Der Schatten Deiner Seele - Hazel McNellis - E-Book

Der Schatten Deiner Seele E-Book

Hazel McNellis

0,0
3,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

"Er konnte nicht aufhören, sie zu küssen und immer wieder zu küssen – auch dann nicht, wenn die Welt um sie herum in Scherben lag." Was bleibt, wenn alles zerbricht? Gefangen in einer fremden und zugleich vertraut wirkenden Welt, rauben ausgerechnet die Hüter Kierans Gedächtnis. Alles Wissen über die Fäden, das Schattenreich und Prinzessin Ariana scheint damit für immer verloren. Das Netz der Fäden zieht sich immer weiter zu und Kierans Seelenlicht ist in großer Gefahr. Er und die Prinzessin sehen sich schnell mit einer Bedrohung konfrontiert, die mehr als nur eine Welt ins Chaos stürzt - und in der Dunkelheit lauert der Tod.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 468

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Hazel McNellis

Der Schatten Deiner Seele

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Der Schatten Deiner Seele

Teil 1 – Schatten

01 – Wüstenwind

02 – Sandmann

03 – Wissen

04 – Nichtwissen

05 – Hitze und Minen

06 – Unruhe

07 – Begegnungen

08 – Ein hoher Preis

Teil 2 – Licht

09 – Hinter dem Schleier

10 – Neuer Versuch

11 – Unter Feinden

12 – Gräuel und Glück liegen nahe beieinander

13 – Kontrolle am Abgrund

14 – Am Rande vom Licht

15 – Abwärts

16 – Chaos bricht aus

17 – Eifersucht

18 – Leben als Geisel

19 – Auf der Suche

20 – Durchbruch

Teil 3 – Chaos

21 – Eine Welt zerbricht

22 – Neuordnung

23 – Absprung

24 – Abschied

25 – Kollision zweier Welten

26 – Am Abgrund

27 – Flucht aus der Fremde

28 – Die Wurzel allen Übels

29 – Menschen

30 – Zurück in Merilàn

31 – Lippenbekenntnisse

32 – Zusammen

33 – Kalter Zorn

Teil 4 – Wandel der Welten

34 – Angst

35 – Wiedersehen

36 – Im Wald

37 – Am Ende steht der Tod

38 – In der Dunkelheit gefangen

39 – Erlösung

40 – Welten im Wandel

41 – Der Wahrheit ins Auge sehen

42 – Vergangenheit

43 – Finale

44 – Vollendung

Epilog

Hat dir das Buch gefallen?

Danksagung und wie es weitergeht

Weitere Werke der Autorin:

