20.000 Meilen unterm Meer - Jules Verne - E-Book

20.000 Meilen unterm Meer E-Book

Jules Verne.

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Beschreibung

Welches Seeungeheuer treibt 1866/67 sein Unwesen und bringt reihenweise Schiffe zum Kentern? Oder ist es womöglich ein Unterwasserfahrzeug? Professor Pierre Aronnax, ein versierter Meeresforscher, soll es herausfinden und sticht mit seinem Diener Conseil an Bord der US-Flotte "Abraham Lincoln" im Nordpazifik in See. Doch anstatt auf einen Narwal zu treffen, stellt sich das Ungeheuer als U-Boot heraus, und Aronnax und sein Begleiter werden von der Besatzung und dem geheimnisvollen Kapitän Nemo festgehalten... Eine Untersee-Weltreise beginnt!-

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Jules Verne

20.000 Meilen unterm Meer

Das geheimnisvolle Unterwasserschiff erkundet die Merkwürdigkeiten fremder Meere

Saga

20.000 Meilen unterm MeerOriginal:Vingt mille lieues sous les mers

Coverbild/Illustration: Shutterstock Copyright © 1869-1870, 2020 Jules Verne und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726642865

 

1. Ebook-Auflage, 2020

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

 

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk

– a part of Egmont www.egmont.com

Erstes Kapitel

Es muß wohl ein Einhorn sein

Meine Zeitgenossen werden sich noch deutlich jener merkwürdigen Naturerscheinungen erinnern, über die im Jahre 1866 so überstürzende Gerüchte umliefen. Besonders die Bevölkerung der Hafenstädte wurde damals beunruhigt, und bei allen Seeleuten, bei den Kaufleuten und Reedern, den Schiffsherren, Patronen und Kapitänen in Europa und in Amerika gab es viel Aufruhr. Die Offiziere der Kriegsmarine und die Staatsregierungen aller Staaten widmeten der Sache ein besonderes Interesse.

Die Berichte lauteten dahin, daß einzelne Schiffe seit einiger Zeit einem unerklärlichen und nicht genau zu beschreibenden Gegenstand begegneten: spindelförmig, lang, zuweilen phosphoreszierend und unendlich viel größer und geschwinder als ein Walfisch.

Überall war das Ungeheuer Tagesgespräch; in den Cafés, in den Journalen, ja sogar in den Theatern. Die Enten bekamen eine hübsche Gelegenheit, Eier in allen Farben zu legen. Die Journale gaben in Abbildungen alle riesenmäßigen Phantasiebilder zum Besten, vom weißen Walfisch, dem erschrecklichen „Moby-Dick“ der Hyperboreerländer bis zum maßlosen Kraken, der mit seinen Fühlhörnern ein Fahrzeug von fünfhundert Tonnen umwickeln und in den Abgrund des Ozeans hinabziehen kann.

Am 13. April 1867 fuhr die „Scotia“ unter 15° 12’ Länge und 45° 37’ Breite, bei ruhigem Meer und günstigem Wind mit einer Schnelligkeit von dreizehn Knoten und vollkommen regelmäßiger Radbewegung. Am Abend, als die Passagiere eben im großen Salon bei der Tafel saßen, verspürte man einen kaum merkbaren Stoß. Er schien so leicht, daß kein Mensch an Bord beunruhigt wurde, bis die Leute des Schiffsraumes mit Geschrei aufs Verdeck stürzten: „Wir gehen unter!“

Augenblicklich bemächtigte sich der Passagiere eine ungeheure Panik; aber Kapitän Anderson konnte sie beruhigen. Tatsächlich konnte die Gefahr nicht bedeutend werden, da die „Scotia“ durch wasserdichte Verschläge in sieben Abteilungen geteilt war, so daß sie leicht einem Eindringen des Wassers standhalten konnte. Der Kapitän begab sich sofort in den Schiffsraum und stellte fest, daß das Wasser in das fünfte Gefach durch ein beträchtliches Leck eindrang. Zum Glück befanden sich die Kessel nicht darin, sonst wären die Feuer mit einem Male ausgelöscht worden.

Der Kapitän ließ sogleich halten, ein Matrose tauchte unter, um den Schaden zu untersuchen, und es fand sich ein zwei Meter breites Loch im Kiel. So konnte die Scotia nur mit halber Schnelligkeit weiterfahren und kam um drei Tage verspätet in Liverpool an.

Bei der Ausbesserung stellte man einen regelmäßigen Riß in Form eines gleichschenkeligen Dreiecks fest. Der Bruch des Eisenblechs zeigte, daß der durchbohrende Gegenstand ausnehmend hart gewesen sein mußte; auch mußte er, nachdem er mit enormer Gewalt eingedrungen war, sich wieder durch eigene Bewegung, in unerklärbarer Weise herausgezogen haben.

Dieses Ereignis setzte die öffentliche Meinung in leidenschaftliche Erregung. Von nun an wurden Unfälle zur See, deren Ursache man nicht kannte, auf Rechnung des Ungeheuers gesetzt, und dem phantastischen Tier wurden alle Schiffbrüche dieser Art zugeschrieben.

Da nun, mit Recht oder Unrecht, die Beschuldigung sich erhob, daß der Verkehr in gefährlicher Weise gestört sei, so verlangte das Publikum aufs entschiedenste, die Meere endlich um jeden Preis von dem fürchterlichen Ungetüm zu befreien.

Zur Zeit dieser Ereignisse kam ich von einer wissenschaftlichen Untersuchungsreise, der mich die französische Regierung als Professor der Naturgeschichte zugeteilt hatte, aus Nebraska in den Vereinigten Staaten zurück. Gegen Ende März kam ich nach sechsmonatigem Aufenthalt in Nebraska mit kostbaren Sammlungen in New York an, und meine Abreise nach Frankreich war auf Anfang Mai festgesetzt. Ich beschäftigte mich eben damit, inzwischen meine mineralogischen, botanischen und zoologischen Schätze zu ordnen, als sich der Unfall der „Scotia“ ereignete.

