22:04 - Ben Lerner - E-Book

22:04 E-Book

Ben Lerner

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Beschreibung

Ein wunderbarer Roman über die Entstehung von Kunst, Liebe und Kindern im Abenddämmer eines Imperiums. Der Held von Ben Lerners Roman ist ein Brooklyner Schriftsteller namens Ben, der einen frechen, von der Kritik gefeierten Erstling über sein junges Leben publiziert hat und nun auf größere Erfolge hoffen darf. Und in der Tat, zu Beginn sitzt er, den lukrativen Vertrag eines Großverlags unterschriftsreif vor sich, mit seiner Agentin in einem überteuerten Restaurant und verzehrt mit der gesalzenen Hand zu Tode massierte Baby-Oktopusse. So schmeckt also der Erfolg? Etwas später, zurück in seinem weitaus nüchterneren Lebensalltag zwischen Food-Coop und Ausflügen mit einem mexikanischen Nachbarskind, sehen wir ihn zur Wurzelbehandlung beim Zahnarzt - und sodann beim Neurologen, denn der Zahnarzt hat auf dem Röntgenbild Verdächtiges gefunden: einen, so bleibt zu hoffen, gutartigen Gehirntumor. Das lässt ihn viel über die Fragilität des menschlichen Lebens nachdenken, umso mehr, als seine alte Collegefreundin Alex ihm auf Spaziergängen durch den Prospect Park oder über die Manhattan Bridge erzählt, wie sehr sie sich von ihm ein Kind wünscht, aber in aller Freundschaft, also durch künstliche Befruchtung. Dabei wird das Wetter immer schlechter, New York leidet unter Superstürmen, Stromausfällen und Überschwemmungen. Mit der Welt geht es bergab. Was also tun, was wird die Zukunft bringen? Ben Lerner beschreibt, gewitzt, lässig und mit einem brillanten Sinn für Komik, was es bedeutet, unsere sattsam bekannten Erste-Welt-Problemchen in den größeren sozialen Kontext des Lebens auf dem Planeten zu stellen. Dies ist ein Buch am Puls der modernen Zeit, doch wenn in einem bekannten Science-Fiction-Film um 22:04 Uhr der Blitz in die Rathausturmuhr einschlägt, geht es vielleicht doch noch befreit und mit neuer Hoffnung «Zurück in die Zukunft».

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Seitenzahl: 364

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Ben Lerner

22:04

Roman

Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Ein wunderbarer Roman über die Entstehung von Kunst, Liebe und Kindern im Abenddämmer eines Imperiums.

 

Der Held von Ben Lerners Roman ist ein Brooklyner Schriftsteller namens Ben, der einen frechen, von der Kritik gefeierten Erstling über sein junges Leben publiziert hat und nun auf größere Erfolge hoffen darf. Und in der Tat, zu Beginn sitzt er, den lukrativen Vertrag eines Großverlags unterschriftsreif vor sich, mit seiner Agentin in einem überteuerten Restaurant und verzehrt mit der gesalzenen Hand zu Tode massierte Baby-Oktopusse. So schmeckt also der Erfolg?

Etwas später, zurück in seinem weitaus nüchterneren Lebensalltag zwischen Food-Coop und Ausflügen mit einem mexikanischen Nachbarskind, sehen wir ihn zur Wurzelbehandlung beim Zahnarzt – und sodann beim Neurologen, denn der Zahnarzt hat auf dem Röntgenbild Verdächtiges gefunden: einen, so bleibt zu hoffen, gutartigen Gehirntumor.

Das lässt ihn viel über die Fragilität des menschlichen Lebens nachdenken, umso mehr, als seine alte Collegefreundin Alex ihm auf Spaziergängen durch den Prospect Park oder über die Manhattan Bridge erzählt, wie sehr sie sich von ihm ein Kind wünscht, aber in aller Freundschaft, also durch künstliche Befruchtung.

Dabei wird das Wetter immer schlechter, New York leidet unter Superstürmen, Stromausfällen und Überschwemmungen. Mit der Welt geht es bergab.

Was also tun, was wird die Zukunft bringen?

Über Ben Lerner

Inhaltsübersicht

MottoEinsZweiThe Golden VanityDreiVierFünfAuf die ZukunftDanksagungBildnachweis

Es gibt bei den Chassidim einen Spruch von der kommenden Welt, der besagt: Es wird dort alles eingerichtet sein wie bei uns. Wie unsere Stube jetzt ist, so wird sie auch in der kommenden Welt sein; wo unser Kind jetzt schläft, da wird es auch in der kommenden Welt schlafen. Was wir in dieser Welt am Leibe tragen, das werden wir auch in der kommenden Welt anhaben. Alles wird sein wie hier – nur ein klein wenig anders.

Eins

Die Stadt hatte ein Stück aufgegebene Hochbahntrasse in einen luftigen Grünzug umgewandelt, auf dem die Agentin und ich in der für die Jahreszeit ungewöhnlichen Hitze südwärts gingen, nach einem sündhaft teuren Festessen in Chelsea, zu dem auch Baby-Oktopusse gehörten, die der Koch buchstäblich zu Tode massiert hatte. Wir hatten die unglaublich zarten Dinger unzerteilt zu uns genommen, der erste unversehrte Kopf, den ich je verzehrt hatte, noch dazu von einem Tier, das seinen Bau ausschmückt und bei komplizierten Spielen beobachtet worden ist. Wir gingen südwärts zwischen den trübe schimmernden, stillgelegten Gleisen und den sorgfältig angelegten Sumach- und Perückenbaumgrüppchen, bis wir den Teil der High Line erreichten, wo man einen Einschnitt in die Trasse vorgenommen hat und eine Holztreppe mehrere Ebenen nach unten führt; die unterste Ebene ist mit Fenstern in stehendem Format ausgestattet, die auf die Tenth Avenue gehen und eine Art Amphitheater bilden, wo man sitzen und sich den Verkehr anschauen kann. Wir setzten uns und schauten uns den Verkehr an, und ich scherze und scherze auch nicht, wenn ich sage, dass ich eine fremde Intelligenz spürte, mich einer Folge von Bildern, Empfindungen, Erinnerungen und Affekten ausgesetzt fühlte, die streng genommen nicht zu mir gehörten: der Fähigkeit, polarisiertes Licht wahrzunehmen; einer Verschmelzung von Geschmacks- und Tastsinn, während die Saugnäpfe mit Salz eingerieben wurden; einem in meinen Gliedern angesiedelten Schrecken, der das Gehirn komplett umging. Das alles sagte ich laut zu der Agentin, die Rauch einsog und ausstieß, und wir lachten.

Ein paar Monate zuvor hatte die Agentin mir gemailt, sie glaube, ich könnte aufgrund einer Erzählung von mir, die im New Yorker erschienen war, einen «ansehnlichen sechsstelligen Vorschuss» bekommen; ich müsse lediglich versprechen, die Erzählung in einen Roman zu verwandeln. Es gelang mir, ein ernsthaftes, wenn auch unbestimmtes Exposé zu verfassen, und bald kam es zu einem Bieterwettbewerb zwischen den wichtigsten New Yorker Verlagen, und wir aßen in der künftigen Eröffnungsszene Cephalopoden. «Wie genau wirst du die Erzählung denn erweitern?», hatte sie gefragt, einen abwesenden Blick in den Augen, weil sie gerade das Trinkgeld berechnete.

