Die Topeka Schule - Ben Lerner - E-Book

Die Topeka Schule E-Book

Ben Lerner

0,0
11,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die Topkea Schule ist die Geschichte einer Familie um die Jahrtausendwende. Die Geschichte einer Mutter, die sich von einem Missbrauch befreien will; eines Vaters, der seine Ehe verrät; eines Sohnes, dem die ganzen Rituale von Männlichkeit suspekt werden und der zunehmend verstummt. Eine Geschichte von Konflikten und Kämpfen und versuchten Versöhnungen.

In einer an Wundern reichen Sprache erzählt Ben Lerner vom drohenden Zusammenbruch privater und öffentlicher Rede und unserer heutigen Gesellschaft – davon, wie es so weit gekommen ist und wo es mit uns hingehen könnte.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 475

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Titel

Ben Lerner

Die Topeka Schule

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Nikolaus Stingl

Suhrkamp

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel The Topeka School bei Farrar, Straus & Giroux, New York.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2020

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 5181.

© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2020© 2019 by Ben LernerSuhrkamp Taschenbuch VerlagAlle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.

Umschlagfoto: The Hesston Tornado. From The Wichita Eagle, © 1990 McClathy. All rights reserved. Used under license.

Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg

eISBN 978-3-518-75344-6

www.suhrkamp.de

Widmung

Für meinen Bruder Matt

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Hinweise zum eBook

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Darren malte sich aus

Schnellsen. (Adam)

Brechen mein Gebein

Speech Shadowing. (Jonathan)

Dinge, die Darren träumte

Die Männer

.

(

Jane

)

Darren half seinem Nachbarn

Die Cypher. (Adam)

Frost hatte das Gras

Die New Yorker Schule. (Jonathan)

An der Decke

Paradoxe Effekte. (Jane)

Darren betrachtet sie

Olde English. (Adam)

Thematische Apperzeption. (Adam)

Danksagung

Informationen zum Buch

Hinweise zum eBook

Darren malte sich aus

Darren malte sich aus, wie er mit seinem Metallstuhl den Spiegel zerschmetterte. Aus dem Fernsehen wusste er, dass dahinter im Dunkeln möglicherweise Leute waren, dass sie ihn sehen konnten. Er glaubte den Druck ihrer Blicke auf seinem Gesicht zu spüren. In Zeitlupe ein Glasregen, die heimlich Anwesenden zum Vorschein gebracht. Er hielt den Glasregen an, spulte zurück, sah zu, wie er erneut fiel.

Der Mann mit dem schwarzen Schnurrbart fragte ihn ständig, ob er etwas zu trinken wolle, und schließlich sagte Darren: heißes Wasser. Der Mann ging das Getränk holen, und der andere, der keinen Schnurrbart hatte, fragte Darren, wie er sich fühle. Darfst dir ruhig die Beine vertreten.

Darren blieb sitzen. Der Mann mit dem Schnurrbart kam mit dem dampfenden braunen Pappbecher und einer Handvoll roter Trinkhalme und kleiner Beutel wieder: Nescafé, Lipton, Sweet’n Low. Such dir was aus, von irgendwas muss man ja sterben, sagte er, aber Darren wusste, dass das ein Scherz war; sie würden ihn nicht vergiften. An der Wand hing ein Poster: KENNE DEINE RECHTE, darunter Kleingedrucktes, das er nicht lesen konnte. Sonst gab es nichts anzustarren, während der Mann ohne Schnurrbart redete. Die Lampen im Raum waren so, wie die Lampen in der Schule gewesen waren. Schmerzhaft grell bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen er aufgerufen wurde. (»Erde an Darren«, Mrs. Greiners Stimme. Dann das vertraute Gelächter seiner Altersgenossen.)

Er senkte den Blick und sah in das Holzfurnier gekratzte Initialen, Sterne und Ziffern. Er zeichnete sie mit den Fingern nach und hielt dabei die Handgelenke beieinander, als trügen sie noch Handschellen. Als einer der Männer Darren aufforderte, ihn anzusehen, tat er es. Zuerst in die Augen (blau), dann auf die Lippen. Die Darren anwiesen, die Geschichte zu wiederholen. Also erzählte er ihnen erneut, wie er auf der Party die Billardkugel geworfen hatte, aber der andere Mann unterbrach ihn, wenn auch sanft: Darren, du musst ganz von vorn anfangen.

Obwohl er sich ein wenig den Mund verbrannte, nahm er zwei Schlückchen von dem Wasser. In seiner Vorstellung versammelten sich Menschen hinter dem Spiegel: seine Mom, Dad, Dr. Jonathan, Mandy. Was Darren ihnen nicht begreiflich machen konnte, war, dass er die Kugel niemals geworfen hätte, nur hatte er es eben schon immer getan. Lange bevor ihn die Neuntklässlerin wie gewohnt beschimpft hatte, bevor er die Kugel aus der Ecktasche genommen, ihr Gewicht und die Kühle und Glätte des Kunstharzes gespürt, bevor er sie in die überfüllte Dunkelheit geschleudert hatte – hing die Spielkugel schon in der Luft und drehte sich langsam. Wie der Mond war sie schon sein Leben lang da gewesen.

Schnellsen

(Adam)

Sie trieben im Boot von Ambers Stiefvater mitten auf einem ansonsten leeren künstlichen See, der von großen Reihenhaussiedlungen umgeben war. Es war Frühherbst, und sie tranken Southern Comfort aus der Flasche. Adam saß vorn im Boot und betrachtete ein unstetes blaues Licht am Ufer, wahrscheinlich ein Fernseher, gesehen durch ein Fenster oder eine Glastür. Er hörte das kratzende Geräusch ihres Feuerzeugs, dann sah er Rauch über sich schweben und zerfasern. Er redete schon eine ganze Weile.

Als er sich umdrehte, um festzustellen, welche Wirkung seine Rede gehabt hatte, war Amber verschwunden, Jeans und Sweater auf einem Häufchen mit Pfeife und Feuerzeug.

Er sagte ihren Namen, war sich plötzlich der ihn umgebenden Stille bewusst und tauchte die Hand ins Wasser, das kalt war. Gedankenlos hob er ihren weißen Sweater an und roch den Holzrauch von früher am Abend am Clinton Lake, den synthetischen Lavendelduft, der, wie er wusste, von ihrem Duschgel stammte. Wieder sagte er ihren Namen, lauter diesmal, dann blickte er sich um. Ein paar Vögel strichen über die glatte Oberfläche des Sees; nein, es waren Fledermäuse. Wann war sie aus dem Boot gesprungen oder gestiegen, und wieso hatte es nicht geplatscht, und was, wenn sie ertrunken war? Jetzt schrie er; in der Ferne reagierte ein Hund. Suchend hatte er sich so hektisch um sich selbst gedreht, dass ihm schwindelig wurde, und er setzte sich. Dann stand er wieder auf und blickte an den Rändern des Bootes entlang; vielleicht war sie ja direkt daneben und verbiss sich das Lachen, war sie aber nicht.

Er würde das Boot ans Ufer zurücksteuern müssen, wo sie bestimmt schon wartete. (Alle zwei, drei Wohneinheiten gab es einen Anleger.) Er meinte am Ufer das langsame Blinken eines Leuchtkäfers zu sehen, aber dafür war es zu spät im Jahr. Er spürte eine Welle von Zorn in sich aufsteigen und hieß sie willkommen, wollte, dass sie seine Panik überwältigte. Er hoffte, Amber war vor seinem weitschweifigen Gefühlsbekenntnis ins Wasser gesprungen. Er hatte gesagt, sie würden zusammenbleiben, wenn er erst einmal zum Studium aus Topeka wegging, aber nun wusste er, dass das nicht passieren würde; er war begierig darauf, seine Gleichgültigkeit zu demonstrieren, sobald er sie wohlbehalten an Land wusste.

Wie der Außenbordmotor im Mondlicht glänzte. Für jeden seiner Freunde wäre es ganz einfach, das Boot zu bedienen; alle, sogar die anderen Kids der Foundation, wiesen eine für den Mittelwesten typische technische Grundkompetenz auf und konnten einen Ölwechsel selbst machen oder ein Gewehr reinigen, während er nicht einmal mit Schaltgetriebe fahren konnte. Er entdeckte einen Seilzug, den er für den Handstarter hielt, und zog daran; nichts passierte; er schob den Hebel, bei dem es sich um den Choke handeln musste, in eine andere Position und versuchte es erneut; nichts. Als er sich bereits fragte, ob er wohl schwimmen musste – er wusste nicht recht, wie gut er schwimmen konnte –, sah er den Schlüssel in der Zündung; er drehte ihn, und der Motor sprang an.

