2118 - Im Visier der Monster - Hazel McNellis - E-Book

2118 - Im Visier der Monster E-Book

Hazel McNellis

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Beschreibung

Was tust du, wenn Europa zur Wüste wird und Monster dich jagen? Europa, 2118. Klimawandel und Weltkrieg zerstörten einst die moderne Zivilisation. Die postapokalyptische Welt ist mit Wüstensand bedeckt und von einem gigantischen Schutzschild umgeben. In dieser neuen, lebensfeindlichen Realität kämpfen Lia und Jackson als Teil einer kleinen Gruppierung darum, am Leben zu bleiben. Unter dem Himmel des Schildes und stets auf der Hut vor mutierten Bestien suchen sie Sicherheit. Ihr Ziel: das machtvolle Forschungszentrum in der militarisierten Zone – das letzte Bollwerk der Zivilisation gegen die todbringenden Monster. Die Gruppe trotzt auf ihrem Weg der lebensfeindlichen Wüstennatur, dem anhaltenden Durst und der rohen Gewalt der Nachtbestien. Stets begleitet von den düsteren Schatten ihrer gemeinsamen Vergangenheit, setzen Lia und Jackson alles daran, den grausamen Klauen der Nighter zu entrinnen – ohne selbst Opfer der verlorenen Zivilisation zu werden.

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Hazel McNellis

2118 - Im Visier der Monster

Content Notes Dieser Roman enthält Darstellungen von - Gewalt - Drogen- und Alkoholmissbrauch - sexuelle Inhalte - Krankheit - selbstverletzendes Verhalten - Tod und Verlust  Einige Lesende könnten das beunruhigend finden. Lesen erfolgt daher auf eigene Verantwortung.

Inhaltsverzeichnis

01 – Wrack

02 – Suche

03 – Überleben

04 – Damals I, Februar 2118

05 – Blut

06 – Aussprache

07 – Damals II, März 2118

08 – Abschiede

09 – Wüste

10 – Damals III, Juni 2118

11 – Zurechtkommen

12 – Kontakt

13 – Ein Schimmer Hoffnung

14 – Die Zone

15 – Ally und Kai I

16 – Damals IV, Februar 2119

17 – Misthaufen

18 – Die Mittel und der Zweck

19 – Pechsträhne

20 – Forschungszentrum

21 – Damals V, März 2119

22 – Die Augen eines Monsters

23 – Im Namen der Forschung

24 – Es geht aufwärts

25 – Ally und Kai II

26 – Damals VI, März 2119

27 – Kontakt

28 – Bei den Ratten

29 – Ein Soldat namens Brice

30 – Ally und Kai III

31 – Entscheidungen

32 – Damals VII, April 2119

33 – Schock

34 – Ein Problem lösen

35 – Mika

36 – Sand und Monster

37 – Instinkt

38 – Endphase

39 – Vollendung

40 – Neustart

41 – Das Rauschen von Wellen

42 – Hauch von Glück

43 – Nacht am Feuer

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Impressum

01 – Wrack

Staub rieselte von der Armatur zu Boden. Lia wischte mit der Handkante über die mattschwarze Oberfläche und starrte ungläubig die flackernde Anzeige an, auf dem eine Landkarte schwach leuchtete. Die Augen zusammenkneifend, beugte sie sich näher heran.

Hinter ihr brummte ein veraltetes Belüftungsgerät. Sie zuckte zusammen, als es leise knatterte und der Motor stockte. Das Ding war schrottreif, wie so vieles inzwischen.

Die anderen hatten sie gewarnt, dass das Wrack eine tödliche Falle sein würde. Lia konnte froh sein, es überhaupt bis hierher geschafft zu haben. Allein das grenzte bereits an ein Wunder. Tränen der Erleichterung raubten ihr kurz die Sicht, sodass die Anzeige vor ihr zu undeutlichen Farbfeldern verschwamm. Sie krümmte die Hand zur Faust, bis sich die Nägel ins weiche Fleisch ihrer Handfläche drückten. Es stand viel auf dem Spiel. Sie durfte nicht versagen. Sie musste sich konzentrieren.

Die grünen Linien auf dem Bildschirm flackerten. Ein winziger Punkt blinkte innerhalb einer undeutlichen Umrandung. Lia atmete mit einem Seufzen aus, sodass ihr prompt neuer Staub ins Gesicht wirbelte. Hustend klopfte sie mit dem Knöchel des Zeigefingers auf das heftig flackernde Display, das daraufhin kurz aufleuchtete – und schließlich schwarz wurde.

»Verdammt«, knurrte sie. Ärger konnte sie sich nicht leisten, keiner konnte es. Genauso wie Zeitverschwendung. Deshalb drehte sie sich um und rannte zum Ausgang. Die Linien und der kleine, blasse Punkt hatten sich unauslöschlich in ihr Hirn gebrannt. So, wie die anhaltende Hoffnung in ihrem Herzen loderte.

Das Wrack war einst ein Vergnügungsschiff gewesen. Jetzt lag es verloren inmitten von Sand auf einer Seite und rottete vor sich hin, so, wie die ganze Menschheit es tat. Den engen Gang zwischen den Kabinen entlang rennend, konzentrierte sie sich auf den hellroten Kreis aus Sonnenlicht am Ende der schmalen Metalltreppe. Der Lack war an diversen Stellen rostig braun weggeplatzt. Auf den oberen Stufen häufte sich der Sand. Doch das kümmerliche Tageslicht barg Hoffnung – und Lia wollte nichts mehr, als dieses Phantomschiff endlich wieder zu verlassen.

Versank die Sonne erst hinter dem Horizont, würde der eigentliche Kampf beginnen.

Unter ihren Stiefeln knirschten Glassplitter von einem zerborstenen Fenster, als sie die letzten Stufen hinter sich ließ. Sie trat hinaus in das rötliche Tageslicht der Abendsonne, die den Sand um sie herum in ein surreales Licht tauchte, und legte eine Hand über die Augen, um sich umzusehen.

Am Horizont flimmerte die Luft von der Hitze des Tages.

Mittlerweile wusste sie, dass dieser Effekt von dem Kraftwerk stammte. Das Einzige, das Europa zu einem Ort der letzten Überlebenden machte. Dieser eine, hochtechnisierte Gebäudekomplex wurde zu Recht wie ein Augapfel bewacht. Es war ein Bollwerk in der militarisierten Zone. Eine Zone, in der sich einst die ranghöchsten, politischen Stimmen versammelt hatten, um weiterhin das Trugbild einer geordneten und lebenswerten Welt aufrechtzuerhalten. Eine Zone, die verantwortlich war, dass den Überlebenden die Luft zum Atmen nicht ausging. Das war zumindest ursprünglich das ehrenhafte Ziel gewesen, mit dem sich die mediale Berichterstattung über den ewig andauernden Sommer rettete.

Jetzt war davon nicht mehr viel übrig.

Die Nachrichten waren verstummt, ebenso die meisten Menschen.

Lia zog sich den löchrigen Schal über Mund und Nase. Sie vergeudete keinen weiteren Gedanken an all die Verluste der Menschheit. Sie setzte sich die Holo-Lenses auf – eine Brille, die sich automatisch den aktuellen Lichtverhältnissen anglich – und marschierte los. Sie wollte die anderen nicht warten lassen. Die Sonne strahlte derweil das Wetterschild am Firmament an. Dabei kreierte sie fantastische, regenbogenartige Lichtreflexe. Sie erinnerten Lia immer wieder vage an Polarlichter. Die Temperaturen innerhalb dieser Kuppel trugen ihr Übriges bei: Tagsüber brannte die Hitze vom Himmel auf die Wüste unter ihren Füßen, aber sobald die Dunkelheit heraufzog, sanken die Temperaturen rapide, bis nahe dem Gefrierpunkt.

Inzwischen machte sich keiner mehr Illusionen über das Klima.

Die Erde rettete sich ein weiteres Mal in ihrer langen Geschichte selbst. Sie zog den Karren aus dem Dreck, den die Menschheit überhaupt erst hinein verfrachtet hatte.

Lia blieb nach ungefähr einem Kilometer stehen und zerrte sich den rissigen Rucksack von den Schultern. In Gedanken rief sie sich erneut die Anzeige von der Landkarte vor Augen. Dann fummelte sie die Riemen auf, griff ins Innere und rupfte den Stoff heraus. Es war nicht viel, aber dieser zerlöcherte Mantel würde die abkühlende Abendluft erträglicher machen. Die Sonne stand jetzt so tief, dass Lia den Blick trotz der Holo-Lenses kaum von den Boots heben konnte, ohne geblendet zu werden. Ihr blieben bloß noch Minuten, bis endgültig die Nacht über sie hereinbrach.

