbrechen, Kommissariat 1

Osakabe, ehemaliger Direktor

Sakaniwa, Leiter der Direktion Y

Tsuchigane, stellvertretender Leiter der 64-Ermittlungsgruppe

Urushibara, Leiter der Direktion Q, ehemaliger Leiter der 64-Vor-Ort-Einheit

 

Verwaltung

Akama, Direktor

Futawatari, Inspektor

Ishii, Leiter des Präsidialbüros

Kuramae, stellvertretender Teamleiter Pressestelle

Mikumo, Pressestelle

Tomoko Nanao, Gruppenleiterin

Shirota, Dezernatsleiter

Suwa, Teamleiter Pressestelle

 

Presseclub

Akikawa, Toyo

Nonomura, Toyo

Madoka Takagi, Asahi

Tejima, Toyo

Ushiyama,Yomiuri

Utsuki,Mainichi

Yamashina, Zenken Times

Yanase, Jiji Press

1

Schneeflocken taumelten durch das Dämmerlicht.

Der Mann stieg auf steifen Beinen aus dem Taxi. Ein Kriminaltechniker im Uniformmantel wartete schon vor dem Eingang des Polizeireviers. Er geleitete den Mann hinein, vorbei an dem Großraumbüro, in dem die diensthabenden Beamten saßen, und weiter einen spärlich beleuchteten Korridor entlang zu einer Seitentür, die auf den Personalparkplatz hinausführte.

Das Leichenschauhaus stand für sich am äußersten Rand des Geländes, ein fensterloser Bau mit Blechdach. Das leise Surren der Lüftungsanlage zeigte an, dass jemand darin lag. Der Beamte schloss die Tür auf und trat zur Seite. Mit einem achtungsvollen Blick gab er dem Mann zu verstehen, dass er draußen warten würde.

Jetzt habe ich zu beten vergessen …

Yoshinobu Mikami drückte die Tür auf. Sie quietschte in den Angeln. Seine Augen und seine Nase registrierten Lysol. Durch den Stoff seines Mantels gruben sich ihm Minakos Fingerspitzen in den Ellbogen. Grelles Licht gleißte von der Decke herab. Der hüfthohe Untersuchungstisch war mit blauem Vinyl bespannt, unter einem weißen Laken zeichnete sich ein menschlicher Körper ab. Mikami zuckte innerlich zurück bei dem Anblick: zu klein für einen Erwachsenen, aber ganz klar kein Kind mehr.

Ayumi …

Er schluckte das Wort hinunter, als könnte der bloße Klang ihres Namens den Leichnam zu dem seiner Tochter machen.

Vorsichtig zog er das Laken weg.

Haare. Stirn. Die geschlossenen Augen. Nase, Lippen … Kinn.

Das bleiche Gesicht des toten Mädchens lag vor ihnen. Im selben Moment begann die eisige Luft wieder zu zirkulieren, Minakos Stirn berührte seine Schulter. Ihr Griff um seinen Ellbogen lockerte sich.

Mikami starrte zur Decke hinauf und atmete tief aus. Es bestand keine Notwendigkeit, die Tote näher in Augenschein zu nehmen. Die Anfahrt von Präfektur D – mit Shinkansen und Taxi – hatte vier Stunden gedauert, aber die Besichtigung der Leiche war eine Sache von Sekunden. Ein junges Mädchen, ertrunken, Selbstmord. Sie hatten auf den Anruf hin keine Zeit verloren. Das Mädchen, sagte man ihnen, sei kurz nach Mittag in einem See entdeckt worden.

Ihr dunkelbraunes Haar war noch feucht. Fünfzehn oder sechzehn, viel älter konnte sie nicht sein. Sie hatte nicht lange im Wasser gelegen. Der Körper war nicht aufgedunsen, die Linie von Stirn und Wangen bis hinab zu den kindlichen Lippen ebenmäßig, so unversehrt wie bei einer Lebenden.

Welch bittere Ironie, dachte er. Was hätte Ayumi nicht darum gegeben, so anmutige Züge zu haben wie dieses Mädchen. Selbst jetzt noch, drei Monate später, konnte Mikami nicht ruhigen Bluts an den Tag zurückdenken.

Aus Ayumis Zimmer im oberen Stock war ein Krachen gekommen. Ein wilder Laut, als versuchte jemand, ein Loch in den Boden zu stampfen. Ihr Spiegel lag in Scherben. Sie selbst kauerte in der hintersten Zimmerecke, alle Lichter ausgeknipst, und schlug sich ins Gesicht, krallte sich die Nägel ins Fleisch, wie um Stücke herauszufetzen. Ich hasse mein Gesicht. Ich will sterben.

Mikami sah auf das tote Mädchen hinab und schlang die Hände ineinander. Auch sie hatte sicherlich Eltern. Sie würden hierherkommen, vielleicht heute Abend, vielleicht morgen, und sich mit der schrecklichen Wahrheit konfrontiert finden.

»Gehen wir.«

Seine Stimme klang heiser. Eine Rauheit saß ihm in der Kehle.

Minakos Blick war leer, sie machte nicht einmal den Versuch, zu nicken. Ihre geweiteten Pupillen glichen Perlen aus Glas, kein Gedanke, kein Gefühl spiegelte sich darin. Dies war nicht das erste Mal für sie beide – in den vergangenen drei Monaten waren sie schon zu zwei Toten in Ayumis Alter gerufen worden.

Draußen war der Schnee in Graupel übergegangen. Drei Gestalten, weißliche Atemwolken vor dem Gesicht, standen auf dem dunklen Parkplatz.

»Was für eine Erleichterung.«

Der blasse, gutmütige Revierleiter hielt ihm mit zaghaftem Lächeln seine Karte hin. Obwohl nicht im Dienst, war er voll uniformiert. Das Gleiche galt für den Chef der Kriminalabteilung und seinen Stellvertreter, die links und rechts von ihm Aufstellung genommen hatten. Mikami verstand es als Respektsbezeugung für den Fall, dass er das Mädchen als seine Tochter identifiziert hätte.

Er verbeugte sich tief vor ihnen. »Danke, dass Sie mich so rasch verständigt haben.«

»Keine Ursache.« Wir von der Polizei müssen zusammenhalten. Unter Auslassung sonstiger Förmlichkeiten zeigte der Revierleiter zu dem Gebäude hinüber und sagte: »Kommen Sie herein, Sie sollten sich ein wenig aufwärmen.«

Mikami spürte ein Stupsen hinten an seinem Mantel. Er drehte sich um und begegnete Minakos beschwörendem Blick. Sie wollte so schnell wie möglich von hier weg. Ihm ging es nicht anders.

»Das ist sehr freundlich von Ihnen, aber wir sollten uns auf den Weg machen. Wir müssen unseren Zug erreichen.«

»Nein, nein, Sie müssen bleiben. Wir haben Ihnen ein Hotelzimmer reserviert.«

»Wir wissen Ihre Fürsorge zu schätzen, aber wir können wirklich nicht länger bleiben. Ich muss morgen arbeiten.«

Der Blick des Revierleiters wanderte hinab zu Mikamis Karte in seinen Händen.

Hauptkommissar Yoshinobu Mikami. Pressedirektor. Polizeiverwaltung, Präsidium Präfektur D.

Mit einem Seufzer sah er wieder auf.

»Sich mit der Presse herumzuschlagen ist bestimmt nicht ganz einfach.«

»Nicht immer, nein«, sagte Mikami ausweichend. Nur zu deutlich standen ihm die erbosten Gesichter der Reporter vor Augen, die er in seinem Büro zurückgelassen hatte. Sie waren mitten in einer hitzigen Diskussion über das Format der Pressekommuniqués gewesen, als der Anruf wegen des ertrunkenen Mädchens gekommen war. Er hatte sich ohne ein Wort erhoben und den Raum verlassen und sich dadurch den Zorn der Reporter zugezogen, die über seine familiäre Situation nicht im Bilde waren: Wir sind noch nicht fertig. Sie können hier nicht einfach abhauen, Mikami!

»Sind Sie schon lange für die Medienarbeit zuständig?« Der Revierleiter fragte es teilnahmsvoll. In den Bezirksdirektionen nahm es der Vizepräsident oder -direktor mit der Presse auf, in den kleineren, ländlichen Inspektionen war es der Chef selbst, der sich den Reportern stellte.

»Erst seit dem Frühjahr. Wobei ich vor Jahren schon einmal kurz zur Pressestelle abgeordnet war.«

»Waren Sie denn von Anfang an in der Verwaltung?«

»Nein. Ich habe lange dem Kriminaluntersuchungsamt angehört.« Selbst in dieser Situation konnte er es nicht ganz ohne Stolz sagen.

Der Revierleiter nickte unsicher. Auch in den Regionalpräsidien kam es wahrscheinlich nicht oft vor, dass ein Kriminalbeamter zum Pressedirektor mutierte.

»Ich könnte mir vorstellen, so vertraut, wie Sie mit der Ermittlungsarbeit sein müssen, hört die Presse vielleicht sogar auf Sie.«

»Das möchte ich hoffen.«

»Hier haben wir auf dem Gebiet nämlich öfter Probleme, wissen Sie. Es gibt … gewisse Reporter, die schreiben, was sie wollen, egal, ob wahr oder nicht.«

Der Revierleiter schaute grimmig und gab dann, immer noch finster blickend, ein Signal in Richtung Garage. Bestürzt sah Mikami an dem schwarzen Dienstwagen des Mannes die Scheinwerfer aufflammen. Das Taxi, das er zu warten gebeten hatte, war nirgends zu sehen. Wieder spürte er das Stupsen in seinem Rücken, aber er wollte den bemühten Revierleiter ungern vor den Kopf stoßen, indem er ein neues Taxi bestellte.