So langsam wie möglich fuhr er ans Ufer zurück. Als er sich dem Land näherte, schaltete er den Motor aus, doch es gelang ihm nicht, parallel zum Bootssteg anzulegen; das laute Krachen, mit dem das Fiberglas gegen das Holz prallte, brachte die Ochsenfrösche in der Nähe zum Schweigen; offenbar war nichts beschädigt, nicht, dass er wirklich nachsah. Er beeilte sich, die im Boot liegenden Leinen um die an den Steg genagelten Klampen zu werfen, improvisierte rasch ein paar Knoten und zog sich dann aus dem Boot. Er betete, dass ihn niemand von einem Fenster aus beobachtete. Ohne die Schlüssel, ihre Kleider, ihre Pfeife oder die Flasche mitzunehmen, sprintete er die Steigung hinauf durch das feuchte Gras auf das Haus ihrer Eltern zu; falls das Boot wieder aufs Wasser hinaustrieb, wäre das ihre Schuld.

Die große Glasschiebetür, die auf den See ging, war stets unverschlossen; leise schob er einen Flügel auf und schlüpfte hinein. Erst jetzt spürte er den kalten Schweiß. Auf dem Sofa konnte er die Gestalt ihres Bruders ausmachen, der, ein Kissen über dem Kopf, im Schimmer des großen Fernsehers schlief; die Nachrichten waren stumm geschaltet. Im Übrigen war das Zimmer dunkel. Adam überlegte, ihn zu wecken, zog stattdessen aber seine Timberland-Boots aus, die vermutlich schmutzig waren, und schlich durch das Zimmer zu der mit weißem Teppich belegten Treppe; langsam stieg er hinauf.

Die zwei, drei Mal, die er schon über Nacht geblieben war, hatte sie ihren Eltern gesagt, er habe zu viel getrunken; sie hatten geglaubt, er habe im Gästezimmer geschlafen; sie hatten zutreffenderweise geglaubt, dass er zu Hause angerufen hatte. Aber die Aussicht, jetzt auf jemanden zu treffen – da er sich noch nicht einmal vergewissert hatte, dass sie da war –, machte ihm eine Heidenangst. Ihre Mutter nahm Schlaftabletten, er hatte das übergroße Medikamentenfläschchen gesehen, wusste, dass sie vorher jeden Abend Wein trank; ihr Stiefvater hatte kürzlich trotz eines lauten Streits auf einer Party weitergeschlafen; sie wachen nie und nimmer auf, beruhigte er sich, du darfst bloß nichts umstoßen; er war froh, auf Socken zu gehen.

Er erreichte den ersten Stock und warf einen Blick in das dunkle, weitläufige Wohnzimmer, ehe er die nächste Treppe zu den Schlafräumen hinaufstieg. Fast konnte er die große exemplarische Jagdszene an der gegenüberliegenden Wand ausmachen: Hunde, die bei Sonnenuntergang Wild aus einem Wald neben einem See aufscheuchten. Er sah das rote Lämpchen am Bedienelement der Alarmanlage blinken, die sie zum Glück nie scharf schalteten. Und ein bisschen Licht sammelte sich um die Silberränder der gerahmten Familienfotos auf dem Kaminsims: Teenager, die in Sweatern auf einem laubübersäten Rasen posierten, ihr Bruder, einen Football haltend. In der riesigen Küche tickte etwas und kam zur Ruhe. Er ging nach oben.

Ihre Tür war die erste, offene auf der rechten Seite, und er konnte, ohne Licht zu machen, von draußen sehen, dass Amber zugedeckt in ihrem Bett lag und regelmäßig atmete. Seine Schultern entspannten sich; die Erleichterung war groß, und sie ließ mehr Raum für Zorn; sie sorgte außerdem dafür, dass ihm bewusst wurde, wie dringend er pinkeln musste. Er drehte sich um, ging über den Flur ins Badezimmer, schloss behutsam die Tür und klappte, ohne Licht zu machen, die Brille hoch. Dann überlegte er es sich anders, klappte sie wieder herunter und setzte sich. Draußen fuhr langsam ein Auto vorbei, die Scheinwerfer erhellten durch eine offene Jalousie hindurch das Badezimmer.

Es war nicht ihr Badezimmer. Die elektrische Zahnbürste, der Haarföhn, diese speziellen Seifen – das waren nicht ihre Toilettenartikel. Einen Augenblick lang dachte, hoffte er verzweifelt, sie gehörten vielleicht ihrer Mutter, aber es gab zu viele weitere Diskrepanzen: Die Duschtür war anders, das Glas mattiert; jetzt roch er auch die nach Zitrone duftenden Badeperlen in einem Glas über der Toilette; aus einem lila Säckchen an der Wand hingen fremdartige getrocknete Blumen. In einem einzigen Erinnerungsschauder änderten sich seine Eindrücke von dem Haus: Wo war das Klavier (das keiner spielte)? Hätte er nicht den elektrischen Leuchter sehen müssen? Der Teppich auf der Treppe – war der Flor nicht zu dicht gewesen und im Dunkeln zu dunkel, um wirklich weiß sein zu können?

Neben dem blanken Entsetzen darüber, sich im falschen Haus wiederzufinden, stellte sich, während er dessen Andersartigkeit wahrnahm, auch das Gefühl ein, er wäre gleichzeitig in sämtlichen Häusern am See, denn sie glichen einander vollkommen; das Erhabene identischer Grundrisse. In jedem Haus lag sie oder jemand wie sie in ihrem Bett und schlief oder tat so, als schliefe sie; ein Stück weiter den Flur entlang schliefen Erziehungsberechtigte, beleibte, schnarchende Männer; Gesichter und Posen auf den Familienfotos auf dem Kaminsims mochten wechseln, gehörten jedoch allesamt der gleichen Grammatik von Gesichtern und Posen an; die Elemente der gemalten Szenen mochten variieren, nicht aber der Grad von Vertrautheit und Öde; wenn man irgendeinen der riesigen Edelstahlkühlschränke öffnen oder einen Blick auf die Kücheninseln aus Kunstmarmor werfen würde, träfe man auf übereinstimmende modulare Produkte in geringfügig unterschiedlichen Konfigurationen.

Er war in sämtlichen Häusern, doch eben weil er nicht mehr an einen klar umrissenen Körper gebunden war, konnte er auch über ihnen schweben; es war wie ein Blick auf die Modelleisenbahn, die Klaus, der Freund seines Vaters, ihm als Kind geschenkt hatte; aus den Zügen machte er sich nichts, konnte sie kaum zum Laufen bringen, aber er liebte die Landschaft, die grün beflockte Platte, die winzigen und dennoch hoch aufragenden Kiefern und Laubbäume. Wenn er die unwahrscheinlich detailgetreuen Bäume betrachtete, nahm er gleichzeitig zwei Blickwinkel ein: er sah sich selbst unter ihren Ästen und betrachtete sie zugleich von oben; er schaute hinauf zu sich selbst, wie er hinabschaute. Damals konnte er rasch zwischen diesen beiden Perspektiven, diesen Maßstäben, hin- und herspringen, in einer Schaltung, die ihn von seinem Körper löste. Jetzt war er in diesem speziellen und zugleich in allen Badezimmern vor Angst erstarrt; aus hundert Fenstern schaute er auf das kleine Boot auf dem ruhigen künstlichen See hinab. (Weiße Farbtupfer auf dem getrockneten Akryl fügten der Oberfläche einen Eindruck von Bewegung und Mondlicht hinzu.)

Er wurde wieder eins mit sich. Es kam ihm vor, als wäre irgendwo ein Zeitmesser gestartet worden und ihm blieben nur noch Minuten, vielleicht nur noch Sekunden, um aus dem Haus, in das er unabsichtlich eingebrochen war, zu fliehen, ehe ihm jemand eine Schrotladung ins Gesicht jagte oder die Cops eintrafen und ihn vor dem Zimmer eines schlafenden Mädchens vorfanden. Die Angst erschwerte das Atmen, aber er sagte sich, dass er auf Zurückspulen drücken und leise wieder hinausgehen würde, wie er gekommen war, ohne jemanden zu stören. Und das tat er auch, obwohl ihm die kleinen Unterschiede jetzt ins Auge sprangen, während er hinunterstieg: Da war ein großes L-förmiges Sofa, das er vorhin nicht gesehen hatte; er erkannte, dass der Couchtisch hier aus Glas und nicht aus dunklem Holz war wie bei Amber. Am Fuß der Treppe zögerte er: Die Haustür war gleich daneben und lockte; er wäre frei, aber seine Timberlands waren unten, wo er sie zurückgelassen hatte. Um sie wiederzubekommen, würde er an dem schlafenden Fremden vorbeimüssen.

