Das Leuchten Deiner Seele - Hazel McNellis - E-Book

Das Leuchten Deiner Seele E-Book

Hazel McNellis

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Beschreibung

Verliebt, verlobt, verheiratet? Prinzessin Ariana möchte am liebsten davonlaufen. Ihre Verlobung mit Prinz Fionn lässt sie deshalb den einzigen Ort aufsuchen, der ihr eine kurze Flucht vor der Realität ermöglicht: die königliche Bibliothek. Aber ausgerechnet zwischen den Buchseiten stürzt sie in das unglaublichste Abenteuer ihres Lebens - in eine andere Welt. Eine Welt, in der unheilvolles Schwarz den Horizont bedeckt, boshafte Dunkelelfen regieren und Menschen wertlose Sklaven sind. Ariana purzelt an diesem Ort ausgerechnet Kieran vor die Füße. Der spitzohrige Elfenkönig hält sie für eine flüchtige Sklavin und nimmt sie kurzerhand mit. Dabei ahnt keiner von ihnen etwas von der merkwürdigen Anziehung zwischen ihnen, die fortan das Schicksal ihrer Welten neu schreibt...

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Hazel McNellis

Das Leuchten Deiner Seele

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Das Leuchten deiner Seele

Prolog

Teil 1 – der Fall

01 Verblasst

02 – Nichts

03 – Begegnung im Wald

04 – Suche

05 – Schwach

06 – In der Küche

07 – Nur eine Mindere

08 – Verlassen

09 – Lihana

10 – Ein Versuch

11 – Gerüchte

12 – Vermisst

Teil 2 – Macht der Kontrolle

13 – Zwischenmahlzeit

14 – Ariana

15 – Heilung

16 – Der Schlüssel

17 – Nur ein Faden

18 – Fragen

19 – Schuld, Scham und Wut

20 – Prozess

21 – Verurteilt

22 – Bedrohung

23 – Vertrauen

24 – Rastlos

25 – Die Hüter

Teil 3 – Die Bestrafung

26 – Abgeschnitten

27 – Heimkehr

28 – Verlobt

29 – Die Ordnung wiederherstellen

30 – Das schwarze Reich

31 – Vollstreckung des Urteils

32 - Im Krankenflügel

33 – Verdammt

Teil 4 – Im Schattenreich

34 – Henkersmahlzeit

35 – Beim Knochenmann

36 – Hochzeit

37 - Im Reich der Lebenden

38 – Verloren

39 – Chaos

Epilog

Dir hat die Geschichte gefallen?

Wie geht es weiter?

Impressum neobooks

Das Leuchten deiner Seele

Elfen, Teil 1

Ein Roman von Hazel McNellis

Prolog

In meinem Kopf hörte ich die anderen Seelen schreien. Das weißblaue Seelenlicht des Burschen schimmerte, verblasste zusehends. Es flackerte, sandte einen letzten Schein in die Welt, ehe die Schatten es erstickten. Der Körper erschlaffte und fiel zu Boden. Mich kümmerte der Kerl nicht länger. Ich hatte meine Aufgabe erfüllt und den Hunger gestillt – zumindest für den Augenblick.

Die unvermeidbare Zerstörung, die mein Dasein mit sich brachte, weckte die Unzufriedenheit in mir. Sie pochte wie ein verirrter Herzschlag. Ich bleckte die Zähne und knurrte. Denn ich hatte es satt, so verdammt satt. Es wurde Zeit für eine neue Ordnung.

Teil 1 – der Fall

01 Verblasst

Sie schnappte nach Luft. Das schwere Buch entglitt ihren zitternden Fingern und fiel mit einem dumpfen Geräusch zu Boden. Die Bibliothek schwankte, die vollgestopften Regale hoben und senkten sich unaufhörlich. Ariana kniff die Augen fest zusammen und lehnte sich in ihrem Sessel zurück. Ihre schweißnassen Hände umklammerten die weich gepolsterten, abgegriffenen Armlehnen. Langsam ebbte das Schwindelgefühl ab. Ihr Herzschlag und ihre Atmung beruhigten sich wieder. Sie berührte ihre eiskalte Stirn, ehe sie sich vorbeugte, um die heruntergefallene Lektüre aufzuheben. Ein leises Geräusch weiter hinten im Gang erregte ihre Aufmerksamkeit. Ariana hob den Blick. Schritte näherten sich ihrem Platz und Fionn trat um die Ecke. Er lächelte zögernd. »Hier steckst du«, sagte er, ehe er bei ihrem Anblick die Stirn runzelte. »Geht es dir gut?« »Ich habe bloß ein Buch gelesen« erwiderte sie. Sie genierte sich, ihm die Wahrheit zu sagen und zu erklären, dass sie einen Schwächeanfall durchlitten hatte. Sie war eine Prinzessin, die weder schwächlich noch anfällig war. »Natürlich.« Er nickte. Seine dunkelblauen Augen blitzten auf. Jeder im Land wusste, dass Arianas Herz an der Bibliothek ihrer Mutter hing. Wer sie suchte, traf sie hier, in ihrem Lesesessel, mit einem Buch in der Hand. »Was führt dich zu mir?«, fragte sie. Sein Lächeln versteifte sich. Er rang kurz die Hände und marschierte erst ein paar Schritte in die eine Richtung, bevor er kehrtmachte und zurückkam. »Wie lange kennen wir uns schon, Ariana?« »Das weißt du doch.« »Ja, selbstverständlich, welch dumme Frage, verzeih, bitte.« Er zögerte. Schließlich blieb er stehen. »Du bist meine engste Freundin, Ari- Prinzessin«, korrigierte er sich hastig. »Ich habe lange nachgedacht und möchte etwas mit dir besprechen.« »Und was wäre das?«, fragte sie und musterte ihn. Er benahm sich merkwürdig, regelrecht verdächtig. Was war los mit ihm? »Ich kann warten«, sagte er. Sie runzelte die Stirn. »Warten? Aber worauf denn?« »Auf dich, Ariana. Ich verspreche, nein, ich schwöre dir, dass ich auf dich warten werde, ganz gleich, wie lange es dauern mag. Ich wünsche mir, dass du aus freien Stücken eine Ehe mit mir anstrebst und nicht, weil es die Politik so verlangt.« Ariana schwieg. Sie wäre nie dem Gedanken verfallen, Fionn könne so etwas wie Liebe für sie empfinden. Sie hätte aber ebenso nie daran gedacht, dass er ein Gespräch mit ihr führen würde, das so verlief, wie jenes am gestrigen Abend …