Es war schon dunkel, als sie zum Bahnhof fuhren.

»Da, das ist der See«, sagte der Revierleiter vom Beifahrersitz her in beklommenem Ton, und auf der rechten Seite erschien ein noch tieferes Stück Schwärze. »Das Internet kann schon grauenvoll sein. Es gibt diese grässliche Website, ›Die Top Ten der Selbstmord-Orte‹ oder so ähnlich, da ist dieser See aufgeführt. Mit einem schaurigen Namen auch noch – ›See der Verheißung‹, wenn mich nicht alles täuscht.«

»See der Verheißung?«

»Weil er aus dem richtigen Blickwinkel wie ein Herz geformt ist. Die Website behauptet, wer sich hineinwirft, findet im nächsten Leben die wahre Liebe; das Mädchen heute war schon die Vierte. Eine ist den ganzen Weg von Tokio hergekommen. Die Presse musste unbedingt einen Bericht darüber bringen, und jetzt haben wir das Fernsehen am Hals.«

»Grauenhaft.«

»Allerdings. Es ist eine Schande, diese Geschäftemacherei mit dem Selbstmord. Wenn wir mehr Zeit hätten, Mikami, hätte ich mir von Ihnen gern ein paar Tipps geholt, wie man mit so etwas am besten umgeht.«

Und so sprach der Revierleiter immer weiter, wie um nur ja kein Schweigen aufkommen zu lassen. Mikami für seinen Teil fühlte sich nicht in der Stimmung für angeregte Diskussionen. So dankbar er dem Mann für sein Taktgefühl war, fielen seine Antworten doch immer knapper aus.

Sie hatten sich geirrt. Es war nicht Ayumi. Seine Gedanken waren dennoch nicht weniger düster als auf der Herfahrt. Zu beten, es möge nicht ihre Tochter sein. Das hieß im Klartext doch, zu beten, dass es die Tochter anderer Leute war.

Minako saß reglos neben ihm. Er konnte ihre Schulter an seinem Arm spüren. Sie fühlte sich unnatürlich zerbrechlich an.

Eine Kreuzung. Der Wagen bog ab. Direkt vor ihnen lag der hell erleuchtete Bahnhof. Der Vorplatz war großzügig und offen, mit einem einsamen Denkmal da und dort und nahezu menschenleer. Der Bau, so hatte Mikami sagen hören, war ein politisches Statussymbol; nach den tatsächlichen Fahrgastzahlen hatte dabei niemand gefragt.

»Sie brauchen nicht auszusteigen, da werden Sie ja nur nass«, sagte Mikami rasch. Er hatte seine Tür schon halb aufgestoßen, aber der Revierleiter kam ihm trotzdem zuvor. Er war rot geworden.

»Bitte entschuldigen Sie vielmals die Fehlinformation und die Umstände, die Sie deshalb auf sich nehmen mussten. Nur dachten wir aufgrund der Körpergröße und des Muttermals eben, es könnte … Ich kann nur hoffen, es war nicht unnötig schmerzlich für Sie.«

»Machen Sie sich bitte keine Gedanken.«

Mikami wollte abwinken, aber der Revierleiter fasste nach seiner Hand.

»Es wird alles gut werden. Ihre Tochter ist am Leben und wohlauf. Wir finden sie. Sie haben 260000 Freunde, die Ausschau nach ihr halten, rund um die Uhr.«

Mikami verharrte in einer tiefen Verneigung, während die Hecklichter des Wagens immer kleiner wurden. Minakos Nacken war so lange dem kalten Regen ausgesetzt. Er zog ihre schmale Gestalt enger an sich und wandte sich in Richtung Bahnhofsgebäude. Die Lichter eines Polizeihäuschens – eines Kōban – stachen ihm ins Auge. Ein alter Mann, möglicherweise betrunken, saß auf dem Pflaster und wehrte sich gegen den Griff eines jungen Polizisten, der ihn hochzuziehen versuchte.

260000 Freunde.

Der Revierleiter hatte nicht übertrieben. Bezirksdirektionen. Die Kōban. Polizeiwachen. Ayumis Foto war an Dienststellen im ganzen Land verschickt worden. Beamte, die er nicht kannte, deren Bild ihm nichts sagen würde, fahndeten Tag und Nacht nach Hinweisen auf seine Tochter, als wäre es ihre eigene. Die Polizei … eine große Familie. Es stiftete Vertrauen, es verlieh Rückhalt – er war jeden Tag dankbar dafür, Teil einer so mächtigen und weit verzweigten Organisation zu sein. Und dennoch …

Mikami zermalmte kalte Luft zwischen den Zähnen. Er hatte das nicht für möglich gehalten. Dass man sich mit seiner Hilfsbedürftigkeit eine derartige Blöße geben konnte.

Unterordnung.

Hin und wieder schien ihm sein Blut regelrecht zu kochen. Minako durfte das nie erfahren.

Ein verschwundenes Kind wiederzufinden. Es lebendig in die Arme schließen zu dürfen. Mikami bezweifelte, dass es irgendetwas gab, was Eltern für dieses Ziel unversucht lassen würden.

Eine Durchsage hallte über den Bahnsteig.

Der Zug war gähnend leer. Mikami führte Minako zu einem Fensterplatz, dann flüsterte er ihr zu: »Der Revierleiter hat recht. Ihr passiert nichts. Es geht ihr gut.«

Minako antwortete nicht.

»Sie finden sie bald. Du kannst ganz beruhigt sein.«

»… ja.«

»Denk an die Anrufe. Eigentlich möchte sie zurückkommen. Es ist nur der Stolz. Du wirst sehen, eines Tages steht sie einfach wieder vor der Tür.«

Minakos Ausdruck blieb leer wie zuvor. Ihre feinen Züge spiegelten sich schimmernd in der dunklen Scheibe. Sie sah erschöpft aus. Sie legte kein Make-up mehr auf, ging nicht mehr zum Friseur. Wie würde sie reagieren, wenn ihr klar wurde, dass dies ihre natürliche Schönheit letztlich noch hervorhob?

Mikamis Gesicht spiegelte sich ebenfalls im Fenster. Er meinte ein Phantombild Ayumis zu sehen.

Wie sie sich verflucht hatte für die Ähnlichkeit mit ihm!

Wie sie mit der Schönheit ihrer Mutter gehadert hatte!

Widerstrebend riss er den Blick vom Fenster los. Es würde vorbeigehen. Wie die Masern. Früher oder später würde sie Vernunft annehmen. Dann würde sie heimkommen, die Zunge im Mundwinkel wie als kleines Mädchen, wenn sie Schelte für etwas erwartete. Sie konnte ihnen nicht Schmerz bereiten wollen, sie nicht ernsthaft hassen, nicht ihre Ayumi.

Der Zug ruckelte. Minakos Kopf lehnte an seiner Schulter. Ihre unregelmäßigen Atemzüge machten es schwer zu erkennen, ob sie stöhnte oder eingeschlafen war.

Mikami schloss die Augen.

Die Fensterscheibe war immer noch da, an der Innenseite seiner Lider schwebend mit ihrer Spiegelung der zwei fehlgepaarten Eheleute.

2

Seit dem Morgen wehte ein starker Nordwind über die Ebene von Präfektur D.

Die Ampel weiter vorn stand auf Grün, aber der Verkehr staute sich, und Mikami kam nur im Schritttempo vorwärts. Er nahm die Hände vom Lenkrad und zündete sich eine Zigarette an. Die nächste Gruppe von Wohntürmen, die nach und nach die vom Wagenfenster gerahmte Silhouette der Berge verdrängten, war bereits im Bau.

580000 Haushalte. 1820000 Bürger. Mikami erinnerte sich an die Zahlen aus einer demoskopischen Studie, von der er in der Morgenzeitung gelesen hatte. Nahezu ein Drittel dieser Bevölkerung lebte oder arbeitete innerhalb der Grenzen der Stadt D. Nach einem mühsamen, langwierigen Prozess war schließlich die Zusammenlegung mit den benachbarten Städten, Kleinstädten und Dörfern gelungen, wodurch die Zentralisierung an Dynamik gewonnen hatte. Trotzdem hatten die Arbeiten an einem umfassenden öffentlichen Verkehrssystem – eigentlich der allererste Punkt auf der Tagesordnung – noch gar nicht begonnen. Da nur wenige Züge oder Busse fuhren und die Streckenführung größtenteils höchst unpraktisch war, quollen die Straßen von Autos über.

Jetzt fahrt doch endlich, murmelte Mikami vor sich hin. Der Dezember war fünf Tage alt, und der morgendliche Stau war besonders schlimm. Das Radio schien jeden Moment acht Uhr ansagen zu wollen. Vor sich konnte er das fünfstöckige Gebäude des Präsidiums der Präfekturpolizei ausmachen. Der Anblick der abweisenden, aber vertrauten Außenwände rief ein unerwartetes Gefühl von Nostalgie hervor, und das, obwohl er nur einen halben Tag im Norden gewesen war.

Er hätte sich die weite Fahrt sparen können. Er hatte vor vornherein gewusst, dass es Zeitverschwendung war. Jetzt, einen Tag später, war das offensichtlich. Ayumi hatte die Kälte über alle Maßen gehasst; es war lächerlich anzunehmen, dass sie sich in den Norden wagen würde. Und noch lächerlicher, dass sie beschließen würde, sich in einen eiskalten See zu stürzen.

Mikami drückte seine Zigarette aus und gab Gas. Vor ihm hatte sich eine Lücke für mehrere Autos aufgetan.

Irgendwie schaffte er es, nicht zu spät zu kommen. Nachdem er seinen Wagen abgestellt hatte, eilte er auf das Hauptgebäude zu. Dabei streifte sein Blick wie gewohnt die Parkplätze, die für die Presse reserviert waren.