Unter ihren Füßen vibrierte der Boden.

Sie erstarrte.

Die Umgebung war mucksmäuschenstill. Kein Rascheln, kein Zischen, nichts. Sie waren es nicht, das stand fest. Angestrengt lauschte sie, doch es blieb alles ruhig. Um sie herum war kein sicheres Versteck in Sichtweite. Der Wüstensand durchzog Europa längst. Außerdem war allen bekannt, dass sich irgendwo in der Tiefe, jenseits der Sandberge, alte Gebäude verbargen. Sand hüllte alles ein und ließ von der Menschheit nicht viel übrig. Eine ganze Zivilisation lag unter der Sandwüste begraben.

Während Lia lauschte, streifte sie sich den Mantel über die Schultern. Dann griff sie nach dem Messer, das sie stets im Seitenfach des Rucksacks aufbewahrte, steckte es in den Hosenbund und verschloss die Tasche. Ihre Finger packten den Schulterriemen fester – da drang ein Rauschen an ihr Ohr.

Stirnrunzelnd drehte sie sich um. Sie starrte ins Abendlicht hinaus, bis sie es endlich entdeckte. Etwas bewegte sich im Sand. Es kam rasend schnell auf sie zu.

»Scheiße«, fluchte sie leise und rannte los. Der Rucksack knallte gegen ihre Hüfte, als sie ihn sich im Lauf über die Schultern zerrte. Der Sand rauschte und rieselte hinter ihr, immer deutlicher und mit einer Dringlichkeit, die ihr Herz wild wummern ließ. Ein Blick zurück bestätigte alle ihre Befürchtungen: Ein Riss tat sich auf. Sie würde begraben werden, schoss es ihr durch das sonnenverbrannte Hirn.

Keuchend schlug sie einen Haken. Sie brach zur Seite aus – nur weg.

Nach drei Schritten gab der Sand nach. Ihr rechter Fuß verlor seinen Halt. Sie kam ins Rutschen. Ihr Körper sackte abrupt nach links und abwärts. Ihr rutschte die Brille von der Nase und vom Kopf. Reflexhaft streckte sie ihre Hände nach vorne aus.

Sie musste sich festhalten – irgendwo, an irgendwas!

Da rieselten ihr die Sandkörner bereits ins Gesicht, in die Augen, den Mund. Sie hustete. Hilflos wirbelte sie herum, Beine und Arme haltsuchend von sich gestreckt. Aber alles, was sie fühlte, war Sand, nachgiebiger, beschissen körniger Sand. Und Lia verschwand in der Finsternis einer verlorengegangenen Zivilisation.

02 – Suche

»Was dauert da so lange?« Ally verschränkte die Arme unter der Brust. Ihre blassgrünen Augen blitzten lebhaft. Jackson sah sie an. Er versuchte, nicht daran zu denken, dass sie letzten Endes Lia losgeschickt hatte.

»Sie kommt schon noch«, meinte er. In seinem Innern fragte er sich bereits seit einer Weile, wo Lia blieb. Da, wo einst das Mittelmeer gewesen war, hatte sich mit dem Schild vor einer Ewigkeit die Wüste ausgebreitet. Alles Wasser war fort. Das Wrack hatte als einziges ein sterbendes Signal ausgesendet. Lia war sofort Feuer und Flamme gewesen, um es zu erkunden. Aber ihr Transpondersignal war inzwischen verstummt. Hilflos starrte er auf das kleine Display seiner Watch am Handgelenk. Es zeigte ihm sämtliche Lebenszeichen der anderen gekoppelten Transponder als winzige Punkte. Nur Lias war seit einigen Minuten verschwunden. Vielleicht hatte sie ihre Watch verloren. Oder sie war beschädigt worden. Vielleicht hätte er sie auch einfach nicht alleine gehen lassen sollen. Jetzt bereute er ihren Alleingang und seine lausige Gruppenführung. Als Team hatten sie damals gut miteinander funktioniert – und da war ihre Verbindung bereits gebröckelt. Dabei waren es die Monster, die sie gemeinsam bekämpfen mussten, nicht sich selbst.

Nighters.

Er schauderte bei dem Gedanken an die schrecklichen Biester.

Die Drecksviecher tauchten zusammen mit dem Kraftwerk und dem Wetterschild auf. Er persönlich hielt sie für ein völlig verdrehtes Nebenprodukt. Ein Laborunfall, der vom Schild gespeist wurde. Aber dafür gab es keine nennenswerten Beweise, bloß vage Berichte. Sie wussten nur eines: Nighters jagten bei Nacht und sie unterschieden nicht zwischen Freund oder Feind. Für sie waren alle Lebewesen Beute.

Jackson sah zu dem winzigen Fenster hinauf, das zur Hälfte vom Sand bedeckt war. Draußen war nichts zu sehen, außer die wachsende Dunkelheit. Sein Spiegelbild starrte ihm aus der schmierig-dreckigen Scheibe heraus entgegen. Er war blass geworden. Seine eigentlich blauen Augen wirkten in dem trüben Glas wie schwarze Löcher. Er wandte den Blick ab und erhob sich.

Die anderen sahen ihn an.

»Wir müssen sie suchen«, sagte er.

»Bist du bescheuert?«, warf Ally ein. »Ich gehe da sicher nicht raus. Sie ist wahrscheinlich längst tot, wenn ihr Signal weg ist.«

Jackson presste die Kiefer aufeinander. »Dann bleib hier. Vielleicht taucht Lia auf. Ihr Transponder könnte kaputt sein.«

Die übrigen empörten sich. »Was soll das, Jackson«, »Ich will nicht raus« und »Das ist Selbstmord« schallten ihm entgegen.

Nur Mika blieb ruhig. »Ihr würdet doch auch wollen, dass man euch sucht, oder nicht?«, sagte er. »Vielleicht ist Lia verletzt. Wir können sie nicht den Nighters überlassen. Außerdem haben wir es geschworen, wisst ihr nicht mehr? Keiner bleibt zurück. Daran halten wir uns. Ihr wisst so gut wie ich, was diese Bestien mit Menschen anstellen.«

Betreten schwiegen sie. Natürlich wussten sie das. Die eine oder andere Narbe war der Beleg dafür. Die Nighters waren eine ständige Bedrohung. Jeder kannte die tödliche Gefahr. Und jeder kannte die Schuldfrage, die alle umtrieb. Seit die Regierung sich verschanzt und das Schild etabliert hatte, herrschten kriegsähnliche Zustände in ihrer Welt. Sie überlebten hier draußen – zusammen mit den Nighters –, während sich die übriggebliebene Staatsmacht gegenseitig in ihre plattgesessenen Hintern kroch. Die vermeintliche Elite und Entscheidungsgewalt hatte die übrige Bevölkerung eiskalt im Stich gelassen. Jackson kam sich schon selbst wie ein Laborunfall vor. Ein Versuchstier, das sie absichtlich ausgesperrt hatten.

»Schnappt euch die Waffen«, brummte er mit einem letzten Blick in die blassen, verängstigten Gesichter. Kai und Rachel mieden seinen Blick, wobei die junge Frau trostlos zum Fenster hinaus starrte. Mika betrachtete grübelnd den Tisch mit all ihren bisherigen Plänen und Ally knibbelte an einem Fingernagel. Schweigend stapfte Jackson an ihnen vorbei. Er griff nach dem kühlen Metall seiner Waffe und die Holo-Lenses. Mit dem integrierten Nachtsichtgerät konnten sie Ziele auf großer Distanz exakt anvisieren. Natürlich war das nicht so einfach, wie es sich anhörte: Die Biester waren allzu temporeich, sobald sie in Aktion waren. Ihre Gruppe war den Monstern bereits in der letzten Nacht nur mit Mühe entkommen. Es hatte sie enorm viel Kraft gekostet, gegen die Nighters zu kämpfen, sodass sie nun übermüdet und reizbar waren.

Der Gedanke an Lia trieb Jackson entgegen aller Müdigkeit voran. Er liebte das Mädchen mit den glatten, kinnlangen, hellbraunen Haaren und grünbraunen Augen mehr, als er verdiente.

Seine Boots hinterließen Spuren im Staub unter den Füßen, ehe er vor der letzten Schleuse auf die anderen wartete. Er hörte das Rumoren. Die leisen Flüsterstimmen, als sie versuchten, ihn die Worte nicht hören zu lassen. Gleichzeitig klapperte das Equipment, ein Klicken hier, ein Einrasten dort, zuletzt das vertraute Summen, sobald die Blaster eingeschaltet und betriebsbereit waren.