Bei meiner Ankunft in New York war dieses Ereignis hochaktuell. Die Hypothese einer schwimmenden Insel, einer unerreichbaren Klippe, die von einigen urteilslosen Köpfen aufgebracht worden war, hatte man bereits aufgegeben. Wie sollte denn auch solch eine Klippe, sofern sie nicht eine Maschine im Leib hatte, so reißend schnell die Stelle wechseln?

Ebenso wurde der Gedanke an einen umherschwimmenden Schiffsrumpf aus dem gleichen Grunde aufgegeben.

Es blieben also noch zwei mögliche Lösungen der Frage, die beide Anhänger fanden: Die einen hielten den Gegenstand für ein Ungeheuer von kolossaler Kraft; die anderen für ein unterseeisches Fahrzeug von außerordentlicher Beweglichkeit.

Man erwies mir die Ehre, mich über die fragliche Erscheinung zu befragen. Ich hatte in Frankreich einen zweibändigen Quartanten unter dem Titel: „Die Geheimnisse der großen unterseeischen Tiefe“ erscheinen lassen. Dieses besonders von der gelehrten Welt gut aufgenommene Buch machte aus mir einen Spezialisten in diesem noch ziemlich unbekannten Gebiet der Naturwissenschaft. Bald mußte ich, aufs Äußerste gedrängt, mich kategorisch erklären. Und der „ehrenwerte Pierre Arronax, Professor am Museum zu Paris“, wurde sogar vom New-York-Harald öffentlich aufgefordert, irgendeine Ansicht über die Sache zu formulieren.

Ich machte mich daran. Ich sprach, weil ich nicht mehr schweigen konnte.

Bis auf weitere Informationen handelte es sich meiner Vermutung nach um ein See-Einhorn von kolossalen Dimensionen, das mit einem wirklichen Sporn bewaffnet ist, wie ihn die Panzerfregatten haben, denen es etwa an Umfang und Bewegungskraft gleich käme.

Das Meer ist gerade das beste Element, der einzige Ort, wo solche Riesen — neben denen die Elefanten und Rhinozerosse nur Zwerge sind — entstehen und sich entwickeln können! Die Massen des Ozeans enthalten die größten Gattungen bekannter Seesäugetiere, und vielleicht bergen sie in ihren Tiefen noch manche Mollusken und Schaltiere von erschrecklichem Aussehen. Vormals, in der Urzeit, waren die Landtiere, Vierfüßler, Reptilien und Vögel von riesenhafter Form. Warum sollte nicht das Meer, das sich unveränderlich gleich bleibt, in seinen unbekannten Tiefen noch solche Überreste eines anderen Zeitalters bewahrt haben? Warum sollte es nicht in seinem Schoße die letzten Arten solcher Riesengattungen bergen?

Doch wenden wir uns aus dem Reiche der Phantasie der bösen Wirklichkeit zu. Die öffentliche Meinung sprach sich damals ohne Widerspruch für die Existenz eines wunderhaften Riesentieres aus.

Aber sofern die einen nur eine wissenschaftliche Aufgabe darin erkannten, wollten die anderen, mehr positiven Geister, zumal in Amerika und England, das Meer von dem furchtbaren Ungeheuer säubern, um den überseeischen Verkehr zu sichern. Die industriellen und Handelsblätter behandelten die Frage hauptsächlich von diesem Gesichtspunkt aus; alle den Assekuranz-Gesellschaften ergebenen Blätter waren darin einer Meinung.

Nachdem die öffentliche Meinung sich ausgesprochen, erklärten sich die Vereinigten Staaten zuerst. Man traf in New York Vorkehrungen für eine Expedition zur Verfolgung des Narwals. Eine schnellsegelnde Fregatte, „Abraham Lincoln“, wurde instand gesetzt, unverzüglich in See zu stechen. Dem Kommandanten Farragut wurden die Arsenale geöffnet, und er betrieb eifrigst die Ausrüstung des Schiffes.

Nun aber, wie das meistens geschieht, gerade von dem Moment an, da man entschlossen war, das Ungeheuer zu verfolgen, war es nicht mehr zu sehen. Zwei Monate lang hörte man nicht mehr von ihm reden. Es schien, als habe das Einhorn Kunde von diesem Komplott bekommen. Man hätte zuviel davon gesprochen, vor allem über das Kabel, scherzte man; der schlaue Fuchs habe einige Telegramme aufgefangen und mache sich nun ihren Inhalt Zunutze.

Als daher die Fregatte für eine weite Bahrt gerüstet und mit allen notwendigen Maschinen versehen war, wußte man nicht, wohin die Fahrt zu richten sei. Endlich verlautete, ein Dampfer von der Linie S. Franzisko in Kalifornien nach Schanghai habe das Tier drei Wochen zuvor in den nördlichen Gewässern des Stillen Ozeans gesichtet.

Es entstand wieder hellste Aufregung. Man ließ dem Kommandanten Farragut kaum vierundzwanzig Stunden Frist. Seine Vorräte waren eingeschifft, Kohlen in Überfluß, kein Mann der Besatzung fehlte an seinem Platz; man brauchte nur zu heizen, auszulaufen! Nicht einmal einen halben Tag Verzögerung hätte man ihm verziehen! Zudem war der Kommandant selbst voll Eifer.

Drei Stunden, bevor der „Abraham Lincoln“ von Brooklyn abfuhr, erhielt ich folgendes Billett:

Herrn Arronax, Professor am Museum zu Paris,

5 Avenue Hotel

New York.

Mein Herr!