Er blieb wie angewurzelt stehen. Der um diese Tageszeit normalerweise leere Bereich war mit Autos zugestellt. Drinnen würden Korrespondenten sämtlicher Zeitungen versammelt sein. Einen kurzen Moment lang fragte sich Mikami, ob etwas passiert war. Aber nein – sie waren hier, um die Diskussion von gestern fortzusetzen, das war alles. Sie waren drinnen und warteten auf sein Erscheinen.

Die hatten es ja mächtig eilig.

Mikami betrat das Gebäude durch den Haupteingang. Bis zur Pressestelle waren es keine zehn Schritte den Flur entlang. Drei nervös aussehende Gesichter blickten auf, als er die Tür öffnete. Teamleiter Suwa und sein Stellvertreter Kuramae saßen beide an ihren Schreibtischen mit Blick auf die Wand, Mikumo an ihrem Schreibtisch gleich neben der Tür.

Die beengten Verhältnisse sorgten für eine verhaltene Begrüßung.

Der Raum war ein wenig größer als noch im letzten Winter, da man die Wand zum Archiv hatte einreißen lassen, aber man bekam kaum Luft, wenn die Reporter beschlossen, alle auf einmal hereinzuplatzen. Mit einer solchen Situation hatte Mikami gerechnet, aber die Presse war nirgendwo zu sehen. Mit dem Gefühl, um Haaresbreite davongekommen zu sein, setzte er sich auf seinen Platz am Fenster. Suwa näherte sich, ehe Mikami die Möglichkeit hatte, ihn herbeizurufen. Er war ungewöhnlich gehemmt, als er sprach.

»Direktor Mikami … Ähm … Wegen gestern …«

Darauf war Mikami nicht gefasst; er hatte sich gerade nach der Pressesituation erkundigen wollen. Am späten Abend hatte er seinen unmittelbaren Vorgesetzten Ishii, den Leiter des Präsidialbüros, angerufen und ihm ausführlich berichtet, wie die Identifizierung abgelaufen war. Natürlich war er davon ausgegangen, dass Ishii die Neuigkeit an seine Mitarbeiter von der Pressestelle weitergeben würde.

»Sie war es nicht. Danke der Nachfrage.«

Sofort schien sich die Stimmung aufzuhellen. Suwa und Kuramae wechselten einen erleichterten Blick, und Mikumo schien wieder zum Leben zu erwachen; sie sprang auf und nahm Mikamis Becher von seinem Platz auf dem Bord.

»Zur Sache, Suwa – die Presse ist hier?«

Mikami wies mit dem Kinn auf eine der Wände. Der Presseraum war auf der anderen Seite, er beherbergte den Presseclub, einen informellen Zusammenschluss von dreizehn Zeitungsverlagen.

Suwas Miene verdüsterte sich wieder.

»Ja, sie sind alle da drin. Sie reden davon, Sie zur Rechenschaft zu ziehen. Sie werden bald genug hier hereinplatzen.«

Ihn zur Rechenschaft ziehen? Mikami verspürte eine plötzliche Irritation.

»Ach so, und wenn Sie außerdem daran denken könnten – ich habe ihnen gesagt, dass sich jemand aus Ihrer Familie in kritischem Zustand befindet.«

Mikami hielt kurz inne, ehe er nickte.

Der fixe Strippenzieher. Genau das war Suwa. Er hatte den Rang eines Kommissars und war in der Verwaltung aufgestiegen. Mit drei Jahren Erfahrung in der Pressestelle und zwei Jahren als Hauptmeister im Vollzugsdienst hatte er bereits ein tiefes Verständnis der modernen Ökologie der Presse entwickelt. Zwar konnte einem seine Altklugheit manchmal auf die Nerven gehen, aber seine Fähigkeit, die Presse für sich zu gewinnen, sein übergangsloses Hin-und-her-Wechseln zwischen der Rolle des Diplomaten und der des Strippenziehers waren wirklich erstaunlich. Nun, da er seine Fertigkeiten während seiner zweiten Dienstzeit weiter verfeinert hatte, hielt man in der Abteilung zunehmend große Stücke auf ihn.

Mikamis zweite Dienstzeit in der Pressestelle stand unter einem weniger guten Stern. Er war sechsundvierzig, und die Versetzung war nach zwanzigjähriger Abwesenheit erfolgt. Bis zum Frühjahr hatte er als stellvertretender Chef von Dezernat II fungiert; davor hatte er als Abschnittsleiter im Kommissariat Wirtschaftskriminalität in Fällen von Korruption und Wahlbetrug ermittelt.

Mikami stand auf und wandte sich dem Whiteboard neben seinem Schreibtisch zu.

Präfektur D, Präsidium. Pressemitteilung: Donnerstag, 5. Dezember 2002.

Als Pressedirektor hatte er jeden Morgen als Erstes sämtliche an die Presse erfolgenden Mitteilungen durchzugehen.

Im Büro ging eine unaufhörliche Flut von Anrufen und Faxen ein, die Unfälle und Verbrechen im Zuständigkeitsbereich der neunzehn Direktionen von Präfektur D meldeten. Dank des in jüngerer Zeit weit verbreiteten Einsatzes von Computern galt das Gleiche mittlerweile für E-Mails. Mikamis Leute fassten die Meldungen mithilfe einer Mustervorlage zusammen. Dann hefteten sie Kopien an Whiteboards im Büro und im Presseraum. Zugleich nahmen sie Kontakt auf zu den Nachrichtensendern innerhalb der Präfektur. Auf diese Weise trug die Polizei dazu bei, die Berichterstattung der Presse zu vereinfachen. Trotzdem waren Pressemitteilungen häufig Ursache von Spannungen.

Mikami sah auf die Uhr an der Wand. Es war kurz nach halb neun.

Was machten sie noch hier drin?

»Direktor Mikami, kann ich Sie einen Augenblick sprechen?« Kuramae war herübergekommen und stand vor Mikamis Schreibtisch. Seine gertenschlanke Gestalt kontrastierte mit seinem wuchtig klingenden Namen, dessen einer Bestandteil so viel wie »Lagerhaus« bedeutete. Sein Ton war wie üblich zurückhaltend. »Es … geht um den Vorwurf illegaler Angebotsabsprachen.«

»Ja. Haben Sie etwas herausfinden können?«

»Äh …« Kuramae kam ins Stocken.

»Was denn? Weigert sich der Firmenchef, auszupacken?«

»Um ehrlich zu sein, es war mir nicht möglich …«

»Was war Ihnen nicht möglich?«

Mikamis Blick wurde unwillkürlich schärfer. Es war fünf Tage her, dass Dezernat II eine Reihe von Verhaftungen wegen illegaler Angebotsabsprachen im Zusammenhang mit dem Projekt eines Museumsneubaus in der Präfektur vorgenommen hatte. Man hatte Razzien bei sechs mittelständischen Baufirmen durchgeführt und acht leitende Angestellte in Gewahrsam genommen, aber die Ermittlungen waren noch keineswegs abgeschlossen. Ziel war die Hakkaku Hochbau, ein regionales Bauunternehmen, das im Verdacht stand, hinter der ganzen Sache zu stecken. Mikami hatte Gerüchte gehört, der Firmenchef sei diskret in eine der Direktionen vorgeladen worden und lasse sich seit einigen Tagen freiwillig befragen. Falls es der Polizei gelang, den Rädelsführer dranzukriegen, wäre das für die Regionalzeitungen eine große Nachricht.

In Dezernat II war es üblich, Verlautbarungen – und den Erlass von Haftbefehlen – bis in die Nacht aufzuschieben. Mikami hatte Kuramae geschickt, damit er sich einen Überblick über die aktuelle Lage verschaffte, um einem etwaigen Durcheinander vorzubeugen, falls der zeitliche Ablauf mit dem Redaktionsschluss kollidierte.

»Haben Sie wenigstens herausgefunden, ob der Firmenchef festgenommen worden ist?«

Kuramae wirkte niedergeschlagen. »Ich habe den stellvertretenden Leiter gefragt. Aber er …«

Es war nicht schwer zu erraten, was passiert war. Sie hatten beschlossen, Kuramae als Spion abzustempeln.

»Schon gut. Ich gehe später selbst hin.«

Mikami sah Kuramae nach, der mit hängenden Schultern davontrottete, und stieß einen bitteren Seufzer aus. Kuramae hatte zuvor einen Schreibtischposten in einer der Bezirksdirektionen von Dezernat II gehabt. Mikami hatte ihn in der Hoffnung hingeschickt, er würde vielleicht seine Kontakte dort spielen lassen können, um neue Informationen zu gewinnen, aber das war wohl zu optimistisch gewesen. Alles, was man der Pressestelle gab, ging geradewegs an die Medien, die es dann als Verhandlungsinstrument nutzten. Davon waren viele Kriminalbeamte nach wie vor felsenfest überzeugt.

Mikami war da keine Ausnahme gewesen.

In seiner Anfangszeit bei der Kriminalpolizei hatte man der Pressestelle nichts als Misstrauen entgegengebracht. Marionetten der Presse. Wachhunde der Verwaltung. Ein Ort, wo man für Prüfungen seine Kenntnisse aufpolierte. Er hatte diese Sprüche seiner kritteligen Vorgesetzten eins zu eins nachgeplappert. Selbst aus der Distanz hatte er die Vertrautheit dieser Leute mit der Presse widerwärtig gefunden. Nacht für Nacht gingen sie mit den Reportern einen trinken und traktierten sie mit Komplimenten. An Tatorten hielten sie sich abseits, Zuschauer, während sie mit der Presse plauderten.

Mikami hatte sie nie als Kollegen betrachtet.