Impressum neobooks

Der Schatten Deiner Seele

Elfen, Teil 2

Ein Roman von Hazel McNellis

Teil 1 – Schatten

01 – Wüstenwind

Der heiße und trockene Wüstenwind wirbelte Sand auf, der Kieran in Nase, Ohren und Augen drang. Jeder Atemzug ließ ihn röchelnd husten. Gebeugt stand er da, nach Atem ringend. In was für einer Hölle war er gelandet? Die Natur bestand aus feinem, cremefarbenem Sand, trockenem Wind und flirrender Hitze. Die Sonnenstrahlen brannten auf seiner Haut. Er spuckte die letzten Sandkörner auf den nachgiebigen Boden. Der Schweiß, fremd und unnatürlich, rann ihm unangenehm über den Körper. Sein Leib kannte solch menschliche Absonderungen nicht. Ein Dunkelelf schwitzte nicht. Niemals. Schwitzen war für Mindere. Die Erinnerung an Ariana flammte in seinem Gedächtnis auf. Sie schmerzte mehr als die sengenden Sonnenstrahlen. Das Menschenmädchen war unvermittelt in sein Reich gestürzt. Dabei war sie für sein Volk bloß eine Sklavin ohne jeden Wert gewesen. Nur er, der Elfenkönig persönlich, hatte sein Herz an die Menschenprinzessin verloren. Ihm lag ein Fluch auf den ausgedörrten, rissigen Lippen. Sein verräterisches Herz klopfte kraftvoll und stetig hinter seinen Rippen. Es war eine beständige Erinnerung daran, was die Prinzessin in ihm angerichtet hatte. Er kniff die Augen gegen den nahenden Sandsturm zusammen und wandte den Blick nordwärts. In der Ferne erkannte die kantigen Umrisse eines schroffen Gebirges. Vielleicht irrte er. Vielleicht gab es dort aber doch so etwas wie eine Zivilisation oder zumindest eine Quelle, von der er trinken konnte. In jedem Fall fände er Schatten und das schien ihm aktuell verlockend genug. Hier in der endlosen Wüste begegnete ihm niemand. Egal, in welche Richtung er sich wandte, der Sand war allgegenwärtig. Kieran sog rau die Luft ein. Jeder Atemzug sandte ein loderndes Feuer durch seinen Hals. Die Lippen, Kehle und sein ganzer Körper vertrockneten von Minute zu Minute mehr. Schlurfend schob er den Sand vor sich her. Längst hatte er die Stiefel ausziehen müssen. Das Leder war mit jedem Schritt auf dem glühenden Wüstenboden geschmolzen. Es hatte sich zuletzt bis in die Haut gebrannt. Ein Blick zurück zeigte ihm die rotbraune Spur, die er hinterließ, ehe neue Sandkörner sie verbargen. Seine Fußsohlen waren wund und verbrannt. Trotzdem gab er nicht auf. Denn er wollte in dieser Hölle keinen jämmerlichen Tod sterben. Er gehörte woanders hin. An einen anderen Ort, in eine andere Welt. Unter normalen Umständen hätte er verhindert, dass irgendwer in Kontakt mit seinem Blut geriet. Elfenblut war besonders. Es wäre ein Schatz für jeden, der nicht dem Elfenvolk angehörte. Die Gabe, die in ihm schlummerte, war nicht für Normalsterbliche bestimmt. Er erinnerte sich gut daran, wie er es zuletzt eingesetzt hatte. Mit welcher Wucht die Emotionen bei Arianas Heilung ihn überrannt hatten. Es war eine Ironie, dass die Macht der Gene nicht seiner eigenen Genesung dienten. Hier draußen, mitten im glühend heißen Nirgendwo, kümmerte niemanden das Blut des Elfenkönigs. Es war genauso bedeutungslos wie all die Minderen, die im Elfenreich als Sklaven schufteten. Kieran legte sich seinen Umhang um den Kopf und die Schultern. Sein Schädel glühte erdrückend vor Hitze. Den Gedanken an jenes Wesen, das ihn überhaupt erst an diesen Ort der Verdammnis geschickt hatte, vermied er. Der Knochenmann spielte ein übles Spiel mit ihm. Es war erschreckend genug, dass das Schattenwesen ihn hierher vertrieben hatte. Aber das Schattenreich bedrohte ungehindert das Elfenreich und die ganze Welt drumherum. Darüber wollte Kieran in dieser sengenden Ödnis am liebsten nicht nachgrübeln. Seine Beine knickten wie kraftlose Zweige im Wind ein. Er stolperte, stürzte in den Sand und rutschte eine kurze Düne hinab. Ein brennender Schmerz fegte durch seinen Körper, kaum dass die Handflächen den weichen Boden berührten. Stöhnend rappelte er sich auf. Um ihn herum wuchs der Sturm zu einem Tosen heran. Aber die schwächlichen Tränen in den Augenwinkeln entstammten weniger dem beißenden Wind. Vielmehr rührten sie von der wachsenden Frustration und schwelenden Verzweiflung in seiner Seele. Wäre er ein Mensch, würde er den Emotionen bereitwillig nachgeben und die bitteren Tränen vergießen. Aber so war es nicht. Er war ein Dunkelelf. Und als solcher wollte er verdammt sein, wenn die Heulerei ihn überwältigte. Erst recht, da er Elfenkönig war und ein ganzes garstiges Volk unter sich einte. Dunkelelfen bewahrten sich ihre Würde, den Stolz. Sie gaben sich keine Blöße und zeigten keine Schwäche. Niemals. Kieran schnaubte. Hier war keine Elfenseele. Kein Mensch, kein Dunkelelf, kein Tod. Dennoch drängte er die Tränen zurück in sein Innerstes und stolperte weiter. Dabei starrte er unentwegt auf seine geschundenen Füße. Nur gelegentlich brachte er die Energie auf und hob den Kopf, um die Felsformation nicht aus den Augen zu verlieren. Sobald er die Felsen erreicht hätte, würde es neue Hoffnung geben, daran klammerte er sich. Eine Ewigkeit verging, in der ihn nur der nachlassende Wind begleitete. Da kreuzten Schatten sein Blickfeld. Sie färbten den Sand vor ihm dunkelbraun. Kieran hielt inne und hob benommen den Kopf. Ihm schwindelte. Der Horizont verschob sich kurz vor seinen Augen. Er runzelte die Stirn. Halluzinierte er? Vor ihm standen vier Gestalten: drei Männer und eine Frau. Menschen? Ihre Iriden funkelten wie schwarzer Onyx. Sie musterten ihn argwöhnisch. Ihre sandfarbenen Umhänge schleiften über den Boden und schienen eine Einheit mit dem Sand einzugehen. Im Gegensatz zur Prinzessin schimmerte die Haut ihrer Gesichter in einem sonnengebräunten Hautton. Er war ihnen mit seiner eigenen, gebräunten Hautfarbe nicht unähnlich. In ihren Mienen las er Überraschung heraus. Wer rechnete schon damit, auch nur einer Seele inmitten von Sand zu begegnen? Kieran kümmerte nicht, wie sie ihn ansahen, solange sie ihm etwas von ihrem Wasser gaben. Längst hatte er die ledernen Wasserflaschen an ihren Gürteln entdeckt. Jeder trug eine. Sie sahen prall gefüllt aus. Er leckte sich über die rissigen und schmerzenden Lippen. Den Schmerz, den die Berührung auf der Haut auslöste, bemerkte er kaum noch. Seine Zunge war geschwollen und schwerfällig. Einer der Männer versetzte der Frau einen Stoß mit dem Ellenbogen. Als diese keine Reaktion zeigte, nestelte der Mann murmelnd am eigenen Umhang. Dann trat er vor. In der Hand hielt er einen Wasserbeutel. Kieran entriss ihm den Beutel, setzte ihn gierig an die Lippen und schluckte. Glück strömte durch seine Adern. Die ersten Schlucke schmerzten in seiner rauen, ausgedörrten Kehle, ehe das Brennen nachließ. Er verdurstete nicht. Er würde leben. Nur das zählte. Das Wasser rann ihm mit wohltuender Frische an den Mundwinkeln vorbei und den Hals hinab, wo es zügig verdunstete. Die Frau sagte etwas, doch er hörte es nicht. Er wollte es gar nicht hören. Der Durst überwältigte ihn. Da entriss ihm der Fremde wütend rufend die Wasserflasche. Kieran ballte instinktiv die Hände. Er musste nicht erst darüber nachdenken. Die Kampfhaltung war ihm in all den Jahrhunderten in Fleisch und Blut übergegangen, ein Brandmal seiner Seele. Als er die Fäuste herausfordernd hob, schauten die Fremden verblüfft. Er könnte das Wasser stehlen, schoss es ihm durch die Gedanken. Es ihnen rauben wie ein jämmerlicher Dieb. Ein Minderer. Der Vergleich rührte etwas in ihm. Nur langsam löste er die Haltung wieder auf. »Wer seid ihr?«, fragte er. Jedes Wort schmerzte. Es kratzte heftig im Hals, sodass er hustete, was weitere Schmerzen zur Folge hatte. Die Leute murmelten einander seltsame Silben zu. Er verstand sie nicht. Da wandte sich einer ihm zu, bereit zu reden. »Wanderer.« Der einzelne Begriff glitt weich wie Samt über die Lippen des Nomaden. »Was soll das heißen?«, fragte Kieran. Der Kerl sprach erneut mit den anderen und übersetzte seine Worte. »Ich danke euch für das Wasser«, schob Kieran nach, als die Antwort ausblieb. Die Leute nickten. »Tot, wenn du bleibst«, meinte der Mann und taxierte ihn beiläufig von oben bis unten. »Wir können helfen. Wir haben Kleidung. Wasser. Essen. Du hast nichts. Du stirbst.« Skeptisch zögerte Kieran. »Ich kann euch aber nicht bezahlen«, wandte er ein. »Wir helfen. Komm.« Was hatte er zu verlieren? Warum sollte er es dem Knochenmann leicht machen, wenn ihm offensichtlich Retter gesandt wurden? Kieran begleitete die Wüstenwanderer bis zu einem Zeltlager am Fuß eines niedrigen Hügels, der kaum einen Schatten warf. Die Frau führte ihn in ein größeres Zelt. Dort versorgte sie ihn mit Wasser und einer kräftigen Brühe. Er bekam zusätzlich eine kühlende Salbe und ein paar Stoffbahnen, um seine Wunden zu verbinden. Danach überreichte sie ihm einen Umhang, dessen sandige Tönung deutlich besser in diese Gegend passte als sein eigener. Er saß auf einem weichen Kissen, die Frau rührte in einer breiten Pfanne. Draußen hörte er die Stimmen der Männer. Wieder verstand er kein Wort. Die Frau beachtete ihn nicht. Alles war ruhig, beinahe friedlich. Er zog den roten Faden aus seiner Manteltasche hervor, betrachtete das zarte, blutrot gefärbte Geflecht, das ein hauchdünner Goldschimmer umgab. Was geschah mit dem Elfenreich? Jetzt, da er dieses Artefakt mit sich trug? Breitete sich das Nichts, die unheilvolle Schwärze des Knochenmannes, weiter ungehindert aus? Wie ging es seinem Halbbruder Rohàn und dessen Tochter Lihana? Kieran zwirbelte den Faden zwischen den Fingern. Wie erging es Ariana? Ein Teil von ihm wünschte, er hätte mehr Zeit gehabt. Er hätte diese fremde Prinzessin besser kennenlernen und ihre Seele eingehender ergründen sollen. Ein Seufzen entfuhr ihm bei dem Gedanken an ihre weichen Lippen. Er schloss die Augen. Frustration kroch in ihm hoch. Bitter und schwer lag sie ihm im Magen. Resolut steckte er den Faden weg und hob den Blick. Ertappt blinzelte er die Nomadin an, die ihn streng musterte. Längst hatte sie aufgehört, in ihrer Pfanne zu rühren. Ihm war entgangen, wie sie ihn beobachtete. Sie starrte ihn an wie ein Insekt. Eines, das seinen Stachel offengelegt hatte und nun deswegen beseitigt werden musste. »Ich muss mit jemandem sprechen«, sagte er. Dabei erwiderte er ihren glotzenden Blick und wartete. Sie antwortete nicht, sondern sprang kurzerhand auf ihre nackten Füße und hastete durch den Zelteingang nach draußen. Stimmen wurden laut. Das Zelt war geräumig genug für mehr als zwei Personen. Zugleich war das Zeltdach ausreichend hoch, sodass er den Kopf nicht einzuziehen brauchte, wenn er aufstand. Die hellbraunen Stoffbahnen um ihn herum wiegten sich in einer unscheinbaren, aber trockenen und heißen Brise. Durch die Öffnung zu seiner Linken sah er einige Männer in einer Gruppe beisammenstehen. Einer gestikulierte lebhaft, deutete auf das Zelt und auf ihn. Kieran verstand nicht, was sie sagten. Doch die Körpersprache schien ihm eindeutig. Er zog die Brauen zusammen. Dieses Wüstenvolk wollte ihn nicht länger bei sich haben. Schluss mit der Gastfreundschaft. Offenbar nahmen sie ihn nun als Bedrohung wahr. Seine Hand glitt zur Brusttasche, in die er den Faden verborgen hielt. Er wollte nichts lieber, als dieses verdammte Ding wieder loswerden. Aber damit wäre jede Chance vertan, Ariana wiederzusehen, dem Tod zu entrinnen oder sein Volk vor dem Schattenreich zu schützen. Seine Zähne gaben ein leises Knirschen von sich. Er hatte den Kiefer angespannt, ohne es zu merken. Mühsam löste er die Spannung wieder, atmete tiefer und wandte dem Zelteingang den Rücken zu. Kurz darauf schlug einer der Wüstenmänner die Stoffbahn grob beiseite, die den Eingang halb verhüllt hatte. Er sah sich um, entdeckte Kieran, und kam auf ihn zu. Sein Gesicht offenbarte dieselbe Art von Anspannung, die Kieran von innen heraus zu zerfressen drohte. »Was ist los?«, fragte er und humpelte rückwärts, um Abstand zu gewinnen. Der Eindringling war zwar nicht offen bewaffnet, dennoch wollte er kein Risiko eingehen. Zwei weitere Männer blieben am Eingang stehen und verschränkten die Arme vor der Brust. Fürchteten sie, er würde fliehen? In die Hölle hinaus? Kieran schnaubte. »Du trägst es bei dir«, stellte der erste der Wanderer fest. Sein Kinn ruckte in seine Richtung. »Was meinst du?« »Den Zwirn.« Kieran zögerte. Was wusste dieses Volk? »Sie sagt, du hast es«, fuhr der Wanderer fort. »Und wenn es so ist?« »Nicht sicher für uns. Du musst gehen.« Der Typ schien nicht wie jemand, der über die Heiligtümer und Hüter Bescheid wüsste. Er konnte unmöglich im Bilde sein, wie die roten Fäden die Welten zusammenhielten. »Ich weiß nicht, wovon du redest.« »Du glaubst, wir wissen nicht. Aber das ist gelogen. Wir kennen das Geheimnis. Erkläre, warum du ihn hast.« Er hob in aller Unschuld beide Hände. »Wir helfen, keine Feinde.« »Das entscheide ich besser selbst.«Bisher hatte er seine spitzen Elfenohren verbergen können. Aber wenn diese Wanderer Bescheid wussten, wie konnte er sicher sein, dass sie nicht auch das Elfenreich kannten? Über den Tod im Bilde waren? Den Schleier? »Warum ist der Faden eine Gefahr?«, fragte er.Der Nomade senkte seine Hände wieder. »Sie sind alt. Sie tragen viel Magie in sich. Wir kennen den Ort, an dem sie gesammelt werden.«»Eine heilige Stätte?«, fragte Kieran. Der Kerl nickte und zog eine Schulter hoch. »Heilig, ja. Ort der Sammlung. Dort bewachen sie die Zwirne. Fehlt einer ...« Er führte den Satz nicht zum Ende, doch Kieran verstand ihn auch so. Wenn es in dieser Welt Hüter und Fäden gab, existierten sie ebenso im Reich der Prinzessin, in Tarnàl. Und das wiederum gab ihm genügend Grund zum Hoffen. Dann wäre sie nicht länger unerreichbar. Jede Welt bestand für sich. Nicht weil winzige Fasern sie in den Abgrund rissen oder den fragilen Schleier hoben, der ihre Leben voneinander trennte. »Zeig mir diesen Ort, bring mich dahin!«, sagte er deshalb.