»Bereit?«, fragte er ein letztes Mal in die Runde. Dabei ließ er den Blick über jeden Einzelnen schweifen. Sie nickten. Lediglich Ally rührte sich nicht. Verübeln konnte er es ihr nicht. Die Situation hätte definitiv besser sein können. Ally war neben Mika und Lia für gewöhnlich die Einzige, die keinen Hehl aus ihrer Meinung machte und sie einem schonungslos an den Kopf knallte.

Jackson drehte sich zur Tür um. Er stemmte mit beiden Händen den schweren Riegel hoch. Metall knarrte und quietschte grausig, als es sich übereinander schob. Die Tür, deren elektronisch gesteuertes Schloss seit Längerem kaputt war, sprang auf. Der Absperrschieber in diesem Loch war ihr einziger Schutz vor Monster und Plünderer.

Bevor er die Tür weiter aufzog, wandte er sich nochmal zu den anderen um. »Denkt dran, die Nighters hören euch. Die Dämmerung hat eingesetzt. Ab sofort herrscht Funkstille zwischen uns, ok?«

Wieder nickten alle, außer Ally.

»Bleibt dicht zusammen, haltet eure Waffen in Bereitschaft. Denkt auch an die Holo-Lenses! Wir können uns nicht die gleichen Fehler wie beim letzten Mal erlauben.«

Sein Blick suchte instinktiv Rachel. Beschämt wich sie ihm aus. Die anderen schnaubten zustimmend. Kai murmelte etwas, das wie »Mädchen passen nicht zu Waffen« klang, doch es war kaum zu verstehen, deshalb ignorierte Jackson es. Sie hatten keine Zeit für Streitereien. Jedem konnte ein Fehler passieren.

Es durfte nur kein zweites Mal geben.

In ihrer Welt gab es keine zweiten Chancen.

Entschlossen zog er die Tür auf und sah sich um. Die Holo-Lenses glichen automatisch die Tönung an und verhinderten nahezu, dass sie von der tiefstehenden Sonne geblendet wurden.

Die Luft war rein, kein Nighter war in Sicht.

Die Frische der heraufziehenden Nacht vertrieb den warmen Mief aus ihrem Unterschlupf. Jackson trat zur Seite, um den anderen Platz zu machen. Er hörte ihre Schritte, leise, aber trotzdem klar. Das zögerliche Knirschen unter den Sohlen durchbrach die Stille um sie herum.

Rachel zog die Tür ins Schloss. Sie rastete nicht ein, sondern blieb angelehnt. Von außen konnten sie das Versteck nicht verriegeln. Ihnen fehlte das nötige Material, um die verdammte Elektronik zu reparieren. Sie mussten mit dem Risiko leben, dass es jemand in der Zwischenzeit eroberte und andere Überlebende womöglich auf sie warten würden, um sie niederzumetzeln.

»Wir haben keine Ahnung, wo sie steckt«, motzte Kai leise neben ihm.

So viel zum Thema Funkstille, dachte Jackson. »Wir finden sie«, antwortete er.

»Klar, wenn du das sagst.«

Jackson hielt inne. Sein Blick tastete die Umgebung ab. Die Nighters liebten diese Zeit. Da konnten sie im nächtlichen Dunkel umherstreifen und mühelos schlachten.

Die Gänsehaut abschüttelnd, schlich er weiter.

»Wäre es nicht sinnvoller, bis morgen zu warten?«, flüsterte Rachel zaghaft. »Wie sollen wir sie finden? Hast du zufällig eine Strategie für unser Überleben?«

Jackson atmete einige Male bewusst ein und aus, ehe er sich zur Gruppe umdrehte. Sie standen unsortiert um ihn herum. Lediglich das Blinken ihrer Nachtsichtgeräte wies auf ihre Blickrichtung hin.

»Nein, ich habe keinen Masterplan, wie wir es heile schaffen sollen«, knurrte er. »Und ja, Kai, schon klar. Wir wissen nicht genau, wo Lia gelandet ist. Wir wissen nur, wo ihr Transpondersignal starb. Das ist mir alles bewusst. Aber wenn wir bis zum Morgengrauen warten, haben die Monster sie längst abgeschlachtet – das wisst ihr ebenso wie ich.« Er ließ den Blick schweifen. »Wir schulden es ihr.«

Einen Augenblick herrschte Stille. Dann nickte einer nach dem anderen, sogar Allys Gerät wackelte auf und ab. Sie setzten sich in Bewegung und entfernten sich von dem sicheren Bunker. Jackson nahm sich einen Moment Zeit, um ihre Lage neu zu bedenken. Sie streiften ziemlich ratlos durch die Dunkelheit. Denn sie hatten keine Ahnung, ob Lia noch dort sein würde, wo ihr Signal endete, wenn sie den Ort erreichten. Er sah ein, dass es wenig klug von ihm war, überstürzt ein solches Risiko einzugehen – sowohl für sich als auch für die Gruppe. Die anderen hatten nicht verdient, sich von seinem Herzen leiten zu lassen, wenn es sie direkt in den Tod führte. Jetzt war es allerdings zu spät. Es gab kein Zurück mehr. Er konnte und er wollte nicht.

In dem Moment hörten sie es: das Fauchen.

Es klang wie eine Feuerwerksfontäne. Pyrotechnik war natürlich längst verboten unter dem Schild. Die Dinger waren zu schädlich für die Umwelt, zu riskant für das Schild über ihren Köpfen und schlichtweg zu laut. Gefühlt störten sich alle daran. Doch jetzt, in dieser Sekunde, da verfluchte Jackson sein Gehör. Denn es wies eindeutig auf die todbringende Gefahr hin, die sie erwartete.

Er wirbelte herum und regelte die Sicht der Holo-Lenses neu, um besser sehen zu können. Er schluckte, hatte aber keinen Speichel übrig, um etwas zu bewirken. Seine Kehle war schreckenstrocken. Atemlos glotzte er in die Nacht hinaus.

In einigen hundert Metern Entfernung sah er sie. Die Bestien waren wie üblich in chaotisch wirkenden Rudeln unterwegs. Sein Blick huschte flüchtig zu seinen Begleitern. Sie starrten ebenfalls auf die Nighters, die sich knurrend und fauchend, zischend und staksend, ihren Weg durch die Nacht und präzise auf sie zu bahnten.

Verdammt.

Jackson biss sich auf die Lippe. Seine Gedanken überschlugen sich. Er musste schnell eine Entscheidung treffen. Jede weitere Sekunde, die ungenutzt verstrich, entschied über ihr Leben.

Doch sein Hirn war wie leergefegt. Es herrschte ein Vakuum, in dem keiner seiner Gedanken wirklich greifbar war. Sein logisches Denkvermögen setzte für eine beängstigende Sekunde aus. Er erwischte sich, wie er einen winzigen Schritt zurückschlich, bereit zu rennen, soweit seine Füße ihn in der Wüste trugen.

»Jackson?«

Ally tauchte neben ihm auf. Er sah sie nicht an. Zum ersten Mal, seit sie in dieser Scheißwelt leben mussten, spürte er die Panik unter seiner Haut fiebrig an den Nervenenden ziehen.

»Wir müssen weg.«

Er nickte und gab den anderen ein Zeichen für den Rückzug.

Ohne die heranschleichenden Nighters aus den Augen zu lassen, bewegten sie sich langsam rückwärts. Es war eine Schnapsidee gewesen, schoss es ihm durch den Kopf. Er schwitzte, wusste nicht ein, nicht aus. Sie würden alle draufgehen, wenn sie Pech hatten. Selten hatte er die Reue und den Selbsthass stärker in sich wüten gespürt.

Da stolperte Rachel. Sie stürzte in den Sand und gab einen erstickten Laut von sich.

Klasse.

Prompt richteten die Nighters ihre Aufmerksamkeit auf sie. Fast glaubte Jackson, sehen zu können, wie sich ihre Sinne auf sie fokussierten. Die Mistviecher schnüffelten, reckten die Nasen in die Höhe, witterten sie.

Die Waffen waren zwar in die Jahre gekommen, aber dennoch nutzbar. Dem letzten Funken Logik folgend, hantierte Jackson mit der auf seiner Schulter. Er richtete den Lauf aus, betätigte langsam, nahezu geräuschlos den Sicherungshebel. Dann zielte er mit dem Visier auf die Monster.

Wieder fauchten sie. Das Geräusch verursachte eine Gänsehaut auf seinen Unterarmen. Ohne die anderen anzusehen, richtete er die Waffe auf die Kreatur, die ihm am nächsten war. Noch waren sie weit genug weg. Aber wenn sie es richtig anstellten, konnten sie die Bestien ausschalten, ehe diese die Jagd aufnahmen.