Deswegen hatte es ihn auch in große Niedergeschlagenheit gestürzt, als man ihn in seinem dritten Jahr bei der Kriminalpolizei zum ersten Mal in die Pressestelle versetzt hatte. Er fühlte sich als Versager gebrandmarkt. Er nahm die Arbeit in tiefer Verzweiflung auf, im vollen Bewusstsein seiner Unfähigkeit, der Aufgabe gerecht zu werden. Dann, nach nur einem Jahr und bevor er auch nur Gelegenheit gehabt hatte, sich einzuarbeiten, hatte man ihn zur Kripo zurückversetzt.

Er hatte sich riesig darüber gefreut, sich zugleich aber außerstande gesehen, die einjährige Lücke in seiner Karriere als Kriminalbeamter schlicht als Laune der Personalabteilung abzutun. Er entwickelte ein schwärendes Misstrauen gegen das System und, damit einhergehend, ein noch stärkeres Gefühl der Angst. Er vergrub sich mit neu entdecktem Eifer in seine Arbeit und war die ganze Zeit auf der Hut vor der nächsten Versetzungswelle. Noch fünf, ja zehn Jahre danach fühlte er sich ständig angespannt. Zwar hatte seine Angst dazu beigetragen, sein leidenschaftliches Engagement für den Beruf noch zu steigern. Er ließ sich keinerlei Faulheit durchgehen, gab keiner Form von Versuchung nach, ließ in keiner Hinsicht locker – und das zeitigte Erfolge. Während seiner Zeit in Dezernat I verlieh man ihm eine Auszeichnung nach der anderen, egal ob beim Kommissariat Diebstahl, Gewaltverbrechen oder Sonderermittlungen.

Trotzdem fand Mikami erst mit seiner Versetzung ins Dezernat II seine wahre Berufung als Kriminalbeamter. Er spezialisierte sich auf Wirtschaftskriminalität und schuf sich innerhalb der Kripo eine Nische der Unangreifbarkeit, sowohl im Bezirk als auch im Präsidium.

Er zögerte immer noch, sich als echten, in der Wolle gefärbten Kriminalbeamten zu bezeichnen. Und selbst wenn er gewollt hätte, die Leute um ihn herum ließen ihn nicht vergessen, was geschehen war. Jedes Mal, wenn sensible Informationen an die Presse durchsickerten, mieden die Kollegen und Vorgesetzten seinen Blick. Und er konnte nicht alles als Paranoia abtun. Das kalte Grauen, während die unsichtbaren Fühler der Hexenjagd näher kamen, konnten nur diejenigen nachvollziehen, die es aus erster Hand kannten. Man hatte Mikami nie aufgefordert, sich an der Suche nach der undichten Stelle zu beteiligen, ganz gleich, wie sehr er seine Vorgesetzten mit seiner Arbeit beindruckt hatte und ungeachtet seiner Beförderung vom Ober- zum Hauptkommissar. In dieser Hinsicht war seine Dienstzeit bei der Pressestelle mit einer »Vorstrafe« vergleichbar.

Sie werden unser neuer Pressechef.

In Mikamis Kopf hatte nur noch Leere geherrscht, als Akama, der Verwaltungsdirektor, ihn zu Beginn des Frühjahrs inoffiziell von seiner Versetzung unterrichtet hatte. Das einzige Wort, das ihm in den Sinn kam, war »Vorstrafe« gewesen.

Akama hatte die Hintergründe der Ernennung dargelegt:

»Ich sehe mir nicht länger untätig an, wie die Presse für jeden Fehler, den wir machen, auf uns einprügelt; es fehlt den Reportern an Integrität sowie an jedem Verständnis für soziale Gerechtigkeit. Ihr einziges Ziel scheint es, unsere Autorität zu untergraben. Wir sind zu nachgiebig gewesen, und jetzt versuchen sie, unser Vertrauen zu missbrauchen. Deswegen brauchen wir jemanden wie Sie, Mikami. Einen robusten Pressechef, einen Kämpfer, der bereit und in der Lage ist, sie in die Schranken zu weisen.«

Mikami war es schwergefallen, diesen Worten Glauben zu schenken. Die Polizei pflegte eine Machokultur, die sehr auf Stärke setzte, und das hieß, es herrschte sowohl beim Kriminaluntersuchungsamt als auch außerhalb davon kein Mangel an kämpferischen Typen. Was nützte es der Personalabteilung, einen Beamten auf der Höhe seiner Fähigkeiten, einen, dessen Gedanken sich um die strenge Anwendung des Strafgesetzbuches drehten, abzuziehen und als Türhüter einzusetzen, in einer Rolle, die nichts mit dem ursprünglichen Auftrag der Polizei zu tun hatte?

Akama hatte die Versetzung so dargestellt, als handelte es sich um eine Karrierechance. Zwar entsprach die Gehaltsstufe der eines Direktors, und der Posten kam für Beamte von Mikamis Rang normalerweise nicht infrage, weshalb seine Beförderung zum Hauptkommissar garantiert war. Doch Mikami hatte auch für den Fall, dass er beim Kriminaluntersuchungsamt geblieben wäre, damit gerechnet, in zwei bis drei Jahren befördert zu werden, und es passte ihm nicht, dass man ihm den Köder unter die Nase hielt, wenn die Beförderung in der falschen Abteilung erfolgte.

Er war sich sicher gewesen, dass seine »Vorstrafe« die Auswahl mit beeinflusst hatte. Wenn mehrere Kandidaten für eine Stelle in Betracht kamen, verfuhr die Personalabteilung, um sich abzusichern, in aller Regel so, dass sie sich für denjenigen entschied, der auf dem betreffenden Gebiet die meiste Erfahrung hatte. Mikami hatte also nicht so sehr damit Probleme gehabt, dass man sich für ihn entschieden, sondern eher damit, dass das KUA ihn überhaupt vorgeschlagen hatte.

Mikami hatte all seinen Mut zusammengenommen und noch am selben Abend Arakida, den Direktor des Kriminaluntersuchungsamts, in dessen Privathaus aufgesucht. »Die Entscheidung ist gefallen«, war alles, was Arakida gesagt hatte. Genau wie zwanzig Jahre zuvor. Mikami war es so vorgekommen, als hätte ihm der Mann schlichtweg die Begabung für den Polizistenberuf abgesprochen. Seine Enttäuschung und seine Niedergedrücktheit waren wegen der langen Jahre, die er der Kripo-Arbeit gewidmet hatte, umso schlimmer gewesen.

In ein paar Jahren sollte er zum KUA zurückkehren. Bis dahin hatte sich Mikami die Rolle des Pressedirektors mit einem einzigen festen Vorsatz zu eigen gemacht: seine Emotionen im Zaum zu halten und sich vor innerem Verfall zu hüten. Er würde seine früheren Fehler nicht wiederholen, noch würde er sich irgendeine Nachlässigkeit erlauben oder die Zeit vergeuden. Seine langen Jahre harter Arbeit hatten sich vor allem in einer großen körperlichen und geistigen Disziplin niedergeschlagen, die dafür sorgte, dass er es nicht ertrug, irgendein Problem unbearbeitet zu lassen.

Die Pressestelle reformieren. Er wusste, das musste er zu seiner ersten Aufgabe machen.

Sein Eröffnungszug hatte darin bestanden, eine Offensive gegen das KUA zu starten. Er brauchte Informationen, etwas, was er als Druckmittel einsetzen konnte. Er verstand, dass im Umgang mit der Presse rohes Nachrichtenmaterial die einzig wirksame Waffe war, die ihm zur Verfügung stand. Er würde den Reportern gut gerüstet gegenübertreten. Er würde eine erwachsene Beziehung aufbauen, in der jede Seite die andere unter Kontrolle hielt. Die Verwaltung würde sich immer weniger einmischen, und man konnte diese Drei-Parteien-Hängepartie endlich beenden. So hatte sich Mikami seinen Reformplan zurechtgelegt.

Die Mauer, die das KUA – der selbst ernannte Stier unter den Einsatzabteilungen – zu seinem Schutz um sich errichtet hatte, war beachtlich gewesen. Das galt schon für Dezernat II, Mikamis langjähriges Zuhause. Am eindrucksvollsten aber war, wie er zugeben musste, die Weigerung von Dezernat I, sich auf ein Gespräch einzulassen. Er hatte sich angewöhnt, während der Mittagspause einen täglichen Pilgergang zu beiden Dezernaten zu unternehmen, seine Bahnen um Dezernat I zu ziehen, Gespräche mit leitenden Beamten anzuknüpfen, um ein Gefühl für laufende Ermittlungen zu bekommen. Außerhalb der Arbeit machte er sich sein persönliches Netzwerk zunutze, um Kontakt zu Kriminalbeamten mittleren Rangs aufzunehmen. Er wartete Ferien und freie Tage ab, dann tauchte er mit kleinen Geschenken vor ihren Wohnungen auf. Er verzichtete auf Winkelzüge und schenkte ihnen reinen Wein ein. Während er seine Runden machte, sagte er ihnen, er brauche Informationen, um der Presse Paroli bieten zu können.

Seinen zweiten Beweggrund hatte er verschwiegen. Er hatte seine Zukunft im Blick. Falls er in zwei Jahren ins KUA zurückwechselte, dann mit einer »zweiten Offensive«. Er musste während seiner Zeit als Pressechef dafür sorgen, dass niemand ihn dort irgendwann als Außenseiter ansah. Er musste sie wohl oder übel darüber auf dem Laufenden halten, was er in der Pressestelle tat; es war die notwendige Vorbereitung für seine Rückkehr.