02 – Sandmann

»Du nennst sie Hüter«, erklärte Kierans Begleiter auf dem Weg durch die Wüste. »Wir sagen: Wächter von Zeit und Raum.« Sie hatten sich zügig auf den Weg gemacht, mit ein paar Wasserbeuteln und einer Tasche voll getrockneter Früchte. »Wer weiß über sie Bescheid?«, fragte Kieran. Ihm perlte trotz der luftigen Kleidung der Schweiß aus den Poren. »Das Wüstenvolk hütet Geheimnis. Wenige wissen von Existenz. Keiner sucht sie. Sie wollen Kontakt nicht.« Sein Blick streifte Kieran. »Sie mögen Fremde nicht.« »Dann sind sie sicher begeistert, mich zu sehen.« Der Wanderer klopfte ihm lachend auf die Schulter. Kein einziges Wölkchen zog über ihren Köpfen hinweg. Kieran schaute oft zum Horizont hin. Immerzu rechnete er damit, die finstere Schwärze aus seiner Welt heraufziehen zu sehen. Diese fremdartigen Wolken, die wie Pech alles bedeckten und verseuchten. Er schauderte. Sie errichteten ein kleines Lager für die Nacht, von dem sie sich früh wieder erhoben, um ihre Reise fortzusetzen. Das Gebirge, dass er bei seiner Ankunft in dieser Welt gesehen hatte, blieb währenddessen stets an ihrer Seite. »Wo müssen wir hin?«, fragte Kieran im Verlauf des Vormittags. Sie waren heute schweigsamer als gestern. Obwohl ihre Heimatwelten sich voneinander unterschieden, hatte keiner von ihnen ein Interesse daran, den anderen näher kennenzulernen. Kieran musste unbedingt zu diesen Wächtern, wenn er den Faden loswerden und Ariana finden wollte. Die Hüter dieser Welt waren seine Gelegenheit. Nur sie wussten, wohin er wirklich gehörte. Sein Begleiter deutete voraus. Das abflachende Gebirge zeichnete scharfe Kanten in den Himmel und mündete in einem kleineren Hügel. Eine pechschwarze Stelle offenbarte den Ort, wo der Felsen auf Sand traf. Schwarz wie die Nacht hob sie sich vom Rest des Gesteins ab. »Ist das eine Höhle?« Sein Führer nickte. »Eingang zum Archiv. Tunnel weisen den Weg zu den Antworten. Aber kaum einer wagt sich so tief hinein.« Er schaute ihn schräg von der Seite aus an. Fürchtete er etwa, er liefe eingeschüchtert davon? Kieran ignorierte die Blicke und fixierte den Tunneleingang. Die Höhle war größer als vermutet. Von innen drang kein Lichtschein hinaus. Nur ein kalter Luftstrom wehte ihnen entgegen. Sie trug den Atem kühlen Gesteins, abgestandener Feuchte und etwas anderes mit sich. Kieran konnte den Geruch nicht eindeutig zuordnen. Er legte sich jedoch schwer auf die Schleimhäute. »Bereit?« Kieran nickte. Schon nach wenigen Schritten verengte sich der Tunnel und zwang sie, hintereinander zu laufen. An dieser Stelle tauchten endlich ein paar Fackeln auf. Sie brannten schwach, warfen aber genügend Licht an die schwarzen Wände, um dem Weg zu kennzeichnen. Anders als im Elfenreich verströmten sie nicht den charakteristischen Geruch von Feuer und verbranntem Trolldung. Kieran sah sie genauer an und erkannte eine Art geruchlos leuchtenden Stein in den Aussparungen der Felsen. Stirnrunzelnd folgte er seinem Führer tiefer in den Berg hinein. Der Tunnel verengte sich weiter. Sie krümmten sich, um hindurch zu gelangen. Kieran schnaufte. »Wer hat sich diese Konstruktion erdacht?!«, brummte er. Sein Begleiter lachte. »Das wissen die Götter.«Der Luftstrom verstärkte sich und strich ihnen über ihre verschwitzten Hälse und Gesichter. Die bleierne Schwere löste sich und machte einer frischeren Kühle Platz. Der unterirdische Gang wurde breiter und höher. Schließlich mündete er in eine Art Halle. Sie ähnelte jener der Hüter in seiner Welt. Hier aber sah er kein dickes Bündel roter Fäden. Der Saal lag vollkommen verlassen vor ihnen. Sand bedeckte den Boden. Wandhalter enthielten vereinzelt leuchtende Steine. Ein spärlicher, orange wirkender Lichtschein erhellte die Umgebung. Trotz des Schimmers auf Wänden und Boden herrschte eine bedrückende Atmosphäre im Raum. »Wo sind die Wächter?«, fragte Kieran. Sein Begleiter antwortete nicht. Er trat bereits den Rückzug an und war drauf und dran, ihn in dieser sandigen Höhle allein zu lassen. Ihm blieb keine Zeit, um sich mit dem flüchtenden Wanderer zu befassen. Ein Geräusch drang an sein Gehör. Kieran neigte den Kopf und runzelte angestrengt die Stirn, um den Ursprung besser ausmachen zu können. Da sah er es schon. Ein dünnes Rinnsal feinsten Sandes rieselte von der in Schatten verborgenen Decke herab und in die Mitte der Halle. Dort oben herrschte absolute Finsternis. Das hatten dieser Ort und die heilige Stätte in seiner Welt gemeinsam. Korn für Korn türmte sich der Sand auf. Der Nomade hinter ihm war kaum noch im Tunnelgang auszumachen. Am liebsten wäre er ebenfalls geflüchtet. Bevor alles einstürzte und er unter Sand begraben wurde. Stattdessen verharrte er an Ort und Stelle, die Hand am Griff des einzigen Dolches, den ihm die Wüstenwanderer überlassen hatten. Das Rieseln veränderte sich, wurde lauter, summte und brummte, wie in einem Bienenstock. Eine kräftige Vibration durchzog die Halle und fuhr ihm durch sämtliche Glieder. Schließlich fiel das letzte Sandkorn herab. Es glitzerte, als würde es von einer eigenen Lichtquelle angestrahlt. Trotz der Ungewissheit wuchsen die Faszination und das Interesse in ihm und er trat einen Schritt vor. Kieran starrte auf den unförmigen Haufen vor sich. Er hatte so etwas noch niemals zuvor gesehen. Der Sand bewegte sich, bildete Wölbungen und Erhebungen, wo vorher keine waren. Plötzlich stürzte es in sich zusammen wie bei einem Ballon, aus dem die Luft entwich. Ein dumpfer Ton folgte der Bewegung. Er dröhnte grollend durch Kierans Adern. Hilflos sank er auf die Knie und presste sich die Hände auf die Ohren. Jedes einzelne Sandkorn strahlte lichterloh, sodass er kaum noch hinsehen konnte. Er hielt sich einen Arm vor das Gesicht, um den grellen Lichtschein zu mildern. Gleichzeitig versuchte er, den Sand im Blick zu behalten. Die Sandkörner rollten wie winzige Murmeln in seine Richtung. Das Grollen verstummte.Kieran stolperte zwei Schritte zurück. Dabei griff er hastig nach dem Dolch in seinem Hosenbund und stieß gegen eine der Sandmauern. Erschrocken blickte er um sich. Die Wände rückten näher. Eine andere Erklärung hatte er nicht. Überall schossen rote Fäden aus den sandigen Mauern. Aus jeder Ritze kamen sie hervor, wickelten sich blitzschnell um seine Gliedmaße. Sie umklammerten ihn, fixierten ihn an Ort und Stelle. Der Druck, den sie auf ihn ausübten, nahm zu. Sie umwickelten die Handgelenke wie bösartige Schlangen. Er zischte vor Schmerz. Die Fäden rissen seinen Arm zurück. Er prallte hart gegen die Mauer und die einzige Waffe entglitt seinen Fingern. »Was passiert hier?«, rief er. Sein Begleiter war längst auf und davon. Nur das leise Echo der eiligen Schritte war noch hörbar, ehe es einen Moment später verklang und Stille sich breitmachte. »Was soll das?«, ertönte eine Stimme, deren Lautstärke ihm in den Ohren schmerzte. »Was willst du?« Kieran zerrte an den Fesseln, aber sie gaben nicht nach. »Ich suche die Hüter«, keuchte er. Die Fäden drückten stärker gegen seine Gelenke. »Warum bist du hier?«, ertönte die Stimme um ihn herum. »Ich brauche Antworten!«Der Sand veränderte sich. Die Körner erhoben sich vom Erdboden wie Insekten, schwirrten durch die Luft und umkreisten einander wie ein aufgebrachter Bienenschwarm. Wind toste durch die Halle und erzeugte einen Sandsturm. Kieran kniff die Augenlider zusammen. Die Sandkörner fügten sich zu einer Gestalt. Ein funkelnder Wirbelsturm umhüllte sie für die Dauer eines Wimpernschlags. Dann wurde es erneut still in der Halle. Der Wächter unterschied sich von jenen Auserwählten, die im Reich der Elfen das Vermächtnis der Fäden hüteten. Dieser hier hatte nicht das Aussehen eines Mönchs oder geflügelten Dunkelelfen. Der Mann näherte sich ihm mit gemächlichen Schritten. Er trug einen Umhang, der über den Boden glitt und eine Spur im Sand hinterließ. Perlen zierten den Stoff und ließen ihn bei jedem auftreffenden Lichtstrahl funkeln wie die Sandkörner vorher. Der Saum war mit roten Fäden durchsetzt. Der Hüter betrachtete ihn mit sandig-gelben Augen.»Welche Fragen führen dich zu mir, Elfenkönig?« Das ohrenbetäubende Dröhnen blieb aus. Nun klang dieses Wesen nahezu menschlich. Einzig ein leises Knirschen, als hätte er Sand zwischen den Zähnen, begleitete die Silben. »Du weißt, wer ich bin?« Ein überhebliches Grinsen verzog die dünnen Lippen des Hüters. »Ich bin der Wächter in dieser Welt. Ich weiß, dass du nicht hierhin gehörst, Kieran Maktùr.« »Dann kannst du mir vielleicht-« »Zeit und Raum sind keine Spielzeuge. Wir schicken nicht wahllos Leute von einer Welt in die nächste.