Trotz seiner Angst, er könnte jeden Augenblick entdeckt werden, entschied er, dass er seine Boots holen musste, nicht so sehr, weil sie Beweismaterial waren und zu ihm zurückverfolgt werden konnten, sondern weil er das Gefühl hatte, er würde Spott und Demütigung riskieren, wenn er barfuß zu ihr zurückkehrte. Er konnte die Form der Geschichte ahnen, konnte spüren, dass sie sich herumsprechen würde – wie sie ihn alleingelassen und er zuerst das Boot malträtiert und dann zu allem sonstigen Unglück auch noch seine Scheißschuhe hatte verschüttgehen lassen. Hey, Gordon, hast du deine Schuhe auch schön festgebunden? Hast du deine Schlappen dabei? Eine Erinnerung aus der Mittelschule blitzte vor ihm auf: Sean McCabe, der unter Tränen in Socken nach Hause kam, nachdem man ihn überfallen und ihm seine Air Jordans abgezogen hatte. Sean bekam deswegen immer noch dumme Sprüche zu hören, dabei schaffte er inzwischen beim Bankdrücken hundertfünfunddreißig Kilo.

Der junge Mann, der ihr Bruder gewesen war, lag jetzt mit dem Gesicht zur Sofalehne; das Kissen war auf den Boden gefallen. Auf dem Bildschirm bewegte der riesige Kopf von Bob Dole die Lippen, während Adam vorbeischlich. Er hob seine Boots auf und schob langsam den Türflügel zur Seite; die Gleitrollen klemmten leicht; er musste Kraft aufwenden, was ein lautes Quietschen hervorrief; der Körper auf der Couch rührte sich und begann sich aufzusetzen. (Überall in der Lake Sherwood Housing Community rührten sich die Körper und begannen sich aufzusetzen.) Ohne die Tür zu schließen, flitzte Adam, die Boots in der Hand – gleichgültig gegen Unebenheiten, Stöcke und Steine –, in einem Tempo, das er vielleicht nie wieder erreichen würde, über das feuchte Gras, und sein Körper war dankbar, dass er mit seinem Adrenalin etwas zu tun bekam. Niemand schrie hinter ihm her; zu hören waren nur seine Schritte, das in seinen Ohren rauschende Blut; er löste ein paar Leuchten mit Bewegungsmelder aus und bewegte sich deshalb näher ans Wasser; eine Zeitlang rannte er mit voller Kraft, ehe ihm aufging, dass er gar nicht wusste, wohin er eigentlich lief. Mit brennender Lunge ließ er sich auf ein Knie sinken und blickte zurück, um sich zu vergewissern, dass er nicht verfolgt wurde. Er zog seine Boots an, über seine feuchten Socken. Dann stand er auf und sprintete zwischen zwei Häusern hindurch, bis er die Straße erreichte.

Sein einziges Ziel war jetzt, seinen roten 89er Camry, der bei ihr in der Einfahrt geparkt war, zu finden, nach Hause zu fahren und sich ins Bett zu legen. Er hatte immer noch Angst – jeden Moment könnte er Sirenen hören –, doch weiter weg vom Wasser und vom Schauplatz seines lächerlichen Vergehens hatte er das Gefühl, das Schlimmste überstanden zu haben. Er klopfte die Taschen ab, um sich das Vorhandensein seiner Schlüssel zu bestätigen, und ging rasch am Bordstein entlang – es gab keine Bürgersteige –, rannte jedoch nicht, um für den unwahrscheinlichen Fall, dass er gesehen wurde, möglichst wenig Verdacht zu erregen. Er ging und ging, schämte sich, dass er zu Fuß unterwegs war; er konnte seinen Wagen, das Haus nicht finden; er musste das Boot genau in die falsche Richtung gesteuert haben. Nachdem er fast eine halbe Stunde lang gesucht, den halben See umrundet hatte, sah er – und war überglücklich – seinen Wagen dort stehen, wo er ihn einige Stunden zuvor geparkt hatte. Das Geräusch der sich öffnenden Türverriegelung war zutiefst beruhigend. Er stieg ein, fand auf dem Beifahrersitz sein Päckchen roter Marlboros und klopfte sich eine heraus; er drehte den Schlüssel auf »On«, ließ aber nicht den Motor an. Er kurbelte das Fenster auf seiner Seite herunter, zündete sich mit einem gelben Bic, das er aus dem Getränkehalter nahm, die Zigarette an, und tat, so kam es ihm vor, seinen ersten vollen Atemzug, seit er auf dem Boot ihre Abwesenheit entdeckt hatte.

Er ließ den Motor an, schaltete die Scheinwerfer ein und stellte fest, dass sie – offenbar schon eine ganze Weile – in einem übergroßen Sweater auf der Schwelle der Haustür stand. Ihr fast hüftlanges, dunkelblondes Haar war heruntergelassen. Reflexartig schaltete er Motor und Scheinwerfer aus. Barfuß kam sie auf den Wagen zu, öffnete die Beifahrertür und stieg ein. Sie nahm sich eine Zigarette, zündete sie an und sagte, als wäre er ein paar Minuten zu spät zu einer Verabredung gekommen: Wo hast du denn gesteckt?

Er war wütend. Er konnte nicht zugeben, dass er Angst gehabt hatte, konnte nicht sagen, dass er nicht in der Lage gewesen war, das Boot zu bedienen, oder dass er beinahe die falsche junge Frau in einem anderen Haus zur Rede gestellt hätte. Er verlangte eine Erklärung: Scheiße, was ist los mit dir? Ich hatte Lust zu schwimmen, sagte sie, zuckte die Achseln und rauchte, als er nachhakte, sodass sich der Tabakgeruch mit dem Duft ihrer Pflegespülung vermischte. Geistesabwesend begann sie mit seinem Haar zu spielen.

Mein Stiefvater hat beim Essen immer so endlose Reden gehalten. Jetzt sagt er kaum noch was, und wir essen sowieso nicht mehr zusammen. Ich glaube, er hat Depressionen, bräuchte eigentlich einen Therapeuten, müsste mal zu deinen Eltern in die Foundation. Ziemlich unheimlich jetzt, wo er still ist, weil vorher hat er jedes Essen zu einer endlos langen Diskussionsrunde gemacht, obwohl, eigentlich nicht, weil ja keiner irgendwas diskutiert hat; er hat bloß in unsere Richtung gelabert. Ab und zu hat er meinem Bruder mal eine Frage gestellt, aber das war immer wie so eine Art Quiz: Was habe ich gesagt, warum die Luftfahrtbranche so in Schwierigkeiten geraten ist? (Du weißt ja, er ist mit der Erfindung von jemand anders reich geworden. So eine Art Schraube, die nichts wiegt.) Und mein Bruder musste nie antworten, weil mein Stiefvater seine Scheißfragen jedes Mal selber beantwortet hat. Die Antwort lautete grundsätzlich immer China. Dann war da dieser eine Abend letzten Sommer: Meine Mutter hat mich ein bisschen Weißwein trinken lassen, mein Bruder war nicht da, also war ich beim Essen diejenige, die vollgelabert wurde, und es ging mir tierisch auf die Nerven. Vielleicht lag es ja daran, dass ich ein bisschen besoffen war oder dass ich inzwischen einfach älter bin und irgendwie mehr Verständnis für meine Mom habe. Was sie durchgemacht hat, angefangen mit meinem Dad. Egal, jedenfalls habe ich was echt Bescheuertes, aber auch irgendwie Geiles gemacht. Ich habe mich auf meinem Stuhl ganz, ganz langsam nach unten sinken lassen, mich davon runterrutschen lassen, während er seine Ravioli gegessen und über irgendwas gequatscht hat. Meine Mom war schon in der Küche und hat die Spülmaschine eingeräumt; sie isst ja nie was. Sich so langsam runterzulassen brauchte viel Körperspannung. Die ganzen Sit-ups. Das ganze Crystal (Scherz). In Tanz sagen sie mir immer, ich soll mir eine Bewegung bildlich vorstellen, während ich sie mache, und ich habe mir vorgestellt, ich wäre eine Flüssigkeit, die vom Stuhl runterfließt. Ganz vom Stuhl runter, bis ich buchstäblich unterm Tisch lag, und mein Stiefvater hatte immer noch nichts mitgekriegt, und meine Mom war in der Küche am Aufräumen, und ich habe mir das Lachen verbissen.

Oder vielleicht das Weinen?, fragte Adam, und sie sah ihn an.