Seine Finger zitterten. Die schwache Schwingung übertrug sich auf den Lauf, der ins Beben geriet. Jackson schloss für eine Millisekunde die Augen. Entfernt nahm er wahr, wie Kai Rachel auf die Beine half und danach die eigene Waffe ausrichtete.

Die Nighters schlichen näher.

Näher.

Noch näher.

Sie kamen in Schussweite.

Jackson drückte den Abzug. Er hörte das dumpfe Fump, spürte den milden Rückstoß an seiner Schulter, als die Munition den Lauf verließ und durch die Luft sirrte. Die anderen taten es ihm gleich und der Lärm ihrer Schüsse zerriss die Luft.

03 – Überleben

Lia presste die Lippen aufeinander. Ihr Atem kam stoßweise durch die Nase. Sand wirbelte auf wie Staub. Der Sturz war schnell und schmerzhaft vonstattengegangen. Ihre rechte Rippe und der linke Fußknöchel taten höllisch weh.

Sie konnte kaum etwas von ihrer Umgebung erkennen.

Der Wüstenboden hatte sie einfach verschluckt.

Langsam kam sie auf die Füße. Sie drehte sich humpelnd um die eigene Achse, aber kein Laut war zu hören, nur der rieselnde Sand über ihrem Kopf. Absolute Stille und furchterregende Dunkelheit umgaben sie. Nichts deutete darauf hin, dass sie in unmittelbarer Gefahr schwebte. Trotzdem kroch ihr die Angst wie eine Handvoll Eiswürfel die Wirbel hinauf. Diese beschissene Finsternis machte sie fertig.

Schon als Kind hatte die Dunkelheit sie geängstigt. Dabei ging es nie darum, allein im Dunkeln zu sein. Immer fürchtete sie jene Monster und Dämonen, die sich in Schatten hüllten, bereit, sie am Knöchel oder Arm zu packen, sobald sie nicht aufpasste. Lia konnte kaum die Nächte zählen, in denen sie schreiend schweißgebadet erwacht war.

Jetzt drohte dieser kindliche Bammel ihr sämtliche Nervenbahnen zu fluten und Handlungen aller Art zu blockieren. Adrenalin pulsierte ungehemmt durch ihren Kreislauf, sodass sie stocksteif dastand. Jeder Muskel war schmerzhaft angespannt.

Lia strengte sich an, starrte mit weit aufgerissenen Augen der Schwärze entgegen – und sah eben doch nichts. Trotz der Kühle hier unten brach ihr der kalte Schweiß aus. Ein einzelner Gedanke hämmerte gegen ihre Stirn: Sie musste hier raus. Jetzt. Sofort.

Mühsam befreite sie sich aus der Starre. Sie schaute nach oben. Ein breiter Riss klaffte dort. Einzelne Sterne leuchteten wie weiße Stecknadelköpfe am Himmel. Um sie herum erhob sich die Wüste als unüberwindbare Mauer. Es gab keine Spur von ihren Holo-Lenses. Lia streckte die Hand aus und versuchte, einen Halt zwischen den Körnern zu finden, um hinaufzuklettern. Aber immer wieder glitt sie hindurch, rutschte ab und neuer Sand rieselte nach, um ihren Handabdruck verschwinden zu lassen.

»Verdammt.«

Sie schluckte die Trockenheit ihre Kehle hinunter und zwang sich nachzudenken. Doch der Puls raste, das Herz klopfte. Angst schnappte sich erbarmungslos ihr Gehirn, wand sich um jeden Gedanken und blockierte den Verstand. Ein Wimmern entwich ihren spröden Lippen. Der Laut ließ sie überrascht blinzeln. Spontan presste sie die Hände gegen die Ohrmuscheln, bis sie nichts mehr hörte – nur ihren eigenen Herzschlag, der dröhnend trommelte.

Sie musste hier raus.

Musste. Musste. Musste.

Schon als Kind war sie überzeugt gewesen, Monster würden kommen, um sie zu holen. Es war bloß eine Frage der Zeit: Jetzt war sie dran. Die bedrückende Dunkelheit schloss sich scheinbar enger um sie. Lia wagte es nicht, den Blick abzuwenden. Stattdessen starrte sie die Schwärze vor sich an.

War da ein Geräusch?

Langsam hob sie die Hände von den Ohren. Ihre Nerven spannten sich wie ein Gummiband. Wenn sie nicht aufpasste, schlug es schmerzhaft zurück. Ihr Nacken prickelte. Nicht, weil eine Gänsehaut ihn überzog wie zähes Pech, sondern weil es das seltsame Gefühl war, beobachtet zu werden.

Ruckartig wirbelte sie herum, um zu sehen, was hinter ihr lauerte, doch da war nichts. Sie kauerte mutterseelenallein in diesem Wüstenloch.

Dabei war es einzig darum gegangen, der dämlichen Karte zu folgen. Vielleicht hätte sie auf Jackson hören sollen. Er hatte gleich gesagt, sie sollte besser nicht alleine losziehen. Es wäre glatter Selbstmord. Seine Worte tönten noch immer in ihrem Kopf. Zusammen mit seinem besorgten Blick und der tief gerunzelten Stirn unter den fransigen Wellen im Haar.

Er hatte recht gehabt.

Das war Lia überdeutlich klar, da sie in diesem Loch hockte und von nichts als Schwärze bedroht wurde. Es war lächerlich. Sie musste sich zusammenreißen, aufstehen, einen Weg zurück an die Oberfläche finden. Das musste sie tun, sonst nichts.

Ihr Blick zuckte wieder nach oben. Sie hatte sich nicht getäuscht. Ihre Sinne funktionierten im Gegensatz zu so vielen anderen Dingen einwandfrei. Da war tatsächlich ein Geräusch. Ihre Lippen teilten sich, die Stimmbänder spannten sich wie die übrigen Nerven an. Das musste Jackson mit den anderen sein. Erleichtert wollte Lia rufen, einfach losbrüllen, um zu zeigen, wo sie war.

»Das ist vollkommen bescheuert, hier ist sie nicht.«

Der Ruf blieb Lia im Hals stecken, als sie die fremde Stimme hörte. Lediglich ein Krächzen kroch durch ihre Kehle und hinaus. Hastig presste sie sich die Hände gegen die Lippen.

»Komm schon, du hast die Chefin gehört.«

»Aber es ist Nacht! Muss es unbedingt mitten in der Nacht sein? Was ist mit den Nighters?«

»Die tun dir nichts, du bist denen eh viel zu zäh. Komm jetzt, wir müssen weiter. Es ist gleich da vorn.«

Ein Lichtstrahl huschte über das Sandloch hinweg. Kurz streifte er die Sandwände zu ihrer Linken. Lia flüchtete nach rechts und presste sich tiefer in die Schatten. Den Riss weiter oben ließ sie nicht aus den Augen.

Zwei Männer tauchten auf.

»Scheiße, guck dir das Loch an«, sagte der Erste, der sich vor den Nighters fürchtete. Seine Taschenlampe leuchtete den Riss entlang näher zu ihr. Sie sah ihre Holo-Lenses in einer Ecke liegen. Die Gläser waren voller Risse.

Lia trat humpelnd zur Seite, presste sich tiefer in die Dunkelheit hinein. Ihre Finger hielten das Heulen der aufsteigenden Panik und Hysterie zurück, das ihren Mund auszufüllen drohte und unbarmherzig gegen die Lippen drängte.

Da ruckte der Lichtschein weg.

»Willst du reinfallen, oder was? Halt dich fern von diesen Rissen. Sie tauchen hier draußen immer wieder auf. Niemand weiß, wann oder wo der nächste sich breitmacht. Keiner kommt da raus, das weiß jeder, nur du Sackgesicht nicht – typisch.«

»He, sei nicht so, ich bin erst seit zwei Tagen bei euch.«

»Buhuu, ich bin erst seit zwei Tagen bei euch«, äffte der eine den anderen nach. »Schon klar, aber jetzt komm endlich!«

Die beiden gingen weiter.

Langsam und am ganzen Körper zitternd, ließ Lia den Atem ausströmen. Die Männer hatten sie erfolgreich von sich abgelenkt. Die Angst war für den Moment verschwunden. Sie fragte sich vielmehr, wer sie waren. Die Chefin, das konnte bloß eine sein: Dr. Melanie Talburne.

Jene Wissenschaftlerin auf dem Feld der Xenogenetik, die seit Beginn der globalen Katastrophe eng mit der Regierung zusammenarbeitete. Nicht nur, weil ihr Gatte angesehener Abgeordneter in einer Schlüsselposition gewesen war. Lia erinnerte sich an ihre Gesichter aus einem Zeitungsartikel. Das war, als es Lehrinstitute gegeben hatte, Modenschauen und Messen, Konzerte und Proteste.