« »Der Tod schreckt nicht davor zurück.« Der Hüter lachte. Es klang wie das Schleifen von Metall. Kieran fröstelte. »Der Tod ist ein Narr, ein trotziges Kind, das sich weigert, der Natur zu folgen.« »Aber er bedroht meine Welt!« »Drohgebärden, lächerlich.« Der Wächter seufzte und die Fäden um Kierans Gelenke lösten sich etwas. »Nichts anderes ist von dem alten Knochenmann zu erwarten.« »Was meinst du damit?« Die Sandaugen musterten ihn. Er trat näher und streckte die Hand aus. Die Finger des Sandmanns waren lang und schmal mit spitz zulaufenden Nägeln. Eine Fingerspitze fuhr über Kierans Umhang. Auf Brusthöhe hielt er inne. Ein dunkles Grollen hallte bebend durch die Halle. »Woher hast du das?«, knirschte er. In seinen Augen glitzerte Sand wie Hunderte Dolchspitzen. »Weißt ausgerechnet du das nicht?«, spottete Kieran in Elfenmanier, ehe er sich hindern konnte. Prompt zogen sich die Fesseln wieder zu. Sie schnürten ihm die Gliedmaße ab, die ohnehin kribbelten oder völlig taub waren. Der Hüter brachte sein Gesicht so nahe an ihn heran, dass er die sandigen Poren deutlich sehen konnte. Jede Einzelne mutierte zu einer Spitze, scharfkantig wie der Dolch zu seinen Füßen. »Vorsicht, minderwertige Kreatur«, grollte der Wächter. In seinen Augen tobte ein Sandsturm. »Du darfst den Zwirn nicht besitzen.« »Aber der Tod schickte mich damit hierher.« »Die Fäden sind Teil der heiligen Besitztümer der Schöpfung. Sie sind fest mit der natürlichen Ordnung verbunden. Du kannst ihn nicht behalten. Gleichgültig, was der Grund sein mag.« »In meiner Welt gab es einen Verräter unter den Hütern. Der Tod raubte den Faden von ihm, um seine eigenen Ziele zu verfolgen und sein Schattenreich auszudehnen«, platzte es aus Kieran heraus. »Wenn ich diesen Faden verliere, verliere ich jede Verbindung zu meinem Reich!« Der Sandmann musterte ihn. Dann schüttelte er den Kopf. »Es gibt keine Ausnahmen.« Kierans Blick glitt an dem Wächter vorbei. Entlang der Wände tauchten weitere Hüter auf. Allein die Schlichtheit ihrer Umhänge unterschied sie vom Sandmann vor ihm. »Schön!«, knurrte Kieran. »Aber was ist mit dem Tod, hm? Er will nicht nur mich umbringen. Er will die Schleier heben und das Schattenreich über jede Welt bringen. Er hat kein Interesse daran, einzelne Leben zu nehmen. Er fordert mehr.« »Das ist unmöglich. Der Tod ist nicht in der Lage, sein Reich derart auszubreiten. Wir Hüter tragen die Verantwortung für die Schleier zwischen den Sphären. Wir wachen über die Fäden, die die Welten wie Adern durchziehen. WIR schützen die natürliche Ordnung im Universum, nicht der Knochenmann.« »Ihr seid Narren, wenn ihr das denkt.« Erneut zerrte er an den Fesseln, die rot wie Blut schimmerten. Er durfte nicht zulassen, dass der Hüter den magischen Zwirn und alle Macht bei sich behielt. Wie sonst sollte er je wieder zu Ariana durchdringen? Er brauchte den Faden. Es war seine einzige Chance. Der Sandmann packte Kierans Umhang und griff zielsicher in die Tasche und beförderte den Faden in einer fließenden Bewegung hinaus. Selbstgefällig hielt er ihn zwischen Daumen und Zeigefinger. »Dieser Faden gehört zurück in die heilige Ordnung. Geh und finde deine Bestimmung, Elfenkönig. Deine Fragen sind beantwortet.« Die Fäden lösten sich von ihm und krochen wie Schlangen in die Mauern zurück. Kieran stolperte von der Wand weg, auf den Hüter zu, und stürzte mit einem rauen Schmerzenslaut auf die Knie. Seine Füße waren taub. Er hatte kein Gefühl mehr in den Fingern, deren Kuppen sich bereits hellblau färbten. Sein Atem wirbelte Sand auf. Das intensive Kribbeln, das seine Glieder befiel, ließ ihn stöhnen. Es fühlte sich an, als steckte er Hände und Füße in einen Ameisenhaufen. Mehrmals schüttelte er sie aus und drückte sie gegen seine Brust. Dann zwang er sich auf die Knie und auf die Füße zurück. Er biss die Zähne zusammen und stolperte zum Hüter herum. Der stand bloß da und musterte ihn. Natürlich war der Versuch Wahnsinn. Schließlich war er ein Wächter, seit Jahrhunderten dazu auserkoren, in diesen heiligen Hallen zu wandeln. Aber er brauchte den Faden zurück. Kieran stolperte vorwärts. Er umklammerte das Handgelenk des Sandmanns und griff mit der anderen Hand nach der Faser. Sie schimmerte immer noch zwischen den Sandfingern. Fast konnte er sie zwischen seinen eigenen Fingern spüren. Da rieselte es und das Gelenk des Wächters zerfiel zu Sand. Fassungslos starrte er ihn an. Sein Blick glitt zum Gesicht des Sandmannes, der den Faden seelenruhig im Umhang verstaute. »Wenn ich ihn nicht bekomme, sind alle verloren«, sagte Kieran. »Mein Reich, mein Bruder ...« »Die Sklavin?« Er zuckte zusammen. »Wir Hüter wissen um den Lauf der Zeit. Uns ist wohlbekannt, dass du dich zu einer Menschenfrau aus einer anderen Welt – einer Minderen in deinem Reich – hingezogen fühlst. Dass du dich entgegen der Natur in sie verliebt hast.« Das Blut rauschte ihm in den Ohren. Alle Erfahrungen der letzten Jahrhunderte mahnten ihn zur Vorsicht. Doch der Herzschlag in seiner Brust, die qualvoll pochende Erinnerung an Ariana trieben ihn hitzköpfig vorwärts. Der Hüter wich rieselnd zur Seite hin aus. »Du willst zu dieser Menschenfrau. Um jeden Preis. Jede jämmerliche Zelle verlangt, dieser Minderen nahe zu sein. Du willst zu ihr, weil dein einfältiges Herz dir so gebietet. Weil du immer noch nicht erkannt hast, welche Rolle du in der Ordnung einnimmst. Du brennst für sie.« Er starrte den Wächter an, die Fäuste geballt und die Zähne angespannt zusammengebissen. Der Hüter fuhr fort: »Was ist mit deiner Heimatwelt, Kieran Maktùr? Was ist mit den Elfen dort? Mit all den Missständen? Der Sklaverei? Warst du nicht derjenige, dem dieser Zustand nicht behagte? Der nicht wagte, sich seinem eigenen Volk zu widersetzen, obwohl du ihr Gebieter warst? Willst du die Menschenfrau, an die du dein Herz so fest gehängt hast, wieder mitnehmen ins Elfenreich? Was soll aus dieser Prinzessin werden, die du liebst?« Kieran sah zu Boden. Widerstrebend gestand er sich ein, dass der Hüter in dem Punkt recht hatte. Er durfte den Emotionen nicht leichtfertig nachgeben, wenn so viel mehr auf dem Spiel stand. Er dachte an das schwarze Nichts, das seine Welt bedrohte. An all die Menschen, die für die Elfen arbeiteten. All die Brandmale, die Zeichen der Zugehörigkeit auf ihren Leibern ... »Ich muss sie wiedersehen.« »Das sollst du.« Sein Kopf fuhr hoch. »Wie?« Der Sandmann lächelte. Der Sand toste um Kieran herum und hüllte ihn ein. Er wollte schreien, dem Sandsturm trotzen und gleichzeitig entgehen. Der Sand wirbelte um ihn her, wirbelte ihn umher – und brachte den Wandel. Er bemerkte es tief in seinem Inneren. Sie entrissen ihm etwas Entscheidendes. Und er konnte nichts dagegen tun. Der Sturm legte sich. Die Hüter waren fort. Ebenso der Sand und die Halle. Es gab keine Fäden um ihn herum, keine Anzeichen für die Wüste. Stattdessen hockte er mitten auf einer belebten Straße mit groben Pflastersteinen, die vom Regen nass glänzten. Die Menschen um ihn herum starrten befremdet auf ihn herab. Einige flüsterten miteinander, andere schüttelten den Kopf. Wieder andere wandten hastig den Blick ab. Er setzte sich auf und bemerkte dabei seine bemitleidenswerte Erscheinung. Er trug einen fadenscheinigen groben Umhang in dreckigem Braun am Leib – mehr nicht. Entsetzen und Beschämung stellten sein Empfinden auf den Kopf. Hektisch raffte er den dünnen Stoff um sich. Er schwankte, ihm schwindelte kurz, und er taumelte zwei Schritte zur Seite. Dort prallte er mit einem Mann zusammen, der ihn murrend von sich stieß. Das Pflaster unter seinen nackten Sohlen war schmierig, kaltnass und finster wie die Nacht. In der Ferne hörte er Marktschreier Handelsware anpreisen. Die Häuser waren ihm fremd. Wo war er gelandet? Er hatte diesen Ort niemals zuvor gesehen. Woher kam er? Wie sah sein Leben aus? Wer war er? Verzweiflung wallte in ihm auf. Er runzelte aufgebracht die Stirn. Er zerbrach sich den Kopf, hielt ihn fest umklammert, als könne er seine Erinnerung auf diese Weise zurechtrücken. Und doch fand er keine Antworten. Wie war sein Name? Er hatte keine Ahnung. All seine Erinnerungen waren zu einem dunklen Loch mutiert, das alles verschluckte und im Geheimen hielt. Es gab sie noch, das fühlte er. Sie existierten. Gleichzeitig fiel ihm überhaupt nichts ein. Diese Erkenntnis führte ihn unumstößlich zu den beiden nächstliegenden Fragen: Was war mit ihm passiert und was sollte er jetzt tun?