Wenn Sie sich der Expedition des „Abraham Lincoln“ anschließen wollen, wird die Regierung der Vereinigten Staaten erfreut sein, daß Frankreich durch Sie an dieser Unternehmung sich beteilige. Der Kommandant Farragut hält eine Kabine zu Ihrer Verfügung bereit.

Ergebenst der Ihrige J. B. Hobsen, Sekretär der Marine.

Drei Sekunden vor Ankunft des Briefes von J. B. Hobsen dachte ich ebensowenig das Einhorn zu verfolgen, als die nordwestliche Durchfahrt zu versuchen. Drei Sekunden nachdem ich den Brief des bekannten Sekretärs der Marine gelesen, begriff ich endlich, daß das einzige, wahre Ziel meines Lebens darin bestehe, das beunruhigende Ungeheuer zu verjagen und die Welt von ihm zu befreien.

Aber ich kam eben von einer mühevollen Reise zurück und sehnte mich erschöpft nach Ruhe. Ich wollte nur meine Heimat wiedersehen, meine Freunde, meine kleine Wohnung im Jardin des Plantes, meine kostbaren Sammlungen! Aber nun konnte nichts mich zurückhalten: Ich vergaß Ermüdung, Freunde, Sammlungen und nahm ohne weiteres Bedenken das Anerbieten der amerikanischen Regierung an.

‚Übrigens’, so dachte ich, ‚führt ja jeder Weg nach Europa zurück, und das Einhorn wird wohl so liebenswürdig sein, mich nach den Küsten Frankreichs zu locken! Dieses respektable Tier wird sich sicher in den Gewässern Europas — zu meinem persönlichen Vergnügen — fangen lassen — und ich will dem naturhistorischen Museum mindestens einen halben Meter von seiner elfenbeinernen Hellebarde mitbringen’.

Einstweilen aber mußte ich den Narwal im Norden des Stillen Ozeans suchen; das hieß etwa das gleiche, wie für die Rückkehr nach Frankreich den Weg zu den Antipoden einschlagen.

„Conseil!“ rief ich ungeduldig.

Conseil war mein Diener. Ein ergebener Bursche, der mich auf allen meinen Reisen begleitete; ein braver Flamländer, den ich liebgewonnen hatte und der mir’s vergalt; phlegmatisch von Natur, ordentlich aus Grundsatz, dienstbeflissen aus Gewohnheit, ließ er sich durch keine Überraschung irremachen; mit geschickten Händen zu jedem Dienst geeignet, war er niemals mit seinem Rat zudringlich.

Durch den Verkehr mit den Gelehrten unserer kleinen Welt des Jardin des Plantes hatte Conseil es dazu gebracht, daß er viel wußte. Ich hatte in ihm geradezu einen Spezialisten, der, sehr bewandert in der naturhistorischen Einteilung, mit der Gewandtheit eines Seiltänzers die ganze Stufenleiter der Verzweigungen, Gruppen, Klassen, Unterabteilungen, Ordnungen, Familien, Gattungen, Untergattungen, Arten und Varietäten auf und ab lief. Aber hier lag auch schon die Grenze seines Wissens. Klassifizieren war sein Lebenselement, mehr aber verstand er nicht. Dehn in der Praxis hätte er nicht einmal einen Pottfisch von einem Walfisch unterscheiden können! Und doch, was für ein braver, tüchtiger Mensch!

„Mein Herr ruft mich?“ Conseil trat ein.

„Ja, mein Junge. Mach dich fertig und hilf mir! In zwei Stunden reisen wir ab.“

„Wie es dem Herrn beliebt.“ Conseil war nicht aus der Fassung zu bringen.

„Jeder Augenblick ist kostbar, also packe in meinen Koffer alles, Kleider, Hemden, Strümpfe, so viele du nur kannst, und rasch! Rasch!“

„Und des Herrn Sammlungen?“ Conseil überlegte alles.

„Später wollen wir uns damit wieder befassen.“

„Wie? Die Archiotherium, Hyracotherium, Oreodon, die Cheropatamus und andere Gerippe meines Herrn?“

„Man soll sie im Hotel aufheben!“

„Und der lebendige Babirussa meines Herrn?“

„Man soll ihn in meiner Abwesenheit füttern, Übrigens werde ich Auftrag geben, unsere Menagerie nach Frankreich zu befördern.“

„Wir kehren also nicht zurück nach Paris?“ fragte Conseil.

„Ja . . . gewiß . . .“, ich wich seinen Fragen aus, „aber auf einem Umweg.“

„Wie es meinem Herrn beliebt.“

„Ja! Ein kleiner Umweg, das ist alles. Wir fahren mit auf dem ‚Abraham Lincoln’!“

„Wie es meinem Herrn beliebt.“ Conseil blieb seelenruhig.

„Du weißt, lieber Freund, es handelt sich um das Ungeheuer . . . den famosen Narwal . . . Wir werden die Meere von ihm befreien! . . . Ein ehrenvoller, aber auch gefahrvoller Auftrag! Diese Tiere können sehr üble Laune haben! Aber trotzdem, wollen wir gehen?“

„Was mein Herr tut, das tue auch ich.“ Es klang so selbstverständlich.

Nach einer Viertelstunde waren unsere Koffer fertig, und ich war sicher, daß nichts fehlte, denn der Junge verstand Hemden und Kleider ebenso gut zu ordnen wie Vögel und Säugetiere. Noch ordnete ich im Kontor meine Rechnungen, gab Auftrag, meine Kisten mit ausgebalgten Tieren und getrockneten Pflanzen nach Paris zu schicken, und eröffnete dem Barbirussa einen hinlänglichen Kredit. Darauf stieg ich in Conseils Begleitung in einen Wagen, und nach einigen Minuten waren wir am Kai, wo der „Abraham Lincoln“ schwarze Rauchsäulen emporwirbelte.