Darüber, wie scheißjämmerlich dieser Typ ist, vielleicht. Oder, ja, wegen meiner Mutter, die mit ihm verheiratet ist. Und er merkt immer noch nicht, dass das Publikum nach Hause gegangen ist, während er einfach immer weiterlabert. Ich halte den Atem an und robbe ganz langsam unterm Tisch vor und über den Teppich in die Küche. Meine Mom hat mit Aufräumen aufgehört, steht inzwischen auf der anderen Seite der Kücheninsel und sieht mich nicht, und ich stehe ganz leise auf. Sie hat ihren Rosé in der Hand und schaut zum Fenster raus auf den See oder eher auf ihr Spiegelbild in der Scheibe, weil es ja dunkel ist. Ich nehme die Flasche aus der Kühlschranktür, gieße mir den größten Teil in einen Plastikbecher und gehe mit meinem Riesenschluck zu ihr, und sie kommt vom Mars zurück und will was zu mir sagen, aber ich bringe sie mit einem Finger auf den Lippen zum Schweigen und flüstere: Hör mal. Wir hören meinen Stiefvater im Esszimmer, wie er niemandem irgendwas über Ross Perot erzählt. (Er war auf Ross Perot fixiert. Auf Ross Perot und auf China.) Und meine Mom kapiert vielleicht noch nicht, was hier läuft, aber wir schleichen auf Zehenspitzen zum Durchgang und schauen von dort aus ins Esszimmer, wo er wie das Radio in die leere Luft quatscht, und mir kommt fast der Wein aus der Nase. Wir stehen eine Ewigkeit da, bis er endlich aufblickt, als hätten wir ihn dabei erwischt, wie er sich einen runterholt. Er schaut auf meinen Stuhl und dann auf uns, und jetzt schmeißen meine Mom und ich uns weg vor Lachen. Dann kriegt er dieses abgefuckte Lächeln, das die reine Wut ist. So in der Art, was fällt euch Fotzen ein, über mich zu lachen. Aber ich gebe ihm das Stieftochter-Lächeln zurück, und ich lächle und lächle. Im Grunde geht es darum, wer als Erster wegguckt, und das Lachen meiner Mutter wird total nervös, bis sein Gesicht sich endlich entspannt und alles ein großer Witz ist.

Adam sollte zwanzig Jahre brauchen, um die Analogie zwischen diesen beiden heimlichen Fluchten, der aus dem Esszimmer und der von dem Boot, zu begreifen. Er stellte ihr einige Fragen über ihren Vater, und sie beantwortete sie. Er erwog, ihr zu erzählen, dass er in das falsche Haus eingedrungen war – vielleicht konnte er das Poetische daran hervorheben –, tat es dann aber doch nicht, wollte es nicht riskieren. Um sich zu schützen (wovor, wusste er nicht recht), stellte er sich vor, er blicke aus einer vage imaginierten Stadt an der Ostküste, wo seine Erlebnisse in Topeka sich nur mit viel Ironie nacherzählen ließen, auf die Gegenwart zurück.

Aber er war wieder in seinem Körper, als sie sich zum Abschied küssten und er ihre Haare im Gesicht und ihre Zunge in seinem Mund hatte, wo sie über seine Zähne fuhr, Tabak und Pfefferminz, Crest-Zahnpasta. Der Kuss wurde intensiver, und während er seine Hände unter ihr Sweatshirt schob, sah er vor der schwarzen Rückseite seiner Augenlider kleine, beleuchtete Muster aufflammen. Phosphene, winzige, verblassende Rohrschach-Tests, gebildet von den elektrischen Ladungen, die die Netzhaut im Ruhezustand erzeugt, ein Lichterlebnis bei nicht vorhandenem Licht. Er kannte diese Formen von der Gehirnerschütterung in seiner Kindheit, von seinen Migräneanfällen und in jüngerer Zeit von dieser Art Kontakt; er kannte sie von seinen Einschlafversuchen als kleiner Junge, bei denen er zugesehen hatte, wie graue Kreise über die Dunkelheit wanderten; wenn er nahe den Schläfen gegen die geschlossenen Augen drückte, wurden die Formen heller. Er hatte sich gefragt, ob diese Muster nur bei ihm auftraten, Anzeichen irgendeiner Besonderheit oder eines Schadens, oder ob sie universell waren, ob jeder sie sah. Aber sie waren so schwach und so schwer zu beschreiben, dass er nie dahinterkam, ob seine Eltern oder Freunde dieses knapp oberhalb der Wahrnehmungsschwelle liegende Erlebnis teilten; unter dem Gewicht der Sprache lösten sich die Muster auf, blieben unantastbar privat. Er hatte Leute vom »Sterne-Sehen« reden hören, wenn sie sich den Kopf gestoßen hatten, aber er sah keine Sterne. Er sah Ringe aus rotem oder gelbem Licht oder tessellierte Federformen, die zu zittern begannen, wenn er sich ihnen widmete, oder stumpfe Goldspiralen, die durch sein Blickfeld trudelten – oder was auch immer man Blickfeld nannte, wenn man die Augen geschlossen hatte. Anstatt die Hand wie erwartet auf die Innenseite ihres Oberschenkels zuzuschieben, bewegte er jetzt beide Hände auf ihr Gesicht zu; er hielt ihren Kopf und strich mit den Daumen über ihre geschlossenen Augenlider, wobei er vorsichtig spürbaren, aber unregelmäßigen Druck ausübte; sah sie ebenfalls ein paar rote Funken, ein Netz schwacher Linien?

Lachend wich sie ein Stück zurück. Was machst du denn da? Er sagte ihr das Wort dafür, das er von Klaus gelernt hatte, dem zufolge Phosphene Auslöser psychotischer Halluzinationen sein könnten. Einige Leute hätten versucht, sie zu zeichnen, und die Zeichnungen hätten seltsamerweise wie Höhlenmalereien, die älteste Kunst, ausgesehen. Er hoffte, ihr gefiel die Poesie, die er daraus machte, und wie sehr er sich wünschte, sie sähe, was er sah, und stellte sich vor, er sähe mit ihr oder als sie; die subtilsten Feuerwerke der Welt, die vom Problem des Bewusstseins anderer kündeten. Bald küssten sie sich wieder, und er wusste nicht, ob sie vögeln würden. Doch an jenem Abend in Topekas nobler, in bequemer Entfernung zur West Ridge Mall gelegener Siedlung löste sie sich sanft, aber entschieden von ihm; vielleicht hatte sie ihre Tage. Vielleicht machte sie sich in Wirklichkeit gar nichts aus ihm. Sie stieg mit einer seiner Zigaretten und dem Feuerzeug auf der Beifahrerseite aus; sie ging vorne um den Wagen herum und gab ihm das Feuerzeug durchs Fenster zurück. Wo ist das Boot? Er sagte, er sei eine Zeitlang um den See herumgefahren und habe getrunken, wisse nicht mehr genau, wo er es geparkt habe; er war wieder angespannt, machte sich Sorgen, er würde seine diversen Navigationsfehler eingestehen müssen, aber sie blieb gelassen.

Gewinn mir morgen eine Medaille, sagte sie lächelnd, als er den Motor wieder anließ. Bald flitzte er weg von den McMansions an der Urish Road, und kühle Luft knatterte durch das Sonnendach, das er geöffnet hatte. Wo die Urish auf die 21st traf, hielt er vor einem blinkenden roten Licht und sah zu seiner Rechten das Rolling Hills Nursing Home, einen einstöckigen Fertigbau, wo sein inzwischen verstummter Großvater mütterlicherseits Bewohner, Patient, Gefangener war, seit er vor zwei Jahren von Phoenix hierhergezogen oder hierhergebracht worden war; seine Großmutter war in guter Verfassung und lebte ein paar Kilometer südlich in Topekas führender Einrichtung für betreutes Wohnen. Er schnippte seinen Zigarettenstummel aus dem Fenster, sah zu, wie die Glut auf dem schwarzen Asphalt zerstob, und zwang sich, das Gebäude anzusehen. Helle Straßenlaternen auf dem fast leeren Parkplatz; ansonsten war es dunkel. Sonderbar, an den kleinen alten Mann zu denken, der jetzt da drin schlief. Eine kurze, aber widerliche Analogie zwischen dem technisierten Krankenhausbett und dem verstellbaren Fahrersitz fiel ihm ein, war gleich wieder weg. Er schob All Eyez on Me ins Tapedeck, drehte es sehr laut auf und fragte sich, ob irgendwer im Pflegeheim es hören konnte. Dann fuhr er weiter.

Vier Stunden später klingelte sein Wecker. Im Halbschlaf duschte er und zog den schwarzen Anzug an, den er mit seiner Mom in West Ridge gekauft hatte. Er band sich eine der beiden Krawatten seines Vaters um. Er fuhr das kurze Stück bis zur Topeka High und hielt neben seinen Trainern, Spears und Mulroney, die eine Straßenkarte studierten, ihr Atem im Straßenlicht sichtbar. Ersterer trank Kaffee aus seiner großen Thermosflasche; Letztere nippte wie immer an ihrer Cola Light. Andere förmlich gekleidete Jugendliche rollten große Plastikwannen aus der Schule und luden sie in zwei nahebei stehende Vans. Er ließ sich nicht dazu herab, seine Wanne selbst zu transportieren; darum würde sich ein jüngerer Schüler kümmern. Er sah seine Partnerin Joanna und nickte ihr grüßend zu; sie waren nicht befreundet; ihre Allianz war rein taktischer Natur. Sobald sie im Van saßen, wollte sie über Strategie reden, aber er lehnte den Kopf an das kühle Fenster, sah dem Auf und Ab der Telefonkabel im Dunkeln zu und bewegte sich in seinen Träumen bald durch Reihenhäuser. Er wachte auf, als sie vom Highway abfuhren, um in einem McDonald’s zu frühstücken: vertraute Konturen der Formstühle.