Normalität.

Lia ließ die Erinnerung kommen und vorübergleiten, wie einen Windstoß, der einem das Haar zerzauste.

Die Typen entfernten sich. Kein Geräusch war zu hören. Kein Wind ging. Einzig Lias hastige Atemzüge hallten in ihren Ohren nach. Ihre eiskalten Finger umklammerten sich auf den angezogenen Knien. Sie saß hier, wusste nicht mehr ein, noch aus. Das würde ihr Ende sein, wenn niemand sie fand. Die undurchdringliche Stille um sie herum war grauenerregend. Es war jene absolute Geräuschlosigkeit, bei der man überzeugt war, nicht allein zu sein. Bei der einem alle Haare zu Berge standen und ein undeutliches Prickeln auf der Haut Beweis genug war.

Lia drängte die Gedanken weg, weit zurück in die Grütze ihres Hirns. Sie wollte sich niemanden vorstellen, der sie anstarrte, darauf wartend, dass sie ausrastete und komplett überschnappte.

Ihr Blick huschte mal hierhin, mal dorthin. Aber die Dunkelheit war zu finster. Sie wünschte, Jackson wäre bei ihr. Da entwich ihr ein unüberlegtes Seufzen. Sie schluckte hart und schmerzhaft, um den Gefühlen Einhalt zu gebieten, die jäh in ihr hochkochten. Ein Tsunami, der sie mit sich zog.

Jackson.

Sie sollte sich nicht wünschen, dass er da wäre. Schließlich hatte er allem ein Ende bereitet. Er war es gewesen. Sie wäre eine Närrin, wenn sie ihm verzieh und sich zurück in seine Arme kuschelte, als ob nichts gewesen wäre.

Wieder seufzte sie. Das Geräusch war unheimlich laut. Sie hätte genauso gut in die Hände klatschen können.

Schon hörte sie es.

Sie.

Mehrere.

Das röchelnde Schnüffeln würde sie überall wiedererkennen. Sofort waren all ihre Nerven in Alarmbereitschaft. Kurz überlegte sie, ob es sich lohnte, im Sand hockenzubleiben. Aber nein. Lieber begegnete sie den Monstern stehend. Wenn sie sie schon haben wollten, dann nicht auf einem Silbertablett. Schweiß perlte ihr das Rückgrat hinab. Sie hielt sich die Hand vor den Mund im Bemühen, kein Geräusch von sich zu geben.

Das Schnüffeln war über ihr, direkt am Rand des Risses. Lia wagte kaum, den Blick zu heben. Sie wollte nicht gesehen werden. Den Geräuschen nach zu urteilen waren es mindestens drei, vielleicht mehr. Der Gedanke entsetzte sie.

Nighters waren nachtaktiv. Ihre Pupillen nahmen das Licht – oder eher gesagt: die Dunkelheit – anders wahr. Sie konnten wie eine Katze im Dunkeln sehen, während Menschen auf technische Hilfsmittel angewiesen waren, um ihnen nicht völlig schutzlos entgegenzutreten. Dabei war ihre Nachtsicht ebenso bemerkenswert wie ihre Schnelligkeit. Bisher hatte Lia nur einmal gesehen, wie ein Mensch von einer Gruppe Nighters abgeschlachtet worden war. Das hatte ihr gereicht. Die bestialischen Giftstacheln, die ihre Schwänze spickten, waren das eine. Die grässlichen Klauen etwas völlig anderes. Ganz zu schweigen von den angespitzten Zähnen, die sich in einem nahezu menschlichen Kiefer verbargen; bereit zuzuschnappen, egal, was vor die Nase kam.

Lia wollte wegrennen. Laufen, so schnell und weit sie die Füße durch den Sand tragen würden. Stattdessen stand sie stocksteif und wartete.

Zwei verlorene Tränen rollten ihr über die Wangen und schoben sich zwischen die zitternden Fingerspitzen hindurch.

Das Schnüffeln der Nighters verschwand nicht.

Lia hörte, wie die Kreaturen sich zusammenrotteten. Hatten sie sie gerochen? Die Angst musste ihr aus jeder Pore strömen. Sahen sie sie? Hörten sie ihr unterdrücktes Keuchen? Sie presste die Lider aufeinander. Dann zählte sie. Sie zwang sich, sich vollkommen auf die Ziffern in ihrem Verstand zu konzentrieren.

Sie kam bis vierzehn.

Dann sprang eines der Monster in das Loch runter.

Sofort waren alle Zahlen vergessen. Ihr Hirn schaltete auf Autopilot. Sie machte sich bereit für den Kampf, der nun unweigerlich folgte.

Lia erkannte kaum etwas in der Dunkelheit. Der Nighter erzeugte mit seiner Schnüffelei jedoch so viel Lärm, dass sie seinen Bewegungen problemlos folgen konnte.

Er kam näher.

Vorsichtig nestelte sie an ihrem Hosenbein, direkt am Knöchel, unter dem Rand der Boots. Obwohl es nach Klischee stank, war dies trotz allem ein hervorragendes Versteck. Sie zog die beiden Messer hervor, mehr hatte sie nicht. Das andere Messer in ihrem Hosenbund hatte sie bei dem Sturz durch den Sand verloren.

Die übrigen Waffen lagen im Bunker – bei Jackson. Sie hatte sich auf den Nahkampf beschränkt und je ein Messer in die Boots geschoben. In ihrer Naivität hatte sie geglaubt, rechtzeitig zurück zu sein. Die Messerklingen waren von ihrer Haut angewärmt. Kein Lichtstrahl brach sich auf ihrem ansonsten tödlichen Glanz. Was auch immer jetzt geschah: Es erfüllte nur noch einen einzigen Zweck.

Überleben.

Der Schwanz des Nighters wischte durch die Dunkelheit. Lia ahnte die Bewegung mehr, als das sie sie sah. Er war dick wie ein Unterschenkel. Jedes Mal, wenn er durch die Luft zuckte, vernahm sie ein leises Rauschen. Das Gift aus dem Stachel am Ende war nicht tödlich, aber es lähmte die Beute stundenlang. Damit bot sich genügend Zeit für Nighters, das Opfer zu fressen.

Sie waren perfekte Killer.

Und ihrer hatte endlich kapiert, dass die Beute direkt vor seiner Nase hockte.

Lias Finger umschlossen die Messergriffe fester. Ihr rechter Fuß rutschte ein Stückchen zurück, ihre Knie beugten sich. Sie war kampfbereit. Der Nighter fauchte, als wüsste er das. Sein fauliger Atem wehte ihr ins Gesicht. Schon sprang er auf sie zu.

Die Bestie riss sie von den Füßen. Sie knallte zu Boden. Der Rucksack presste sich in ihr Rückgrat, der Atem entwich ihr mit einem heiseren Keuchen. Reflexhaft schnellte ihr Arm hoch. Die Messerklinge erwischte den Nighter in der monströsen Fratze – ein Gesicht, das ihr mühelos den Kopf abgerissen hätte.

Lia schluchzte, stöhnte und ächzte vor Anstrengung. Ihre andere Hand rammte das Messer in die Seite des Monsters. Es schrie. Der Laut war abscheulich, schrill, und lehrte einem das Grauen. Das Geheul war dermaßen laut, sie hätte sich am liebsten die Ohren verstopft.

Abermals durchdrang ihre Messerklinge heißes Gewebe an der Flanke. Die zweite Klinge, die des Monsters Visage erwischt hatte, fuhr zwischen die Augen in die Stirn. Der gleißende Schmerz, als sie gegen den Schädelknochen prallte und abrutschte, erfüllte Lias Arm, drang bis ins Mark und in die Schulter hinein. Sie schrie. Der Nighter antwortete durchdringend fauchend, pustete seinen heißen, stinkenden Atem erneut in ihr Gesicht.

Dann umhüllte sie Stille.

04 – Damals I, Februar 2118

»Bitte bewahren Sie Ruhe!«, dröhnte die Stimme des Pressesprechers durch die Lautsprecherboxen. Ein Wisch und er verstummte. Tagelang hörten sie nichts anderes als diese vier hilflosen Worte. Die Nachrichten waren nutzlos, außer, man wollte in einem Tal der verzweifelten Trübsinnigkeit landen. Lia vermied es seit einer Woche, sich die tagesaktuellen News reinzuziehen. Sie berichteten ohnehin immerzu das Gleiche: Es war schlimm, aber man solle bitte Ruhe und einen kühlen Kopf bewahren; sich für den »Ernstfall« wappnen. Wie auch immer der aussehen sollte.