Seine »Pilgergänge« setzten sich zwei, drei Monate lang fort. Zwar erbrachten sie wenig Substanzielles, aber nach und nach zeitigten sie eine zweite, insgeheim von ihm erhoffte Wirkung. Was er tat, war ungewöhnlich für einen Pressechef und hatte die Aufmerksamkeit der Medien erregt; die Wirkung war alles andere als unbedeutend. Sie hatten angefangen, ihn zu beachten. Die Art und Weise, wie sie ihn einschätzten, änderte sich merklich. Er war etwas noch nie Dagewesenes, ein Pressedirektor, dessen eigentliche Heimat Dezernat II war. In ein paar Jahren konnte er eine wichtige Position beim KUA bekleiden, und aus diesem Grund hatte die Presse ihn von Anfang an mit einer gewissen Ehrerbietung behandelt und sich dafür entschieden abzuwarten. Damals galt wie eh und je, dass das KUA die wichtigste Informationsquelle für die Presse war. Und Mikamis Pilgergänge unterstrichen die »Nähe« zwischen dem KUA und der Pressestelle. Immer mehr Reporter sprachen ihn an. Es war das erste Mal, dass die Presse aus freien Stücken und ohne ausdrückliche Einladung erschienen war.

Mikami hatte die Gelegenheit ergriffen und sich darangemacht, Erwartungen bei ihnen zu wecken. Die wenigen Informationen, die er hatte, verwendete er mit maximalem Effekt. Er sprach einzeln mit den Pressevertretern und bediente sich indirekter Formulierungen und eines subtilen Mienenspiels, um die Wahrnehmung aktueller Fälle zu steuern. Er zeigte Präsenz, indem er auf Tuchfühlung mit der Presse blieb, eine solide Grundlage für ihr Verhältnis schuf und so das vormals schlechte Image des Pressechefs aufbesserte. Gleichzeitig achtete er darauf, dass sich die Reporter in seiner Gegenwart nicht zu wohl fühlten. Wenn jemand erschien, um Zeit totzuschlagen, blieb er gelassen und kehrte seine strenge Seite hervor. Er nahm eine klare Haltung ein und brachte oberflächliche Kritik an der Polizei rasch zum Schweigen. Zugleich ließ er die Bereitschaft erkennen, sich wohlerwogene Argumente anzuhören. Wenn sie verhandeln wollten, räumte er ihnen so viel Zeit ein, wie sie brauchten. Er versuchte nie, sich bei ihnen anzubiedern, machte jedoch, falls erforderlich, gewisse Zugeständnisse. Es hatte gut geklappt. Mikami hatte das Machtgefälle beseitigt, das der Presse zum absoluten Vorteil gereicht hatte, und dennoch hatten die Journalisten keinerlei Anzeichen von Verärgerung gezeigt. Sie gierten ständig nach mehr Informationen. Die Polizei gierte nur nach guter Publicity. Es war eine Zweckbeziehung, bei der jede Seite unterschiedliche Interessen verfolgte, aber ein gemeinsamer Nenner ließ sich dennoch finden; dazu musste man bei unmittelbaren Begegnungen lediglich ein wenig Vertrauen aufbringen. Stück für Stück war Mikamis Vision für die Pressestelle wahr geworden, bis er schließlich überzeugt gewesen war, dass sein Plan funktionierte.

Als seine bête noire erwies sich schließlich der Direktor der Verwaltung. Mikami hatte damit gerechnet, dass verbesserte Beziehungen zur Presse weniger Einmischung zur Folge haben würden, lag mit seiner Prognose jedoch völlig falsch. Akama hatte missfallen, wie Mikami das Büro führte, und er begann, seine Vorbehalte bei jeder Gelegenheit zu äußern. Er kritisierte Mikami für dessen »defätistische« Kompromisse und beklagte seine Kontakte zum KUA als sture Weigerung, sich beruflich weiterzuentwickeln. Mikami verstand das nicht. Akama hatte einen starken Pressechef gewollt; Mikami war fest davon ausgegangen, dass Akama seine frühere Beziehung zum KUA mit einkalkuliert hatte. Er hatte diesen Einfluss bestmöglich genutzt. Und damit Ergebnisse erzielt. Was für ein Problem hatte Akama? Schließlich fasste Mikami sich ein Herz und sprach ihn direkt an. Er hob hervor, wie wichtig es sei, seinen Zugang zu Informationen dazu zu benutzen, einen diplomatischeren Austausch mit der Presse zu erreichen. Akamas Antwort war kaum zu glauben gewesen.

»Lassen Sie es einfach bleiben, Mikami. Wenn wir Ihnen Zugang zu dieser Art von Informationen gewähren, besteht immer die Möglichkeit, dass Sie sie an die Presse weitergeben. Sie können schwerlich etwas sagen, wenn Sie nichts wissen. Richtig?«

Mikami war sprachlos gewesen. Akama hatte einen Strohmann mit undurchdringlichem Gesicht gewollt. Tun Sie nichts, denken Sie nicht. Setzen Sie einfach Ihr Kämpfer-Gesicht auf. Das hätte Akama genauso gut gleich sagen können. Pressekontrolle, nicht Pressestelle. Ein echter Hass auf die Presse. Der Mann war noch verdrehter, als Mikami befürchtet hatte.

Mikami war nicht bereit gewesen, einfach klein beizugeben. Blinder Gehorsam gegenüber Akama würde die Pressestelle um zwanzig Jahre zurückwerfen. Seine Reformen waren endlich auf den Weg gebracht – er musste sie nur noch vorantreiben. Es war zu spät, sie einfach verpuffen zu lassen. Die Heftigkeit seiner Reaktion hatte ihn selbst verblüfft. Sie rührte zweifellos daher, dass er den Wind der Außenwelt auf seiner Haut gespürt hatte. Er hatte gelernt, Dinge zu sehen, an die er als Ermittler keinen Gedanken verschwendet hatte. Es war, als trennte eine hohe Mauer die Polizei von der Allgemeinheit und als wäre die Presseabteilung das einzige Fenster, das sich wenigstens gelegentlich nach draußen öffnete. Wie engstirnig oder selbstgefällig die Presse war, spielte keine Rolle: Wenn dieses Fenster von innen geschlossen würde, wäre die Polizei komplett von der anderen Seite abgeschnitten.

Der Kriminalbeamte in Mikami, so weit er das noch war, hatte sich geltend gemacht. Sich zu fügen und den Strohmann für die Verwaltung zu spielen hieße, die wenigen Verbindungen zu seinem wahren Selbst zu kappen, die er noch hatte. Dennoch durfte er nicht so töricht sein, sich gegen jemanden zu stellen, der Einfluss in Personalentscheidungen hatte. Falls man ihn in irgendein Bezirksrevier in den Bergen versetzte, würde er, anstatt irgendwann wieder zum KUA zu kommen, für die Behörde sofort zu einem Niemand werden, an den man sich nur noch vage erinnerte. Aus einem anderen Blickwinkel betrachtet, war es jedoch auch eine seltene Gelegenheit gewesen. Falls die Situation sich irgendwann änderte und eine Rückkehr in seine angestammte Abteilung in Reichweite rückte, würde die Geschichte, wie er dem Chef der Verwaltung Paroli geboten hatte, ausreichen, ihn von seiner »zweiten Offensive« und noch anderem reinzuwaschen.

Mit größter Vorsicht begann er, sich Akama zu widersetzen. Er arbeitete hart daran, sich als loyalen Untergebenen zu präsentieren, und hielt seine Emotionen im Zaum, während er sich darauf konzentrierte, sich selbst treu zu bleiben. Er hörte ruhig, aber unvoreingenommen zu und äußerte nur dann taktvoll Widerspruch, wenn er sich außerstande sah, eine bestimmte Anweisung oder einen bestimmten Befehl einfach hinzunehmen. Außerdem trat er für gewisse Medienstrategien ein, die er befürwortete, während er die ganze Zeit in aller Stille sein Vorhaben fortsetzte, die Pressestelle zu reformieren.

Er hatte gewusst, dass er auf dünnem Eis ging. Er spürte Akamas Gereiztheit überdeutlich. Dennoch hatte er mit seiner Meinung nie hinterm Berg gehalten. Inzwischen war klar, dass das Risiko ihm neuen Schwung verliehen hatte. Ein halbes Jahr lang hatte er sich geweigert, sich von Akamas durchdringenden Blicken schrecken zu lassen. Er hatte den Rausch des Kampfes gespürt. Er hatte vielleicht nicht gewonnen, doch verloren hatte er auch nicht.

Aber …

Ayumis Verschwinden hatte alles geändert.

Asche fiel von seiner Zigarette ab und rieselte auf den Tisch. Er hatte schon zwei geraucht. Er sah auf die Uhr an der Wand. Kuramae war da, sein Profil ein trüber Schatten am Rand von Mikamis Blickfeld. Dezernat II hatte sich geweigert, seine Erkenntnisse preiszugeben. Hieß das, das Wollwollen für ihn hatte sich bereits erschöpft? Kuramae war als Vertreter von Mikami dort erschienen. Das wussten die Kommissariate nur zu gut.

Es musste daran liegen, dass er aufgehört hatte, die Dezernate zu besuchen, die Ermittler. Daran, dass seine Pressestrategie zu dem verkümmert war, was auch immer Akama diktierte.

Auf dem Flur brach ein plötzlicher Tumult los.

Da kommen sie. Suwa und Kuramae hatten eben noch Zeit, einen Blick zu wechseln, ehe die Tür aufsprang, ohne dass auch nur ein Klopfen vorausgegangen wäre.