Die Dämmerung brach an, als sie die Russell High School erreichten. Normalerweise hätte er so ein kleines Turnier ausgelassen, aber weil Russell Bob Doles Heimatstadt war und Bob Dole für die Präsidentschaft kandidierte, würden dieses Jahr die besten Teams aus dem gesamten Staat beim Einladungsturnier in Russell antreten; die Logik erschloss sich ihm nicht so ganz, aber Mulroney hatte darauf bestanden, dass sie teilnahmen. Aus ähnlichen, von den jeweiligen Stadtverwaltungen gestellten Vans und Bussen luden andere steif kostümierte Jugendliche ihre Wannen und schleppten sie über den kalten Parkplatz zum Haupteingang der Schule. Als er und Joanna durch die Tür gingen, machten ihre Möchtegern-Konkurrenten Platz.

Er fand die Highschools an den Wochenenden seltsam verändert, die von Lehrern und Schülern geleerten Räume verwandelt und von den Rhythmen eines normalen Tages abgekoppelt. Die Klassenzimmer mit ihren anspornenden Postern – SEI DIE VERÄNDERUNG, DIE DU ERLEBEN MÖCHTEST –, den Reihen leerer Bänke, den an Kreide- oder Trockenlöschtafeln übriggebliebenen Gleichungen, Jahreszahlen oder Standardausdrücken ließen Adam an verlassene Theaterkulissen oder Fotos von Tschernobyl denken. Gelegentlich nahm er einen Hauch von Speed-Stick-Deo oder duftendem Lipgloss oder andere Spurenelemente einer vorübergehend suspendierten Sozialordnung wahr. Während sie den Hauptflur der Russell High entlanggingen, probierte er verschiedene Kombinationen an den Spindschlössern. Mit der Distanz eines Anthropologen oder eines Gespensts berührte er eine im Foyer hängende Fahne, Trophäe einer Staatsmeisterschaft im Ringen.

Sie versammelten sich zu einer kurzen Begrüßung in einer fluoreszierend hellen Cafeteria, die nach Bleichmittel in Industriestärke roch. Der Trainer des gastgebenden Teams machte verschiedene Ankündigungen, während sie sich ansahen, wer in ihrer Wettkampfklasse antrat. Dann verteilten sich die Teams, Wagen mit Unterlagen im Schlepptau, auf die ihnen zugewiesenen Klassenzimmer, wo ein Punktrichter und ein Zeitnehmer warteten.

Er ließ sich von Joanna zu ihrem Zimmer führen. Sie war die Tochter zweier Neurologen der Foundation, eine kleine, kluge, für eine Elite-Uni bestimmte Zwölftklässlerin, die im Zulassungstest für Hochschulen die Höchstpunktzahl erzielt hatte, wie sie einen wissen ließ. Sie stellte fast das ganze Material für den Wettkampf zusammen und hatte den Sommer über ein »Debattierinstitut« an der University of Michigan besucht, um sich gegenüber der Konkurrenz einen Startvorteil zu verschaffen. (Thema dieses Jahres war, ob die Bundesregierung zur Senkung der Jugendkriminalität eine neue Politik verfolgen solle; Joanna und er argumentierten, dass dies in verschiedener Hinsicht durch eine bessere Durchsetzung von Kindesunterhaltsansprüchen erreicht würde.) Adams Beitrag zur Vorbereitungsarbeit bestand darin, während des Debattierunterrichts den Economist zu überfliegen. Seine Stärke war, schnell und entschlossen zu reagieren und Fehlschlüsse bloßzustellen; seine Kreuzverhöre waren weithin gefürchtet.

Die ersten Runden waren bloße Formsache; vor Laienschiedsrichtern, oftmals die unwilligen Eltern anderer Wettkampfteilnehmer, fertigten sie unterklassige Teams ab. An jenem Wochenende in Russell versuchten zwei Zehntklässler, sie zu überraschen, indem sie eine Version ihrer eigenen Argumentation gegen sie zum Einsatz brachten; sie hatten sie aus Notizen rekonstruiert, die sie während der Ausscheidungsrunden gemacht hatten, bei denen Zuschauer erlaubt waren.

Adam stand auf und strich die Krawatte seines Vaters glatt, um den offensichtlich nervösen ersten Pro-Redner ins Kreuzverhör zu nehmen; in seinem weißen Hemd und der schwarzen Hose ähnelte sein Gegner einem Kellner. Sie standen mit dem Gesicht zum Punktrichter – Debatter sahen einander nicht an –, der kaum in die Schulbank hineinpasste; die Brille auf den kahlen Kopf geschoben, saß er mit verschränkten Armen da und machte sich widerwillig Notizen auf einem Block.

»Könntest du das diesjährige Thema bitte noch einmal wiederholen?«

»Wiederholen?«

»Ja bitte.«

»Thema: Die Regierung –«

»Die Bundesregierung«, sagt Adam, als sei es ihm peinlich, dass er ihm helfen muss. »Lass dir Zeit«, fügt er hinzu, denn er weiß, dass das für den Punktrichter nach Höflichkeit und für seinen Gegner nach unerträglicher Herablassung klingen wird.

»Thema: Die Bundesregierung soll ein Programm zur deutlichen Senkung der Jugendkriminalität in den Vereinigten Staaten einführen.« In seiner Stimme liegt ein ganz leichtes Zittern.

»Warum wurde der Kindesunterhalt eingeführt?«

»Na, um den Unterhalt der Kinder zu sichern« – der Ursprung des Sarkasmus ist Angst –, »wenn ihre Eltern geschieden werden.«

»Tatsächlich unterliegen unverheiratete Eltern in den meisten Staaten den gleichen Kindesunterhaltsverpflichtungen.« Adam hat keine Ahnung, ob das, was er da sagt, auch stimmt. Er lässt auf subtile Weise erkennen, dass er den Ton seines Gegners ignoriert, dass er darübersteht. »Aber lassen wir das beiseite. Es hört sich so an, als bist du der Meinung, dass das Programm, das du zu stärken vorschlägst, gar nicht in erster Linie dazu gedacht ist, die Jugendkriminalität zu senken.«

»Nein, ich meine, das gehörte zu seinen Absichten.«

»Hast du Belege für diese Behauptung?« Sein Ton macht deutlich, dass er hofft, sein Gegner hat Belege, dass er die Debatte darüber willkommen heißen würde; zugleich vermittelt er dem Punktrichter, dass die Runde andernfalls vorbei ist. (Das Auswertungsblatt weist den Juror an, dass das Pro-Team »Themenbezogenheit« nachweisen muss. Er und Joanna können diese Debatter auf verschiedene Weise fertigmachen, aber er wird erst einmal abwarten, ob sein Gegner sich bei dieser Frage des Anscheinsbeweises selbst ein Bein stellt.)

»Der Beleg ist, dass es die Kriminalität senkt. Deswegen sind die Vorteile unseres Plans –«

»Du behauptest also, dass alles, was den Effekt hat, die Kriminalität zu senken, themenbezogen ist?«

»Nein, es muss bundesweit sein, ein Bundesprogramm.«

»Wenn ich also befürworte, dass die Bundesregierung Atomkraftwerke baut, und sie konstruiert sie schlampig, und das verursacht eine schreckliche Umweltverschmutzung, und die Umweltverschmutzung hat katastrophale gesundheitliche Auswirkungen, und es folgt ein Massensterben, und das reduziert die Kriminalität, ist das dann eine themenbezogene Lösung?« Der Juror lächelt – sowohl über das, was Adam gesagt hat, als auch über die Art der Darbietung. Und er hat den Juror an dessen Misstrauen gegenüber den Bundesbehörden erinnert.

»Natürlich nicht«, jetzt wütend.

»Warum nicht? Weil es ein beabsichtigter Effekt der Politik sein muss?«

»Okay, klar.«

»Hast du irgendeinen Beleg dafür, dass das ein beabsichtigter Effekt war?«

»Das sagt uns der gesunde Menschenverstand.« Er müsste argumentieren, dass – unabhängig davon, warum der Kindesunterhalt im Allgemeinen eingeführt wurde – sie, das Pro-Team, jetzt beabsichtigen, die entsprechende Politik dahingehend auszuweiten, dass sie die Kriminalität senkt, und damit ja wohl die Bedingungen der Themenbezogenheit erfüllen. Aber er ist zu durcheinander.