Unser Gepäck wurde gleich aufs Verdeck der Fregatte gebracht, ich selbst eilte an Bord und fragte nach dem Kommandanten Farragut. Ein Matrose führte mich aufs Vorderdeck zu einem Offizier von stattlichem Aussehen, der mir die Hand reichte.

„Herr Pierre Arronax?“ redete er mich an.

„Der bin ich. Kommandant Farragut?“

„In eigener Person. Seien Sie willkommen, Herr Professor. Ihre Kabine wartet schon auf Sie.“

Kommandant Farragut war ein tüchtiger Seemann. Er fühlte sich eins mit seinem Schiff, war seine Seele. Über das Seeungeheuer hegte er nicht den mindesten Zweifel, und er gestattete auch nicht, daß an Bord seines Schiffes über die Existenz des Tieres disputiert wurde. Er glaubte daran wie an einen Glaubensartikel. Das Ungeheuer existierte, und er hatte geschworen, die Meere von dem Untier zu befreien. Punktum! Entweder der Kommandant Farragut würde den Narwal töten oder der Narwal den Kommandanten. Ein Drittes gab’s für ihn nicht.

Die Mannschaft brannte darauf, mit dem Einhorn zusammenzutreffen, die Harpune zu werfen, es an Bord zu ziehen und es zu zerhauen. Sie beobachtete achtsam die Meeresfläche, Übrigens sprach der Kommandant Farragut von einer Summe von zweitausend Dollars, die er ausgesetzt habe — Schiffsjunge, Matrose oder Offizier — wer das Tier signalisierte, sollte sie bekommen. Man kann sich denken, wie alles an Bord der „Abraham Lincoln“ die Augen anstrengte.

Kömmandant Farragut hatte sein Schiff mit allem notwendigen Werkzeug versehen, um das Riesentier zu fischen. Wir besaßen alles: von der mit der Hand geworfenen Harpune angefangen bis auf die explodierenden Kugeln der Geschütze.

Es fehlte also dem „Abraham Lincoln“ nicht an Mordmitteln. Aber er besaß noch mehr, den Harpunierkönig Ned-Land.

Ned-Land war ein Kanadier von seltener Handfertigkeit, der seinesgleichen in dem gefährlichen Handwerk nicht hatte. Er besaß Gewandtheit und Kaltblütigkeit, Kühnheit und List in besonders hohem Grad, und ein Walfisch mußte schon recht tückisch, ein Pottfisch besonders listig sein, um seiner Harpune zu entrinnen.

Ned-Land war etwa vierzig Jahre alt, hochgewachsen — über sechs englische Fuß — äußerst kräftig, wenig mitteilsam, manchmal heftig und, wenn man ihn reizte, leicht zornig. Er fiel unbedingt auf.

Kommandant Farragut hatte klug getan, diesen Mann für sein Schiff zu gewinnen, der allein mit Auge und Arm die ganze Mannschaft aufwog.

Zweites Kapitel

Auf gut Glück

Die Fahrt des „Abraham Lincoln“ verlief lange ohne jeden Zwischenfall. Er durchfuhr alle nördlichen Meeresstriche des Stillen Ozeans, lief die signalisierten Walfische an, kreuzte in raschen Wendungen hin und her, ließ keinen Punkt von Japan bis zur amerikanischen Küste undurchsucht. Aber es gab nichts, nichts als das unermeßliche, öde Meer! Nichts, was einem riesenhaften Narwal, einem unterseeischen Inselchen, einer schweifenden Klippe noch sonst etwas Übernatürlichem geglichen hätte.

Da trat ein Rückschlag ein. Die Entmutigung machte zuerst einer Ungläubigkeit Platz. Es entstand an Bord eine Stimmung, die aus drei Zehntel Scham und sieben Zehntel Zorn bestand. Wie war man doch „einfältig, sich für eine Chimäre gewinnen zu lassen“. Jeder dachte nur mehr in den Stunden der Mahlzeit oder des Schlafes daran, die so sinnlos geopferte Zeit wieder nachzuholen.

So verfiel man von einem Extrem ins andere. Die wärmsten Verfechter der Unternehmung wurden nun zu den ärgsten Schmähern. Die Reaktion befiel alles, vom untern Schiffsraum bis zum Salon der Offiziere, und wäre nicht der Kommandant Farragut so hartnäckig gewesen, so hätte sich die Fregatte wieder entschieden nach Süden gewendet.

In diesem Sinne machte man dem Kommandanten Vorstellungen. Der aber hielt wacker stand. Die Matrosen verhehlten nicht ihre Unzufriedenheit, und der Dienst litt darunter. Ich will nicht sagen, daß an Bord ein Aufruhr entstand, aber der Kommandant Farragut fand doch, nachdem er geraume Zeit widerstanden, sich veranlaßt, wie einst Kolumbus, drei Tage Geduld zu verlangen. Wenn im Verlauf von drei Tagen das Ungeheuer sich nicht zeigte, sollte der „Abraham Lincoln“ die Heimkehr nach den europäischen Meeren antreten.

Dieses Versprechen wurde am 2. November gegeben. Es hatte zunächst zur Folge, daß der Mut der Mannschaft sich wieder hob. Der Ozean wurde wieder gründlich beobachtet; die Fernrohre kamen wieder in Tätigkeit. Es war wie eine letzte Herausforderung an den Riesen-Narwal.

Während der nächsten zwei Tage hielt sich der „Abraham Lincoln“ bei schwachem Dampf. Man gab sich alle Mühe, die Aufmerksamkeit des Tieres, falls es sich in dieser Gegend befände, zu erregen. Es wurden ungeheure Stücke Speck am Schleppseil ausgeworfen — zur großen Befriedigung der Haifische. Die Boote fuhren in allen Richtungen um den „Abraham Lincoln“, während er aufbraßte, und ließen keinen Punkt undurchsucht. Aber der Abend des 4. November kam heran, ohne daß das unterseeische Geheimnis sich enthüllte.