03 – Wissen

Die Dunkelheit wich zurück, um dem neuen Tag Platz zu schaffen. Vor dem Fenster prasselten die Regentropfen auf das Gestein des Palastes. Ariana lauschte einem Augenblick dem steten Klopfen und Rauschen. Am Horizont lockerte die Wolkendecke bereits auf. Sobald die Sonne sich zeigte, würden sie und Fionn umziehen. Der Gedanke bereitete ihr Bauchschmerzen. Sie waren seit zwei Wochen verheiratet, aber all die Zeit mit dem breiten Ring am Finger änderte ihre Gefühle nicht. Sie liebte ihren Ehemann nicht, würde es nie. Er war ihr bester Freund. Ihr Vertrauter. Immer wieder erklärte er ihr seine Liebe und dass er als Mann mehr von ihr begehrte als ihre Freundschaft. Doch all seine Beteuerungen, all sein Bitten und Fluchen änderten nichts. Sie war trotz allem nicht fähig, ihr Herz zu öffnen, um ihn hineinzulassen. Seit ihrer Rückkehr aus dem Reich der Elfen war es ihr unmöglich, einen anderen als Kieran Maktùr zu lieben. Jede Nacht erinnerte sie sich an den Elfenkönig. Er war ihre persönliche Seelenkrankheit. Sie vermisste ihn so sehr. Immer wenn sie Fionn nicht länger ausweichen konnte, war es der Dunkelelf, der ihre Gedanken einnahm. Er half ihr durch all die finsteren Stunden der Nacht, machte ihr den ehelichen Beischlaf eine Winzigkeit aushaltbarer. Dabei war alles grundlegend falsch. Sie kam sich vor wie eine Betrügerin. Die Nächte neben oder unter dem Prinzen erschienen ihr wie ein doppelter Betrug. Obwohl sie ihn anflehte, heulte, fluchte und bettelte, konnte sie ihn nie abhalten. Und in der letzten Nacht war schließlich das Unaussprechliche geschehen: Sie hatte seinen Namen gesagt. Es war lediglich ein hilfesuchendes Flüstern gewesen. Doch Fionn hatte es gehört. Vermutlich würde sie nie vergessen, wie er sie danach angesehen hatte. Er sprach seither kein Wort mehr zu ihr. Stattdessen hatte er sich komplett von ihr zurückgezogen. Er hatte sie mit den erniedrigenden Gedanken, der Verwirrung und der Last der Schuld, die sie trotz allem empfand, alleingelassen. Es sollte sie erleichtern, dass er ihr fernblieb. Immerhin verschonte sie dieser Umstand von seinen körperlichen Zuwendungen. Doch die Erleichterung kratzte nur kurz an der Oberfläche ihrer Gefühle. Vielmehr lag ihr Herz abermals in Scherben. Sie hatte nicht nur die Liebe ihres Lebens in einer anderen Welt zurücklassen müssen, sondern ebenso ihren besten Freund verloren. Als wäre all das nicht schlimm genug, hatte sie ihre Verpflichtung als Prinzessin von Tarnàl sträflich vernachlässigt. Mit ihrer unbedachten Äußerung und Rebellion gegen die Ehe riskierte sie die Allianz, die beide Reiche einen sollte. Jetzt saß sie im Schimmer der Kristalle vor dem Spiegel und starrte in ihr fahles Gesicht. Das Puder, das sie nutzte, half ihrem Teint auch nicht weiter. Ihre Augen waren dunkel umrandet. Eine erschütternde Röte füllte das Weiß ihrer Augen und in ihre Stirn hatte sich eine dünne Sorgenfalte eingegraben. Die halbe Nacht lang hatte sie sich ihrem Schmerz und damit den Tränen der ohnmächtigen Hilflosigkeit ergeben. Neue Verzweiflung verengte ihr die Kehle, da ging die Tür auf und Fionn kam herein. Bei seinem Anblick verkrampften ihre Muskeln. Stockstarr sah sie ihn an, wischte sich geistesabwesend über die Wangen, um die Spuren ihres Kummers zu verwischen. Er beachtete sie kaum. Der Bartschatten zierte sein sonst gepflegtes Gesicht. Unter seinen Augen waren ebenfalls Schatten sichtbar. Das Hemd war zerknittert und sie erkannte sandfarbene Tropfen auf der Knopfleiste. Offensichtlich war die Nacht an ihm ebenso schlecht vorübergegangen wie an ihr. »Fionn, es-« Er hob abwehrend die Hand. »Sag kein Wort. Wir müssen uns fertigmachen, die Kutsche steht zur Abfahrt bereit.« Die Scherben ihres Herzens wurden bleiern. All die ungesagten Worte, all die neue Feindseligkeit zwischen ihnen, verdichteten sich in ihrem Hals zu einem mächtigen Kloß, den es runterzuschlucken galt. Sollte ihre Ehe so aussehen? Ihre Zukunft und ihr Leben? Sie schluckte abermals und kniff die Augen fest zusammen, bis es schmerzte und die Tränen keinen Raum mehr hatten, um zu fließen. Ariana zwang sie zurück in ihren Körper und zurück in ihr Herz. Sie strich mit der Bürste durch ihre weißblonden Haare. Dabei verfolgte sie, wie Fionn zügig die Kleidung wechselte, ihr keinen einzigen Blick zuwarf, und an die Tür trat. Wie würde er mit ihr umgehen, sobald sie in seinem Heim angekommen waren? Schnell verbannte sie den Gedanken. All die Spekulationen und unlogischen Ängste halfen nicht. Vielmehr galt es, den angerichteten Schaden zu begrenzen. Wenn sie ihn wirklich verlassen wollte, wäre nicht nur ihre Existenz als Prinzessin gescheitert. Das Volk würde ihn kaum mehr als Herrscher anerkennen oder respektieren. Selbst jetzt weigerte sie sich, der Reputation ihres besten Freundes einen derartigen Schaden zuzufügen. Noch bestand Hoffnung, dass sie ihren Kindheitsfreund zurückbekam, jenen Mann, der er gewesen war, bevor sie spurlos verschwunden war. Ihr Innerstes sträubte sich vor der Möglichkeit, er könne sie lediglich als zweckdienliches Mittel betrachten. Ein Instrument, um seine Macht in den Reichen endgültig auszuweiten. Ihr ging es vielmehr um das, wonach sie sich seit ihrer Rückkehr mehr denn je sehnte: einen Freund. Einen, mit dem sie reden konnte, der sie verstand, ihr Glauben schenkte und mit ihr scherzte. Stattdessen jedoch ... Ihr Blick begegnete seinem im Spiegel. Keiner sagte was. Die Stimmung war gedrückt. »Ich gehe vor«, brummte er schließlich und verließ das Zimmer wieder. Ariana zählte langsam bis zehn, dann erhob sie sich und ging ebenfalls hinaus.