«Ich werde mich mit einem leichten Zittern in der Hand gleichzeitig in mehrere Zukünfte projizieren», hätte ich sagen sollen. «Mich in der untergehenden Stadt von Ironie zu Aufrichtigkeit vorarbeiten, ein Möchtegern-Whitman des anfälligen Stromnetzes.»

0

Ein riesiger Oktopus war an die Wand des Raums gemalt, in den man mich im vorigen September zur klinischen Bewertung geschickt hatte – ein Oktopus, ein Seestern und diverse kiemenatmende Wassertiere mit Schädel –, denn wir befanden uns in der Kinderabteilung, und die Meeresszene sollte die Kinder beruhigen und sie von Nadeln oder den kleinen Hämmern zum Testen der Reflexe ablenken. Ich war mit dreiunddreißig dort, weil ein Arzt zufällig eine vollkommen symptomlose und potenziell aneurysmatische Erweiterung meiner Aortenwurzel entdeckt hatte, die eingehende Überwachung und wahrscheinlich einen chirurgischen Eingriff erforderte, und die häufigste Erklärung für einen solchen Zustand in einem solchen Alter ist das Marfan-Syndrom, eine genetisch bedingte Störung des Bindegewebsaufbaus, die typischerweise langgliedrige, überbewegliche Menschen hervorbringt. Als ich einen Kardiologen aufgesucht hatte und er die klinische Bewertung vorschlug, hatte ich meinen erhöhten Körperfettanteil, meine gewöhnliche Armlänge und nur leicht überdurchschnittliche Größe angeführt, doch er konterte mit meinen langen, dünnen Zehen und meiner erhöhten Gelenkigkeit und behauptete, ich könnte durchaus ins diagnostische Spektrum fallen. Das Marfan-Syndrom wird am häufigsten in der frühen Kindheit diagnostiziert, daher die Kinderabteilung.

Falls ich das Marfan-Syndrom hätte, hatte der Kardiologe erklärt, läge die Schwelle der chirurgischen Intervention niedriger (wenn der Durchmesser der Aortenwurzel 4,5 Zentimeter erreichte), sei im Grunde schon ganz nah (ich lag einem MRT zufolge bei 4,2 Zentimetern), weil die Wahrscheinlichkeit einer sogenannten «Dissektion», einer sehr oft tödlichen Zerreißung der Aortenwand, bei Trägern des Syndroms höher sei; falls bei mir keine genetische Störung zugrunde liege und meine Aorta als idiopathisch eingestuft werde, würde ich wahrscheinlich trotzdem irgendwann nicht um einen Eingriff herumkommen, allerdings mit einer höheren Schwelle (5 Zentimeter) und der Möglichkeit einer viel langsameren Fortschreitung. In jedem Fall belastete mich nun das Wissen um die statistisch signifikante Möglichkeit, dass die größte Arterie in meinem Körper jeden Moment reißen konnte – ein Ereignis, das ich mir, wie unrichtig auch immer, bildlich als wild schlenkernden Schlauch vorstellte, der Blut in mein Blut spritzte; vor dem Zusammenbruch tritt ein abwesender Blick in meine Augen, als ob etc.

Nun saß ich also im Mount Sinai Hospital unter Wasser auf einem roten, für ein Kindergartenkind konstruierten Plastikstuhl, einem Stuhl, der sofort dazu führte, dass ich mir in meinem Papier-Klinikhemd unansehnlich und schlaksig vorkam und so die Störung schon bestätigte, ehe das Team der bewertenden Ärzte eintraf. Alex, die mich zwecks moralischer Unterstützung begleitete, wie sie das nannte, in Wirklichkeit aber praktische Unterstützung leistete, weil ich mich als unfähig erwiesen hatte, mir beim Besuch einer Arztpraxis auch nur im Entferntesten zu merken, welche Informationen mir dort vermittelt wurden, saß, das aufgeklappte Notebook auf dem Schoß, mir gegenüber auf dem einzigen Erwachsenenstuhl, den man zweifellos für ein Elternteil dort hingestellt hatte.

Die Bewertung, hatte man mir im Voraus gesagt, würde von einem Ärztetrio vorgenommen, das sich dann beraten und einen Befund vorlegen würde, den ich als Urteil betrachtete, doch an den Ärzten, die nun mit strahlendem Lächeln eintraten, gab es zweierlei, worauf ich nicht gefasst war: Es waren wunderschöne Frauen, und sie waren jünger als ich. Zum Glück war Alex da, denn sie hätte mir sonst nicht geglaubt, dass die Ärztinnen – die alle ursprünglich aus dem subkontinentalen Asien zu kommen schienen – ihrerseits in ihren weißen Kitteln ideal proportioniert waren, mit makellos symmetrischen, markanten Gesichtern, die, fraglos dank geschickter Anwendung von Lidschatten und Lipgloss, selbst in der Krankenhausbeleuchtung vor fast schon parodistischer Gesundheit in mattem Gold schimmerten. Ich sah Alex an, die ihrerseits die Augenbrauen hob.

Sie baten mich aufzustehen und machten sich daran, die Länge meiner Arme, die Krümmung meiner Brust und meiner Wirbelsäule und die Wölbung meiner Füße zu ermitteln, und nahmen gemäß einem mir rätselhaften nosologischen Programm so viele Messungen vor, dass ich mir vorkam, als hätten meine Gliedmaßen sich vervielfacht. Dass sie jünger als ich waren, stellte einen beklagenswerten Fixpunkt dar, jenseits dessen die medizinische Wissenschaft nicht mehr in gütig paternaler Beziehung zu meinem Körper stehen konnte, weil solche Ärzte in meinem pathologisierten Corpus nur mehr ihren eigenen künftigen Niedergang und nicht mehr ihre frühere Unreife sehen würden. Und dennoch wurde ich in diesem für Kinder ausgestatteten Raum von drei unwahrscheinlich attraktiven Frauen Mitte bis Ende zwanzig infantilisiert, während Alex aus der mehr als buchstäblichen Entfernung ihres Stuhls mitfühlend zusah.

Er kann schmecken, was er berührt, hat aber eine schlechte Tiefenwahrnehmung; das Gehirn ist außerstande, die Position seines Körpers, besonders meiner Arme, in der Strömung zu bestimmen, und die Bevorzugung von Beweglichkeit vor propriozeptiven Inputs bedeutet, dass es ihm an Stereognosie fehlt, d.h. an der Fähigkeit, sich eine Vorstellung der Gesamtform dessen zu bilden, was ich berühre: Ich kann örtliche Varianten der Beschaffenheit feststellen, diese Informationen aber nicht zu einem Gesamtbild zusammenfügen, nicht die realistische Fiktion lesen, die die Welt zu sein scheint. Ich meine damit, dass meine Körperteile eine schreckliche neurologische Autonomie gewannen, die nicht nur räumlicher, sondern auch zeitlicher Natur war, sodass meine Zukunft auf mich einstürzte, während jede Kontraktion das allzu biegsame Gefäßsystem meines Herzens wie verschwindend gering auch immer erweiterte. Mich selbst eingeschlossen, war ich älter und jünger als alle im Raum.