Sie standen eine Weile still nebeneinander. Der blasse Halbmond schimmerte über ihnen und eine Handvoll Sterne glimmerte auf sie herab. Wenige Wolken verirrten sich über den nachtschwarzen Himmel. Sie war allein mit Fionn auf dem Balkon. Im Palast plauderten und lachten die Gäste miteinander. »Es wird mir eine Ehre sein, dich an meiner Seite zu wissen, Ariana«, murmelte er neben ihr. Sie sah zu ihm auf. »Vielen Dank, Prinz.« Er hob einen Mundwinkel, wandte sich ihr zu und umfing ihre Hand mit seinen beiden. Sie fühlte die kräftige Sanftheit durch ihren Handschuh hindurch. Er hob ihre Finger an die Lippen und hauchte einen Kuss auf ihre Fingerknöchel. Ein flaues Gefühl krauchte durch ihren Magen. Die Regung verstärkte sich und formte einen schweren Klumpen, als Fionn einen Schritt näher herantrat. »Ariana«, fing er an, »ich muss dir etwas gestehen.« Ein flüchtiger Ansturm von Panik floss durch sie hindurch. Schnell schob sie die Empfindung beiseite. Ihre Augen blitzten neckisch. »Nur zu«, scherzte sie, um über ihre Nervosität hinwegzutäuschen, »ich weiß, dass du mein Obst gestohlen hast, als ich nicht hinsah.« Verblüfft blinzelte er. Der Mund stand ihm offen. Er grinste und in seinen Blick trat ein warmer Glanz. »Ach, das …«, erwiderte er. Sein Daumen strich ihr über den Handrücken. »Das meinte ich gar nicht.« »Nicht?« Er schüttelte den Kopf. Dabei fiel ihm eine weißblonde Strähne vor das Auge. »Wir kennen uns schon so lange. Ich hätte es nie für möglich gehalten, aber du bist mir in den letzten Jahren wirklich ans Herz gewachsen.« Ariana lächelte und drückte Fionns Hand. »Du bist mir auch wichtig. Das weißt du doch.« »Natürlich, ja. Ich weiß … Was ich eigentlich sagen will, ist …« Sein Adamsapfel hüpfte. Der Prinz holte tief Luft, sog die Nachtluft ein und sah sie durchdringend an. »Ich liebe dich«, platzte er heraus. Erstaunen und Überraschung mischten sich. Sie starrte ihn an – und er senkte ertappt den Blick. »Natürlich verstehe ich, wenn du nicht so fühlst«, erklärte er und drückte erneut ihre Finger. Ariana hob ihre andere Hand und bedeckte seine Lippen für einen flüchtigen Moment. »Sprich nicht weiter«, bat sie. Sie sah sich um, ob jemand Fionns Worte gehört hatte. »Ich mag dich wirklich sehr. Wir kennen uns seit so vielen Jahren, wie könnte ich verschieden empfinden?« Sie zögerte. »Aber …« Er seufzte, gab ihre Hand frei und trat zurück. Der Schmerz in seinem Blick traf sie tief. »Du musst nicht weitersprechen«, sagte er. »Ich bedaure, dass du keine tieferen Gefühle für mich hegst, Prinzessin. Ich hoffe darauf, dass sich dies mit der Zeit ändern wird.« Er verneigte sich. Dann murmelte er eine Entschuldigung und verschwand durch die Flügeltüren ins Innere des Palastes.