Lias Meinung nach war der Ernstfall schon vor sehr langer Zeit eingetreten. Als die Regierungen dieser Welt schleppend bis gar nicht reagiert hatten. Als der Kohleabbau weiter voranschritt und sich niemand ernsthaft bedroht gefühlt hatte. Als niemand die Zukunft kommen sah. Diejenigen, die wirkliche Macht besaßen, ignorierten all das. Es mangelte in den höheren Führungsebenen am wirtschaftlichen Interesse. Dabei war es die junge Generation gewesen, die ahnte, was allen blühte, und unisono klagten, dass es mit dem Klima, der Vielfalt und der ganzen Menschheit bergab ging.

Lia schnappte sich ihren Rucksack und lief zur Tür. »Ich bin weg«, rief sie über die Schulter zurück.

Ihre Mutter, Erin, folgte ihr in die Diele. »Denk daran, heute kommt Besuch, sei pünktlich.«

Lia sparte sich eine Antwort. Sie winkte lediglich zum Zeichen, dass sie sie gehört hatte, und zog die schwere Stahltür auf, um das Treppenhaus zu betreten. Scheppernd krachte die Tür hinter ihr ins Schloss. Drei Piepser bestätigten die Verriegelung.

Lia atmete geräuschvoll aus.

Sie wollte möglichst wenig Zeit mit dem Besuch verbringen – sowohl vorher als auch zur gegebenen Stunde. Er war die Kirsche auf der Torte: Leopold Parach, kurz: Leo.

Lias Mutter war eine herausragende Chirurgin und dermaßen gut in ihrem Job, dass sie sich für eines der begehrten Spezialprogramme beworben hatte. Schon nach kurzer Zeit flatterte die Bewilligung in ihr Postfach. Erin konnte gar nicht anders: Sie folgte einem unwiderstehlichen, inneren Drängen, ihre Kompetenz der übrigen Welt zu beweisen. Dabei versagte ihr der ätzende Ehrgeiz beim kümmerlichen Rest der Familie, ihrer einzigen Tochter, zu verharren.

Lia polterte die rissigen Steinstufen hinunter und verlagerte den Rucksack auf ihrer Schulter. Leo war begeisterter Unterstützer der ganzen Aktion. Mit Feuereifer bestärkte er seine beste Ärztin in dem Vorhaben. Erin würde das Image der Klinik ordentlich aufpolieren, indem sie sich als wohltätige Samariterin ins Ausland begab. Ihm kam es bei alldem weniger auf das familiäre Drumherum an. Er förderte Erins Karriere ganz bewusst aus Profitgier. Da störte es auch keinen mehr, dass er hin und wieder den Boss raushängen ließ, um sie motiviert in der Spur zu halten.

Lias Einwände perlten derweil an Erins selbstbewussten Lächeln und ihren euphorisch funkelnden Augen ab wie am verflixten Schild.

Das Haar über die Schultern nach hinten schüttelnd, stapfte Lia zur Sammelstation für die Lehrbehörde. Schon jetzt knallte die Sonne unerträglich heiß vom Himmel. Seit die Hitzeperioden immer länger dauerten und es im Grunde keinen wirklichen Winter mehr gab, bestand ihre Garderobe ausschließlich aus luftigen, zweckdienlichen Stoffen. Der Scheiß-Sommer war anders kaum auszuhalten.

Im Hover-Bus zur »Behörde für öffentliche Bildung« war ein einziger Platz frei. Sie plumpste neben einem Typen in die dünnen Sitzpolster und kramte in einer ihrer Taschen nach Kaugummi. Aus Zeitnot hatte sie auf das synthetische Frühstück verzichtet. Deshalb musste das altmodisch wirkende Kaugummi reichen, um sie schnell mit der nötigen Energie zu versorgen. Dank moderner Entwicklung putzte sie sich gleichzeitig die Zähne beim Kauen.

Der Kerl neben ihr räusperte sich.

Lia wagte einen beiläufigen Blick. Dunkle, wellige Strähnen hingen ihm über die konzentriert gerunzelte Stirn. Sie wollte sich abwenden, da sah sie auf das Tablet, das er mit beiden Händen abstützte und in dem ein Zeitungsartikel abgebildet war. Die Schlagzeile neben dem Bild einer lächelnden Frau zog ihre Aufmerksamkeit auf sich:

»Talburne: ›Es gab keinen Laborunfall, alles ist in Ordnung.‹«

Das Lächeln auf dem Graustufenfoto kam nicht bis zu ihren Augen. Es wirkte schal, ungeduldig und zeugte von Arroganz. Es war durchweg unsympathisch.

Der Kerl neben Lia gab erneut einen Laut von sich. Fast klang es wie ein Schnalzen. Lia war bereit, es zu ignorieren. Schließlich ging es sie nichts an. Es war sogar grob unhöflich von ihr, ins Tablet eines Fremden zu linsen. Aber der Typ hob seinen Kopf. Er schaute zur Seite und ihr mitten ins Gesicht. Sein finsterer Blick aus sattblauen, dem Nachthimmel gleichenden Augen verkettete sich mit ihrem.

Verdattert starrte sie zurück.

Warum sah er hoch?

Und warum sah sie nicht weg?

»Kannst du leiser kauen?«

Sie blinzelte. Man merkte ihr die Verwirrung wohl an. Wie um die Worte zu unterstreichen, hob er eine Hand, um auf ihre Lippen zu deuten. Er senkte flüchtig den Blick darauf, bevor er ihn zurück zu ihren Augen hob. »Du kaust echt laut. Ich kann hören, was du mit dem Kaugummi machst. Geht das nicht leiser?«

Hastig nickte sie. Hitze strömte über ihre Wangen. Sie schaute peinlich berührt weg. Noch nie hatte man ihr gesagt, sie würde beim Essen Störgeräusche verursachen. Wieder schluckte sie. Prompt rutschte das verfluchte Kaugummi falsch in den Hals. Sie würgte. Keuchend und hustend richtete sie sich auf. Abermals flutete Wärme ihr Gesicht. Sie schlug sich mit der Faust gegen das Brustbein, in der Hoffnung, das dämliche Kaugummi zum Weiterrutschen zu bewegen. Tränen stiegen ihr in die Augen.

Verdammt.

Sollte sie auf die Art krepieren? Mit einem verfluchten Kaugummi im Hals?

Der Typ beobachtete sie einen Augenblick lang, packte schließlich ihre Schultern, drehte sie um und schlug ihr kräftig auf den Rücken.

Einmal.

Zweimal.

Lia hustete, schnappte nach Luft.

Endlich löste sich das Kaugummi.

Schwer atmend und mit tränenden Augen warf sie sich zurück in den Sitz. »Danke«, keuchte sie und wagte einen verwässerten Seitenblick zu ihrem Retter hinüber.

»Schon okay. Du lebst noch.«

Wie nett.

»Wer bist du?«, presste sie raus, während sie sich die Tränen aus den Augenwinkeln wischte. Die Frage drängte heraus, war nicht mehr zurückzuholen.

»Jackson.«

Sie nickte verstehend, was er aber nicht sah. Er studierte erneut das Tablet.

»Ich hab dich noch nie in der Anstalt gesehen. Bist du neu?«

Jetzt zupfte ein träges Lächeln an seinem Mundwinkel. Er legte einen Arm lässig über das Tablet, ehe er sie abermals betrachtete, eine Augenbraue amüsiert hochgezogen. »Anstalt?«, wiederholte er.

»Du weißt schon, die Bildungsbehörde«, ergänzte sie, untermalt von einem Wedeln ihrer Hand in der Luft, woraufhin er den Kopf auf eine Seite neigte.

»Ich geh nicht mehr zur Schule. Ich studiere.«

Lia nickte lahm. Nicht mal ein »Sorry« für ihre Neugier kam aus ihr heraus. Sie betrachtete Jackson. Einen furchterregend langen und verwirrenden Augenblick wusste sie nichts mit sich anzufangen. Sie drohte, in den saphirblauen Augen dieses Jungen zu versinken. Eine solche Farbe entstammte sicher nicht der Natur, dachte sie. Vielleicht war er ein Retortenbaby, die in den letzten Jahren immer häufiger gezielt ausgebrütet wurden?

»Und wer bist du?«, fragte er.

Wärme strömte durch sie hindurch.

»Lia.« Wie ferngesteuert hob sie eine Hand, um sie ihm hinzuhalten. Die bisherige Begegnung ließ sich an Peinlichkeit kaum übertreffen, dennoch grinste er und nahm ihre Hand. Wieder glühten aus irgendwelchen Gründen ihre Wangen.