3

Im Nu füllte sich der Raum mit Pressevertretern. Asahi, Mainichi, Yomiuri, Tokyo, Sankei und Toyo. Dazu die lokalen Medien: D Daily, Zenken Times, D Television und FM Kenmin. Ihre einander überlagernden Gesichter waren grimmig. Einige funkelten ihn unverhohlen an, mit aggressiv gestrafften Schultern, was darauf hindeutete, dass ihre in letzter Zeit praktizierte Kooperation mit Mikami sich ebenfalls verschlechtern würde. Die meisten waren Reporter zwischen zwanzig und dreißig. In Zeiten wie diesen verspürte Mikami eine Aversion gegen ihre Jugend, dagegen, dass sie ein derart dreistes Auftreten zuließ. Die Reporter von Kyodo News und Jiji Press drängten sich kurz nach den anderen in den Raum. Der Vertreter der NHK war ebenfalls da, ganz hinten, noch halb im Flur, und reckte den Hals, um besser sehen zu können.

Alle dreizehn Mitglieder des Presseclubs waren anwesend.

»Fangen wir an.« Ein Chor verärgerter Stimmen wurde laut, und die zwei Männer in der ersten Reihe, beide von der Toyo, traten einen Schritt näher. Als Vertreterin des Presseclubs für den laufenden Monat war es an der Toyo, die Veranstaltung zu eröffnen.

»Direktor Mikami. Als Erstes hätten wir gern eine plausible Erklärung für Ihr plötzliches Verschwinden gestern.« Tejima, der sich ein Jackett angezogen hatte, stellte die erste Frage.

Toyo. Stellvertretender Redaktionsleiter. Universität H. Sechsundzwanzig. Kein ideologischer Hintergrund. Todernst. Neigt zu übersteigertem Selbstbewusstsein. Der Eintrag über Tejima in Mikamis Notizbuch.

»Suwa hat uns gesagt, ein Familienangehöriger von Ihnen sei in kritischem Zustand. Das mag ja sein – aber rechtfertigt das wirklich, dass Sie ohne ein einziges Wort aufstehen und gehen? Und da wir seither nichts von Ihnen gehört haben, drängt sich mir der Gedanke auf, dass die Art, wie Sie uns behandeln …«

»Tut mir leid«, unterbrach Mikami. Es passte ihm gar nicht, sich den Grund für seinen Weggang in Erinnerung zu rufen und von der Presse danach gefragt zu werden.

Tejima warf Akikawa, der neben ihm stand, einen Blick zu.

Toyo. Redaktionsleiter. Universität K. Neunundzwanzig. Linksgerichtet. Gibt nie auf. De-facto-Leiter des Presseclubs.

Akikawa wirkte nonchalant, die Arme verschränkt. Er spielte gern den großen Zampano und ließ die mühsame Arbeit von anderen erledigen.

»Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie sich entschuldigen?«

»Richtig.«

Wieder sah Tejima fragend zu Akikawa, dann wandte er sich an die anderen. »Sind wir alle …«, begann er.

Das reicht, machen wir weiter. Er nickte angesichts der stummen Gesten, mit denen sie ihm bedeuteten fortzufahren, dann entfaltete er ein fotokopiertes Blatt, das er schon die ganze Zeit über Mikamis Schreibtisch hielt.

Einzelheiten eines schweren Autounfalls in Oito.

Mikami brauchte sich das Dokument nicht näher anzusehen. Es war eine Kopie der Pressemeldung, die das Büro einen Tag zuvor herausgegeben hatte. Eine Hausfrau hatte sich am Steuer ihres Wagens ablenken lassen und einen älteren Mann angefahren, der schwere Verletzungen am ganzen Körper davongetragen hatte. An sich waren Verkehrsunfälle zwar durchaus alltäglich, in diesem speziellen Fall jedoch hatten die näheren Umstände zu einem Konflikt mit der Presse geführt.

»Ich möchte noch einmal fragen – warum haben Sie die Identität der Fahrerin verschwiegen? Sie müssen doch wissen, dass Sie die Pflicht haben, alle Angaben über sie mitzuteilen?«

Mikami verschränkte die Finger und hielt Tejimas eisigem Blick stand. »Wie ich bereits gestern erklärt habe, ist die Frau hochschwanger. Dass sie einen Unfall verursacht hat, hat ihr extrem zugesetzt. Wir wissen nicht, wie sie den Schock verkraften würde, auch noch ihren Namen in der Zeitung zu lesen. Deswegen haben wir ihre Identität nicht preisgegeben.«

»Das ist kein stichhaltiger Grund. Sie haben ja sogar ihre Adresse geheim gehalten – alles, was wir wissen, ist ›Oito‹. Frau A, Hausfrau, zweiunddreißig Jahre alt. Das ist alles, was Sie uns gegeben haben … wie können wir sicher sein, dass sie überhaupt existiert?«

»Natürlich existiert sie, und ebendeshalb müssen wir in Betracht ziehen, wie sich das Ganze auf ihr ungeborenes Kind auswirken könnte. Sagen Sie mir, was daran falsch ist.«

Sie schienen Mikamis Gegenargument als Arroganz aufzufassen. Tejimas Miene verfinsterte sich, im Raum wurde Unmut laut. »Seit wann ist das etwas, was die Polizei in Betracht ziehen muss? Das ist übertriebene Rücksichtnahme.«

»Die Frau ist nicht in Haft. Der Mann war an einer Stelle auf die Straße getreten, wo es keinen Fußgängerüberweg gibt. Und er hatte getrunken.«

»Das ändert nichts daran, dass die Fahrerin nicht auf die Straße geachtet hat. Und hier bezeichnen Sie den Zustand des Unfallopfers als ›ernst‹, wo es doch eigentlich ›kritisch‹ heißen müsste. Immerhin liegt der alte Mann, Meikawa, im Koma.«

Aus dem Augenwinkel warf Mikami einen flüchtigen Blick auf Akikawa. Wie lange gedachte er Tejima eigentlich noch weitergeifern zu lassen?

»Direktor Mikami, Sie müssen ehrlich zu uns sein. Das ist etwas, worüber wir nicht einfach hinwegsehen können; die möglichen Konsequenzen sind zu ernst. Wir haben die Pflicht, die Schuld der Fahrerin in dieser Sache zu hinterfragen.«

Mikami richtete den Blick wieder auf Tejima, der stur weitermachte. »Sie wollen sie also vorverurteilen, indem Sie ihren Namen in den Zeitungen verbreiten?«

»Ich bitte Sie, so muss man das doch nicht formulieren. Wir meinen etwas ganz anderes. Wir meinen, es ist falsch von der Polizei, einseitig zu entscheiden, den Namen und die Adresse einer Person zurückzuhalten. Ob wir den Namen der Fahrerin drucken oder nicht, sollte uns überlassen bleiben, nachdem wir die Möglichkeit erhalten haben, es gegen das Interesse der Öffentlichkeit abzuwägen.«

»Warum genau können wir diese Entscheidung nicht für Sie treffen?«

»Weil der Sachverhalt verschleiert wird. Ohne nähere Angaben zu den Beteiligten – ihre Namen und Adressen – haben wir keine Möglichkeit zu überprüfen, ob die Informationen, die Sie liefern, korrekt sind oder ob die Fälle ordnungsgemäß abgeschlossen werden. Und wenn das Präfekturpräsidium erst einmal routinemäßig anonymisierte Meldungen herausgibt, wer sagt uns dann, dass die Direktionen in ihren Verlautbarungen nicht ebenfalls Kurven schneiden? Im schlimmsten Fall könnte die Vorenthaltung solcher Informationen dazu dienen, die Wahrheit zu manipulieren, zum Beispiel bei einem Vertuschungsversuch der Polizei.«

»Einem Vertuschungsversuch der Polizei …«

»Hören Sie, wir meinen doch nur …« Von der Seite drängte sich Yamashinas schlaksige Gestalt heran. Zenken Times. Kommissarischer Redaktionsleiter. Universität F. Achtundzwanzig. Dritter Sohn des Sekretärs eines Parlamentsabgeordneten. Charmeur. Loser. »… dass man sich, wenn jemand unbedingt etwas verheimlichen will, nun mal so seine Gedanken macht. Vielleicht ist sie die Tochter von jemand Wichtigem. Vielleicht behandelt man sie einfach nur deshalb mit Nachsicht, weil der Alte betrunken war.«

»Das ist doch lächerlich!« Mikami war unwillkürlich laut geworden.

Yamashina zuckte bloß die Achseln, während andere sich heftig erregten. Nein, Sie sind lächerlich! Natürlich schöpfen wir Verdacht, wenn Sie unbedingt alles verheimlichen wollen! Sind die Namen von Schwangeren jemals vorher verschwiegen worden? Na bitte. Wir verlangen eine schlüssige Erklärung! Mikami ignorierte das Geschrei. Wenn er den Mund aufmachte, würde er am Ende auch nur brüllen.

»Um das mal festzuhalten, Mikami«, sagte Akikawa. Er ließ sich Zeit, nahm die Arme herunter. Das Ganze stank nach Drama, als wollte er zu verstehen geben, dass der Star im Begriff stand, die Bühne zu betreten. »Sie haben Angst … dass die Polizei in die öffentliche Kritik gerät, wenn der Frau oder ihrem ungeborenen Kind etwas zustößt, weil ihr Name von der Presse veröffentlicht wird.«

»Darum geht es nicht. Es gibt schlicht und einfach Umstände, unter denen ein Beteiligter das Recht auf Privatsphäre hat.«

»Das Recht auf Privatsphäre?« Akikawa schnaubte verächtlich. »Nur damit ich Sie richtig verstehe … Sie finden, es geht hier um die Rechte der Schuldigen?«

»Ja.«

Wieder geriet der Raum in Wallung.

Hören Sie schon auf! Als ob Sie davon etwas verstehen! Ist die Polizei nicht ganz groß im Missachten von Menschenrechten? Wie kommen Sie dazu, uns darüber belehren zu wollen?