***

Alle Habseligkeiten waren verstaut und die letzten Pferde gesattelt. Die Kutsche stand bereit und hinter den Wolken kam endlich die Sonne hervor, um sie zu wärmen. Ariana blickte auf den Palast zurück. Sie sah das schmale, lang gezogene Fenster ihres alten Zimmers im Sonnenlicht schimmern. Ein Seufzen kroch ihr über die Lippen. Sie nahm in der Kutsche Platz und wartete. Fionn besprach sich mit dem Kutscher und hielt sich aufrecht in seiner herrschaftlichen Robe. Obwohl ihm die rechte Hand fehlte, fiel diese Einschränkung mittlerweile kaum noch auf. In der kurzen Zeit des Verlustes hatte er sich mit dem Stand der Dinge abgefunden. So, wie er sich mit ihr und ihrer Ehe arrangiert hatte, schoss es Ariana zynisch durch den Kopf. »Prinzessin«, wandte er sich nach einem Moment ihr zu. Sein Blick war hart, seine Stimme unterkühlt. »Ich habe alles geregelt. Wir reisen abseits der Hauptstraßen. Auf diese Weise kommen wir rascher voran und treffen heute am späten Nachmittag in Farnàl ein.« »Dein Vater ist informiert?«, fragte sie, nachdem er sich ihr gegenüber hingesetzt hatte und die Tür verschlossen worden war. »Er erwartet uns, sei unbesorgt.« »Ich bin nicht besorgt.« Er warf ihr einen gönnerhaften Blick zu, der sie ärgerte. Als wüsste er, was in ihr vorging. Sie sah weg und schwieg. Ein weiteres Mal schluckte sie den Ärger hinunter, der ihr den Magen verätzte, sobald Fionn sich ihr gegenüber blasiert gab. Es nützte nichts, wenn sie ihn darauf ansprach. Das hatte sie bereits hinter sich. Er nickte, beteuerte Entschuldigungen und änderte doch nichts an seiner Art ihr gegenüber. Es war ein Sakrileg im Ehebett den Namen eines anderen zu flüstern. Nun war es aber geschehen. Sie konnte es nicht wieder zurücknehmen und ungeschehen machen. Alles in ihr drängte schuldbewusst danach, die Verhältnisse mit Fionn zu klären. Aber ihn interessierte das offenbar nicht. Dabei standen ihnen Stunden in dieser beengten Kutsche bevor. Eine Zeit, in der unmöglich war, sich zurückzuziehen. Zudem würde sich niemand sonst um ein lockeres Gespräch bemühen. Sie waren völlig allein mit sich und all den schrecklichen Gedanken und Gefühlen. Ariana straffte die Schultern. Sie sammelte genug Mut und sah zurück zu ihm. Er hielt die Augen geschlossen und lehnte entspannt am Rückenpolster. Sie räusperte sich. »Stimmt was nicht?«, fragte er, ohne die Liddeckel zu heben. »Da du fragst: Nein.« Träge blinzelte er. Dann sah er sie unter den halbgeschlossenen Augen hinweg an. »Und was mag das wohl sein?«, murmelte er. »Letzte Nacht-« Er stöhnte genervt. »Ich will darüber nicht reden. Warum willst du es so unbedingt?« »Weil die Situation zwischen uns steht.« »Wir müssen nichts klären«, entgegnete er. In seinen Augen blitzte es. »Du hast den Namen eines anderen genannt, als eigentlich meiner über deine Lippen kommen sollte.« Er zuckte ruckartig mit den Schultern, als wollte er etwas abschütteln. »Was gibt es da zu klären?« »Es tut mir leid, Fionn.« »Gut. In Ordnung. Ich akzeptiere also und nehme deine Entschuldigung an. Zufrieden? Versprich mir, dass das nie wieder passiert.« Sie nickte zügig, ehe sie es sich anders überlegen konnte. Vor dem Fenster der Kutsche beobachtete sie, wie der Palast ihres Vaters kleiner wurde. Sie fühlte sich nicht wohl mit dem Gedanken, dass Fionn ihre Entschuldigung zum Schein angenommen hatte. Daran war etwas falsch. Gleichzeitig hatte sie keinerlei Ahnung, wie sie die Verhältnisse zum Besseren wenden konnte. Sie dachte an ihren Lesesessel. Von dort aus war sie in die fremde Welt und dem Elfenkönig vor die Füße gefallen. Es war ihre Vergangenheit. Vor ihr lag die Zukunft. Wer wusste, ob sie und Kieran sich je wiedersahen?