Sein Geständnis hatte sie überrascht, sodass ihr die passenden Worte gefehlt hatten. Ariana erinnerte sich ungern an den Moment. Es war ihr unangenehm, dass er sie offen mit seinen Empfindungen konfrontiert hatte. »Ich will mich entschuldigen«, erklärte Fionn jetzt und sank vor ihr auf die Knie. Er griff in eine der Jackentaschen und zog die Hand behutsam wieder heraus. Er hielt eine blutrote Blüte aus dem herrschaftlichen Garten zwischen seinen Fingern und streckte sie ihr hin. »Ich habe mich gestern indiskret verhalten und offenbar eine Grenze überschritten. Ich hoffe, du verzeihst mir diesen Faux-pas.« Ariana nahm ihm die Blume aus der Hand. »Dafür musst du dich nicht entschuldigen«, murmelte sie. »Doch, Ariana. Ich war voreilig. Mein Geständnis hat dich überrumpelt. Auch jetzt sehe ich deutlich, wie deine Augen über einen Fluchtweg nachsinnen.« »Du hast mich nicht überrumpelt.« Ihre Wangen glühten. War sie so leicht zu durchschauen? Er schwieg, sodass sie sich genötigt sah etwas hinzuzufügen. »Ich danke dir für die Blume«, sagte sie. Sie hob die zarte Knospe an die Nase und atmete den schweren Duft ein. »Ich freue mich, dass sie dir gefällt. Es war nicht leicht, eine solche Schönheit zu finden. Die meisten hatten ihre Blüte bereits hinter sich oder waren merkwürdig geformt. Doch diese Blüte …« Er lächelte zärtlich. »Sie ist perfekt.« Das Glühen in ihren Wangen wuchs zu einem Flächenbrand heran. Sie mied seinen Blick. »Dann danke ich dir umso mehr für deine Mühe.« Fionn schob sich ein Stückchen näher. Sein Knie berührte ihr Bein und seine Hand ruhte zwei oder drei Fingerbreit von ihrer eigenen entfernt auf der Sessellehne. »Ich habe mit dem König gesprochen«, erklärte er. »Ich konnte mich mit ihm auf einen Termin für unsere Vermählung einigen.« Ariana schluckte. Ihre Finger drehten die Blüte hin und her. Sie war nicht sicher, warum es sie störte, dass er mit ihrem Vater eine solch wichtige Unterredung geführt hatte. Ihre Seele schrie angesichts der Ungerechtigkeit, die ihr hier widerfuhr, auf. Sie hatten sie nicht gefragt. Sie war die adlige Braut. Sie würde gefällig sein und wie schmückendes Beiwerk an seiner Seite stehen. Ihre Finger krümmten sich, da sie die Hand vor Empörung am liebsten zur Faust geballt hätte. Sie wollte aufspringen und wegrennen. Aber der Prinz saß zu dicht bei ihr. Außerdem wäre es enorm unhöflich, schalt sie sich innerlich. Sie war die Prinzessin. Solche Unterhaltungen sollten ein Leichtes für sie sein. Erst recht derartige Gespräche mit Fionn von Farnàl, den sie ihr ganzes Leben lang kannte. Langsam entspannten sich ihre Hände wieder, sodass sie die Blüte in einer fließenden Bewegung auf den Tisch legte. »Was hat er gesagt?«, fragte sie. »Er war mit meinem Vorschlag einverstanden. Wir heiraten beim nächsten vollen Mond – vorausgesetzt, du hast keine Einwände.« Er lächelte, aber die Sorge und Angst, die Unsicherheit und der Zweifel waren deutlich in seinem Blick zu lesen. Sie erwiderte das Lächeln. Er war ihr Freund, ihr Vertrauter – ihr Verlobter. An ihrer Verbindung war nichts zu beanstanden. »Das klingt wunderbar«, entgegnete sie. Fionn griff sofort nach ihrer Hand und barg sie zwischen seinen. Die dunkelblauen Augen des Prinzen strahlten vor Freude über ihre Zustimmung. Sie waren einander seit einer halben Ewigkeit vertraut, aber kannten sie sich innig? In all den Jahren hatten sie massenhaft Zeit miteinander verbracht. Trotzdem bemerkte sie hin und wieder, wie er sie mit einem eigentümlichen Ausdruck ansah. Sie wusste diese Miene oft nicht zu deuten. Jetzt schaute er sie genau auf ebendiese Weise an. Er senkte den Blick auf ihre Lippen. »Ich habe mich schon des Öfteren gefragt«, sagte er zaudernd. Sein Daumen strich ihr langsam über den Handrücken. »Ich fragte mich, ob du es wohl gestatten würdest.« Er verstummte. Arianas Herz klopfte heftiger. Sie räusperte sich. »Was meinst du?«, erwiderte sie. Fionn hob sein Gesicht wieder und schaute ihr direkt in die Augen. »Sag, Prinzessin, dürfte ich dich küssen – einmal?« Eine Gänsehaut glitt ihr über die Arme. Sie holte tief Atem und sank tiefer in den Sessel. »Was?«, piepste sie. Sie waren verlobt. Bald lernten sie sich deutlich näher kennen, hämmerte es ihr zeitgleich durch die Gedanken. Mann. Frau. Eine Einheit. War dieser Moment unter den Umständen etwa nicht unvermeidlich? Fionn beugte sich nach vorne, eine Falte entstand zwischen seinen Augenbrauen. »Ich glaube, ein Kuss könnte dir weiterhelfen«, erklärte er mit gesenkter Stimme. »Wie?«, entgegnete sie atemlos und wich noch ein Stück zurück, bis sie im Sesselpolster der Rückenlehne einsank. Sie war drauf und dran, ihren Freund und Verlobten von sich zu stoßen – wollte sie das? »Du würdest erkennen, dass du mich ebenso ins Herz geschlossen hast wie ich dich«, sagte er. Die Worte säten Zweifel in ihrem Herzen. Hatte er recht? Vergab sie die Chance der Gewissheit? War es möglich, einen Menschen zu lieben – und sei es ausschließlich mit dem Körper? Sie schluckte. Schweiß brach ihr auf der Haut aus. So kam sich das Kaninchen im Angesicht der Schlange vor: ohnmächtig vor Hilflosigkeit. Entschlossenheit blitzte in des Prinzen Augen auf. Ehe Ariana ein weiteres Wort über die Zunge brachte, überwand er die kurze Distanz zwischen ihnen. Heißer Atem traf auf ihr Gesicht, ehe sein Mund auf ihrem lag. Sie keuchte unter der intimen Berührung. Der Kuss war, wie sie ihren Freund bisher kannte: sanftmütig und voll der Vorsicht. Doch dabei blieb es nicht. Fionn verstärkte den Druck seiner Lippen auf ihren. Er glitt über sie hinweg, teilte sie schier beiläufig, wieder und wieder. Ein unerwarteter Ansturm der Emotionen flutete ihr Innerstes. Der Impuls, ihn von sich zu stoßen, ließ sie die Hände im Schoß ballen. Wie sollte sie ihm je in die Augen sehen oder ein Wort mit ihm wechseln können? Gleichzeitig verleitete die Unerfahrenheit und die damit einhergehende Neugierde sie zum Entgegenkommen. Ariana war hin- und hergerissen zwischen der Fassungslosigkeit und den neuartigen Gefühlen in ihrem Inneren. Sein Kuss verursachte ein Kribbeln auf ihrer Haut. Instinktiv folgte sie dem Beispiel, das der Prinz ihr vorgab. Sie bewegte ihre Lippen ebenso wie er. Fionn stieß einen rauen Laut aus. Er keuchte – und fuhr abrupt zurück. Seine Brust hob und senkte sich in rascher Folge. Das tiefe Blau seiner Augen schien ihr im Vergleich zu vorher undurchdringlicher. Auf den Wangen ihres Freundes zeichneten sich rote Flecken ab. »Ist alles in Ordnung?«, fragte sie ihn. Ihr Tonfall zitterte und sie hörte die eigene Heiserkeit heraus. Auf ihren Lippen schmeckte sie die Feuchte, die er hinterlassen hatte. Der Nachhall der Berührung polterte in ihrem Herzen. Ob es Fionn ebenso erging wie ihr? »Das sollte ich eher dich fragen, Prinzessin«, sagte er. In seiner Stimme vernahm sie die gleiche Rauheit wie bei sich selbst. »Hat es dir gefallen?« Sie senkte den Blick auf ihre Finger. Was konnte sie ihm antworten? »Es war neu für mich.« Er löste seine Hände von ihren. »So?« Das ohnehin zaghafte Lächeln geriet ins Wanken. Ariana beschlich das Gefühl, dass sie nicht den Erwartungen entsprach, dass ihre Worte nicht das enthielten, was er sich erhofft hatte. Schnell sprach sie weiter. »Es war eine interessante Erfahrung.« »Interessant?« Er lächelte flüchtig. »Willst du es womöglich wiederholen?«, fragte er. Ariana stand hastig auf und schob sich an ihm vorbei. »Nein«, sagte sie überstürzt. »Ich meine … besser nicht. Es ist … Ich habe nie … Ich bin verwirrt.« Einen Moment lang hing da wieder dieses schwere, dicke Schweigen zwischen ihnen in der Luft und bildete eine störrische Mauer. Fionn erhob sich ebenfalls. »Verstehe«, meinte er brüsk und mied ihren Blick. »Vermutlich sollte ich jetzt besser gehen. Teil deinem Vater mit, dass die Hochzeit wie geplant stattfinden kann.« »Natürlich. Ich räume nur die Bücher ins Regal.