Am folgenden Tag, dem 5. November, lief der Termin ab. Nach diesem Termin mußte der Kommandant Farragut, seinem Versprechen gemäß, die Fahrt nach Südosten richten und die nördlichen Gegenden des Stillen Ozeans verlassen.

Die Fregatte befand sich damals unter dem 31° 15’ nördlicher Breite und 136° 42’ östlicher Länge. Die Landschaften Japans waren kaum zweihundert Meilen entfernt. Die Nacht nahte, es schlug schon acht Uhr. Die Mondscheibe, in ihrem ersten Viertel, war von Gewölk verschleiert. Das Meer schlug ruhige Wellen.

In diesem Augenblick befand ich mich vorn an Steuerbord, aufs Geländer gelehnt. Conseil, der in meiner Nähe stand, schaute vor sich hin. Die Mannschaft, auf den Tauen hockend, forschte am Horizont, der allmählich enger und düsterer wurde. Die Offiziere, mit ihren Nacht-Lorgnetten bewaffnet, beobachteten die zunehmende Dunkelheit.

„Na, Conseil“, sagte ich zu meinem braven Diener, „nun ist noch zum letzten Mal Gelegenheit, zweitausend Dollars einzustreichen.“

Ehe Conseil antworten konnte, ließ sich eine laute Stimme vernehmen. Ned-Land rief: „Hoiho! der fragliche Gegenstand unterm Wind, quer vor uns!“

Sofort stürzten Mannschaft, Kommandant, Offiziere, Matrosen und Schiffsjungen hin zum Harpunier, selbst die Ingenieure verließen ihre Maschine, die Heizer ihr Feuer. Es wurde Befehl zum Einhalten gegeben, und die Fregatte fuhr nicht weiter, als ihre Kraft noch reichte.

Es herrschte völlige Dunkelheit, und so trefflich des Kanadiers Augen waren, so fragte ich mich doch, wie er denn nur sehen gekonnt und was er gesehen. Mein Herz klopfte zum Zerspringen.

Aber Ned-Land hatte sich nicht geirrt, und wir alle sahen den Gegenstand, auf den er mit der Hand wies.

Zwei Kabellängen vom „Abraham Lincoln“ entfernt schien das Meer an der Oberfläche beleuchtet. Es war nicht bloß ein Phosphoreszieren, man konnte sich nicht irren. Das einige Klafter unter dem Wasserspiegel verborgene Ungeheuer warf den sehr starken, aber unerklärlichen Glanz an die Meeresoberfläche, von dem schon mehrere Kapitäne berichtet hatten. Diese prächtige Ausstrahlung mußte von dem Träger einer starken Leuchtkraft herrühren. Die auf der Meeresfläche erleuchtete Stelle bildete ein ungeheures, sehr langes Oval, in dessen Zentrum ein glühender Brennpunkt von unerträglichem Glanz Strahlen warf, die, stufenweise schwächer, allmählich erloschen.

„Eine Anhäufung phosphoreszierender Elementarteilchen“, rief einer der Offiziere.

„Nein“, ich widersprach mit Überzeugung. „Niemals können die Pholaden und Salpen ein so starkes Licht erzeugen. Dieser Glanz ist seiner Natur nach elektrisch . . . Übrigens, sehen Sie, sehen Sie! Es ändert seine Stelle; bewegt sich vor-, rückwärts! Da! Es stürzt auf uns los!“

Allgemeines Geschrei auf der Fregatte.

„Still!“ befahl Kommandant Farragut. „Steuer unterm Wind, Maschine rückwärts!“

Die Matrosen stürzten sich auf das Steuer, die Ingenieure zu ihrer Maschine.

Der „Abraham Lincoln“ drehte sich links, beschrieb einen Halbkreis.

„Steuer rechts! Maschine voran!“ rief Farragut.

Die Befehle wurden ausgeführt, und die Fregatte entfernte sich rasch von der leuchtenden Stelle.

Besser, sie wollte sich entfernen, aber das Wundertier näherte sich mit doppelter Geschwindigkeit.

Wir waren außer Atem. Bestürzung machte uns stumm und unbeweglich. Das Tier spottete unser; es schwamm um die Fregatte herum und umzog sie mit elektrischen Streifen. Dann entfernte es sich zwei bis drei Meilen, indem es einen phosphoreszierenden Streifen hinter sich ließ, wie die Lokomotive ihre Dampfwirbel. Es wollte nur aus der Entfernung seinen Anlauf nehmen und schoß plötzlich vom dunklen Horizont aus mit furchtbarer Schnelligkeit auf den „Abraham Lincoln“ los, hielt jedoch in einer Entfernung von zwanzig Fuß auf einmal an, verschwand, als wäre die Quelle der glänzenden Ausströmung mit einem Male versiegt! Darauf kam es auf der andern Seite des Schiffes wieder zum Vorschein, sei es, daß es um dasselbe herum oder darunter schwamm. Jeden Augenblick konnte ein Zusammenstoß erfolgen, der uns vernichtet hätte.

Ich wunderte mich allgemach über die Manöver der Fregatte. Sie floh, griff nicht an. Sie wurde verfolgt, statt zu verfolgen, und ich sagte dem Kommandanten meine Meinung. Seine sonst so festen Züge zeigten eine unbeschreibliche Bestürzung.