***

Die Kutsche hielt vor dem Haupttor von Farnàl. Es bestand aus meterhoher Schmiedekunst, deren schwarze Spitzen abschreckend zum Himmel zeigten. Der Mittag war längst verstrichen und die Abendsonne lugte zwischen den Wolken hervor. Ariana lehnte sich näher zum Fenster, um ihr neues Heim genauer zu betrachten. Zuerst fielen ihr die Ziegel und Schindeln des Palastes auf. Blutrot schimmerten sie im Sonnenlicht. Beklemmung stieg frostig in ihr auf. Sie rieb sich die Hände, als könnte sie auf diese Art das Frösteln abschütteln, dass sie bei dem Anblick heimsuchte. Im Palast ihres Vaters waren sämtliche Mauern glatt verputzt und strahlendweiß. Sie vermittelten eine Offenheit und Freundlichkeit, die sonst nirgends zu finden war. Hier hingegen wirkte alles dramatisch, übertrieben bedrohlich und abschreckend. »Es ist lange her, dass ich dein Zuhause besuchte«, meinte sie. Fionn schnaubte. »Wir waren immer in Tarnàl. Es gab keinen Grund für dich, ausgerechnet hierher zu kommen.« Bitterkeit begleitete seine Stimme. Er hielt die Aufmerksamkeit auf das gegenüberliegende Kutschenfenster gerichtet. Dort rauschte die rote Farbe vorbei, kaum dass sich die Kutsche wieder in Bewegung setzte. »Ich habe kaum eine Erinnerung daran. Es ist ganz anders als Tarnàl«, meinte sie. »Du bist jetzt hier zuhause«, antwortete er ihr. »Ich weiß«, erwiderte sie. »Wann warst du zuletzt bei deinem Vater?« »Ich verbrachte das letzte halbe Jahr mit der Suche nach dir. Hast du das vergessen?« Endlich sah er sie an. »Anders als du hatte ich keine Muse, um mich anderweitig umzusehen.« Schmerz erfüllte sie. »Das wollte ich nicht.« Ihre Stimme war bloß noch ein Flüstern. Es tat ihr leid, dass sie ihm Probleme bereitet hatte. Fionn machte eine abwehrende Bewegung. »Jedenfalls war ich lange nicht hier. Der Tod meiner Mutter bot den letzten Anlass für einen Besuch.« »Ich verstehe.« Ariana senkte den Blick auf ihren Schoß. Genau wie sie hatte er seine Mutter bereits vor Jahren verloren. Während die Königin von Tarnàl als verschollen galt, war Fionns Mutter verstorben. Der Prinz verbrachte daraufhin deutlich mehr Zeit in Tarnàl. Alle vermuteten, es lag an der bevorstehenden Verlobung mit Ariana. An ihrer Allianz. Der Verbindung ihrer beider Häuser miteinander. Dabei war es mehr als Freundschaft, die ihn mit ihr verband. Das auf den Tod der Königin folgende Staatsbegräbnis ließ die Herrscher solidarisch zusammenrücken. Doch der Prinz war seitdem mit seinem Vater zerstritten. Ariana hatte sich damals bemüht, ihm in dieser schwierigen Zeit beizustehen. Sie ahnte nicht, dass ihr Verhalten den Gerüchten über eine baldige Vermählung neues Futter gab. Zu dem Zeitpunkt war es ihr sogar gleichgültig gewesen, was die Bevölkerung dachte. Es hatte sie einfach nicht gekümmert. Jetzt jedoch war alles anders. »Dann hat dein Vater all die Zeit allein hier verbracht?« Fionn schüttelte den Kopf. »Nicht doch.« Erneut vernahm sie den bitteren Tonfall in seiner Stimme. »Er hatte ja genug Gespielinnen, die ihm den Alltag versüßten.« Schockiert starrte sie ihn an. Er stellte seinen Vater als Schwerenöter dar. Dabei erinnerte sie sich unweigerlich an ihre eigene Zeit am Hof des Elfenkönigs. Auch dort hatte sie mit derlei Gerüchten zu tun gehabt. Der Gedanke erhitzte ihr die Wangen. »Bist du sicher?«, fragte sie und beobachtete, wie Fionn den Mund zu einem schalen Lächeln verzog. »Ich war es, der ihn oft genug mit einer erwischte.« Er schnaubte. »Zum Glück möchte ich hinzufügen. Es war ein günstiger Zufall, dass ich es war und nicht meine Mutter. Das hatte sie nicht verdient.« »Entschuldige«, entgegnete Ariana nach einem Augenblick. »Ich wollte keine schlechten Erinnerungen wecken.« Fionn zuckte mit der Schulter. »Es ist ewig her. Die Mätressen waren der Grund, warum ich fernblieb. Ich weiß nicht, was geschehen wäre, wenn ich länger geblieben wäre.« Er ballte die Hand im Schoß zu einer Faust. Eine Welle von Mitgefühl erfasste Ariana. Sie gab sich einen Ruck und neigte sich vor, um sie mit ihren zu umschließen. Früher standen sie sich nahe. Da war das Ergreifen einer Hand eine freundschaftliche Geste und mehr nicht. Jetzt aber tat sie es mit einem flauen Gefühl in der Magengrube. Sie sah ihm ins Gesicht und sagte: »Es spricht für dich, dass du die Distanz gesucht hast.« »Findest du? Ich hätte meiner Mutter helfen können, wenn ich geblieben wäre.« »Dich trifft keine Schuld, Fionn. Wir wissen nicht, was im Einzelnen geschah, oder?« Er seufzte. Seine Hand öffnete sich und er umfasste ihre Finger. »Die Diener sehen das anders. Es gab Gerüchte, Ari. Viele Gerüchte. Keines davon warf ein gutes Licht auf meinen Vater. Ich will alles dafür tun, um nicht wie er zu werden.« »Natürlich«, entgegnete sie mit einem Lächeln. In dem Moment hielt die Kutsche an. Er löste ihren Kontakt und griff an ihr vorbei, um die Tür zu öffnen. Ein bereitstehender Diener verneigte sich. »Willkommen zurück in Farnàl, Prinz Fionn nebst Gemahlin, Prinzessin Ariana von Tarnàl.« Hohe Mauern umgaben sie wie ein unheilvolles Gemäuer, ein Labyrinth des Todes. Sie fröstelte und schüttelte sich kurz, um den Schauer wieder loszuwerden. Nur wenige Fenster waren in die Wände eingelassen. Wachmänner standen vor sämtlichen Eingängen. Ariana lehnte diesen Zustand in ihrem Innersten sofort ab. Sie beschloss, mit Fionn darüber zu sprechen, sobald es sich ergab. Er ergriff ihren Arm und schritt mit ihr auf eine breite Eingangstür zu. Hier gab es keine Zugangstreppe wie in Tarnàl, keine freundlichen Gesichter, keinen großen Garten. Farnàl glich in all seiner Düsternis fast einer Grabstätte. »Da seid ihr endlich!«, erklang eine tiefe, kratzige, aber eindeutig erfreute Stimme. Ihnen eilte ein korpulenter, etwas klein gewachsener Mann entgegen. Ein warmes Lächeln dominierte seine Züge. Er breitete die Arme aus und zog erst sie, dann seinen Sohn in eine herzliche Umarmung. »Es ist lange her, Prinzessin«, meinte er. »Erlaube, dass ich mich ein weiteres Mal vorstelle: Ich bin Fionns Vater, König Persàl von Farnàl.« Ariana erwiderte die Begrüßung mit einem hoheitlichen Knicks. »Ich bin erfreut, Euch zu sehen, mein König.« »Ach, Mädchen«, fuhr er fort, kaum dass sie wieder aufrecht stand, »das wurde ja höchste Zeit!« Seine Stimme tönte weithin vernehmlich über den Hof. Ariana blinzelte irritiert. Niemand hatte sie je zuvor »Mädchen« genannt. Sie schaute zu Fionn hinüber, der jedoch nur mit der Schulter zuckte und ihre Hand in seine Armbeuge legte. Persàl deutete auf die Tür. »Lasst uns hineingehen. Ihr seid sicher erschöpft, durstig und hungrig von der Reise hierher. Wie geht es König Arlàn?« »Er grüßt Euch herzlich«, erwiderte Ariana. »Es ist Jahre her, dass wir uns begegnet sind. Damals weilte deine Mutter noch unter uns.« »Wir haben nie erfahren, ob sie tot ist.« »Sie verschwand einfach, nicht wahr? Verzeih, ich wollte sicher keine alten Wunden aufreißen.« Fionn schnaubte und Persàl wandte sich ihm zu. »Es ist auch schön, dich wiederzusehen, Sohn. Dein letzter Besuch wurde ja leider von einem anderen Ereignis überschattet. Es ist lange her.« »Spar dir das, Vater. Wir wissen beide, dass wir einander nicht viel zu sagen haben.« »So?« Der König sah seinen Abkömmling brüskiert an. »Dann frage ich mich allerdings, warum du mit deiner Frau überhaupt hergekommen bist?« »Über die Details sprechen wir besser drinnen. Ariana begleitet mich, da ich sie dir aus reiner Höflichkeit nicht vorenthalten wollte.« »Wie anständig von dir. Die Erziehung deiner Mutter hat in dem Fall wohl etwas genützt, nicht wahr?« Der schneidende Tonfall war Ariana unangenehm. Die Muskeln in Fionns Arm spannten sich unter ihrer Hand an und wieder ballte er seine Hand zur Faust. Sie räusperte sich. »Ich freue mich darauf, Farnàl näher kennenzulernen.« Persàl löste seinen Blick von Fionn und lächelte sie an. »Die Freude liegt ganz auf meiner Seite, Tochter von Tarnàl.« Sie ließen die Eingangstür hinter sich und betraten einen lang gezogenen Flur. Ariana betrachtete die rötlich gefärbten Wände, die Kristallleuchter, die von der Decke baumelten und die wenigen Fenster, die kaum Tageslicht spendeten und zudem von bodenlangen, schweren Vorhängen umrahmt wurden. Wie sollte sie sich an diesem Ort wohlfühlen? Es erschien ihr zunehmend unrealistisch, diesen Palast als Heim zu betrachten. Persàl öffnete eine Tür aus dunklem Holz und führte sie in den Raum. Es war nicht der Thronsaal, dafür war das Zimmer zu klein gehalten. Ein paar schlichte Sitzmöbel – zwei Stühle und ein Hocker – fanden sich darin. Ein Fenster neben dem ausladenden Kamin ließ natürliches Licht hinein. »Nun, Fionn«, begann Persàl und deutete auf die Stühle. »Was führt dich und deine wunderschöne Gemahlin hierher, wenn schon nicht deine Vermählung und der Verlust deiner Hand?« Als der Prinz einen Blick auf seinen Armstumpf warf, lachte Persàl. »Wir haben vielleicht kein gutes Verhältnis zueinander, aber denkst du nicht, dass ich es bemerken würde, wenn dir eine Gliedmaße abhandenkommt?« Einen Moment lang taxierten sie einander abschätzig. »Bitte«, sagte er, »setzt euch.« Dann wandte sich Persàl lächelnd Ariana zu. »Darf ich dir eine Erfrischung bringen lassen?« Sie nickte dankbar und der König übertrug einem Dienstboten den Auftrag. Anschließend schloss er die Tür, trat an den Kamin und lehnte sich lässig an den Sims. »Also? Was ist los?« Fionn räusperte sich. »Da du direkt fragst«, sagte er, »ich beabsichtige, mich zum neuen König von Farnàl ausrufen zu lassen.« Ariana erstarrte. Hegte er diese Absicht seit ihrer Hochzeit? Persàl schaute gelassen drein, wenn auch mit einer neugewonnenen Härte im Blick. »Ist das so?«, fragte er. »Ich habe eine Ehefrau, wohingegen du bloß ein alter Machthaber bist, der keine weiteren Nachkommen außer mir vorzuweisen hat. Es ist mein gutes Recht, als Prinz die Nachfolge des Herrschers anzutreten und dich abzusetzen. Ich hätte das bereits vor Jahren tun sollen.« »Hat er dir von seiner Intention erzählt?«, wandte sich Persàl an Ariana. Sie schüttelte den Kopf. »Du hast also nicht einmal daran gedacht, deine geschätzte Gattin einzuweihen? Wann ist dir die Idee zu diesem hinterhältigen Vorhaben gekommen, mein Sohn? Auf dem Weg hierher? Vorher?« Fionn ließ Arianas Hand los und verschränkte die Arme. »Das ist irrelevant. Ich werde es tun – mit oder ohne deine Einwilligung. Unsere Zukunft liegt in diesem Haus.« »Ach, eure Zukunft?« Der König erhob seine Stimme. Obwohl er und Fionn äußerlich kaum Ähnlichkeiten aufwiesen, zeigten sie sich in ihrem Charakter: Er ballte ebenfalls die Fäuste, als wollte er liebend gerne auf etwas – oder jemanden – einschlagen. »Du kommst hierher mit deiner Frau und beschließt einfach so, mich vor die Tür zu setzen? Was erlaubst du dir!« Der König schritt auf und ab. Der mühsam gezügelte Aufruhr war deutlich an seinen Zügen abzulesen. »Fionn«, flüsterte Ariana. Doch er ignorierte sie. »Die Gesetze Farnàls bieten mir ausreichend Machthabe, um meinen eigenen Vater zu entmachten und den Platz einzunehmen, sobald der Eindruck entsteht, der König sei zu alt oder unqualifiziert, der Verantwortung weiterhin gerecht zu werden.« Persàl stemmte seine Hände in die Hüften und schaute böse auf Fionn hinab. »Das findest du? Du glaubst, ich sei alt? Unqualifiziert? Denkst du denn, ich räume dir den Thron frei, bloß weil du nach einer Ewigkeit hier unvermittelt aufkreuzt und dein kleines Frauchen mitbringst – verzeih mir den unflätigen Ausdruck, Prinzessin. Offensichtlich habe ich mich all die Jahre in dir geirrt. Deine Erziehung wurde furchtbar vernachlässigt.« »Und wessen Schuld ist das?« Die beiden Männer starrten sich über Arianas Kopf hinweg an. Inzwischen war auch Fionn wieder auf den Beinen. Sie fochten einen unausgesprochenen Kampf aus und Ariana beschloss, dass sie nicht dabei sein sollte. Es war ein Problem zwischen Vater und Sohn, das bereits lange vor ihr gärte. Sie stand auf. »Wo willst du hin?«, blaffte Fionn, sodass sie zusammenzuckte. »Ich habt persönliche Angelegenheiten zu klären. Es ist eine Familiensache, da will ich nicht stören.« »Deine Gemahlin hat Anstand und Manieren. Ich stimme ihr zu. Sie sollte nicht Zeugin dieser unschönen Szene werden. Ich lasse ihr das Zimmer zeigen.« Persàl trat zur Tür. »Nein«, knurrte Fionn mit hochgezogenen Schultern. »Sie ist meine Frau, sie gehört zu mir und damit zur Familie. Sie kann sich ebenso wie du anhören, was ich zu sagen habe.« »Fionn«, wandte Ariana leise ein. »Bitte lass mich gehen. Das betrifft lediglich dich und den König.« Er starrte auf sie herab. Seine Augen blitzten gereizt wie ein eingesperrtes Tier. Sie las ihren Verrat in seinem Blick. Dennoch fuhr sie fort: »Du und dein Vater solltet diese Differenzen unter vier Augen ausräumen. Ich störe dabei und kann ohnehin wenig beitragen, um die Sachlage zu klären.« Ein langer Moment verstrich. Endlich richtete Fionn sich auf. »Schön«, gab er nach, »dann geh. Ich komme später zu dir und unterrichte dich über den Stand der Dinge.« Ariana ignorierte das Gefühl, das ihr bei seinen Worten tonnenschwer im Magen lag. Es klang wie eine Drohung. Aber das konnte nicht sein, versuchte sie sich zu beruhigen. Fionn würde ihr nicht vorsätzlich etwas antun, um sich für ihren Verrat zu rächen. Er war ihr Freund. Ihr Ehemann. Er liebte sie. Oder?