»Ich glaube, der gesunde Menschenverstand sagt uns eher, dass der Kindesunterhalt die finanziellen Lasten der Eltern nach einer Trennung gerecht verteilen soll. Und selbst wenn diese gerechte Verteilung die Bemühungen zur Senkung der Kriminalität irgendwie erschweren würde, gäbe es immer noch gewichtige Argumente für seine Bedeutung. Und« – ihm geht auf, dass er in den Augen des Durchschnittsbürgers von Russell, Kansas, soeben vielleicht ein feministisches Argument vorgebracht hat; sein Schwenk erfolgt ohne Zögern – »mir fallen starke Argumente gegen diese Art von Einmischung des Bundes in Privatbeziehungen ein. Die Sache ist aber die, dass das nicht das Thema der diesjährigen Debatte ist.«

»Ich – hör mal, ihr vertretet diese Position ständig, und Themenbezogenheit war nie –«

»Entschuldigung, hier muss ich dich unterbrechen – du möchtest, dass der Punktrichter dir diese Runde zuspricht, weil wir mit einer ähnlichen Position andere Runden gewonnen haben?« Er nimmt im Interesse des Debattierens schlechthin Anstoß.

»Das habe ich nicht gesagt. Ich –«

»Das ist ein interessanter Gedanke: dass das, was in früheren Runden vorgebracht worden ist, relevant sein soll und gegen uns verwendet werden kann; sollst du diese Runde, bei der du für die Pro-Seite argumentierst, verlieren, da du bei einer früheren Debatte vermutlich für die Kontra-Seite argumentiert hast?« Wieder lächelt der Punktrichter.

»Nein, natürlich nicht, aber –«

»Und da du nicht imstande bist, die Themenbezogenheit deiner Politik vor dem Kontra-Team zu verteidigen« – jetzt meint er es todernst, ein Staatsanwalt aus Law & Order, der zum entscheidenden Schlag ausholt –, »bringst du den Umstand aufs Tapet, dass ihr eure Argumentation von unseren Pro-Runden abgekupfert habt.« Kurzes Innehalten. »Dass du das Grunderfordernis der Themenbezogenheit nicht erfüllen kannst, verteidigst du mit einem Plagiat?«

Kurzes Schweigen, in dem der Punktrichter sich mit hochgezogenen Augenbrauen etwas notiert.

»Ich sage bloß, dass es ein themenbezogener Plan ist«, sagt der andere kleinlaut, da die Runde bereits verloren ist.

An der Russell High begann der Wettkampf eigentlich erst in den Halbfinals, in denen die Bewertung durch eine aus drei College-Debattern bestehende Jury erfolgte. Er und Joanna vertraten die Pro-Seite und bekamen es mit einem ziemlich beachtlichen Team von der Shawnee Mission West zu tun. Der Raum – ein Saal für den naturwissenschaftlichen Unterricht: auf einem Tisch in der Ecke Mikroskope, mehrere Spülbecken – war voll: ausgeschiedene Debatter und ihre Trainer waren zum Publikum geworden. Kurz vor Beginn der Runde senkte sich Schweigen herab; zum ersten Mal hörte Adam das Geräusch des Filters in einem Aquarium an der Wand, das ihm zuvor nicht aufgefallen war. Er konnte bloß ein paar langsam treibende gelbe Formen ausmachen.

Und jetzt steht Joanna auf, um den ersten Pro-Redebeitrag zu liefern. Ein paar Sekunden lang klingt es mehr oder weniger wie Rhetorik, doch bald steigert sie das Redetempo fast bis zur Unverständlichkeit, und Tonhöhe und Lautstärke nehmen zu; sie schnappt nach Luft wie ein auftauchender oder vielleicht auch untergehender Schwimmer; sie versucht, ihre Gegner »zu schnellsen« (ein Portmanteau aus »schnell« und »lesen«), so wie das ihre Gegner umgekehrt auch mit ihnen versuchen werden – das heißt, so viele Argumente und Belege aufzubieten, dass das gegnerische Team in der vorgesehenen Zeit nicht auf alle eingehen kann, denn unter ernsthaften Debattern gilt die Regel, dass ein »übergangenes Argument« ungeachtet seiner Qualität oder seines Inhalts als zugestanden gilt. (Wettkampf-Debatter verbringen Stunden mit Geschwindigkeitstraining – lesen laut mit einem zwischen die Zähne geklemmten Bleistift, wodurch die Zunge mehr arbeiten und der Mund übertrieben artikulieren muss; sie üben das Rückwärtslesen von Belegstellen, um den physischen Akt der Vokalisierung von der Verständnisanstrengung, die einen langsamer macht, abzukoppeln.) Die Punktrichter beugen sich über ihre Notizblöcke und fertigen ebenso wie die Teilnehmer ein Ablaufdiagramm der Runde, indem sie in Kurzschrift Argument und Gegenargument festhalten, wobei sie nur wenig oder gar keinen Blickkontakt zu den Sprechern aufnehmen. Während der kurzen Zeitspannen, in denen ihre Stifte untätig sind, wirbeln sie sie um ihre Daumen, eine für Debatter charakteristische Angewohnheit.

Einem Anthropologen oder einem Gespenst, das die Flure der Russell High School durchstreifte, käme das schulübergreifende Debattieren weniger wie ein Redewettstreit als wie ein rituelles Zungenreden vor. Siehe den mit zystischer Akne geschlagenen ersten Kontra-Redner von der Shawnee Mission, der – in lässigerer Kleidung, typisch für die reichen Kids aus Kansas City – mit einer Geschwindigkeit von 340 Wörtern pro Minute Belegstellen für seine Behauptung vorliest, dass der Plan der Pro-Seite die Familiengerichte überlasten und damit eine katastrophale Ereigniskette in Gang setzen werde. Er lässt jede Seite auf den Boden fallen, wenn er damit fertig ist, dazu Schweißtropfen. Er atmet scharf ein, brüllt einen neuen Leitsatz – »Überlastung der Gerichte führt zum Zusammenbruch des Systems« –, liest dann weitere Belege vor und verheddert sich kurz in einem Stottern, das seinen Vortrag bei dieser Lautstärke und Geschwindigkeit so klingen lässt, als hätte er einen Krampf- oder Schlaganfall. Während die Zeit abläuft, fasst er seine Argumente zusammen, obwohl nur wenige Uneingeweihte ihn verstehen könnten: Gregor belegt Überlastung der Gerichte infolge zunehmender Durchsetzung von Kindesunterhaltsansprüchen Überlastung der Justiz führt zu Zusammenbruch des Systems Zusammenbruch führt zu Atomkonflikt chinesischer oder nordkoreanischer Atomschlag in folgendem Machtvakuum wiegt schwe-schwe-schwerer als sämtliche etwaigen Vorteile des Pro-Plans und und und und Stevenson beweist dass Pro-Plan in jedem Fall keine Lösung weil Widerstand innerer Kräfte Du-Durchführung blockiert Nein-Votum allein schon wegen nachteiliger Auswirkungen zwingend aber aber auch wenn man Plan als Plan betrachtet keine Lösung weil Hauptquelle für Gerichte in Georgia nicht nicht anwendbar auf Bundesprogramm nur auf Einzelstaat also keine andere Möglichkeit als negatives Votum.

Das »Schnellsen« war umstritten; erfolgte es vor Laienpunktrichtern, sorgte es für Entsetzen und für Beschwerden. Mehr als ein hochklassiges Team hatte seine Punktrichter falsch eingeschätzt und war schon in den Anfangsrunden wegen vermeintlichen Faselns ausgeschieden. Altgediente Trainer sehnten sich nach der Zeit zurück, als Debatten noch echte Debatten waren. Die häufigste Kritik, die am »Schnellsen« geübt wurde, war, dass es die politische Debatte von der wirklichen Welt löste, dass kein Mensch Sprache so verwendete wie diese Debatter, außer vielleicht Auktionatoren. Aber sogar die Jugendlichen wussten, dass das nicht stimmte, dass juristische Personen ständig eine Version des Schnellsens nutzten: Denn sie hörten die gesprochenen Warnhinweise am Ende der zunehmend häufigeren TV-Werbespots für verschreibungspflichtige Medikamente, in denen Informationen über Risiken in einer Geschwindigkeit gegeben wurden, die darauf abzielte, das Verständnis zu erschweren; sie hörten die Aufzählung von Regeln und Vorbehalten, die am Ende von Rundfunkwerbeaktionen im Schnellfeuertempo heruntergerasselt wurden; sie waren zumindest vage vertraut mit dem »Kleingedruckten«, das man von Finanzinstituten und Krankenversicherungen bekam; das Letzte, was man mit diesen Tausenden von Wörtern anfangen sollte, war, sie zu verstehen. Derartige Offenlegungen waren zur Verschleierung gedacht; sie setzten einen Informationen aus, die, sollte man die betreffende Institution herausfordern, wie ein »übergangenes Argument« in einer schnellen Debattierrunde behandelt würden – man hat die Stichhaltigkeit des Arguments bereits zugestanden, indem man nicht darauf eingegangen ist, als es vorgebracht wurde. Dass man keine Zeit dazu hatte, ist keine Ausrede. Schon vor dem 24-Stunden-Nachrichtenzyklus, den Twitter-Stürmen, dem algorithmischem Handel, den Tabellenkalkulationen und der DDoS-Attacke wurden Amerikaner in ihrem Alltagsleben »geschnellst«; unterdessen sprachen ihre Politiker weiter ganz langsam von Werten, die mit ihrer Politik überhaupt nichts zu tun hatten.