« Ihr entging nicht, wie er sich umsah. Hier herrschte schon Ordnung. Es war ausnahmslos dieses eine Buch, das nicht bei den anderen stand. Er sagte nichts, sondern wandte sich von Ariana ab und ließ sie in der Bibliothek zurück. Sie atmete tief ein und aus, um ihren Herzschlag zu beruhigen. Mit der Fingerspitze fuhr sie sich über die Lippe. Ob sich jeder Kuss gleich anfühlte? Dies war der Debütkuss in ihrem adligen Leben gewesen. Obwohl sie respektabel aussah mit den weißblonden Locken, indigofarbenen Augen, ihrer ranken Gestalt und den zarten Gesichtszügen, hatte bislang kein Junge es gewagt, die Prinzessin je auf diese Art anzusehen. War es da nicht sogar angemessen, dass sie den ersten Kuss von ihrem zukünftigen Ehemann erhielt? Er hatte gemeint, dass es ihr helfen würde, über ihre Gefühle Klarheit zu gewinnen. Ariana stellte fest, dass sie sich absolut nicht ihrer Empfindungen gegenüber dem Prinzen sicher war. Liebte sie ihn? Sie beobachtete durch das Fenster bei ihrem Sessel, wie er sich mit gesenktem Kopf und hochgezogenen Schultern von der Bibliothek entfernte. Sie starrte solange hinaus, bis Fionn hinter einer Ecke verschwunden war. Da fiel ihr der Schwindelanfall ein. Hätte sie ihm davon erzählen sollen? »Ach was«, murmelte sie und wandte sich ab. Sie griff nach dem nachlässig hingelegten Buch. Kurz zögerte sie. Ihre Finger strichen zärtlich über den abgegriffenen Einband. Ihre Gefühle waren in hellem Aufruhr. Sie war verwirrt und wusste kaum mehr, wie sie zu Fionn stand. Am liebsten wäre sie dem Ganzen entflohen. Hätte sich einfach in Luft aufgelöst, sodass niemand sie wiederfand. Einfach nur, um Zeit zu gewinnen. Einer plötzlichen Sehnsucht folgend, schlug sie das Buch auf. Sofort fand sie die Stelle wieder, an der sie unterbrochen worden war. In ihrem Kopf formte sich die vertraute Welt der Geschichte. Sie sah den Wald, hörte das Plätschern des Bachlaufs, das Zwitschern der Vögel – und erschrak. Was sie eingangs für Bilder in ihrem Kopf gehalten hatte, verwandelte sich zunehmend in ihre reale Wirklichkeit. Erst war es eine verschwommene Bewegung in ihrem Augenwinkel, die sie wahrnahm. Sie hob den Kopf, um zu sehen, was es war. Bereits beim Heben des Kopfes und Lösen ihres Bewusstseins von den Zeilen der Geschichte rollte das drohende Wogen in ihren Adern heran. Vor ihren Augen verschwanden die Regale der Bibliothek, eines nach dem anderen. Sie lösten sich einfach in Luft auf. Hohe Bäume erschienen wie aus dem Nichts und wiegten sich in einer Brise. Der Bach umströmte murmelnd Arianas Füße. Die Kälte des Wassers kroch ihr durch die Röcke und die Knöchel hinauf. Es bildete sich Gänsehaut auf ihren Beinen. Ariana achtete kaum darauf. Was passierte hier? Sie klammerte sich an das Buch in ihren Händen und ließ ihren Blick fassungslos umherschweifen. Der lichtspendende Kristall schimmerte weiterhin auf dem Tisch, der nun deplatziert inmitten des Waldes stand. Noch während sie ihn anstarrte, verschwamm er vor ihren Augen. Seine Umrisse verblassten, bevor sich das Möbelstück ebenfalls in Luft auflöste. Ein Schrei bildete sich in ihrer Brust, doch ihre Kehle war wie blockiert. Kein Ton kam hinaus. Ariana stolperte. Alles drehte sich um sie herum. Ihr Magen revoltierte im Angesicht dieser eklatanten Veränderung ihrer Umgebung. Sie verlor das Gleichgewicht. Hilfesuchend griffen ihre Hände nach Gegenständen. Der Taumel hörte nicht auf. Nach Luft japsend schloss sie die Augen. Sie kämpfte gegen den Aufruhr in ihren Eingeweiden an. Der Schwindel zog und zerrte an ihr, sodass sie sich krümmte. Ihr versagten die Beine und sie fiel endgültig. Erst eine lange Zeit später kam sie wieder zu sich. Flatterhaft hob sie die Lider und blinzelte in das grelle Licht der Sonnenstrahlen, die durch das rauschende Blätterdach auf ihr Gesicht trafen. Ein flaues Gefühl setzte sich in ihrem Magen fest. Langsam erhob sie sich, stützte sich auf die Ellenbogen, ehe sie sich vollends in eine sitzende Position brachte. Sie guckte auf die Bäume um sich herum. Nieselregen benetzte sie trotz des Sonnenscheins. Sie entdeckte einen gelben Vogel, der ungefähr fünf Ellenlängen von ihr entfernt über die feuchte Wiese hüpfte und sie aufmerksam musterte. Wo war sie? Ariana zwang sich, tief einzuatmen. Die Luft strömte taufrisch in ihre Lungen. Der milde Wind rauschte durch das Blätterdach über ihrem Kopf. Träumte sie? Schlief sie in ihrem samtblauen Ohrenbackensessel? Kurzerhand kniff sie sich kräftig in den Arm. Der Atem entwich ihr mit einem zischenden Schmerzenslaut. Sie kniff die Augen zusammen. Dann öffnete sie sie langsam wieder, so als erwarte sie einen Schlag ins Gesicht. Der Wald blieb vor ihren Augen bestehen. Das Buch in ihrer Hand war der einzige vertraute Gegenstand, der ihr geblieben war. Sie stierte es einen Moment lang irritiert an. Es war erneut ein Gefühl, ein inneres Drängen, dem sie folgte, als sie es aufschlug. Schockiert starrte sie auf die Buchseiten. Ihre Finger blätterten mit zunehmender Hast hindurch, von vorne nach hinten, umgekehrt und grimmig durcheinander. Ihre Bewegungen wurden fahriger, zittriger. Das Rascheln der Seiten übertönte bald das Blätterrauschen über ihrem Kopf. Nichts änderte sich. Die Buchseiten waren leer. Ariana starrte das Buch an – ihr Lieblingsbuch. Ihr Blick richtete sich auf die Bäume und den Bach, als wüssten sie eine Antwort auf dieses Mysterium. »Das ist nicht normal«, flüsterte sie. Sie musste in Erfahrung bringen, was passiert war und einen Weg nach Hause finden. Sie hatte sich eine Fluchtmöglichkeit gewünscht, aber wer hätte denn ahnen können, dass ihr Wunsch prompt in Erfüllung ging? Vielleicht halluzinierte sie, versuchte Ariana sich zu beruhigen. Ihr Herz klopfte vor Aufregung einen hektischen Takt in ihrer Brust. Sie dachte nach. Zumindest versuchte sie es. Der Regen durchnässte ihre Kleidung. Das Tageslicht ließ zügig nach. Bald dämmerte es und die Nacht zog herauf. Was war, wenn dies allen Ernstes die Geschichte aus dem Buch war? »Blödsinn«, murrte sie. »Das ist nicht möglich. Mach dich nicht lächerlich.« Wahrscheinlich hatte sie ihre Nase zu oft in das Buch gesteckt, grübelte sie zynisch. Sie strich sich durch das Haar und setzte sich in Bewegung. Gleichgültig, was ihr zugestoßen war: Es war unklug an diesem Ort zu bleiben. Sie riskierte, sich zu erkälten, wenn sie hier im Nieselregen ausharrte. Sie brauchte einen Unterschlupf. Wenn dies die Erzählung aus ihrem Buch war, war es besser, nicht den Wesen zu begegnen, die hier ihr Unwesen trieben. Die Trolle, Zwerge, Hexen und Gestaltwandler. Sie alle teilten sich die Welt mit dem zweigeteilten Volk der Elfen. Ein tröstender Gedanke kam ihr in den Sinn: Wenn sie tatsächlich durch eine Laune der Natur in der Geschichte gefangen war, würde bald der Held auftauchen, um die Welt zu retten. Der Wald um Ariana herum rührte sich nicht. Sie zuckte die Schultern und stopfte sich ihr Buch in die Rocktasche. Dabei fiel ihr Blick auf das Gras zu ihren Füßen. »Was ist denn das?« Sie bückte sich zu dem roten Bindfaden hinab, der sich deutlich vom tiefgrünen Gras abhob. Er schimmerte kräftig und war lang wie ihr Zeigefinger. Irritiert betrachtete sie ihn. Der Zwirn stammte nicht von ihrem Kleid. Zwischen lachsrosa und blutrot lag ein himmelweiter Unterschied. Was war das für ein Faden? Hatte ihn jemand verloren? Vielleicht der Held der Geschichte? Bei dem Gedanken schnaubte sie. Ein Impuls verleitete sie, den Bindfaden in die Seiten ihres Buches zu klemmen. Ein Insekt schwebte über den Bach hinweg und folgte seinem Lauf. Ariana machte es dem Tier gleich. Wo Wasser war, da waren andere Menschen oft nicht weit. Im Wald herrschte trübes Dämmerlicht. Die Schatten dehnten sich in die Länge, der Regen hörte auf und der Bach wuchs zu einem rauschenden Fluss an, der sich kraftvoll durch sein Bett wühlte. Das Nass sprudelte, gluckerte und plätscherte in einem fort. Es war das einzige Geräusch in ihrer näheren Umgebung. Das Krabbeltier war weggeflogen, dafür erhob sich eine Vielzahl anderer Insekten aus dem feuchten Ufer. Sie gab es bald auf, die lästigen Winzlinge abzuwehren. Sie war müde. Ihre Füße schmerzten, weil sie es nicht gewohnt war, lange Strecken zu Fuß zurückzulegen, und die Dunkelheit brach unerwartet schnell über sie herein. Zuhause fielen Tageszeitenwechsel kaum auf. Kristalle spendeten Tag und Nacht Licht. Hier gab es jedoch keine leuchtenden Gesteine. Ariana seufzte. Wo sollte sie schlafen? Was konnte sie essen? Und wie sollte sie je wieder den Weg nach Hause finden? Der Gedanke drückte ihr schwer auf die Brust und sie blieb stehen, um zitternd Luft zu holen. Warum begegnete ihr niemand? Wo waren die Anzeichen einer Zivilisation? Wo endete der Wald? Arianas Blicke huschten von Baum zu Baum. »Das ergibt alles keinen Sinn!«, flüsterte sie. Was war ihr zugestoßen? Warum verschwanden alle Buchstaben im Buch? Was bedeutete der rote Faden, den sie aufgehoben hatte?