04 – Nichtwissen

Kieran fror am ganzen Leib. Die Leute um ihn herum boten ihm keine Hilfe an. Sie musterten ihn abschätzig und eilten hastig zu Orten weiter, die ihm ohnehin nichts gesagt hätten. Warum wusste er nicht, wer oder wo er war? Er stolperte um eine Häuserecke und stieß prompt mit jemanden zusammen. Vor Überraschung geriet er ins Straucheln. Seine Hand patschte haltsuchend gegen die nächstbeste Hauswand. »Pass doch auf, Junge!«, murrte der Angerempelte. Erstaunt wandte Kieran sich zu ihm um. »Was denn, was denn, hast du deine Stimme verschluckt?«, fragte der dickbäuchige, bärtige Kerl, der eine lederne Schürze um den Bauch geschlungen trug. »Was ist los mit dir, hm? Siehst ein bisschen seltsam aus, wenn du mich fragst. Wer bist du? Ich hab dich hier niemals nie gesehen.« Der Typ musterte ihn von oben bis unten. Das kurz geschnittene Haar schimmerte hell auf dem runden Schädel. Die Oberarme, deren Muskelberge von harter Arbeit erzählten, hielt er nachdenklich vor der Brust verschränkt. Er stand da und wartete mit einer Engelsgeduld. »Verzeihung, ich weiß nicht, wer ich bin«, brachte Kieran hervor. Seine Schultern sackten herab. Er fühlte sich schrecklich fehl am Platz. Trotz der Gedächtnislücke war er sich zumindest dieser Tatsache bewusst. »Du weißt es nicht? Wo gibt’s denn sowas?« Die breite Stirn des Schürzenmannes legte sich in skeptische Falten. »Ich habe meine Erinnerungen verloren und keinen Schimmer, wer ich bin oder was für ein Ort das hier ist. Und jetzt sagen Sie mir, dass Sie mich hier nie zuvor gesehen haben. Im Augenblick weiß ich nicht einmal, was ich als Nächstes tun soll.« Der Fremde schnaubte. Er deutete auf eine Tür im Mauerwerk der Gasse hintern ihnen. In seinen hellblauen Augen blitzte etwas auf. »Na, wenn das so ist, komm mit zu mir. Ich kann dir zumindest ein paar mehr Sachen zum Anziehen borgen, damit du nicht länger in diesen lausigen Stofffetzen herumirren musst.« »Danke.« Kieran folgte dem Kerl und betrat das schlichte Backsteinhaus. Die Ziegel waren bleich, die Tür aus hellerem Eschenholz gefertigt. Im Inneren fiel sein Blick zuerst auf den ausladenden Tisch in der Mitte des Raumes, auf dem eine Lampe stand. Sie fesselte seine Aufmerksamkeit kaum so sehr wie der hohe Kristall, der in einem tiefgrauen Sockel gefasst war und blassblau leuchtete. Kieran runzelte bei dessen Anblick die Stirn. »Setz dich, Junge«, murmelte sein Gastgeber und schob sich an ihm vorbei. Im Vorbeigehen warf er ein Holzscheit in den Kamin, wo bereits ein Feuer loderte. Die Wärme drang Kieran wohltuend in die Glieder, sodass er bereitwillig von der Tür weg und an den Tisch herantrat. »Mein Name ist Garlàn«, erklärte der Mann und stellte zwei Becher und einen Teekessel auf den Tisch. Der vertraute Geruch nach Kräutern stieg ihm in die Nase. »Ich bin der Schmied hier in Mérilan.« Der Name der Stadt war ihm unbekannt. Wo lag der Ort? Wie groß war er? Wer war das Oberhaupt und warum war er hier? Das ergab alles gar keinen Sinn. Er stand immer noch gedankenverloren herum. Da schnalzte Garlàn und packte eine breite Hand auf Kierans Schulter. Er schob seinen Gast zum Stuhl hin und drückte ihn darauf nieder. »Also«, fuhr der Schmied fort, während er eine Schüssel mit Wasser füllte und ein Tuch dazulegte, damit Kieran sich die inzwischen kohlschwarzen Füße waschen konnte. »Warum weißt du nicht, wer du bist? Was ist passiert?« »Wenn ich wenigstens das wüsste. Aber mein Gedächtnis ist komplett leergefegt.« Garlàn lehnte sich gegen ein Regal und verschränkte wieder die Arme vor der Brust. »Was ist das Letzte, an das du dich erinnerst?« Kieran grübelte. Jede Zelle in seinem Innern drängte darauf, das Geheimnis zu lüften. Doch so sehr er es versuchte, es ging nicht. Sein Kopf blieb leer. Frustriert stöhnte er und griff sich an die Schläfen. »Ich erinnere mich an gar nichts«, meinte er. »Bitte entschuldige, wenn ich dir Mühe mache ... Ich gehe besser wieder. Wer weiß, mit wem du es zu tun hast.« Er erhob sich und schob den Stuhl zur Seite. »Warte«, hielt Garlàn ihn zurück. Kieran blieb stehen und sah sich zum Schmied um. »Ich habe da eine Idee.« »Und welche?« »Es ist offenkundig, dass du ein Fremder in dieser Gegend bist. Allein dein dunkles Haar sorgt für Aufsehen. Deshalb musst du zum König. Er kann dir helfen.« Garlàn zuckte nachlässig mit einer Schulter. »Du musst ihn ohnehin aufsuchen, wenn du nicht von den Wachen aufgegabelt werden willst.« »Warum?«