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Alex’ Unterstützung war moralischer und praktischer Art, aber auch von Eigeninteresse bestimmt, insofern sie kürzlich ihre Absicht bekundet hatte, sich von meinem Sperma befruchten zu lassen, nicht, wie sie sich sogleich klarzustellen beeilte, durch Paarung, sondern vielmehr durch intrauterine Insemination, weil, wie sie es formulierte, «mit dir zu vögeln bizarr wäre». Das Thema wurde im Metropolitan Museum angeschnitten, das wir unter der Woche oft nachmittags besuchten, da Alex arbeitslos und ich Schriftsteller war.

Kennengelernt hatten wir uns in meinem ersten und ihrem letzten Collegejahr in einem langweiligen Seminar über bedeutende Romane, und wir waren einander sofort sympathisch gewesen, wurden aber erst beste Freunde, als ich nach dem Examen nach Brooklyn zog und wir uns dort praktisch in unmittelbarer Nachbarschaft wiederfanden und unsere Spaziergänge aufnahmen – Spaziergänge durch den Prospect Park, während in den Linden das Licht schwand; Spaziergänge von unserem Viertel, Boerum Hill, in den Sunset Park, wo wir zur magischen Stunde den Drachen mit den sanften Flügeln zusahen; nächtliche Spaziergänge entlang der Promenade, während sich jenseits dunklen Wassers die Helligkeiten von Manhattan türmten. Sechs Jahre spazieren gehen auf einem sich erwärmenden Planeten – obwohl spazieren gehen nicht alles war, was wir taten – hatten Alex’ Gegenwart untrennbar mit meinem Gefühl der Bewegung durch die Stadt verbunden, sodass ich sie auch neben mir spürte, wenn sie gar nicht da war; wenn ich schweigend über eine Brücke ging, hatte ich oft das Gefühl, es war ein Schweigen, das wir miteinander teilten, auch wenn sie upstate ihre Eltern besuchte oder Zeit mit einem Liebsten verbrachte, den ich verlässlich hasste.

Vielleicht schnitt sie das Thema im Museum und nicht beim Kaffee oder dergleichen an, weil unsere Blicke in den Galerien wie auf unseren Spaziergängen parallel verliefen, vor uns auf die Leinwand und nicht aufeinandergerichtet waren, eine Voraussetzung unseres innigsten Austauschs; wir legten uns unsere Ansichten zurecht, während wir gemeinsam die buchstäbliche Ansicht vor uns konstruierten. Wir mieden den Blick des anderen nicht, und ich bewunderte ihre an einen verhangenen Himmel erinnernden Augen, dunkles Epithel und klares Stroma, aber wir verstummten in aller Regel, wenn unsere Blicke sich trafen. Das hieß, wir aßen beispielsweise schweigend oder unter belanglosem Geplauder zu Mittag, und beim darauffolgenden Spaziergang nach Hause erfuhr ich dann, dass bei ihrer Mutter Krebs im Spätstadium diagnostiziert worden war. Man hätte uns auf der Atlantic Avenue entlangspazieren sehen können, während ihr die Tränen übers Gesicht liefen und ich ihr den Arm um die Schultern gelegt hatte, unsere Blicke jedoch geradeaus nach vorne gerichtet waren; oder man hat mich vielleicht gesehen, wie ich bei einem meiner zunehmend häufigen Vorfälle von Tränenfluss in gleicher Weise getröstet wurde, während wir über die Brooklyn Bridge gingen, nicht so sehr ein Paar, sondern eine Kombination.

An jenem Tag standen wir vor Jules Bastien-Lepages Jeanne d’Arc – Alex ähnelt dieser Version von ihr ein wenig –, und sie sagte aus heiterem Himmel: «Ich bin sechsunddreißig und Single.» (Gott sei Dank hatte sie mit ihrem Letzten Schluss gemacht, einem geschiedenen Anwalt für Arbeitsrecht Ende vierzig, der einige Male für die Beratungsstelle gearbeitet hatte, deren Mitdirektorin Alex gewesen war, ehe die Einrichtung dichtgemacht hatte. Nach zwei Gläsern Wein begann er unweigerlich, jedem in Hörweite Geschichten über seine Zeit in Guatemala aufzutischen, wo er verdächtig vage humanitäre Arbeit geleistet hatte; nach drei Gläsern Wein verbreitete sich der Anwalt über die sexuelle Verklemmtheit und allgemeine Frigidität seiner Exfrau; nach vier oder fünf begann er diese unvereinbaren Diskurse miteinander zu verflechten, sodass Völkermord und seine Gefühle von sexueller Ablehnung in seinem Gelalle implizite Gleichwertigkeit gewannen. Jedes Mal, wenn ich dabei war, sorgte ich dafür, dass sein Glas stets voll war, und beschleunigte so den Hingang der Beziehung.) «In den letzten sechs Jahren ist kein Tag vergangen, an dem ich nicht ein Kind gewollt habe. Ich entspreche genau dem Klischee. Ich möchte, dass meine Mom mein Kind kennenlernt. Ich habe fünfundsiebzig Wochen Arbeitslosenunterstützung und Versicherung plus bescheidene Ersparnisse, und obwohl ich weiß, dass ich deshalb eigentlich mehr Angst denn je davor haben sollte, mich fortzupflanzen, gibt es mir in Wirklichkeit das Gefühl, dass es nie einen günstigen Zeitpunkt geben wird, dass ich nicht darauf warten kann, dass der berufliche und der biologische Rhythmus übereinstimmen. Wir sind beste Freunde. Du kannst nicht ohne mich leben. Wie wär’s, wenn du das Sperma spendest? Wir könnten uns darüber einigen, inwieweit du einbezogen wirst. Ich weiß, es ist verrückt, und ich will, dass du ja sagst.»

Das Vorhandensein der Zukunft

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Drei durchscheinende Engel schweben in der oberen linken Hälfte des Gemäldes. Sie haben Jeanne, die an einem Webstuhl im Garten ihrer Eltern gearbeitet hat, soeben aufgerufen, Frankreich zu retten. Ein Engel hält seinen Kopf in den Händen. Jeanne scheint auf den Betrachter zuzuwanken, einen Arm ausgestreckt, vielleicht in der Verzückung des Gerufenwerdens Halt suchend. Anstatt Zweige oder Blätter zu packen, scheint ihre Hand, die sorgfältig in der Sichtachse eines der anderen Engel platziert ist, sich aufzulösen. Laut dem Begleittext des Museums wurde Bastien-Lepage angegriffen, weil es ihm nicht gelungen sei, das Ätherische der Engel mit dem Realismus des Körpers der künftigen Heiligen zu versöhnen, aber ebendieses «Misslingen» macht es zu einem meiner Lieblingsgemälde. Es ist, als erzeugte die Spannung zwischen der metaphysischen und der physischen Welt, zwischen zwei Ordnungen von Zeitlichkeit, eine Störung in der Matrix des Bildes; der Hintergrund verschluckt Jeannes Finger. Während ich an jenem Nachmittag mit Alex dort stand, wurde ich an das Foto erinnert, das Marty in Zurück in die Zukunft, entscheidender Film meiner Jugend, mit sich führt: Während Martys Zeitreise die Vorgeschichte seiner Familie zerrüttet, beginnen er und seine Geschwister auf dem Foto zu verblassen. Nur ist es hier etwas Vorhandenes, nicht etwas Fehlendes, das ihre Hand zersetzt: Sie wird in die Zukunft gezogen.