Ariana presste die Lippen aufeinander. Es war nicht hilfreich, in dieser Lage den Kopf zu verlieren. Sie fände niemals nach Hause und in ihre Welt. Aber was war, meldete sich eine boshafte Stimme in ihrem Kopf zu Wort, wenn es keinen Weg zurückgab? Was unternahm sie dann? Die Bodenbeschaffenheit veränderte sich. Ihre Füße sanken im zarten Moos ein. Sie verursachten schmatzende Geräusche bei jedem Schritt, bis ihre Fußsohlen in der weichen Erde ausrutschten. Ariana ruderte mit den Armen hektisch durch die Luft. Der Fall war unaufhaltsam. Ein Schreckensruf entfloh ihren Lippen. Ein Platschen ertönte. Nässe breitete sich auf ihrem Bauch aus. Spritzer landeten auf ihren Hals bis zum Kinn und den Wangen hinauf. Sie lag mitten in einer Pfütze. Auf ihrem Gesicht wechselten sich Hitze und Kälte ab. Fluchen gehörte sich nicht für eine Königstochter aus Tarnàl, dennoch entfuhr ihr einer. Eine Prinzessin lag allerdings auch nicht in einer abscheulichen Lache voller Dreck. Wütend rappelte sie sich auf. Das war nicht fair. Frustration, Angst und Trostlosigkeit trieben ihr die Tränen in die Augen. »Hör auf!«, knurrte sie und presste sich die Hände auf die Augen. »Das ist bloß ein bisschen Dreck. Der lässt sich abwaschen.« Bei dem Gedanken stiegen erneut Tränen in ihr hoch. »Verdammt!« Sie hob das Gesicht zum Himmel, an dem sich die dünner werdenden Wolken mit dem Dunkelblau der Nacht vereinten. Der Fluss war inzwischen leiser. Irgendwo im Unterholz raschelte es, sodass Ariana zusammenschrak. Zügig setzte sie ihren Weg fort. Sie folgte dem Wasserlauf eine weitere Biegung entlang und blieb an seinem Ende neben einem hohen, breitstämmigen Baum stehen. Vor ihr lag die nachtschwarze Fläche eines Sees, spiegelglatt und ohne Bäume weit und breit, außer jenen hinter ihr. In der Ferne hoben sich zerklüftete Felsen vom Horizont ab. Hier konnte sie sich nicht hinlegen, um auszuruhen. Sie brauchte einen sicheren Platz. Aus ihren Büchern wusste sie, dass Tiere derartige Wasserstellen aufsuchten, um zu trinken. Ariana warf einen Blick auf die Natur um sie herum. Sie sah keine Höhle, die Schutz versprach. Nur der dicke Baum, neben dem sie stand, wies ein paar niedrige Äste auf. Sie zögerte nicht länger, packte einen Ast und kletterte hinauf. Im Kindesalter waren sie und Fionn ständig auf Bäume geklettert. Das letzte Mal lag Jahre zurück, sodass sie ein paar Körperlängen über dem Boden innehielt. Sie wollte nachts nicht hinunterfallen. Besser, sie erklomm den Baum nicht zu weit nach oben und machte es sich auf einem dicken Ast bequem. Die raue Rinde kratzte ihr in den Handflächen. Bald rutschte sie auf der Suche nach einer gemütlicheren Position unruhig hin und her. Dabei zerriss die Seide ihres Kleides an Schulter, Ellenbogen und Rücken. Ihr schmerzte jeder einzelne Körperteil. Doch die Erschöpfung war übermächtig, sodass sie rasch in einen tiefen Schlummer verfiel.