„Herr Arronax“, erklärte er mir, „ich weiß nicht, mit welch furchtbarem Geschöpf ich es zu tun habe, und ich will nicht unvorsichtig in dieser Dunkelheit meine Fregatte aufs Spiel setzen. Wie soll man auch nur das Unbekannte angreifen, wie sich verteidigen. Warten wir den Tag ab, dann wollen wir die Rollen wechseln!“

„Sie haben, Kommandant, über die Natur des Tieres keinen Zweifel mehr?“

„Nein, mein Herr, es ist offenbar ein Riesen-Narwal, und dazu ein elektrischer.“

„Vielleicht kann man ihm ebensowenig nahekommen wie einem Zitterfisch!“

„Ja, und wenn das Tier die Kraft eines Blitzschlages besitzt, so ist es das Fürchterlichste, das jemals aus des Schöpfers Hand gekommen ist. Deshalb, mein Herr, werde ich vorsichtig sein.“

Die Nacht über blieb die ganze Bemannung auf den Beinen, an Schlaf konnte niemand denken. Da der „Abraham Lincoln“ sich an Schnelligkeit nicht mit dem Gegner messen konnte, so hielt er sich bei schwachem Dampf und fuhr langsam weiter. Der Narwal dagegen machte es der Fregatte nach, ließ sich auf den Wellen wiegen und schien entschlossen, den Schauplatz des Kampfes nicht zu verlassen.

Um Mitternacht aber verschwand er; oder besser gesagt, er „erlosch“ wie ein gewaltiger Leuchtturm. War er geflohen? Sieben Minuten vor ein Uhr morgens aber vernahm man ein betäubendes Zischen, als ob ein Wasserstrahl mit äußerster Heftigkeit emporgeschleudert würde.

Der Kommandant, Ned-Land und ich befanden uns gerade auf dem Vorderdeck und schauten starr durch das tiefe Dunkel.

„Ned-Land“, fragte der Kommandant, „Sie haben oft das Zischen der Walfische gehört?!“

„Jawohl, Kapitän! Aber noch niemals von solchen Walfischen wie dem da, der mir zweitausend Dollars verschafft hat.“

„Richtig, Sie haben ja ein Recht auf den Preis. Aber sagen Sie mir, ist denn dieses Getöse nicht das gleiche wie das der Walfische, wenn sie Wasser aus ihren Luftlöchern ausstoßen?“

„Ganz dasselbe, aber unvergleichlich stärker. Ein Irrtum ist gar nicht möglich. Das Tier gehört zum Walfischgeschlecht. Wollen morgen bei Tagesanbruch zwei Wörtel mit ihm reden!“

„Wenn es Lust hat, Sie zu hören“, meinte ich nicht ohne Ironie.

„Kann ich ihm nur auf vier Harpunenlängen nahe kommen“, der Kanadier war schlagfertig, „so wird es mich wohl anhören müssen.“

„Werd’ Ihnen ein Walfischboot zur Verfügung stellen!“ meinte der Kommandant. „Das heißt aber auch, das Leben meiner Leute aufs Spiel setzen!“

„Und auch das meinige!“ entgegnete einfach der Harpunier. Da waren wir wieder still.

Gegen zwei Uhr morgens zeigte sich die leuchtende Stelle wieder fünf Meilen vom „Abraham Lincoln“. Trotz der Entfernung, trotz des Brausens des Meeres und Windes hörte man deutlich die schweren Schwanzschläge des Tieres und sogar sein keuchendes Atmen.

‚Na’, dachte ich, ‚ein Walfisch von der Kraft eines Kavallerieregiments, ein hübsches Tier!’

Man war zum Kampf gerüstet. Das Gerät zum Fischen lag bereit. Es wurden die kleinen Harpunenstücke geladen, auch die langen Büchsen mit Explodierenden Kugeln, die selbst den stärksten Tieren tödliche Wunden beibringen. Ned-Land hatte seine Harpune, eine fürchterliche Waffe, in der Hand.

Um sechs Uhr begann der Tag zu grauen; mit dem ersten Schimmer der Morgenröte verschwand der Glanz des Narwals. Um sieben Uhr war es völlig Tag geworden, aber ein dichter Morgennebel fiel ein und beschränkte die Sicht. Zorn und Enttäuschung machten sich breit.

Ich kletterte auf die Stangen des Hintermastes. Einige Offiziere saßen schon oben auf den Masten.

Um acht Uhr stieg der Nebel allmählich auf. Der Blick wurde wieder frei und rein.

Plötzlich ließ Ned-Land sich wieder vernehmen:

„Der fragliche Gegenstand hinten links!“

Die Blicke aller richteten sich dahin.

Eine und eine halbe Meile entfernt sah man einen langen, schwärzlichen Körper einen Meter über den Wellen emportauchen. Sein Schwanz erregte mit gewaltigen Schlägen einen ungeheuren Wirbel. Blendend weißes, unendlich ausgedehntes Kielwasser bezeichnete in langer Kurve die Bahn des Tieres.

Die Fregatte kam näher, und ich konnte es genau beobachten. Die Berichte des „Shannon“ und der „Helvetia“ hatten seine Größe übertrieben, ich schätzte seine Länge auf höchstens zweihundertundfünfzig Fuß. Seine Dicke zu schätzen war schwierig, aber im ganzen schien mir das Tier in den drei Dimensionen wohlproportioniert.

Während ich das phänomenale Geschöpf beobachtete, schleuderte es aus seinen zwei Luftlöchern Strahlen von Dampf und Wasser, die gegen vierzig Meter hoch stiegen. Daraus konnte ich über die Art seines Atmens mir eine bestimmte Meinung machen. Es mußte zu den Wirbeltieren gehören, der Klasse der Säugetiere, Gruppe der fischförmigen, Ordnung der walfischartigen. Über die Familie war ich mir noch nicht klar. Das Weitere hoffte ich mit Gottes und des Kommandanten Hilfe bald bestimmen zu können.

Die Mannschaft harrte mit Ungeduld der Befehle ihres Kommandanten, der, als er das Tier genau besehen, den Ingenieur rufen ließ.