Das Fehlen der Zukunft

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Wir konstruierten gemeinsam ein Schuhschachtel-Diorama als Begleitmaterial zu dem Buch über das wissenschaftliche Durcheinander bezüglich des Brontosaurus, das Roberto und ich im Selbstverlag herauszubringen planten: Im neunzehnten Jahrhundert hatte ein Paläontologe den Schädel eines Camarasaurus auf ein Apatosaurus-Skelett gesetzt und geglaubt, er habe eine neue Gattung entdeckt, sodass einer der beiden maßgeblichen Dinosaurier meiner Jugend, wie sich herausstellte, gar nicht existiert hat, eine Korrektur, die, zusammen mit der Degradierung des Pluto vom Planeten zum Zwergplaneten, meiner kindlichen Weltsicht, meinem erinnerten Sinn sowohl für galaktischen Raum als auch für geologische Zeit, rückblickend einen schweren Schlag versetzte. Roberto war ein Achtjähriger aus der dritten Klasse meines Freundes Aaron an einer bilingualen Schule in Sunset Park. Ich hatte Aaron gefragt, ob es eine Möglichkeit gäbe, wie ich einem seiner Schützlinge von Nutzen sein und mich bei dieser Gelegenheit im Spanischen üben konnte. Roberto war intelligent und umgänglich, aber für Ablenkungen noch empfänglicher als das durchschnittliche Kind, und Aaron war der Ansicht, unsere Arbeit an einer Reihe von Projekten nach dem Unterricht könnte ihm Formen von Konzentration nahebringen oder wenigstens vorführen. Ich hatte keine offizielle Erlaubnis, mich in der Schule aufzuhalten, allerdings hatte Aaron Robertos Mutter gefragt – und dabei hervorgehoben, dass ich ein veröffentlichter Autor sei –, ob sie sich mit diesem Vorhaben anfreunden könne, und das konnte sie.

Bei unserer ersten Zusammenkunft reagierte Roberto allergisch auf die Nüsse in den Müsliriegeln, die ich mitgebracht, aber nicht von Aaron hatte absegnen lassen, und während der Junge puterrot anlief und röchelte, dabei aber unentwegt lächelte, packte mich animalische Angst; ich stellte mir vor, ich müsste ihm mit einem Bleistift die Luftröhre öffnen. Zum Glück kam Aaron von seiner Besprechung in einem benachbarten Klassenzimmer zurück, beruhigte mich und erklärte, Robertos Allergie sei nicht sehr ausgeprägt, die Reaktion werde bald vorübergehen, aber ich solle in Zukunft vorsichtig sein; er wusste nicht, dass ich einen Snack mitgebracht hatte. In der dritten oder vierten Nachhilfewoche, als Aaron wieder nicht im Zimmer war, meuterte Roberto aus heiterem Himmel und teilte mir mit, er gehe jetzt seine Freunde suchen, und da ich nicht sein Lehrer war, konnte ich ihn nicht daran hindern. Er schoss den Flur entlang, und ich ging ihm rasch nach, die Wangen von einer Verlegenheit glühend, die jeder erwachsene Zeuge, wie ich befürchtete, für eine Abart von Lüsternheit halten würde. Schließlich entdeckte ich ihn in einer Ecke der Sporthalle, die zugleich die Cafeteria war, in einem kleinen Kreis seiner Klassenkameraden, der sich um einen wahrhaft gargantuesken Wasserwanzenkadaver gebildet hatte, und konnte ihn nur mit dem Versprechen, ihn mit meinem iPhone spielen zu lassen, ins Klassenzimmer zurücklocken.

Inzwischen, im dritten Monat dieser Nachhilfe, waren wir gute Freunde: Als Snack brachte ich frisches Obst mit, das er nie aß, und Aaron hatte Robertos Mom veranlasst, dem Jungen den Kopf zurechtzusetzen, was den Ungehorsam mir gegenüber anging. Unter dem unmittelbaren Eindruck der Diagnose, als ich alle paar Minuten glaubte, die Dissektion sei im Gange, war ich nur in der Zeit, in der ich Roberto dazu zu bringen versuchte, sich auf die Mythologie des Kraken oder die kürzlich entdeckten Überreste eines prähistorischen Hais zu konzentrieren, selbst von der potenziell tödlichen Schwellung meines Sinus Valsalva abgelenkt.

So saß ich nur wenige Tage nach der Marfan-Bewertung wieder in einem Stuhl von kindgerechter Größe und schnitt mit einer jener unhandlichen Grundschulscheren verschiedene Dinosaurier aus, die wir aus dem Internet auf Bastelpapier kopiert hatten und die – fraglos zeitwidrig, weil wir nicht die Geduld hatten festzustellen, welche Dinosaurier welcher geologischen Epoche entsprachen – dem Apatosaurus in dem Diorama als Beute oder Gesellschaft dienen sollten, als Roberto ein Thema wieder aufgriff, das in seine Träume eingegangen war, seit er auf dem Discovery Channel eine Sendung über den Anbruch einer zweiten Eiszeit gesehen hatte.

«Wenn alle Wolkenkratzer gefrieren, werden sie einstürzen wie am elften September», sagte er in seinem typisch fröhlichen Ton, aber etwas leiser, «und alle zermalmen.» Roberto neigte dazu, zur Kennzeichnung von Ernst und Emotionalität nicht den Ton, sondern die Lautstärke zu modulieren.

«Wenn es anfinge, richtig kalt zu werden, würden die Wissenschaftler vielleicht ein neues Heizsystem für die Gebäude erfinden», sagte ich.

«Aber die globale Erwärmung», sagte er, zwar lächelnd, sodass man die Lücke sah, wo er einen bleibenden Schneidezahn erwartete, aber beinahe flüsternd, ein Zeichen echter Angst.

«Ich glaube nicht, dass es noch eine Eiszeit geben wird», log ich, während ich ein weiteres ausgestorbenes Tier ausschnitt.

«Du glaubst nicht an die globale Erwärmung?», fragte er.

Ich schwieg kurz. «Ich glaube nicht, dass Gebäude auf jemanden stürzen werden», sagte ich. «Hast du wieder geträumt?»

«In meinem schlimmen Traum kommt Joseph Kony mich holen, und –»

«Joseph Kony?»

«Der böse Mann aus Afrika, aus dem Film.»

«Was weißt du denn von Joseph Kony?»

«Ich habe auf YouTube was über ihn gesehen und dass er in Afrika die ganzen Leute umbringt.»

«Aber warum sollte Joseph Kony nach Brooklyn kommen? Was hat das mit der globalen Erwärmung zu tun?»