Joanna war zu schnell für die Kids von der Shawnee Mission; Adam brachte den größten Teil des Halbfinales damit zu, darauf hinzuweisen, auf welche ihrer Argumente seine Gegner nicht eingegangen waren. Im Finale, als sie wieder die Kontra-Seite vertraten, trafen sie auf Rivalen von der Lawrence High. Wenn sie früher gegen Rohan und Vinay verloren hatten, war es Adams Schuld gewesen; die beiden waren genauso gut vorbereitet wie Joanna. Aber an jenem Tag arbeitete sein Verstand aus welchem Grund auch immer besonders schnell.

Und während er an jenem Tag in der Russell High in sich beschleunigender Abfolge aufzählte, auf welche verschiedenen unvorhersehbaren Weisen die Durchführung des Plans seines Gegners zu einem nuklearen Holocaust führen würde (fast jeder Plan, und sei er noch so unbedeutend, würde zu einem nuklearen Holocaust führen), überschritt er wie so oft eine geheimnisvolle Schwelle. Es kam ihm weniger so vor, als hielte er eine Rede, sondern eher so, als hielte die Rede ihn, als begännen der Rhythmus und die Intonation seines Vortrags den Inhalt zu diktieren und er müsste seine Argumente nicht mehr so sehr ordnen, als sie vielmehr durch sich hindurchfließen lassen. Plötzlich war die physische Spannung, unter der er stand, ganz konzentrierte Energie, eine Verwandlung, die die Veranstaltung leicht erotisch färbte. Wenn auch die Sprache, die durch ihn hindurchströmte, von den angeblich katastrophalen Auswirkungen handelte, die ein Ende des staatlichen Stingray-Überwachungsprogramms mit sich brächte, oder davon, dass sein Kontrahent den Nachweis der Schlüssigkeit schuldig geblieben war, befand er sich gleichwohl eher im Reich der Poesie als der Prosa, und seine Rede wurde von Tempo und Intensität überdehnt, bis er spürte, wie sich ihre Sachbedeutung in reine Form auflöste. In einer öffentlichen Schule, die für die Öffentlichkeit geschlossen war, und in einem Anzug, der ihm wie ein Kostüm vorkam, wurde er, während er so tat, als diskutierte er über Politik, wenn auch nur kurz von einem prosodischen Erlebnis ergriffen.

Dann war er zur Preisverleihung zurück in der Cafeteria, aß Erdnuss-M&Ms, die ihm ein Neuntklässler aus dem Automaten geholt hatte, und hörte mit halbem Ohr zu, wie Trainer Spears ihn davon zu überzeugen versuchte, dass professionelles Wrestling echt sei: Ich habe das Blut gesehen; ich war ganz nah am Käfig. Adam nickte, während er kaute. Alles verstummte, als die Trainer des gastgebenden Teams erschienen, um die Endergebnisse bekanntzugeben und Medaillen zu überreichen.

Doch am Eingang der Cafeteria entstand Unruhe. Die Tür schwang auf, und mehrere Reporter kamen hereingestürzt; ein Kameramann baute rasch ein Stativ mit einem hellen Scheinwerfer auf und schulterte seine Kamera. Dann betraten zur wachsenden Verblüffung der versammelten Debatter Männer den Raum, bei denen es sich unverkennbar um Bodyguards handelte, und blickten sich um, in den Ohren Stöpsel, an denen Spiralkabel baumelten. Er sah Trainerin Mulroney an, die ein wissendes Lächeln zur Schau trug. Schließlich erschien Senator Bob Dole, der dreiundsiebzigjährige Sohn Russells, der knapp einen Monat später von Bill Clinton vernichtend geschlagen werden sollte, ein Erdrutschsieg für den Demokraten, der bestätigen würde, dass der Kulturkonservatismus dabei war, der Herrschaft der liberaleren Babyboomer zu weichen, ihr praktisch schon gewichen war. Er würde bestätigen, dass die Geschichte geendet hatte.

Vereinzelt hörbares Lufteinziehen, als er erkannt wurde, spärlicher Applaus. Dole hielt wie stets einen Stift in der Hand seines weitgehend gelähmten rechten Arms und vollführte mit dem linken seine ungelenke Winkbewegung. Von Helfern flankiert, kam er nach vorn und schüttelte dem gastgebenden Trainer die linke Hand; dieser sagte strahlend, der nächste Präsident der Vereinigten Staaten werde den Gewinnern des diesjährigen Einladungsturniers der Russell High School die Medaillen überreichen. Ehe die Medaillengewinner aufgerufen würden, wolle Senator Dole ein paar Worte sagen.

»Ich selbst bin kein großer Debattenredner«, sagte er, rechnete vielleicht mit einem Lacher, der jedoch nicht kam, »aber ich lege großen Wert auf die Fähigkeiten, die ihr alle hier heute entwickelt.« Dole sprach selbst für einen Politiker stockend. (Von seinem Stuhl im Publikum aus stellte Adam ihn sich unwillkürlich mit zwischen den Zähnen klemmendem Stift vor, wie er rückwärts las; er stellte ihn sich vor, wie er versuchte, den Stift mit der kalten, untauglichen Hand herumwirbeln zu lassen, und wie es ihm misslang. Dann stellte er sich den gelähmten linken Arm seines Großvaters in Rolling Hills vor.) »Ihr seid die künftigen Führungskräfte Amerikas, und ich bin sehr froh, dass ihr alle hier seid und eure Kommunikationsfähigkeiten, eure Überzeugungsfähigkeiten verbessert. Das ist so wichtig. In unserer Demokratie. Entscheidend. Und dass ihr so viel über Staat und Politik lernt. Wunderbar. Ich fühle mich geehrt, hier sein zu dürfen und euch wissen zu lassen, dass ihr wegen der hervorragenden Leistungen, die ihr erbringt, in meinen Augen alle Gewinner seid. Damit werdet ihr es weit bringen. Einige von euch werden wir auf dem Capitol Hill sehen.«

Man gab ihm eine Karteikarte, von der er die Namen des drittplatzierten Teams ablas, die Teilnehmer standen auf, um ihre Medaillen entgegenzunehmen, und blieben für Fotos mit dem Senator kurz stehen. Er verhunzte die Nachnamen von Rohan und Vinay; die Art, wie sie aufstanden, hatte fast etwas Entschuldigendes.

Ich zeige dir jetzt ein Bild und möchte gern, dass du dir dazu eine Geschichte ausdenkst. Wir nennen das den Thematischen Apperzeptionstest oder TAT. Eine Geschichte mit Anfang, Mitte und Ende. Es ist ein Schwarz-Weiß-Foto, das auf der Titelseite des Topeka Capital-Journal erschienen ist. (Wer ist dieser ernst dreinschauende Siebzehnjährige, dessen Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden ist, während die Seiten seines Schädels rasiert sind, ein katastrophaler Frisurenkompromiss zwischen seinem links angehauchten Elternhaus und dem republikanischen Staat, in dem er aufwuchs? Seine linke Hand berührt beinahe Doles Rechte, die den Stift umklammert; um den Hals trägt der Teenager eine Medaille, die er gewonnen hat, indem er in Höchstgeschwindigkeit eine nahezu private Sprache sprach. Der Senator, der häufig in der dritten Person von sich spricht und sich in seinem Wahlkampf von Paul Manafort beraten lässt, wird der einzige ehemalige Präsidentschaftskandidat sein, der am Republikanischen Parteitag 2016 teilnimmt.) Was denken diese Leute auf dem Foto? Was empfinden sie? Fang damit an, dass du mir erzählst, was zu dieser Szene geführt hat.