„Heizen Sie stärker, bis zu voller Dampfkraft“, befahl er ihm.

Dreimaliges Hurra erschallte. Die Stunde des Kampfes hatte geschlagen. Nach wenigen Augenblicken entströmten schwarze Dampfwolken dem Rauchfang der Fregatte, und das Verdeck zitterte unter den Schauern der Kessel.

Der „Abraham Lincoln“, von seiner gewaltigen Schraube getrieben, fuhr schnurgerade auf das Tier los, das ihn bis auf halbe Kabellänge gleichgültig an sich herankommen ließ. Da machte es eine Wendung zur Flucht, blieb aber in der gleichen Entfernung.

Diese Verfolgung dauerte etwa dreiviertel Stunden, ohne daß die Fregatte dem Tier auch nur zwei Klafter abgewann. Es war klar, daß man so es nie erreichen würde.

Kommandant Farragut war wütend.

„Ned-Land!“ Er schrie wild den Namen des Harpuniers.

Der Kanadier kam.

„Na, Meister Land? Werden Sie mir jetzt noch raten, meine Boote ins Meer zu lassen?“

„Nein, Kapitän, denn dieses Tier läßt sich so nicht fangen.“

„Was soll man also tun?“

„Womöglich die Dampfkraft steigern! Mit Ihrer Erlaubnis will ich mich auf den Wassersteg verfügen und, sobald wir auf Harpunenlänge kommen, harpunieren!“

„Tun Sie das, Ned“, stimmte der Kommandant zu und gab Befehl: „Volldampf“.

Ned-Land begab sich auf seinen Posten. Die Schraube drehte sich auf höchsten Touren, und der Dampf strömte aus den Klappen. Man fuhr mit äußerster Kraft.

Aber das verdammte Tier schwamm mit gleicher Geschwindigkeit.

Noch eine Stunde lang setzte die Fregatte dieses Manöver fort, ohne eine Klafter zu gewinnen! Ein stiller Zorn ergriff die Mannschaft; die Matrosen fluchten!

Der Ingenieur wurde abermals gerufen.

„Haben Sie den höchsten Grad des Dampfes?“ fragte der Kommandant.

„Ja“, erwiderte der Ingenieur.

„Noch stärker feuern!“

Der Ingenieur gehorchte. Aber das Ungeheuer „heizte“ ohne Zweifel auch, denn es holte ebenfalls auf.

Welch eine Verfolgung! Einige Male konnte man dem Tier nahekommen. Ich war ungemein erregt.

„Wir bekommen es! Wir bekommen es!“ rief der Kanadier. Sowie er aber die Harpune auf das Ungetüm schleudern wollte, entwischte es mit einer unvorstellbaren Schnelligkeit. Und selbst bei unserer höchsten Kraft schien es die Fregatte durch sein Spiel zu höhnen!

Um zwölf Uhr waren wir noch nicht weiter als um acht. Nun entschloß sich Kommandant Farragut zu drastischeren Mitteln.

„Zum Teufel! Das Tier ist schneller als der „Abraham Lincoln“! Nun, wir wollen sehen, ob es seinen Spitzkugeln sich auch entziehen wird. Bedienung! An das Geschütz vorne!“

Die Kanone des Vorderkastels wurde unverzüglich geladen und aufgeprotzt. Die Kugel wurde abgeschossen, sie fuhr aber einige Fuß über dem Tiere weg.

„Ein anderer, der es besser versteht!“ rief der Kommandant, „und fünfhundert Dollars dem, der die höllische Bestie trifft!“

Ein alter, graübärtiger Kanonier mit ruhigem Blick und kalten Gesichtszügen trat hinzu, richtete und visierte lange. Ein Schuß krachte, und die Mannschaft jubelte Hurra.

Die Kugel traf, aber nicht regelrecht; sie glitt an der runden Fläche ab und fuhr ins Meer.

„Teufel!“ schrie der Kanonier erbost, „der Kerl ist sechs Zoll dick gepanzert!“

„Verdammt!“

Die Jagd ging von neuem an, und der Kommandant sprach zu mir:

„Ich gebe nicht auf und sollte die Maschine zum Teufel gehen!“

„Ja“, erwiderte ich, „Sie haben recht!“

Man mochte hoffen, das Tier werde ermüden; aber es verflossen Stunden ohne ein Anzeichen von Ermüdung.

Übrigens muß man anerkennen, daß der „Abraham Lincoln“ mit unermüdlicher Ausdauer kämpfte. Aber es kam die Nacht und hüllte das unruhige Meer in Dunkel.

So glaubte ich denn schon, unsere Expedition wäre zu Ende, und wir bekämen das Tier nicht mehr zu Gesicht. Ich irrte. Um zehn Uhr fünfzig Minuten kam die elektrische, helle Stelle wieder zum Vorschein, drei Meilen von der Fregatte, so rein und stark wie in der vorigen Nacht.

Der Narwal schien unbeweglich. Vielleicht schlief er vor Ermüdung und wiegte sich in dien Wogen? Das wollte der Kommandant benutzen.

Er erteilte seine Befehle. Der „Abraham Lincoln“ fuhr mit schwachem Dampf vorsichtig, um seinen Gegner nicht zu wecken. Man trifft nicht selten die Walfische auf offener See in tiefem Schlaf und greift sie dann mit Vorteil an. Ned-Land hatte manche während des Schlafes harpuniert. Der Kanadier begab sich wieder auf seinen Posten am Bugspriet.

Die Fregatte näherte sich geräuschlos, hielt zwei Kabellängen weit von dem Tier an. Man hörte an Bord keinen Atemzug, tiefes Schweigen herrschte auf dem Verdeck. Wir befanden uns keine hundert Fuß von dem glühenden Brennpunkt, dessen Glanz zunahm und die Augen blendete.