«In meinem schlimmen Traum gefrieren alle Gebäude, nachdem die globale Erwärmung eine Eiszeit gemacht hat, und die Gefängnisse platzen auch alle auf, und dann kommen durch die Risse die ganzen Killer raus und verfolgen uns, und Joseph Kony verfolgt uns, und wir müssen nach San Salvador flüchten, aber sie haben Hubschrauber und Nachtsichtgeräte, und wir haben sowieso keine papeles, deswegen können wir nirgendwohin.» Er hörte mit Ausschneiden auf und legte zuerst das Kinn, dann die Stirn auf den Tisch.

Ein immer häufiger auftretendes Schwindelgefühl wie eine vorübergehende, aber vollständige Agnosie, bei der der Gegenstand in meiner Hand, in diesem Fall eine grüne Kinderschere, aufhört, ein vertrautes Werkzeug zu sein, zum fremden Artefakt wird und mir dadurch auch die Hand selbst entfremdet, ein Zustand, hervorgerufen durch die Ahnung eines Zusammenbruchs von Raum und Zeit oder, paradoxerweise, durch das überwältigende Gefühl von deren plötzlicher Integration, wie etwa dann, wenn ein ugandischer Warlord via YouTube in dem in Brooklyn spielenden Traum eines illegal eingewanderten salvadorianischen Jungen auftaucht, einem Traum von einer Zukunft, die von einem dramatischen Klimawandel und einem imperialen Justizsystem ruiniert wird, das ihn zur Staatenlosigkeit verurteilt; wie ich neigte Roberto dazu, sich das Globale apokalyptisch vorzustellen.

Ich forderte ihn auf, mich anzusehen, und versprach ihm dann in zwei Sprachen das Einzige, was ich ihm versprechen konnte: dass er von Joseph Kony nichts zu fürchten hatte.

Nachdem ich ihn vor der Schule seiner Mutter Anita übergeben hatte – nicht ohne zunächst um die Erlaubnis zu bitten, uns beiden bei einer silberhaarigen, in eine hellrote Decke gehüllten Frau churros kaufen zu dürfen, einer der vielen Verkäuferinnen, die jedes Mal auftauchten, wenn der Unterricht oder die nachschulischen Veranstaltungen endeten, und bei jedem Wetter churros und bei warmem Wetter helados verkauften, umschwärmt von schönen Kindern, wobei in dieser kurzen Öffentlichkeit mehr lebenssprühende Mütterlichkeit, Generationenaustausch und Sprachenvielfalt stattfanden, als ich in meiner gesamten Kindheit in Topeka wahrgenommen hatte –, trat ich nicht, wie es eigentlich meiner Gewohnheit entsprach, den langen Weg nach Hause an, sondern ging stattdessen, von einer subtilen Kraft dorthin gezogen, ins Gebäude zurück. Die Schule hatte sich rasch geleert; abgesehen von einem Hausmeister und einem ungeheuer fettleibigen Wachmann, mit dem ich ein rituelles Nicken wechselte, hielten sich nur ein paar Lehrer darin auf, die sich in ihren Zimmern vergraben hatten, Sternchen aufklebten, Unterricht planten oder Zedernholzspäne in Drahtkäfige zurücktaten, Wesenheiten, die ich ahnen konnte, während ich durch die Flure zu streifen begann und dabei mit der Hand über die Autumnalien aus Bastelpapier strich: Laubwerk, das seine Wachskreidefarbe wechselte, Füllhörner, Truthähne, deren Körper von den Strichen vielfingriger Extremitäten gebildet wurden.

Wissen Sie, was ich meine, wenn ich sage, dass ich mich, als ich im ersten Stock angekommen war und das Wachspapier weggeworfen hatte, in der Randolph Elementary School befand und sieben Jahre alt war und dass der Wandschmuck nun aus Briefen an Christa McAuliffe in übertriebener Kursivschrift bestand, Glückwünsche für die Challenger-Mission, die nur ein paar Monate in der Zukunft lag? Ich gehe durch die Tür von Mrs. Greiners Klassenzimmer und finde zu meiner Bank, der Stuhl ist mir nicht mehr zu klein, und unter den Planeten in dem Styropor-Mobile, das an der Decke hängt, ist auch Pluto. Meine Eltern sind in der Menninger Clinic; mein älterer Bruder ist in dem Klassenzimmer direkt über meinem; Joseph Kony erlangt gerade als Führer einer christlich-fundamentalistischen Miliz Berühmtheit; meine Aorta ist noch unauffällig oder auch nicht; der Heizkörper in der Ecke klopft, weil der November früher oft kalt ist. Das Klassenzimmer ist nicht leer, aber seine Wesenheiten flimmern: In der Bank neben mir erscheint Daniel, dessen Arme stets ein Flickwerk aus Peanuts-Heftpflastern und Hämatomen sind und der dieses Frühjahr in die Notfallambulanz kommen wird, weil er – von mir herausgefordert – eine Geleebombe gefährlich tief in die Nase eingeatmet hat, Daniel, der in der Mittelschule als Erster von uns mit dem Rauchen anfangen wird, damals aber wegen seiner Angewohnheit bekannt ist, heimlich Domino-Zuckerpäckchen zu naschen. Es ist eine traurige Arbeit, ein Diorama der Zukunft mit einem Jungen zu basteln, von dem man weiß, dass er sich mit neunzehn aus welch komplizierten Gründen auch immer im Keller seiner Eltern erhängen wird, aber sie ist uns aufgegeben worden, und Mrs. Greiner steht vor uns, um zu überprüfen, wie wir vorankommen, und der synthetische Kokosnussduft ihrer Lotion vermischt sich mit dem Geruch von Gummiklebstoff. Ich werde Daniels Bildnis machen und er meins, aber das Raumschiff konstruieren wir gemeinsam und lassen es wie einen Modifikator in fortwährender Auflösung an einer Schnur baumeln.

Und ich möchte den Schulkindern Amerikas etwas sagen, die die Live-Übertragung vom Start des Shuttles gesehen haben. Ich weiß, es ist schwer zu begreifen, aber manchmal passieren solche schmerzlichen Dinge. Das gehört zum Prozess der Erforschung und Entdeckung. Es gehört dazu, wenn man Wagnisse eingeht, um den menschlichen Horizont zu erweitern. Die Zukunft gehört nicht den Kleinmütigen; sie gehört den Tapferen. Die Mannschaft der Challenger war dabei, uns in die Zukunft zu ziehen, und wir werden ihr weiter folgen.

Dabei, uns in die Zukunft zu ziehen

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Ein ungewöhnlich großes zyklonisches Windsystem mit warmem Kern näherte sich New York. Der Bürgermeister leitete noch nie da gewesene Schritte ein: Er unterteilte die Stadt in Zonen und ordnete Evakuierungen der tiefer liegenden an; er gab bekannt, dass das U-Bahn-System geschlossen werde, bevor der Sturm auf Land treffe; möglicherweise würden Teile von Lower Manhattan vorsorglich vom Stromnetz genommen. Einige spekulierten, dass der Bürgermeister, nachdem er im vorigen Winter wegen seiner langsamen Reaktion auf einen Rekordschneesturm kritisiert worden sei, nun mit Berechnung überreagiere und herausstreichen wolle, wie gut er vorbereitet sei, aber sein Ton bei den immer häufigeren Pressekonferenzen schien weniger nüchterne Autorität als echte Angst auszudrücken, als gehörte er selbst zu denen, die er immer wieder eindringlich aufforderte, Ruhe zu bewahren.