02 – Nichts

Kieran verließ sein Zimmer mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend. Er hatte es eilig, sie warteten auf ihn. Deshalb hastete er schneller als gewohnt durch die Flure. Das Geräusch seiner Stiefel hallte von den dürftig beleuchteten Wänden wider. Auf dem Weg zum Rat flocht er sich rasch das hüftlange, schwarze Haar und strich sich die übrigen Strähnen hinter die spitzen Ohren. Ein kühler Luftzug fuhr ihm über die unbedeckten Arme, doch es kümmerte ihn nicht. Sein Umhang blähte sich und wehte hinter ihm her wie ein düsterer Schatten. Das weiche Leder der pechschwarzen Kleidung umgab seinen Körper wie eine zweite Haut. Kieran schritt um die Ecke. Er stieß die schweren, massiven Türen auf. Sofort breitete sich Stille im Herrschaftssaal aus. Sie war angefüllt mit Anspannung und Erwartungen. Er atmete die Atmosphäre ein, sog sie in sich auf, ignorierte dabei die Blicke der Fürsten. Stattdessen marschierte er auf den Thron zu. Er kam sich wie ein Heuchler vor. Er sah zwei Mindere, die mit gesenkten Köpfen entlang der Mauer standen. Es waren schwächliche Menschensklaven, dünn und mit löchriger Kleidung ausgestattet. In ihren Händen hielten sie entweder ein Tablett mit Bechern oder nichts als die Last ihrer eigenen erbärmlichen Existenz. Kieran wandte den Blick von ihnen ab. Er wollte nicht auffallen, indem er sein Mitleid offen zur Schau stellte. Sein Herrschaftssitz war schrecklich unbequem. Es war ein einziger, hölzerner Klotz aus massiver Eiche, der über all dem hier wachte. Uralt und unerbittlich. Kieran verlagerte sein Gewicht und verzog die Miene. Nach einem Augenblick trat Bran vor, der oberste militärische Befehlshaber im Reich. Er war zugleich sein engster Vertrauter. Der Elfe beugte vor ihm das Knie. Ein breites Stirnband aus dunkelbraunem Leder hielt das schwarze Haar zurück, das typisch für ihre Rasse war. Die ebenso braunen Augen schauten besorgt. Kieran kannte den Blick. »Herr«, sprach Bran. Seine Stimme klang tief und melodisch. »Das Land versumpft im Chaos.« »Was soll das heißen?«, fragte Kieran. Seine Stimme hallte von den Wänden wider, füllte die Luft. Sie drang von Ohr zu Ohr. Bran räusperte sich. »Das Nichts dehnt sich unvermindert aus. Es ist bereits an der Grenze zum Wald der Lichtgestalten. Mehrere Gebiete sind bereits verloren, sagen sie.« Ein Raunen glitt über die Anwesenden. Kieran hob die Hand. Er beugte sich vor und Stille breitete sich aus. »Was meinst du mit verloren?« »Sie sind weg. Dort findet sich nichts als tiefste Schwärze. Die Leute meinen, dort überlebt nichts. Nichts und niemand.« Kieran lehnte sich zurück. Er ließ seinen Blick über die versammelte Menge gleiten. Sie alle kannten den Ernst der Lage. Schon vor dem Überschreiten der Grenze hatten sie ein wachsames Auge auf die heranrückende Finsternis gehabt. Seit sich das Nichts, jene finstere Schwärze, ungehindert über das Land ausbreitete, war jeder besorgt. Die Unruhe im Volk wuchs von Tag zu Tag. Kieran war der Herrscher über die Dunkelelfen. Er war es, dem es oblag, eine Lösung zu finden, um sie vor dem drohenden Tod zu bewahren. Sie alle setzten auf die Urteilskraft ihres Oberhauptes, auf sein Wissen und seine Erfahrung. Dadurch war der Schuldige greifbar, sobald die Welt unterging. »Stell einen Trupp zusammen«, erklärte er Bran, ehe er an alle gerichtet fortfuhr: »Ich will mit eigenen Augen sehen, wie schlimm es um die Länder steht und wie zerstörerisch das Nichts um sich greift. Alle anderen kümmern sich darum, unsere Leute aus den gefährdeten Gebieten herauszuholen.« »Sehr wohl«, erwiderte Bran. Er verneigte sich ein letztes Mal, ehe er sich zurückzog, um den Befehl zu befolgen. Ab da war Kieran unkonzentriert. Unruhe kroch ihm durch die Venen, pulsierte in seinem Inneren. Die Schwärze beunruhigte ihn ebenso wie alle anderen. Wie sollte er sie aufhalten? Sie verließen das unterirdische Höhlensystem, das sie seit Jahrtausenden bewohnten, und ritten nach Norden. Das bedrohliche Reich, diese Düsternis, die mit den finsteren Seelen der Dunkelelfen konkurrierte, hing über dem Land wie eine pechschwarze Wolke. Wie dichter, giftiger Nebel bedeckte es Bäume, Seen und alles, was in seine Nähe geriet. Dabei verströmte es eiskalte, trockene Luft, die jegliches Leben aus seinem Dunstkreis vertrieb. Das Nichts verschluckte jedes Licht. Kieran fröstelte. Denn die Schwärze breitete sich aus wie eine Krankheit. Sie war eine Seuche, die sich Tag für Tag den Grenzen des Elfenlandes näherte und es bedrohte. »Kieran«, hörte er Bran neben sich. Er wandte den Blick ihm zu; weg von der düsteren Bedrohung vor ihnen. »Was sollen wir unternehmen?« »Wir brauchen Antworten. Wie tödlich ist die Schwärze wirklich? Es kursieren zu viele Gerüchte. Alle spekulieren und vermuten etwas, aber niemand weiß etwas Genaues. Das muss sich ändern.« Er zögerte. Der nachfolgende Befehl fiel ihm nicht leicht, aber er sah keinen anderen Weg. Sie brauchten die Information dringender denn je. »Entsende eine kleine Gruppe, nicht mehr als vier Männer. Sie sollen erforschen, wie gefährlich die Schwärze ist, wie nah wir ihr kommen dürfen, ohne einen Schaden davonzutragen.« Bran nickte. Seine Schultern hingen herab. In den kastanienbraunen Augen spiegelte sich die Sorge, die alle umtrieb. Kieran wandte den Blick ab. Er war seit dem ersten Ausdehnen der Finsternis vor ein paar Wochen besorgt. Da bedurfte es nicht zusätzlich Brans Mienenspiel. Nach einer Weile hörte er, wie sein Freund sich entfernte und die notwendigen Schritte einleitete. Der Trupp bestand aus drei hochgewachsenen Elfen und einer Menschensklavin mit rostroten Haaren, deren Hände mit einem Seil an ein Pferd gebunden waren. Es war klar, welche Aufgabe die Mindere zu erfüllen hätte. Kieran ignorierte die Kälte, die sein Rückgrat hinaufkroch. Stattdessen wendete er sein Tier und bellte Befehle. Er hatte etwas anderes zu erledigen. Bran quittierte den Aufbruch des Königs mit einem spöttischen Blick. Er war der Einzige, der die Wahrheit kannte. Nur er wusste, wie unwohl sich der Herrscher im Umgang mit Minderen