»Ich verstehe nicht, warum Sie sich so aufregen. Sie wissen doch, dass der Trend im Journalismus zunehmend dahin geht, auf Namensnennung zu verzichten. Sie machen das doch ständig so – im Fernsehen, in der Presse. Warum sind Sie so dagegen, dass wir diese Entscheidung treffen?«

Das ist einfach Arroganz. Die Polizei hat gar nicht das Recht dazu. Haben Sie denn noch nie von Pressefreiheit gehört? Anonymisierte Polizeiberichte verstoßen gegen das Informationsrecht der Öffentlichkeit.

»Nun machen Sie schon, Mikami, geben Sie uns einfach ihren Namen. Wir werden ihn nicht drucken, wenn sie wirklich in schlechter Verfassung ist.« Wieder übertönte Yamashina die anderen. Diesmal war sein Ton versöhnlich. »Am Ende macht es doch auch keinen Unterschied. Wir würden trotzdem recherchieren, ihren Namen und ihre Adresse herausfinden, auch wenn Sie nähere Angaben zu ihr verschweigen. Ich könnte mir auch denken, dass es sie stärker mitnimmt – wir wissen ja, dass sie schwanger ist –, wenn wir es direkt von ihr selbst in Erfahrung bringen müssten.«

»Direktor Mikami, nur um das klarzustellen«, meldete sich Tejima zu Wort, kaum dass Akikawa die Arme wieder verschränkt hatte. Seine Stirn glänzte von Schweiß. »Sind Sie bereit zu erwägen, die Identität der Frau preiszugeben?«

»Nein.« Mikamis Antwort kam postwendend. Tejima machte große Augen.

»Warum nicht?«

»Weil sie den zuständigen Beamten unter Tränen angefleht hat, nicht mit der Presse zu reden.«

»Hey! Jetzt stellen Sie uns hier bloß nicht als die Bösewichte hin.«

»So beängstigend ist das. Seinen Namen in der Zeitung lesen zu müssen.«

»Das ist ungerecht. Sie versuchen doch nur, die Schuld anderen zuzuschieben.«

»Sie können sagen, was Sie wollen. Wir nennen Ihnen den Namen nicht. Die Entscheidung ist bereits gefallen.«

Im Raum wurde es still. Mikami machte sich auf eine wütende Gegenreaktion gefasst. Aber …

»Sie haben sich verändert, Mikami.« Akikawa hatte den Kurs gewechselt. Er stützte die Hände auf Mikamis Schreibtisch und beugte sich mit ernstem Gesicht vor. »Wir haben einiges von Ihnen erwartet. Sie waren nicht wie Ihr Vorgänger Funaki. Sie haben nie versucht, sich bei uns anzubiedern, und Sie haben sich auch nicht bei Ihren Vorgesetzten eingeschleimt. Ehrlich … wir waren von Ihnen beeindruckt, nachdem Sie hierher versetzt worden sind. Aber dann hatte man den Eindruck, Sie geben auf und werden gleichgültig. Jetzt vertreten Sie die Parteilinie. Was ist passiert?«

Mikami blieb stumm, starrte ins Leere, wollte auf keinen Fall, dass sie sein Zögern bemerkten. Akikawa fuhr fort.

»Sie waren derjenige, der die Presseabteilung als ›Fenster‹ bezeichnet hat. Es ist eine bittere Pille, wenn derselbe Pressedirektor beschließt, blind der offiziellen Politik zu folgen, genau wie alle anderen Beamten. Ohne jemanden, der bereit ist, uns in der Außenwelt anzuhören, jemanden, der den Mut hat, objektiv zu sein und Stellung zu beziehen, wird die Polizei niemals etwas anderes sein als eine geschlossene Blackbox. Freut Sie das?«

»Das Fenster gibt es immer noch. Es ist nur nicht so groß, wie Sie dachten.«

Enttäuschung huschte über Akikawas Gesicht. Mikami wurde klar, dass Akikawa ihn nicht hatte attackieren oder verurteilen, sondern vielmehr einen aufrichtigen Appell an ihn hatte richten wollen. Seine Augen waren gleichmütig, als er den Blick wieder auf Mikami richtete.

»In Ordnung. Eines möchte ich noch wissen.«

»Und das wäre?«

»Ihre persönliche Meinung zu anonymisierter Berichterstattung.«

»Persönlich, offiziell – die Unterscheidung ist irrelevant. Die Antwort ist die gleiche.«

»Das glauben Sie wirklich?«

Wieder blieb Mikami stumm. Akikawa sagte nichts. Jeder forschte im Blick des anderen. Fünf, zehn Sekunden. Die Zeit schien sich zu verlangsamen. Schließlich nickte Akikawa nachdrücklich.

»Ihre Haltung ist klar und deutlich.« Er blickte in die Runde der hinter ihm stehenden Reporter, ehe er sich wieder Mikami zuwandte. »Dann fordere ich Sie im Namen des gesamten Presseclubs offiziell auf, die Identität der Frau preiszugeben. Wir verlangen das nicht von Ihnen, sondern vom Präsidium der Präfekturpolizei.«

Mikamis Blick lieferte die Antwort: Sie kennen die Entscheidung bereits.

Wieder nickte Akikawa.

»›Gib ihnen den Namen der Frau, und sie bringen ihn in der Zeitung.‹ Heißt, Sie, die Polizei, haben keinerlei Vertrauen in uns. Richtig?«

Die Worte klangen wie ein Ultimatum. Akikawa kehrte Mikami den Rücken. Mit laut klackenden Absätzen verließen die Reporter den Raum.

Glauben Sie ja nicht, wir nehmen das hin.

Ein drückendes Unbehagen war alles, was in dem beengten Raum zurückblieb.

4

Hatten sie ihm etwa drohen wollen?

Mit einem tiefen Seufzer nahm Mikami das Exemplar der Pressemeldung vom Schreibtisch, zerknüllte es und warf es in den Papierkorb. Die Konfrontation hatte eine neue Qualität gehabt. Sie hatten ihn persönlich angegriffen. Es war das erste Mal, dass er sie so blutdürstig erlebt hatte, und das machte ihn umso gereizter. Niemand war ums Leben gekommen; es handelte sich bloß um einen Verkehrsunfall. Eine Meldung, der sie kaum Beachtung geschenkt hätten, wenn sie nicht mit der Frage der anonymisierten Berichterstattung verquickt gewesen wäre. Es war eine Bagatelle, die Art von Meldung, die es heutzutage nicht einmal mehr unbedingt in die Lokalzeitungen schaffte.

Mit dem Weggang der Reporter bot das Büro seinen Benutzern wieder genügend Platz. Suwas Augen durchforsteten die Zeitung. Er sah aus, als wollte er etwas sagen, machte aber keinen Versuch, Blickkontakt aufzunehmen. Kuramae und Mikumo waren beide damit beschäftigt, den Tagesbericht fertigzustellen, und standen unter Zeitdruck. Sie schienen darauf zu warten, dass Mikamis Laune sich besserte. Vielleicht tat er ihnen auch schlicht leid. Alle drei hatten Akikawas Worte gehört.

Sie haben sich verändert, Mikami.

Mikami zündete sich eine Zigarette an, drückte sie nach ein paar Zügen wieder aus und trank den Rest seines kalten Tees. Endlich war es ausgesprochen. Er hatte schon eine ganze Weile den starken Verdacht gehabt, dass die Presse ihn irgendwann abschreiben würde. Zurück auf Anfang. Die Erkenntnis machte ihn zornig. Aber vielleicht kam es einfach daher, dass er seine Beziehung zu ihnen von vornherein überschätzt hatte. Es war wie eine Fata Morgana. Weil er gar keine nennenswerte Beziehung aufgebaut hatte, konnte er nun auch nicht behaupten, sie sei zerstört. Das Vertrauen zwischen ihnen war so schwach gewesen, dass der erste kräftige Windstoß es weggeblasen hatte. Und er hätte immer noch Mühe zu antworten, wenn jemand ihn fragte, ob seine eingefleischte Animosität gegen die Medien während der Zeit, in der er mit der Reform der Pressestelle beschäftigt gewesen war, nachgelassen hatte.

Außerdem hatte er Pech gehabt. Anonymisierte Berichterstattung war eine heikle Sache. Für die Polizei war sie zum landesweiten Problem geworden. Dass er ausgerechnet jetzt damit zu tun bekam, da das Vertrauen, das die Presse in ihn setzte, zu schwinden begann, war besonders unglücklich. Eine Schublade in seinem Schreibtisch enthielt den Namen der Frau: Hanako Kikunishi. Er war in der Meldung enthalten, die das Bezirksrevier gefaxt hatte, doch eine halbe Stunde nach ihrem Eingang hatte der stellvertretende Revierleiter angerufen: Bitte entschuldigen Sie, dass ich noch mal störe. Die Frau ist schwanger, können Sie sie diesmal anonym behandeln?

Mikami bat Suwa zu sich herüber. »Was meinen Sie, wie ist es gelaufen?«

Suwa zog die Augenbrauen zusammen. »Ein bisschen aufgeregt haben sie sich schon.«

»Meinetwegen?«

»Das bestimmt nicht. Ich finde, Sie haben getan, was Sie konnten. Es läuft so oder so nichts nach Plan, wenn die Frage der Anonymität auf der Tagesordnung steht.«

Er sah die Arbeit ganz ähnlich wie Direktor Akama. Der einzige Unterschied, vermutete Mikami, bestand darin, dass Suwa sowohl Zuckerbrot als auch Peitsche einsetzte. Eine Süßigkeit, glasiert mit dem Sachverstand, dem Geschick und dem Stolz des geborenen Strippenziehers.