Von einer Million Medien aus, größtenteils Handgeräten, sickerte ein Bewusstsein von dem Sturm in die Stadt ein, durchdrang die Architektur und die robusten Sperlingsvögel, wirkte auf Verkehrsmuster und die «verbesserten Sykomoren», die so heißen, weil es sich um spezielle Kreuzungen für das Leben in der Großstadt handelt. Ich will damit sagen, die Stadt wurde zu einem einzigen Organismus, der sich in Bezug auf eine vom Weltraum aus sichtbare Drohung konstituierte, ein luftiges Seeungeheuer mit einem einzigen Auge in der Mitte, um das tentakelartige Regenbänder wirbelten. Es gab unzählige Apps, mit denen man es verfolgen konnte, Apps mit farbkodierter Doppler-Sonographie zur Anzeige der Niederschlagsintensität, dieselbe Technologie, die man verwendet hatte, um die Fließgeschwindigkeit des Blutes in meinen Arterien zu messen.

Weil jedes Gespräch, das man beim Schlangestehen, auf der Straße oder in der U-Bahn zufällig mitbekam, immer öfter ein gemeinsames Thema hatte, gab es bald nur noch ein einziges gemeinsames Gespräch, dem man sich anschließen konnte und das die herkömmlichen Trennwände im sozialen Raum abbaute; auf der Fahrt mit dem N Train zum Whole Foods am Union Square ertappte ich mich dabei, dass ich mit einem chassidischen Juden und einer westindischen Krankenschwester in lila Klinikkluft Voraussagen zur Fluthöhe austauschte. In der Canal Street schloss sich uns eine Jugendliche an, deren Körper kleiner wirkte als der auf ihren Rücken geschnallte Cellokasten. Sie erklärte, der Weltuntergangs-Hype ziele darauf ab, Lower Manhattan menschenleer zu machen, damit die Polizei in jeder Wohnung Wanzen und andere Abhörgeräte installieren könne. Wir unterbrachen unser Gespräch, als eine Mariachi-Band, die aus drei Männern Mitte zwanzig bestand, von denen einer eine gerade geschnittene Hose aus besticktem Musselin trug, «Toda Una Vida» anstimmte. Es war schwer zu sagen, ob sie besonders gut spielten oder ob wir Fahrgäste im Glanz unserer zunehmenden Geselligkeit besonders geneigt waren, sie oder die Musik im Allgemeinen zu schätzen. Jedenfalls lag ungewöhnlich viel Pathos in dem Stück, Beifall, und dann ungewöhnlich viel Geld im Hut.

Beim Aussteigen stellte ich fest, dass es vollständig Nacht war, die Luft erregt von banger Ahnung und noch etwas anderem, etwas wie dem Gefühl eines Schneetages in der Kindheit, wenn sich die Zeit von den Institutionen freigemacht hatte, wenn der Schnee wie eine Technik zur Überwindung der Zeit oder die überwundene Zeit selbst anmutete, die vom Himmel fiel, jedes glitzernde Eisteilchen ein vom Alltag zurückgeschenkter Augenblick. Nur war die materielle Form der Erregung diesmal nicht Eis: Die Luft um den Union Square war schwer von Wasser in seinem gasförmigen Zustand, einer für New York untypischen, tropischen Feuchtigkeit, einem ominösen Medium. Vor dem Whole Foods, wo Alex sich mit mir verabredet hatte – es war eine unsinnige Idee, im Whole Foods einzukaufen, da es immer schon gerammelt voll war, aber sie führten als Einzige einen Tee, von dem Alex abhängig zu sein behauptete, eine ihrer ganz wenigen Schwächen –, sprach eine von Kunstlicht übergossene Reporterin in eine Kamera von einem Ansturm auf Taschenlampen, Konserven, Flaschenwasser. Hinter ihr flitzten Kinder hin und her und blieben ab und zu stehen, um zu winken.

Alex begrüßte mich, und ich vermerkte bei mir einen Unterschied in ihrer Erscheinung, ein nicht näher zu bestimmendes Strahlen, doch während wir uns so sanft wie möglich durch die Menge zu schieben begannen, wurde mir klar, dass die Veränderung höchstwahrscheinlich in meinem Blick lag, weil ich alles, was noch in den Regalen stand, ebenfalls als leicht verändert, leicht aufgeladen empfand. Der relative Mangel war seltsam anzuschauen: In den normalerweise hellen Gängen mit ihrer Überfülle klafften nun große Lücken, zumal bei den abgepackten Grundnahrungsmitteln, obwohl im künstlichen Nebel auch noch jede Menge sündteure organische Produkte schimmerten. Alex hatte so etwas wie eine Liste – netzunabhängiges Radio, Dynamo-Taschenlampe, Kerzen, diverse Nahrungsmittel; es gab zu dieser Zeit fast nichts mehr davon. Das war uns egal, und wir zirkulierten im Strom anderer Kunden durch das riesige Geschäft, Kunden, die ungewöhnlich höflich und trotz der Anwesenheit von Polizisten bei den Kassen ungewöhnlich beschwingt waren.

Ich möchte sagen, ich fühlte mich stoned, sagte das auch zu Alex, die sagte: «Ich auch», doch was ich meinte, war, dass der nahende Sturm die Routine des Einkaufs gerade so stark verfremdete, dass er mir sowohl das Wunderbare als auch das Unsinnige der alltäglichen Ökonomie instinktiv bewusstmachte. Schließlich fand ich etwas, was auf der Liste stand, etwas Unverzichtbares: Instantkaffee. Ich hielt die rote Plastikdose, eine der drei letzten im Regal, in der Hand, hielt sie wie das Wunderwerk, das sie war: Die Bohnen in den lila Früchten waren auf Andenhängen geerntet, dann geröstet, gemahlen und gewässert, dann in einer Fabrik in Medellin vakuumverpackt und nach JFK geflogen, dann in großen Gebinden upstate nach Pearl River gefahren und neu verpackt und dann per Lkw zu dem Geschäft zurücktransportiert worden, wo ich jetzt stand und das Etikett las. Es war, als ob die sozialen Beziehungen, die den Gegenstand in meiner Hand hervorbrachten, darin zu leuchten begännen, da sie bedroht waren, als ob sie sich in ihrer Verpackung regten und ihr eine bestimmte Aura verliehen – die Majestät und mörderische Dummheit jener Organisation von Zeit, Raum, Treibstoff und Arbeit wurden an der Ware selbst sichtbar, nun da Flugzeuge mit einem Startverbot belegt und die Highways nach und nach gesperrt wurden.

Alles wird so sein, wie es jetzt ist, nur ein klein wenig anders –nichts an mir oder an dem Geschäft hatte sich verändert, außer vielleicht meine Aorta, doch bei genauerem Hinsehen wurde, was einem normalerweise wie die einzig mögliche Welt vorkam, zu einer unter vielen, deren Sinn, wie kurz auch immer, überall offen zutage lag – in der vorübergehenden Allgemeinheit einer U-Bahn, in einem Behälter mit geschmacklosem Kaffee.