fühlte. Zugleich war ausschließlich ihm im Land bekannt, welche Art der Bindung sein Gebieter zur Elfe Fanrày hegte. Sie gehörte wie Kieran zum Volk der Elfen. Dennoch gefährdete er seine und ihre Position im Reich, indem er sie aufsuchte. Der Kontakt zu ihr war riskant, obwohl sie einander seit Jahrhunderten kannten. Es grenzte an ein Wunder, dass ihre Verbindung im Verborgenen überhaupt Bestand und Bedeutung hatte. Weder Dunkelelfen noch Hochelfen hätten geduldet, dass sich die Rassen vermischten. Allein eine derartige Vermutung barg das Risiko, das Kieran mindestens den Thron und Fanrày das Leben verloren. Er traf sie, sobald sich eine Möglichkeit bot. Keiner von ihnen brachte bei derlei Gelegenheit das Wort Liebe über die Lippen. Sie respektierten und achteten einander. Ein-, zweimal lag Kieran ein solches Geständnis trotzdem auf der Zunge. Dann aber lachte Fanrày und wandte sich ab. Sie verstanden sich, ohne diese lächerlichen Worte in den Mund zu nehmen. Jetzt trieb ihn die Sorge um sie an. Sie lebte in einer Hütte tief im Wald verborgen. Die Entfernung hinderte ihn nicht, sie aufzusuchen. Da er der König der Dunkelelfen war, stellte kaum einer eine Frage. Die Gerüchte, die sich um seine Herrschaft rankten, eilten ihm voraus und ließen ihn die meiste Zeit unbehelligt davonkommen. Er schob einen Ast beiseite und stieg vom Pferd. Das Tier kannte den Ablauf. Sie waren oft gemeinsam an dieser Stelle des Waldes gewesen, sodass es den Kopf bereitwillig senkte und an den zarten Gräsern zupfte. Kieran hastete weiter, sprang über den unförmigen Felsen, der zwischen den Bäumen aufragte, hüpfte leichtfüßig über einen schmalen Bach hinweg und erreichte die alte Hütte. Sie war heruntergekommen, sah auf den ersten Blick gänzlich verlassen aus. Ein verlorener Platz inmitten des Waldes. Anfangs hatte sie ihn wie alle anderen mit der Illusion getäuscht. Das gelang ihr schon lange nicht mehr bei ihm. Entschlossen stieß er die Tür auf. »Na, sieh einer an, wer da hereinkommt«, spottete sie. Ihre moosgrünen Augen strahlten vor Freude, als sie nähertrat, um ihn zu begrüßen. Kierans Mundwinkel hoben sich zu einem breiten Grinsen. »Gib es zu, Fan, diesmal hast du mich vermisst.« »Einen Dunkelelfen wie dich? Pah!«, entgegnete sie und grinste ebenso. Er umschloss ihre schlanke Taille und zog sie dicht zu sich heran. Fanrày gehörte keiner Rasse der Elfen eindeutig an. Da sie seit jeher eine Waise war, die zur Hälfte das Blut von Hochelfen und Dunkelelfen in sich vereinte, war ihr Aussehen eine wilde Mischung aus dunkler Haut, grünen Augen und schwarzen Haaren. Sie war von hoher Statur und überragte Kieran und viele andere des Volkes. Da, wo Dunkelelfen bloß Hohn, Boshaftigkeit und mutwillige Zerstörung kannten, schätzte Fanrày den Frieden des Waldes. Ihrem Spott fehlte manche Spitze und ihr Humor wirkte oft unangemessen. Ihre Abstammung sorgte für Reibereien zwischen den beiden Stämmen: Niemand vertraute ihr. Das war der Grund, warum sie derart zurückgezogen tief im Wald lebte. Die Hochelfen hielten sie für verlogen und hinterhältig, ein falsches Wesen unter ihnen. Die Dunkelelfen verhöhnten ihre Sanftmütigkeit. Denn als eine Tochter des Waldes lag ihr das Lügen nicht. Die Wahrheit stand in ihrem Gesicht geschrieben, ob sie es beabsichtigte oder nicht. Jetzt lächelte sie. Sie hob eine schwarze Augenbraue. »Was ist, mein kleiner Elfenkönig, willst du mich nur ansehen oder bekomme ich auch einen K—« Kieran ließ sich nicht zweimal bitten. Er umfasste kurzerhand ihren Nacken, zog sie zu sich heran und küsste sie. Gefühle schwappten über sein finsteres Herz. Ihre Küsse waren zart wie Schmetterlinge, ein Hauch des Windes, der durch den Wald strich, warm und weich. Sie passten nicht so recht zu ihrem übrigen Erscheinungsbild. Die Hochelfe in ihr streckte ihre Magie nach ihm aus. Zarte Blumenknospen wuchsen auf seinem Hemd und eine Ranke breitete sich auf dem Arm aus. Er störte sich nicht daran. Ihm gefiel es, wenn Fanràys Gefühle offen zur Schau standen. Er fragte sich flüchtig, was ihn an Fanrày anzog, als ihm etwas auffiel. Er grinste an ihren Lippen und löste den Kontakt. Sie sah ihn mit geröteten Wangen an. »Was ist?«, erkundigte sie sich. Kieran registrierte mit einer ordentlichen Portion Selbstgefälligkeit den heiseren Unterton in ihrer Stimme. »Willst du mich gleich hierbehalten, Fan?«, entgegnete er trocken und hob eine Augenbraue. Als Fanrày seinem Blick zu ihren Füßen folgte, stolperte sie erschrocken ein paar Schritte zurück. Sie schlug sich die Hand vor den Mund. »Oje …«, rief sie aus. Kieran prustete los. Seine Füße steckten in einem dicken Wurzelgeflecht. Erde hüllte ihn bis zu den Knöcheln ein. Er lachte herzhaft, wodurch er kurz wankte, ehe er das Gleichgewicht verlor und rückwärts zu Boden fiel. Dort hielt er sich den Bauch. Ihm rannen Tränen über die Wangen. Tief im Inneren war es ihm bewusst, dass sich ein Dunkelelf niemals derart gehen ließ. Das heitere Gelächter war für ihn ungewohnt. Fanrày war die einzige Person, bei der es ihm gelang, die harte Schale seiner Herkunft mühelos abzustreifen. Das, was darunter für alle anderen verborgen lag, erstaunte ihn oft genug selbst. Dunkelelfen lachten auf eine unschöne, eher groteske Art, die ihre Gesichter verzerrte und ihre Art des Humors wie spitze Giftpfeile verseuchte. Es ängstigte die menschlichen Sklaven, ließ sie jammern und zittern. Das Lachen, das Kieran in diesem Augenblick über die Lippen kam, glich mehr dem leichtherzigen Klang einer Hochelfe. Gegenüber jeden anderen hätte er sich beschämt abgewandt – bei Fanrày nicht. »Das ist nicht lustig! Wie konnte mir das passieren?!«, jammerte sie aufgebracht. Zugleich bewegte sie ihre Hände in einer fließenden Bewegung über die Erde und Wurzeln, woraufhin sie sich langsam ins Erdreich zurückzogen. Er sah zu ihr hinauf, die Arme locker auf den Knien liegend. Sie stand mit in den Hüften gestemmten Händen vor ihm und starrte ihn verwirrt an. »Das war das erste Mal, dass die Magie mit mir durchgegangen ist«, meinte sie. Kieran erhob sich. »Du weißt ja, es gibt für alles ein erstes Mal, Fan.