»Ich glaube, du musst raus«, sagte er und schaute erst nach vorne, dann zum Fenster neben sich, ehe er wieder zurück zu ihr sah. Seine Augenbraue hob sich fragend.

Lia blinzelte und sah an ihm vorbei.

Vor der Scheibe kreuzten Schülergruppen ihr Sichtfeld, überschattet vom imposanten Schulgebäude, das mit all den Kameras und Wächterdrohnen erstaunliche Ähnlichkeit mit einem Hochsicherheitsknast aufwies.

»Ja, stimmt. Hier muss ich raus.«

Sie erhob sich ruckartig und schulterte den Rucksack. Sehen wir uns wieder? Die Frage brannte in ihr. Stattdessen presste sie ihre Lippen zusammen. Der Hover-Bus senkte sich leise brummend. Andere standen ebenfalls von ihren Sitzen auf.

»Also ... bis dann?!«, nuschelte sie.

»Klar«, antwortete er.

Ihr Gesicht glühte sicher wie eine Ampel. Fuck.

Lia drängte mit den anderen zusammen nach draußen und eilte auf das breite Eingangstor zu. Videokameras und summende Drohnen registrierten und protokollierten jeden ihrer Schritte, sobald sie durch das Tor trat. Scanner durchleuchteten sie und ihren Rucksack gründlich. Bevor sie das Schulgelände endgültig betrat, riskierte sie einen Blick zurück über die Schulter. Da schwebte der Bus längst sirrend und brummend weiter – und mit ihm Jackson, der Student.

***

Er hatte den Sitzplatz für sie freigehalten, redete sie sich am nächsten Tag ein.

Nur mit Mühe konnte Lia das Grinsen aus ihrem Gesicht verbannen. Sie bemühte sich um einen lässigen Ausdruck.

»Morgen«, grüßte sie ihn und ließ sich auf den Platz neben ihn fallen. Ihr fielen diverse Haarsträhnen vor die Augen, während sie ihre Tasche auf den Schoß zog. So sah sie nicht, wie er seine Hand hob. Als er ihr die Strähnen hinter das Ohr strich, zuckte sie überrascht zusammen.

Oh.

Schon wieder strömte ihr die Hitze in die Wangen. Bald machte ihr Gesicht der Wüstensonne Konkurrenz, dachte sie. Nervös räusperte sie sich, um diesen abstrusen Gedanken abzuschütteln. Dabei zog sie die Blicke der Umstehenden auf sich, die sie teils spöttisch, teils irritiert bis ehrlich verwirrt angafften.

»Sorry, ist alles in Ordnung?«, fragte Jackson. »Deine Haare waren ... «

Schnell nickte sie. »Na klar, kein Problem, danke«, brabbelte sie drauflos.

Nur keine Blöße geben.

Sie war cool, völlig entspannt, und nicht so spontanverknallt, dass sie ihr Hirn zuhause vergessen haben könnte. Am liebsten hätte sie sich mit der flachen Hand gegen die Stirn geklatscht. Einfach, um ihre Synapsen wieder zurechtzurücken.

»Hast du gut geschlafen?«, wollte er wissen.

Gänsehaut breitete sich auf ihren Armen aus. Ihre Mundwinkel hoben sich. Lächelte sie – oder zog sie eine Grimasse? Lia war sich da absolut nicht sicher.

»Ja, war ganz angenehm ... äh ... du?«

Sie wagte einen Blick auf sein Gesicht, um zu sehen, wie er ihre Frage auffasste.

Er lächelte. Seine dunkelblauen Augen schimmerten abgründig.

Lia wollte seufzen – wie so ein verknallter Teenie. Das flüchtige Kribbeln in ihrer Magengrube war aufregend. Es gefiel ihr.

»Ich habe ausgesprochen gut geschlafen, danke.«

Ihr Gespräch pausierte. Die anderen schwatzten gut gelaunt miteinander und ihre Stimmen füllten den Hover-Bus.

Wieder räusperte Lia sich. »Was studierst du eigentlich?«, fragte sie.

»Biotechnologie mit dem Schwerpunkt auf Geo-Engineering.«

»Wow.«

»Überrascht?«

Sie grinste. »Ja, wo hast du deine Nerd-Brille versteckt?«

Da lachte er. Er neigte seinen Kopf näher zu ihr, was das Kribbeln in ihr verstärkte, und flüsterte: »Die musste ich Superman leihen.«

Ihr Grinsen vertiefte sich. Der Tag konnte kaum besser starten. Ihre Unterhaltung verlief unerwartet harmonisch. Sie verstanden sich super. Dabei klopfte Lia das Herz bis zu den Mandeln. Ihre Kehle war ständig trocken, aber das störte sie an diesem Morgen nicht im Geringsten. Dieser Moment war einfach richtig. Er bedeutete was.

»-bei Dr. Talburne einsteigen. Ihre Forschungen zur xenogenetischen Biotechnologie sind unglaublich weit fortgeschritten, heißt es.«

Lia blinzelte. Ihre Gedanken hatten sie komplett abgelenkt und aus dem Gleichgewicht gebracht. Sie war versucht, sich einzureden, dass sie lediglich auf diesen Austausch zwischen ihnen stand, nicht auf ihn. Doch wem wollte sie was vormachen? Es war ziemlich offensichtlich: Sie fuhr total auf ihn ab.

Verrückt.

»Lia?«

»Hm?«

Er hob eine Augenbraue. »Ist echt alles in Ordnung?«

»Oh«, sie lachte nervös. Verkrampft. »Natürlich.«

»Ich würde dich gerne außerhalb des Busses treffen. Glaubst du, das geht?«

In seinen Augen funkelte ein Himmel voller süßer Versprechen.

»Warum nicht? Ich habe nichts vor. Wir können uns verabreden, wann du willst. Ich meine, nicht, dass du denkst, ich hätte keine Freunde! Es ist nur, das Abschlussjahr hat ja eben erst angefangen. Es ist das letzte Bildungsjahr und wir hatten uns nicht abgesprochen. Ich-«

Leise lachend unterbrach er ihren peinlichen Redeschwall. Dabei nahm er sanft ihre Hand in seine. »Mach dir keinen Stress«, meinte er, ließ ihre Finger los und blickte zum Fenster, um ihr Raum zu lassen, damit sie endlich wieder normal wurde. Ihre Haut kribbelte dort, wo er sie berührt hatte.

»Ganz ruhig, Lia. Das ist keine Prüfung.« Er sah zurück zu ihr. In seiner Stimme lag unendlich viel Wärme. »Wie wäre es mit einem Treffen am Samstag? Kennst du Frozen Palace?«

Sie nickte.

Wer kannte den gigantischen Eisladen nicht? In den stetig heißer werdenden Sommerperioden war der Frozen Palace einer von mehreren Eiscafés, die wie Pilze aus dem Boden schossen. Alle waren dankbar für die Abkühlung, die sie boten. Im Angesicht der Hitze und nach der ganzen klimatischen Katastrophe störte sich nun kaum noch jemand an den Kohlenstoffemissionen, die die enormen Mengen Kühlmittel begleiteten.

Sie einigten sich auf eine Uhrzeit, als auch schon die Bildungsbehörde in Sichtweite kam. Schon wieder musste sie raus.

Verdammt.

***

Als Lia nachmittags wieder zuhause war, erwartete ihre Mutter sie bereits mit dem Essen. Nach dem gestrigen Besuch ihres Chefs sollte heute die Entscheidung fallen.

Die Tatsache, dass sie mit Lias Lieblingsessen wartete, ließ Lia erahnen, was folgen würde. Seufzend plumpste sie in einen altmodischen Holzstuhl, die Tasche achtlos neben sich auf den Boden knallend.

»War dein Tag schön?«, fragte Erin. Sie stand mit verschränkten Armen beim Kochautomaten an der Küchentheke gelehnt und betrachtete ihre Tochter.

Lia ignorierte den Umstand, dass sie sich nicht zu ihr an den kleinen, runden Tisch setzen würde, und zuckte mit der Schulter.

»War okay«, sagte sie und griff zum Löffel. Ihr Magen war komplett leer und der Milchreis war schlichtweg zu köstlich. Schweigen senkte sich über den Tisch.

Erin wartete ein paar Bissen ab, ehe sie sich erklärte. Bei jedem ihrer Worte verschloss sich Lias Herz wieder ein wenig mehr.