Alex fand ihren Tee. Wir bekamen einen der letzten Kästen mit Flaschenwasser – Alex wollte ihn tragen, weil ich nichts heben darf, was so schwer ist, dass es den intrathorakalen Druck erhöht, aber ich ließ sie nicht –, und dann, da wir Hunger hatten, gingen wir zu den dampfenden Buffets mit fertig zubereiteten Gerichten, an diesem Abend der am wenigsten umlagerte Teil des Geschäfts, und beluden uns die Teller mit einem unstimmigen Gemisch überteuerter, verderblicher Waren: Samosas, vegetarisches Hähnchen, Hähnchen, diverse Gerichte mit Quinoa, Caprese-Salat. Als wir das Essen, unseren Tee und den Kaffee bezahlten, witzelten wir mit der jungen Kassiererin, in deren schwarzem Haar rosa Glanzlichter schimmerten, darüber, wie schlecht wir vorbereitet waren, nahmen dann die U-Bahn in unser Viertel und beschlossen, als wir bei unserer Station ankamen, in Alex’ Wohnung zu gehen.

Wir bogen in die Straße ein, in der sie wohnte, und es begann zu regnen, aber es kam mir so vor, als regnete es in ihrer Straße schon eine ganze Weile und wir wären hineingelaufen und hätten den Regen geteilt wie einen Perlenvorhang. Vielleicht hielt ich meine verstärkte Aufmerksamkeit für den Wind fälschlich für sich verstärkenden Wind. Wir kamen am Gemeinschaftsgarten vorbei und sahen zwei Mädchen in irgendeiner heimlichen Bemühung die Köpfe zusammenstecken. Ich dachte, sie versuchten, eine Zigarette anzuzünden, doch dann traten sie auseinander, und wir konnten die Wunderkerzen sehen, die sie in der Hand hielten, strahlend weißes Magnesium, das langsam in Orange überging. Ein kleiner Hund kläffte die sprühenden Funken an, während die Mädchen sich in Kreisen lachend durch den Garten bewegten, vielleicht ihren Namen schrieben. Mir wurde deutlich bewusst, dass nichts in eng eindrehendem Landeanflug langsam blinkend über den Himmel zog, dass niemand von oben auf die Stadt herabschaute.

In Alex’ Wohnung machten wir die Gerichte auf dem Herd warm, während wir uns die neuesten Radiomeldungen über die Entwicklung des Sturms – er gewann an Stärke – anhörten, und wir taten das Meiste von dem, was man uns riet: füllten jeden geeigneten Behälter, den wir finden konnten, mit Wasser, zogen den Stecker diverser Geräte, legten Batterien für das Radio und die Taschenlampen bereit. Wie ich zu meiner Freude sah, verfügte Alex über beträchtliche Weinvorräte, das Meiste wahrscheinlich eine Hinterlassenschaft des Anwalts, und ich öffnete die Flasche Rotwein, deren Etikett die älteste Jahreszahl aufwies, und fand Vergnügen an der Gewissheit, dass ihr Wert an mich verschwendet sein würde. Ich goss mir etwas in ein sauberes Marmeladenglas ein, und während Alex ein letztes Mal duschte, ehe wir die Badewanne füllen mussten, betrachtete ich die inzwischen nicht mehr ganz vertrauten Fotos an ihrem Kühlschrank: Da war Alex als Kind – kariertes Baumwollkleid und Zöpfe – mit ihrer Mom und ihrem Stiefvater; da war ich mit Alex’ kleiner Cousine zweiten Grades, die sie als ihre Nichte bezeichnete, auf einer Party im vergangenen Sommer: Ich setzte ihr gerade mit gespielter Feierlichkeit eine Bastelpapierkrone auf den Kopf, während auf dem Kuchen neben ihr magische Kerzen strahlten. Alles auf dem Foto war wie immer, nur anders, als ob das Bild neuerdings unbestimmt wäre, zwischen Zeitlichkeiten flimmerte. Dann wieder nicht. Eine Aufstellung von Arbeitslosenunterstützungszahlungen war mit einem Magneten der NYU School of Public Service am Kühlschrank befestigt.

Erst als wir uns hinsetzten, um – obwohl wir noch Strom hatten – beim Licht einiger Votivkerzen zu essen, die Alex entdeckt hatte, empfanden wir die Gefahr und das Ausmaß des Sturms als real, vielleicht weil unser Essen die Anmutung eines letzten Abendmahls hatte, vielleicht weil das gemeinsame Essen ein hinlängliches Gefühl von Häuslichkeit erzeugte, an dem wir die Bedrohung ermessen konnten. Im Radio hieß es, der Sturm werde gegen vier Uhr morgens auf Land treffen; jetzt war es gegen zehn, und die Wasserstände waren bereits beunruhigend hoch. Wie gut, fragte das Radio, sind Sie auf Tage ohne fließendes Wasser vorbereitet? Das Essen schmeckte besser, als es war, da es durchaus sein konnte, dass wir eine ganze Weile nichts Besseres bekommen würden, und Alex aß ihres auf, obwohl wir gegen Ende eines Essens meistens die Teller tauschten, damit ich essen konnte, was sie übrig gelassen hatte. Während ich die Flasche leerte, bat sie mich, mich nicht zu betrinken, jedenfalls nicht, solange wir nicht wussten, wie schlimm es werden würde. Du hast bestimmt keine Lust auf einen Kater, wenn es kein Wasser gibt, sagte sie, während sie ihre braunen Haare zu einem hohen Pferdeschwanz zusammenband, und ich lasse dich nicht unseren Vorrat wegtrinken.

Trank ich teils deshalb so schnell, weil es mir ein bisschen unangenehm war, bei Alex zu übernachten, etwas, was ich schon unzählige Male getan hatte? Mir war nur mulmig wegen des Sturms, sagte ich mir, während ich den Tisch abräumte und das wenige Geschirr abwusch. Unserer Gewohnheit entsprechend beschlossen wir, einen Film an die Schlafzimmerwand zu projizieren; ein früherer Arbeitgeber hatte ihr einen LCD-Beamer geschenkt, den sie an ihren Computer anschließen konnte. Weil das Internet jeden Moment auszufallen drohte, trafen wir unsere Auswahl unter den wenigen DVDs, die sie besaß. Ich fand Der dritte Mann am besten, vielleicht weil der Film in einer zerstörten Stadt spielt, und legte die DVD ein, während Alex sich einen Pyjama anzog, dann gingen wir zusammen ins Bett, wobei ich meine Straßenkleidung anbehielt, Transistorradio und Taschenlampe neben mir auf dem Nachtschränkchen, falls der Strom ausfiel.