« »Aber doch nicht so!«, brummte sie. Grinsend zog er sie zurück in seine Arme. »Meine liebe Fan, offenbar kennst du die Macht deiner Magie nach all den Jahrhunderten immer noch nicht.« »Hmpf«, schnaubte sie und verschränkte die Arme vor der Brust. Einen Augenblick schwiegen sie beide. Dann sah sie ihn an. »Warum bist du wirklich hier, Kieran?«, fragte sie. »Ich wollte sehen, wie es dir geht.« »Ist es wegen dem, was im Norden vor sich geht?« Er nickte. »Ich habe gesehen, wie es sich ausbreitet«, erklärte sie. »Nachts, zur dunkelsten Stunde, bevor die Sonne aufgeht, breiten sich die Schatten aus und bis zum nächsten Tag hat es mehr verschlungen.« Kieran stellten sich die Härchen in seinem Nacken auf. Es wuchs wie eine lebende Pflanze, ein Unkraut. Eine abnorme Monstrosität. »Fan«, sagte er. »Vergiss es!« Erstaunt über ihren aufgebrachten Tonfall, sah er sie an. »Ich werde nicht mit dir kommen.« Er fragte nicht, woher sie wusste, worauf er hinauswollte. Zu oft verfügte sie über Wissen, dessen Herkunft ein Rätsel für ihn war. »Aber hier bist du in Gefahr«, sagte er stattdessen. Sie schüttelte den Kopf und löste sich von ihm. »Du täuschst dich«, meinte sie. »Willst du etwa im Nichts verschwinden – so wie unzählige vor dir?«, stieß er hervor. Die Wut kochte plötzlich in seinen Adern. »Das ist Irrsinn, Fanrày.« Wieder widersprach sie. »Der Wald beschützt mich. Du scheinst zu vergessen, wer ich bin.« Ihr Mundwinkel hob sich. In ihren Augen las Kieran von verletzten Gefühlen. Sie kannten einander dermaßen, dass er fast vergaß, dass sie zum Teil eine naturverbundene Hochelfe war. »Was ist, wenn der Wald ebenso im Nichts verschwindet? Wenn er sich einfach auflöst und nicht länger existiert? Wenn er und alles Leben darin stirbt? Was ist dann, Fan?« Sie zögerte kurz, schaute zum Fenster hinaus auf das friedliche Grünbraun der Natur. »Dann gehöre ich umso mehr hierher«, entgegnete sie stur. Kieran war ebenfalls ein Starrkopf. Er würde sicher nicht dabei zusehen, wie Fanrày ausgelöscht wurde. »Komm mit zu den Höhlen«, forderte er. »Dort überlegen wir uns eine Lösung, wie sich der Wald retten lässt.« Wieder schüttelte sie den Kopf. Langsam reizte ihn diese Bewegung. »Das ist unmöglich«, erklärte sie. »Warum? Das Nichts ist weit entfernt. Es breitet sich vielleicht aus, aber so schnell bestimmt nicht.« »Ich habe es gesehen. Je größer es wird, umso rasanter verschlingt es das Land. Wir haben keine Zeit zum Streiten, Kieran.« Er straffte die Schultern. »Was schlägst du vor?«, fragte er hart. »Soll ich dich einfach hier zurücklassen?« »Einen anderen Weg gibt es nicht. Die anderen Elfen würden mich niemals akzeptieren, das weißt du ebenso gut wie ich. Du bist der König, Kieran Maktùr. Du weißt, was hier auf dem Spiel steht.« Kieran starrte sie an. Sie hatte recht: Er durfte sie unmöglich mitnehmen zu den unterirdischen Höhlen der Dunkelelfen. Das wäre ihr beider Untergang. Da konnte er sie gleichfalls hier zurücklassen und darauf warten, dass die Schwärze sie überkam. Er hatte die Möglichkeit, ihr weiter zuzureden, ihr anzubieten mit ihr durchzubrennen und sich in den Wäldern zu verstecken. Aber was nützte es? Wenn er, der König, sich mit ihr vor den anderen Elfen verbarg, riskierte er, dass sie alle den Tod im Nichts fanden. Niemandem wäre damit geholfen. Mit einem Fluch auf den Lippen starrte er die verrauchten Deckenbalken an, als wüssten sie die Lösung seiner Probleme. Wenn er fortging, stand das Risiko hoch, dass er sie für alle Zeiten verlor. Die Vorstellung ängstigte ihn. Sie machte ihn schier wahnsinnig vor Furcht und Wut. Es zerriss ihm das Herz in der Brust. »Bleibt noch Zeit für ein Lebewohl?«, fragte er sie rau. Fanrày sah ihn über die Schulter hinweg an, Trauer im Blick. »Es ist besser, du gehst jetzt … mein kleiner König.« Ihre Worte verletzten ihn, verstärkten seinen Zorn. Er verstand sie nicht. Es war irrsinnig, dass sie freiwillig in dieser baufälligen Hütte ausharrte. Es war absurd, dass sie den Wald einer Zukunft mit ihm vorzog. Abrupt wandte er sich der Tür zu. Ehe er hinaustrat in das nachlassende Licht des Tages, drehte er sich abschließend zu ihr um. »Ob du es willst oder nicht, Fan: Ich finde einen Weg, die Finsternis am Horizont zu stoppen – und wenn es das letzte ist, was ich für dich tue.« Er wartete nicht auf ihre Reaktion, sondern schlug die Tür hinter sich zu. Das Gras und die Blätter raschelten im Luftzug. Alles war unverändert: Die Sonnenstrahlen wärmten seine Arme, der Wind strich sanft über die Haut. Dennoch war es anders. Er stieg auf sein Pferd. Bevor er ihm die Fersen in die Flanken stieß, sah er zurück zur Hütte. Nichts rührte sich. Das Häuschen erschien weiterhin verlassen. Kopfschüttelnd trieb Kieran das Tier an. Obwohl die Nacht heraufzog, hatte er es nicht mehr eilig. Sein Herz verharrte im Wald und bei Fanrày. Wenngleich die Vernunft ihn nach Hause drängte, hing er den Gedanken nach. Ihm stockte der Atem, so scharf traf ihn der Schmerz ihrer Logik. Seine Verbindung zu ihr war von vornherein zum Scheitern verurteilt. Niemand billigte eine derartig unreine Beziehung. Er riskierte seine Stellung als König. Sie gefährdete ihr Leben. Das war ihnen beiden von Anfang an klar gewesen. Trotzdem bereitete ihm die Trennung körperlichen Kummer. Dessen ungeachtet zwang er sich zum Abschied, denn es war ihre Entscheidung. Er hatte nicht die Befugnis, ihr das Recht abzusprechen, über ihre eigene Zukunft zu bestimmen. Ein Geräusch drang an sein Ohr. Er wandte den Kopf in die Richtung. Hoffnung flammte für einen Moment in seinem Inneren auf, ehe er sich einen gefühlsduseligen Narren schimpfte. Er zügelte das Pferd und drehte sich im Sattel, um zurückzublicken. Im Geäst raschelte es. Nach einem Augenblick setzte er den Weg fort. Vor Einbruch der Nacht würde er es nicht zu den Höhlen schaffen. Derartige Verhältnisse waren ihm nicht unbekannt. Er kannte den See der Träume. Dorthin ging er stets, um ein Lager zu errichten. Das war in der Vergangenheit mehr als ein Mal erforderlich gewesen.