»Ich werde das Angebot von Leo annehmen«, sagte Erin zuerst. Sie war schon immer pragmatisch gewesen. Stets kam sie direkt zum Kern einer Sache. Zeit war, trotz all der smarten Technologie um sie herum, seit Jahren Mangelware in diesem Haushalt. Wer erwartete, in ihrer Mutter eine altmodische Hausfrau zu sehen, irrte. Sie verbrachte so viele Stunden in der Klinik, keiner mochte sie zählen. Es verwunderte Lia nicht im Geringsten, dass sie bei dem Projekt mitmachen würde. Dass ihre Mutter dafür um die halbe Welt porten musste, störte sie deutlich mehr. Obwohl die Port-Technologie seit Jahren zum Standard gehörte, war sie immer noch fehlerbehaftet. Früher hatten die Menschen vom Beamen und Teleportation gesprochen. Nichts anderes war das jetzt: Eine Zersetzung der Moleküle bis aufs kleinste Teilchen, ehe sie erneut woanders zusammengesetzt wurden. Die Technik fraß irre viel Energie. Daher kam sie nur für spezielle Missionen zum Einsatz.

Lia versuchte, ihrer Mutter zugutezuhalten, dass sie ihr das Lieblingsessen gekocht hatte.

»Wann geht es los?«, fragte sie zwischen zwei Löffeln.

Der Appetit verging ihr mit jeder weiteren Sekunde mehr.

»Morgen.«

Sprachlos hob Lia den Blick von der breiigen Masse auf dem Teller zu ihrer Mutter.

»Ich weiß, es kommt überraschend und kurzfristig. Aber ich kann diese Chance unmöglich verstreichen lassen. Du bist inzwischen erwachsen genug, das zu verstehen, oder?«

Mechanisch nickte Lia. Ihre Mutter brannte mit Leib und Seele für den Job. Konnte sie ihr den Ehrgeiz vorwerfen? Wohl kaum. Erin konnte einfach nicht anders. Und sie hatte recht: Lia war laut Gesetz erwachsen. Ihr Besuch in der Bildungsbehörde diente lediglich der gezielten Vorbereitung für einen Job oder ein Studium in einer Welt, die längst alles automatisierte und generalisierte.

»Ich kann dich zum Terminal begleiten«, schlug Lia halbherzig vor.

»Das brauchst du nicht. Leo holt mich ab. Wir klären unterwegs die finalen Details.«

»Wohin gehst du?«

»Ruanda.«

Lias Augen wurden weit. »Afrika?«, entfuhr es ihr.

»Die Bürgerkriege dort sind schon wieder außer Kontrolle. Du kennst die Geschichte. Sie brauchen Ärzte.«

... wie sie.

Lia sprach nicht aus, was sie dachte. Von der Mutter verlassen zu werden, war schlimm genug. Sie musste ihr kein zusätzliches schlechtes Gewissen bereiten. Das hatte sie früher nicht, sie wollte jetzt nicht damit anfangen.

»Wie lange geht der Einsatz?«

»Solange wie nötig.«

»Natürlich.«

Verbitterung kroch Lia ungewollt über die Zunge und stand nun wie ein rosa Elefant zwischen ihnen.

»Lia ...«

Erin trat an den Tisch heran. Als würde sie erkennen, wie egoistisch ihre Entscheidung und sie selbst schon wieder war. Ihre Hand stoppte auf halbem Wege zu ihrer Tochter, zögerte, sank zurück.

»Was meint Brice?«

»Ich habe ihn nicht erreicht.«

Brice war Lias älterer Bruder und beim Militär. Seine Offizierslaufbahn war kein Zufall gewesen: Seit ihr Vater tot war, konnte Lia zusehen, wie ihre Familienbande immer weiter ausfransten. Irgendwann würden sie endgültig zerreißen, davon war sie überzeugt.

»Glaubst du, er wird zuhören?«, fragte sie.

»Ich hoffe es.«

Darauf schwieg sie. Ihr Bruder hatte nie akzeptiert, was geschehen war. Er gab vor, sie von seiner Ahnentafel gestrichen zu haben. Lia hoffte, dass sie sich irrte – und er einfach immer noch ihr großer Bruder war. Die Erinnerung an sein heiseres, kehliges Lachen über die schrecklichsten Witze, die so flach waren, dass es schon schmerzte, sie überhaupt jemals zu hören, flackerte in ihr auf.

»Ich bin in meinem Zimmer.« Sie schob den halbvollen Teller zur Seite, den Stuhl zurück, und stand auf.

»Willst du nichts mehr essen?«

»Ich bin satt.«

05 – Blut

Ihr Atem kam abgehakt über die Lippen. Der Knöchel schmerzte, während das Monster schlaff und stinkend auf ihr lag.

»Scheiße.«

Lia schob die Leiche stöhnend an den Schultern zur Seite und robbte darunter hervor. Beim Aufstehen sah sie herab. Ihre Klamotten stanken zum Himmel. Sie war komplett mit Blut besudelt. Sie berührte eine feuchte, glitschig-klebrige Stelle und verzog das Gesicht.

Ihr Blick fuhr nach oben, wo es auffällig still geworden war. Dabei war sie sich sicher gewesen, der Nighter war nicht alleine gekommen.

Sie lauschte.

Nichts.

Offensichtlich war sie sich selbst überlassen mit den ekelerregenden Überresten des Monsters. Wo waren die anderen Biester hin? Was hatte sie abgelenkt, sodass sie in ihr keine Priorität mehr sahen? Nicht, dass sie wirklich zu komplexen Denkmustern fähig waren. Sie folgten vielmehr ihrer Gier. Einem Instinkt, der alles übertraf, was die Menschheit bisher gekannt hatte.

»Ist da jemand?«, rief Lia versuchsweise, doch die Worte kamen lediglich als heiseres Krächzen heraus. Sie probierte es erneut. Diesmal war ihre Stimme kräftiger.

»Hier, kommt hierher!«

Erleichterung erfasste sie, als sie Jacksons Stimme erkannte. Die Knie gaben unter ihr nach. »Wo bist du?«, rief er. Seine Silhouette zeichnete sich undeutlich gegen den Sternenhimmel ab.

»Hier unten – zusammen mit einem Nighter; mit dem ist aber nicht mehr viel los.«

»Warte, wir holen dich raus«, sagte er. »Die anderen sind auch hier.«

»Alle?«

Es fiel ihr schwer, sich das vorzustellen. Mit Ally verband sie nichts, außer Jackson. Sie mochten sich beide nicht sonderlich – und das aus gutem Grund.

»Ja, alle.« Die Wärme, die in seiner Stimme mitschwang, umhüllte sie.

Kurz darauf warfen sie das Ende eines Seils mit Knoten runter. Sie hangelte sich rauf. An der Kante zog Jackson sie an den Armen aus dem Loch heraus. Er ließ sie nicht sofort wieder los. »Geht es dir gut?«

Lia nickte. Er hatte die Holo-Lenses abgezogen. Seine Hände ruhten angenehm schwer auf ihren Schultern. Er strich ihr über die Wange. »Ich bin froh, dass du wohlauf bist.«

Da sie nun wieder ein Teil der Gruppe war, griff die Erschöpfung träge nach ihr. Gähnend warf sie den anderen einen Blick zu. »Danke für die Rettung«, sagte sie und meinte es auch so.

»Hast du was gefunden?«, wollte Ally wissen.

Siedendheiß kam ihr die Entdeckung aus dem Wrack in den Sinn.

»Natürlich!«, entfuhr es ihr. »Ich habe eine Karte, einen Punkt, ich weiß, wo wir fündig werden.«

»Bist du sicher?«, fragte Kai.

Abermals ruckte ihr Kinn. »Es ist alles hier drin.« Sie tippte sich gegen die Stirn. Beim Gedanken an die mögliche Wasserquelle war sie putzmunter.

»Wir sollten zurückgehen«, meinte Rachel. Ihre Holo-Lenses wackelte seitwärts, während sie nervös die Umgebung im Blick behielt.

»Ja, gehen wir zurück«, stimmte Jackson zu.

Die anderen gingen voraus, Jackson blieb an Lias Seite. Sie bildeten gemeinsam das Schlusslicht. Doch als Lia ihren Fuß belastete, zuckte sie zusammen. Dabei entging sie einem Sturz, weil Jackson rechtzeitig nach ihr griff.

»Was ist los?«, fragte er und sah besorgt aus.

»Ich habe mir den Knöchel verknackst.«

»Du hast gesagt, es sei alles in Ordnung.«

»Ist es ja auch, es ist bloß der Knöchel ... «

Daraufhin schlang er einen Arm um ihre Taille, beugte die Knie, griff unter ihre Beine hindurch und hob sie hoch.

»He, du musst mich nicht tragen«, protestierte Lia.

»Du kannst mit dem Knöchel kaum laufen. So ist es einfacher«, erklärte er.

»Ich bin doch viel zu schwer.

---ENDE DER LESEPROBE---