In dem Augenblick sah ich am Geländer des Vorderkastells Ned-Land über mir, wie er mit starker Hand die fürchterliche Harpune schwang. Kaum zwanzig Fuß von dem Tiere entfernt, schleuderte er mit kräftigem Arm seine Waffe; ich hörte laut das Anprallen derselben, als habe sie einen harten Körper getroffen.

Die elektrische Helle erlosch plötzlich, und zwei enorme Wasserstrudel entluden, gleich einem reißenden Strom, sich auf das Verdeck der Fregatte, warf die Mannschaft zu Boden, zerriß die Bindseile.

Ein furchtbarer Stoß schleuderte mich über die Sente ins Meer.

Ich wurde sofort etwa zwanzig Fuß in das Meer gerissen. Als guter Schwimmer verlor ich bei dem Untertauchen nicht den Kopf. Zwei kräftige Stöße mit den Fersen brachten mich wieder an die Oberfläche.

Sofort suchte ich die Fregatte. Hatte die Mannschaft mein Verschwinden gemerkt? Hatte der „Abraham Lincoln“ sich gedreht? Hatte der Kommandant Farragut ein Boot ins Meer gelassen? Durfte ich auf Rettung hoffen?

Tiefes Dunkel ringsum. Ich sah im Osten eine schwarze Masse verschwinden, deren leuchtende Feuer in der Ferne verloschen. Es war die Fregatte. Jetzt hielt ich mich für verloren.

„Zu Hilfe! Hilfe!“ schrie ich. Ich vermochte kaum mehr eine Bewegung zu machen.

Meine Kleider hinderten mich. Sie klebten im Wasser an meinem Leibe. Ich sank unter! Die Luft ging mir aus . . .!

„Zu Hilfe!“ Nun kam das Ende.

Mein Mund schluckte Wasser! . . . Wasser. In den Abgrund versinkend zappelte ich . . . Plötzlich wurden meine Kleider von kräftiger Hand gefaßt, ich fühlte mich ungestüm an die Oberfläche des Meeres emporgezogen, und ich hörte, ja, ich hörte diese Worte mir ins Ohr geschrien:

„Wenn mein Herr die große Güte haben will, sich auf meine Schultern zu stützen, wird er viel bequemer schwimmen.“

„Du!“ gurgelte ich, „du!“

„Ich“, Conseil sprach ruhig wie daheim, „und zu meines Herrn Befehl!“

„Der Stoß . . . hat dich . . . zugleich mit mir . . . ins Meer geschleudert . . .?“

„Keineswegs. Da ich in meines Herrn Dienst stehe, bin ich ihm nachgesprungen.“

Der Brave! Aber mein Hirn arbeitete fieberhaft.

„Und die Fregatte?“ fragte ich.

„Die Fregatte!“ Conseil legte sich wieder auf den Rücken, „ich glaube, mein Herr wird wohl tun, nicht allzuviel auf sie zu rechnen!“

„Weiter . . .!“

„Hörte ich die Leute noch am Steuer rufen: Schraube und Steuer zerbrochen . . .“

„Zerbrochen?“

„Ja, durch den Zahn des Ungeheuers. Schlimm für uns, ‚Lincoln’ ist nicht mehr imstande, zu steuern!“

„Dann sind wir verloren!“

„Vielleicht.“ Conseil war seelenruhig. „Doch wir haben noch einige Stunden vor uns, und in einigen Stunden kann man viel zustande bringen!“

Die unverwüstliche Kaltblütigkeit Conseils gab mir wieder Mut. Ich konnte wieder schwimmen; aber da meine Kleider mir anklebten wie ein bleierner Mantel, so konnte ich nur mit äußerster Mühe aushalten. Conseil bemerkte es.

„Erlaube mir, mein Herr, einen Schnitt zu machen.“

Und er steckte eine Messerklinge unter meine Kleider und zerschnitt sie in einem Zug von oben bis unten. Darauf riß er sie mir rasch vom Leibe, während ich für uns beide schwamm.

Ich leistete Conseil denselben Dienst, und wir schwammen nebeneinander weiter.

Jedoch war die Lage darum nicht minder bös. Vielleicht hatte man auf der Fregatte unser Verschwinden gar nicht bemerkt, oder sie konnten, weil ihr Steuer zerbrochen war, nicht unterm Wind zu uns zurückkommen. Man konnte also höchstens auf die Boote rechnen.

So mußten wir uns darauf einrichten, so lange wie möglich aushalten zu können. Während der eine mit gekreuzten Händen und gestreckten Beinen unbeweglich auf dem Rücken lag, schwamm der andere und bugsierte ihn gleichzeitig vorwärts. Nach zehn Minuten löste einer den anderen ab, um unsere Kräfte zu sparen und es einige Stunden, vielleicht bis zum Tagesanbruch, auszuhalten.

Schwache Aussicht auf Rettung! Aber wir hatten die Hoffnung und waren unser zwei. Wir mußten durchhalten!

Der Zusammenstoß der Fregatte mit dem Tier war etwa um elf Uhr abends erfolgt. Ich rechnete also, daß wir bis zum Sonnenaufgang acht Stunden zu schwimmen hätten, was mit äußerster Anstrengung durch gegenseitige Ablösung möglich war. Das Meer war ziemlich ruhig und machte uns wenig müde.

Gegen ein Uhr morgens fühlte ich mich äußerst erschöpft. Meine Glieder wurden unter heftigen Krämpfen steif. Conseil mußte mich stützen, unser Geschick lag allein in seiner Hand. Bald hörte ich den armen Burschen keuchen; er atmete kurz und beklommen. Ich sah ein, daß er nicht lange mehr aushalten konnte.

„Laß mich! Laß mich!“ bat ich ihn.