Mikami lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Er sah Suwa nach, der sich rasch entfernte, um einen Anruf entgegenzunehmen. Mit neuem Elan, so der gemeine Gedanke, bei dem sich Mikami ertappte. Vielleicht hatte Mikamis Kommen das Büro in einen Ort verwandelt, an dem es Suwa schwerfiel, seiner Arbeit nachzugehen. Seine raison d’être war von einem Pressechef mit einem Werdegang als Kriminalbeamter und ohne Erfahrung in der Pressearbeit bedroht worden. Mikami fragte sich, ob Suwa wohl so empfand.

Na schön, dann zeig mal, was du kannst.

Mikami beschloss, die Taktik zu ändern. Er konnte es sich nicht erlauben, sich weiter mit dem Thema Vertrauensverlust aufzuhalten und nichts zu unternehmen, was die aktuelle Situation betraf. Ganz gleich, wie sie am Ende verfuhren, wenn sie ihre Beziehungen zur Presse einstellten, wäre das genauso, wie wenn ein Kriminalbeamter sich weigerte, in einem Fall zu ermitteln.

»Alle mal herhören.«

Suwa, der sein Telefongespräch gerade beendet hatte, stand zugleich mit Kuramae auf. Mikumo rutschte auf die vordere Kante ihres Schreibtischstuhls, unsicher, ob die Aufforderung auch für sie galt. Mikami bedeutete ihr mit einer Geste, dass sie sitzen bleiben konnte, und winkte Suwa und Kuramae zu sich.

»Sehen Sie mal zu, dass Sie nebenan ein bisschen gut Wetter machen. Und versuchen Sie, dahinterzukommen, von wem das Ganze eigentlich ausgeht.«

»Kein Problem.«

Suwa war eindeutig aufgelebt. Er schnappte sich sein Jackett und verließ, ohne weitere Anweisungen abzuwarten, mit selbstbewussten Schritten den Raum. Kuramae folgte, ohne die gleiche Selbstsicherheit auszustrahlen. Mikami lockerte seinen Nacken. Sein Optimismus hielt sein Unbehagen in Schach.

Der Presseraum war ein einzigartiges Biotop. Als Konkurrenten in derselben Branche hatten die Reporter ein wachsames Auge aufeinander; zugleich einte sie die Solidarität von Kollegen am Arbeitsplatz. Wenn es gegen die Polizei ging, konnte sich diese Solidarität zum Gefühl eines gemeinsamen Kampfes steigern. Manchmal – so wie gerade eben – bildeten sie dabei eine so geschlossene Front, dass sogar die Polizei die Waffen strecken musste. Trotzdem standen sie letzten Endes alle im Sold verschiedener Brötchengeber. Jede Zeitung hatte ihre eigenen Prinzipien und Traditionen, und das hieß, der Anschein entsprach nicht immer den Tatsachen.

Während Mikami noch grübelte, kam Yamashina in den Raum zurück. Sein Blick huschte nervös umher, ganz anders als noch vor einer Viertelstunde, als er versucht hatte, Mikamis Stimmung einzuschätzen.

»Haben Sie noch etwas auf dem Herzen?«

Angesichts von Mikamis Tonfall schien er sich zu entspannen und zeigte ein Grinsen, als er auf ihn zukam.

»Sie täten gut daran, ein bisschen sanfter mit uns umzugehen, wissen Sie. Das gerade eben? Das war verrückt.«

»Verrückt?«

»Sie sind alle wütend.«

»Sie waren doch derjenige, der die Stimmung aufgeheizt hat.«

»Wie können Sie so etwas behaupten? Ich habe lediglich versucht, ein Friedensangebot zu machen.«

Er hatte Angst davor, dass die Polizei sich abschotten könnte. Mikami wurde klar, dass sein Einfluss auf die weniger fähigen Reporter wie Yamashina im Stillen fortgewirkt hatte.

»Wie steht es denn da drin?«, bohrte Mikami vorsichtig nach.

Yamashina senkte übertrieben verschwörerisch die Stimme. »Wie gesagt, sie drehen durch. Die Toyo ist wütend. Dann ist da Utsuki von der Mainichi. Und die Asahi …«

Das Telefon vor Mikami klingelte. Über die Störung verärgert, nahm er den Hörer ab.

»Sie sollen ins Büro des Direktors kommen.«

Es war Ishii, der Büroleiter. Er schien sich über irgendetwas zu freuen. Mikami konnte sich Akamas Gesichtsausdruck bereits vorstellen. Er hatte eine unangenehme Vorahnung. Eine gute Nachricht für Ishii war für ihn selbst oft eine schlechte.

»Sie werden irgendwo verlangt?«

»Richtig.« Im Aufstehen bemerkte Mikami auf dem Boden eine Haftnotiz, die sich im Schatten eines Tischbeins versteckte. Mikumos Schrift. Er passte auf, dass Yamashina nicht mitbekam, wie er sie las.

Anruf von Inspektor Futawatari. 07:45.

Shinji Futawatari. Sie waren im selben Jahr in den Polizeidienst getreten. Mikami spürte, wie sich seine Mundwinkel anspannten. Er warf einen kurzen Blick auf Mikumo, sagte jedoch nichts und nestelte an dem Zettel in seiner Hand. Weswegen konnte Futawatari angerufen haben? Normalerweise mieden sie einander. Vielleicht ging es nur um Büroangelegenheiten. Vielleicht hatte er auch von der Identifizierung am Vortag gehört und hatte das Gefühl, als Kollege irgendetwas sagen zu müssen.

Mikami erinnerte sich wieder an Yamashinas Anwesenheit.

»Wir können das Gespräch später fortsetzen.«

Anscheinend glaubte Yamashina, etwas erreicht zu haben, denn er nickte zufrieden und blieb dicht hinter Mikami, während dieser die Tür ansteuerte. Als Mikami schon auf dem Flur stand, sagte Yamashina: »Ach so, Mikami.«

»Ja?«

»Gestern – stimmte das? Dass ein Familienangehöriger von Ihnen in einem kritischen Zustand ist?«

Mikami drehte sich langsam zu Yamashina um. Der betrachtete ihn gespannt.

»Natürlich. Warum fragen Sie?«

»Ach, nur so«, sagte Yamashina zögernd. »Ich hatte nur gehört, dass es vielleicht etwas anderes ist.«

Scheißkerl.

Mikami tat so, als hätte er nichts gehört, und ging weiter den Flur entlang. Yamashina klopfte ihm übertrieben vertraulich auf die Schulter, ehe er im angrenzenden Presseraum verschwand. Durch die halb offene Tür erhaschte Mikami einen flüchtigen Blick auf die Reporter, die mit ernsten Gesichtern die Köpfe zusammensteckten.

5

Außerhalb der Mittagspause traf man auf dem Flur im ersten Stock selten jemanden. Buchhaltung. Ausbildung. Innenrevision. Sämtliche Türen waren gegen neugierige Blicke fest verschlossen. Es war still. Das einzige Geräusch kam von Mikamis Schritten, die auf dem gewachsten Boden des Flurs quietschten. Verwaltung. Das Wort auf dem verblassten Türschild schien ein gewisses Gefühl von Beklemmung zu erheischen. Mikami drückte die Tür auf. Dezernatsleiter Shirota saß ganz hinten, am anderen Ende des Raums; Mikami verbeugte sich stumm, bevor er hinüberging und dabei aus dem Augenwinkel einen Blick auf den Schreibtisch des Inspektors am Fenster warf. Futawatari war nicht da. Seine Lampe war ausgeschaltet, auf dem Schreibtisch lagen keine Papiere. Wenn er keinen freien Tag hatte, war er vermutlich in der Personalabteilung im ersten Stock des Nordgebäudes. Gerüchten zufolge waren die Planungen für die Versetzungen im kommenden Frühjahr bereits im Gange. Futawatari war dafür zuständig, einen Vorschlag für Veränderungen bei den leitenden Positionen auszuarbeiten. Dieser Umstand erfüllte Mikami mit Unbehagen, seit er von Ishii davon erfahren hatte. Was bedeutete das für seine eigene Versetzung? War seine ungeplante Rückkehr zur Pressestelle wirklich die alleinige Entscheidung von Direktor Akama gewesen?

Mikami durchquerte den Raum und klopfte an die Tür von Akamas Büro.

»Herein.« Die Aufforderung kam von Ishii. Wie schon am Telefon hatte seine Stimme eine deutlich höhere Tonlage als sonst.

»Sie wollten mich sprechen?«

Mikami ging über den dicken Teppich. Akama saß zurückgelehnt auf einer Couch und kratzte sich am Kinn. Die Goldrandbrille. Der maßgeschneiderte Anzug. Der distanzierte, indirekte Blick. Seine äußere Erscheinung war nicht anders als sonst – der Inbegriff des leitenden Beamten, das heimliche Vorbild jedes frischgebackenen Polizisten. Mit einundvierzig war er fünf Jahre jünger als Mikami. Der Mittfünfziger mit dem schütteren Haar, der auf typisch unterwürfige Weise bolzengerade neben Akama saß, war Ishii. Er bedeutete Mikami herüberzukommen. Akama wartete nicht, bis Mikami saß, ehe er den Mund aufmachte.

»Es muss … unangenehm gewesen sein.« Sein Ton war beiläufig, als wollte er andeuten, Mikami wäre von einem abendlichen Regenschauer überrascht worden.

»Nein, es ist … es tut mir leid, dass ich mich durch persönliche Probleme von meiner Arbeit ablenken lasse.«

»Keine Sorge. Bitte, nehmen Sie doch Platz. Wie waren die Leute vor Ort? Man hat Sie doch wohl gut behandelt?«

»Ja. Man hat sich gut um mich gekümmert, besonders der Revierleiter.«

»Schön zu hören. Ich werde mich persönlich bedanken.«

Sein fürsorglicher Ton war nervtötend.