Die Schatten der Bäume, die sich im auffrischenden Wind vor Alex’ Fenster bogen, bewegten sich über das projizierte Bild an der weißen Wand, wurden Teil des Films, als hielten sie den Takt der Zithermusik; wie leicht sich Welten wechseln lassen, sagte ich mir und dann Alex, die mich aufforderte, still zu sein – ich hatte die schlechte Angewohnheit, über das, was wir sahen, zu reden. Wir sahen zu, bis Alex schlief und Orson Welles in Wien von einem Freund umgebracht worden war, und ich konnte stärker werdenden Regen auf dem kleinen Oberlicht hören und machte mir Sorgen, dass es vielleicht bald von herumfliegenden Trümmerteilen zerschmettert wurde. Als der Film zu Ende war, sah ich die anderen DVDs durch und legte Zurück in die Zukunft ein, das ich irgendwann einmal in der Fourth Avenue in einem Karton mit aussortierten DVDs gefunden hatte, aber ich spielte es ohne Ton, um Alex nicht zu wecken. Ich stöpselte Ohrhörer in das Radio, steckte mir einen ins linke Ohr und hörte die Wetterberichte, während Marty ins Jahr 1955 zurückreiste – übrigens das Jahr, in dem zum ersten Mal eine Stadt mit Atomstrom beleuchtet wurde: Arco, Idaho, 1961 außerdem Ort der ersten Kernschmelze – und sich dann ins Jahr 1985 zurückarbeitete, als ich sechs war und die Kansas City Royals die World Series gewannen, teils weil eine lächerliche Schiedsrichterentscheidung – Orta war in der Zeitlupe schon an der ersten Base eindeutig out – ein siebtes Spiel erzwang. Im Film fehlt den Reisenden Plutonium als Treibstoff für die Zeitmaschine, während es im wirklichen Leben in die Erde von Fukushima gesickert ist; Zurück in die Zukunft war seiner Zeit voraus. Während ich mir den stummen Film ansah, begann ich mir über die Reaktoren von Indian Point, nur ein kurzes Stück flussaufwärts, Sorgen zu machen.

Plötzlich wurde ich mir eines seltsamen Sinneseindrucks bewusst: eines leisen Echos des Radios in dem Ohr ohne Ohrhörer. Ich brauchte eine Weile, um mir klarzumachen, dass die Nachbarn in der Wohnung darunter denselben Sender hörten. Ich drehte mich zu Alex und sah zu, wie die Farben des Films über ihren schlafenden Körper flimmerten, bemerkte das Goldkettchen, das sie immer in Schlüsselbeinhöhe um den Hals trug. Ich steckte ihr eine lose Haarsträhne hinters Ohr und ließ dann die Hand über ihr Gesicht und ihren Hals gleiten und über ihre Brust und ihren Bauch streichen, in einer einzigen, langsamen Bewegung, die, wie ich mir halbherzig einzureden versuchte, zufällig war. Während ich die Hand wieder auf ihre Haare legte, sah ich, dass ihre Augen offen waren. Es bedurfte meiner ganzen Willenskraft, ihrem Blick standzuhalten, den meinen nicht abzuwenden und damit einen Übergriff einzugestehen; in ihren Augen, so schien es, lag nur Neugier, keine Beunruhigung. Nach einigen Augenblicken griff ich nach meinem Glas Wein, wie um anzudeuten, dass es dem Alkohol zuzuschreiben war, wenn etwas Ungewöhnliches vorgefallen war; als ich wieder in ihr Gesicht sah, waren ihre Augen geschlossen. Ich stellte das Glas zurück, ohne getrunken zu haben, legte mich neben sie, starrte sie lange Zeit an und strich ihr dann mit dem Handteller die Haare zurück. Sie griff, vielleicht im Schlaf, nach oben, nahm meine Hand und drückte sie sich an die Brust, ob um mich aufzuhalten oder um mich zu ermutigen oder weder noch, konnte ich nicht sagen. In dieser Position lagen wir da und warteten auf den Wirbelsturm.

Irgendwann driftete ich in seltsame Träume ab, in die das Radio eindrang, und ich schreckte aus dem Schlaf hoch, überzeugt, ich hätte zerklirrendes Glas gehört. Laut meinem Handy war es 4:43 Uhr, an der Wand war immer noch das Hauptmenü der DVD zu sehen, somit war der Strom nicht ausgefallen. Ich konzentrierte mich auf das, was die Stimme in meinem Ohr sagte: Irene war heruntergestuft worden, bevor sie festes Land erreicht hatte, in den Rockaways und Red Hook war es zu leichten Überschwemmungen gekommen, die Formulierung «noch einmal glimpflich davongekommen» wurde wiederholt, desgleichen «Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste». Ich stand auf und trat ans Fenster; es regnete noch nicht einmal stark. Das Gelb der Straßenlaternen offenbarte ein vertrautes Bild; ein paar Äste waren heruntergefallen, aber es war kein Baum umgestürzt. Ich ging in die Küche, trank ein Glas Wasser und warf einen Blick auf den Instantkaffee auf der Arbeitsplatte, und er war nicht mehr ein klein wenig anders als er selbst, kein Bote mehr aus einer kommenden Welt; in meine Erleichterung über das Ausbleiben des Sturms mischte sich Enttäuschung.

Ich schaltete den Beamer aus, und Alex murmelte etwas im Schlaf und drehte sich um. Ich sagte: «Alles in Ordnung, ich gehe jetzt nach Hause», sagte es, nur damit ich sagen konnte, ich hätte es gesagt, falls sie sich später darüber aufregte, dass ich gegangen war, ohne es ihr zu sagen. Ich erwog, sie auf die Stirn zu küssen, verwarf den Gedanken aber sofort wieder; was auch immer an körperlicher Intimität zwischen uns eröffnet worden war, hatte sich mit dem Sturm aufgelöst; selbst jene relativ onkelhafte Geste erschiene uns beiden jetzt seltsam. Ja mehr noch: Es war, als ob die körperliche Intimität mit Alex, genau wie die Umgänglichkeit mit Fremden oder die Aura von Gegenständen, nicht einfach nur vorüber, sondern rückwirkend gelöscht war. Weil jene Momente von einer Zukunft ermöglicht worden waren, die niemals eingetreten war, konnte man sich ihrer auch nicht von dieser Zukunft aus erinnern, die sich in der Gegenwart und als Gegenwart durchgesetzt hatte; sie waren aus dem Foto verblasst.

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Als wir uns voneinander lösten, meinte ich Alenas kondensierten Atem in der Luft langsamer gehen zu sehen, aber in der Wohnung war es dafür zu warm; dessen ungeachtet kehrte ihr Körper, so schien es, viel rascher zur Homöostase zurück als meiner. Sie erhob sich von der Matratze und strich sich das Kleid glatt, das sie gar nicht erst ausgezogen hatte, und ich sammelte mich, folgte ihr auf die Feuertreppe und ließ die Lichter der höheren Gebäude auf mich wirken, die um uns herum aufragten und nun alle einen Nimbus hatten. Sie zog eine Zigarette aus einem Päckchen, das schon auf einer mit Sand gefüllten Farbendose gelegen haben muss, und entzündete es, indem sie ein überall anzustreichendes Streichholz – dessen Herkunft mir dunkel blieb – über die Ziegelwand des Gebäudes zog. «Nun ist es aber gut», sagte ich – ich sprach von ihrer geballten, unwahrscheinlichen Coolness, und sie schnaubte leicht, als sie lachte, hustete dann Rauch und wurde real.

«Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt.» – Walter Benjamin

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