Adam hatte Kenneth Erwood schon seit eh und je flüchtig gekannt. Dr. Erwood – einer der wenigen offen schwulen Männer in Topeka und daher häufig Zielscheibe von Reverend Fred Phelps und seinen Jüngern – war öfter zum Essen gekommen oder Gast auf Partys gewesen. Er war ein stiller, lächelnder, freundlich aussehender Mann, der zugleich älter und jünger wirkte, als er tatsächlich war (vorzeitig gebeugt, dann einfach nur gebeugt, aber ein jungenhaftes Gesicht, das sich nie zu ändern schien), und dessen kurzgeschnittenes graues Haar nichts Militärisches hatte (obwohl er sogar einmal auf der Naval Ordnance Test Station in Point Mugu gearbeitet und die optische Beurteilung von Lenkflugkörpern studiert hatte). Erwood hörte genau zu, schwang aber keine Reden wie andere Männer. Adam konnte sich zwar nicht daran erinnern, aber seine Eltern hatten ihn in den Wochen nach seiner Gehirnerschütterung zu einer Konsultation in die Praxis von Erwood gebracht, die im selben Gebäude lag wie die seines Vaters; man hatte ihnen einige Meditationsübungen gezeigt, die die Heilung fördern und die posttraumatische Belastung reduzieren sollten. Er meinte sich zu entsinnen, wie er mit seinen Eltern auf dem gebrochen weißen Wohnzimmerteppich saß, die Hände mit nach oben gedrehten Handflächen im Schoß.

Einmal hatte Adam seine Mom gefragt, ob sie jemanden kenne, der übernatürliche Fähigkeiten besaß, ob sie an dergleichen glaube. Sie hatte ohne zu zögern »Kenneth Erwood« gesagt. Obschon Erwood darauf achtete, sein Forschungsgebiet gegenüber der Verwaltung in der Terminologie der Neurowissenschaften zu rechtfertigen, sprach er mit Freunden und Kollegen ganz offen darüber, dass er als Kind in einem Wachtraum aufgesucht worden sei und man ihm gesagt oder zu verstehen gegeben habe, dass er unter spiritueller Führung stehe. Als Student habe er seinen spirituellen Führer mit Hilfe eines berühmten Mediums wiedergefunden, und während er gleichzeitig seine Doktortitel in Physik und in Psychologie erwarb, habe er eine Vision gehabt, in der er Bilder von einem Uhrenturm gesehen habe. Als er 1965 zur Foundation gefahren sei, habe er das Gebäude mitten auf dem Campus wiedererkannt; er habe gewusst, dass es ihm bestimmt war, dort seine Arbeit durchzuführen.

Erwood studierte, wie psychische Vorgänge physiologische Reaktionen beeinflussten. Besonders interessierte ihn die Fähigkeit von Menschen, das elektromagnetische Feld, das den Körper umgibt, zu verändern. Kurz nach seinem Eintritt in die Foundation richtete Erwood eine kleine Abteilung für Psychophysik und Psychophysiologie ein. Deren Herzstück war die Kupferwand-Initiative. Erwoods Forschungen wiesen nach, dass anerkannte Heiler und Meditierende unterschiedlicher Traditionen aus mehreren Metern Entfernung erhebliche Spannungsänderungen in einer wandgroßen, aus Kupfer bestehenden Elektrode herbeiführen konnten. Die Wand wurde im Keller des Uhrenturms der Foundation errichtet.

Jetzt, als Highschool-Schüler im vierten Jahr, kehrte Adam gegen seinen Willen zu Erwood zurück. Seine Eltern hatten mit seltener Entschiedenheit darauf bestanden, dass er entweder Erwood konsultierte oder eine konventionelle Gesprächstherapie begann. Die Heftigkeit, sagten sie, sei außer Kontrolle: wie schnell er in Wut gerate, auch wenn er sich relativ rasch wieder beruhige. Er brauche »Strategien«. So bat ihn etwa seine Mutter, das schmutzige Geschirr im Wohnzimmer wegzuräumen, wo er eigentlich sowieso nicht essen sollte. Mach ich später, sagte er dann; ich hätte aber gern, dass du es jetzt machst, antwortete sie; worauf ein gewaltiger Hagel lächerlicher, aber irgendwie unwiderleglicher Argumente aus ihm hervorbrach, Argumente über ihr Gemeckere, ihre Heuchelei, ihre Unfähigkeit, sich an die Prinzipien zu halten, die sie in ihren Büchern befürworte, ihr bizarres Beharren auf herkömmlicher häuslicher Ordnung zu Lasten der Autonomie anderer; wieder und wieder misslang es ihr, Themenbezogenheit nachzuweisen. Das Geschirr blieb, wo es war.

Oder er bat seinen Vater, ihm sein Auto zu leihen, weil beim Camry die Motorkontrollleuchte an war und er verdächtige Geräusche machte, und wenn sein Vater sagte: Nein, tut mir leid, ich habe heute Abend Männergruppe, aber morgen kann ich dir helfen, dein Auto in die Werkstatt zu bringen, drosch er plötzlich mit bösartiger Eloquenz auf die ganze Vorstellung einer Männergruppe ein, obwohl seine Argumente widersprüchlich waren. Das ist Robert-Bly-Macho-Scheiß, behauptete er etwa, denn er hatte im Haus spöttische Zusammenfassungen von Eisenhans gehört, doch wenn sein Dad ganz ruhig sagte: Das hast du falsch verstanden, wie du weißt, handelt es sich um eine Gruppe profeministischer Freunde, warf er ihnen vor, sie seien ein Haufen Yuppie-Schlappschwänze, die glaubten, hohle Phrasen über das Vatersein zu dreschen mache sie schon zu aufgeklärten Menschen. Wahrscheinlich solltet ihr tatsächlich eher in den Wald gehen und improvisierte männliche Rituale aufführen. Ein bisschen trommeln, ein paar Eichhörnchen schmoren. Je ruhiger sein Vater blieb, desto wütender wurde Adam: Kräche aus nichtigem Anlass brachten ihn dazu, mit Türen zu knallen; zweimal schlug er ein Loch in die Wand seines Zimmers.

Seine Eltern waren nicht nur entnervt, sondern auch besorgt, aber so besorgt nun auch wieder nicht; als Psychotherapeuten hatten sie viel weniger Angst vor offenem Konflikt als vor der Aussicht, dass ihr Kind sich zurückzog, in sein Zimmer, in sich selbst verschwand, ein verlorener Junge. Solange gesprochen wurde, fand auch eine Verarbeitung statt; und wenn er sich beruhigt hatte, entschuldigte er sich jedes Mal für seine Heftigkeit und bot dabei sein Foundation-Vokabular auf; oft dachte er mit ihnen zusammen über Ursachen nach. Wenn er sich nicht wie ein Arschloch aufführte, war er witzig, neugierig, freundlich; man musste sich nur ansehen, wie wunderbar er mit seiner Großmutter umging, wie viele gute Fragen er den Freunden seiner Eltern stellte, wenn man ihn dazu bringen konnte, sich zum Essen zu ihnen zu setzen. Folksänger, Gemeinwesenarbeiter, Sexperten, Schriftsteller und feministische Wissenschaftlerinnen wohnten in dem großen viktorianischen Haus seiner Eltern, wenn sie durch den Mittleren Westen kamen; er war stets interessiert, eignete sich rasch neue Arten zu denken und zu reden an. Sie waren stolz auf seine politischen Ansichten. Er schrieb nur Bestnoten. (Sie ahnten nicht, dass er in Mathe spickte.) In »Rhetorik« war er ein Star. Er las und schrieb Gedichte. Wahrscheinlich würde er auf einer Elite-Uni landen, obwohl sie auch die KU in Ordnung fänden. Sie gingen zu Recht davon aus, dass seine Labilität zum Teil daher rührte, dass er Angst davor hatte, von zu Hause wegzugehen.

Dann waren da die Migräneanfälle, ihre zunehmende Häufigkeit und Schwere. So schaute er etwa auf eine Seite mit Text oder auf ein Schild an einer Wand und fand es mit einem Mal unmöglich zu lesen, weil die Buchstaben wie Zweige im Wasser davontrieben. Dann große blinde Flecken, als hätte er in grelles Licht geschaut. Auf die optischen Symptome, die Leseunfähigkeit, folgte rasch eine Taubheit in den Händen und Teilen des Gesichts, manchmal auch der Zunge, die zur Folge hatte, dass er lallte. Eine so schwere Lichtempfindlichkeit, dass ein bisschen Sonne, das an dem Verdunkelungsrollo vorbeigelangte, ihm wie ein Blitzlicht in die Augen stach, auf die Welt losgelassene Phosphene. Er hatte das Gefühl, seine Gliedmaßen wären ausgerenkt, er könne sie nicht mehr kontrollieren; er griff nach einem Glas Wasser und verfehlte es um mehrere Zentimeter oder stieß es um. Wenn er sich den Imitrex-Autoinjektor gegen das Bein drückte, um sich eine Spritze zu geben, konnte er Bein, Hartplastik und Hand nicht auseinanderhalten; sie waren allesamt taube, fremde Objekte; das Medikament richtete sehr wenig, vielleicht gar nichts aus. Binnen einer halben Stunde nach Auftreten des Prodroms bekam er so starke Kopfschmerzen, dass er sie vorwiegend als Übelkeit wahrnahm. Wenn das Erbrechen anfing, hörte es stundenlang nicht auf; mehr als einmal musste er ins Krankenhaus, um gegen Dehydrierung behandelt zu werden. Da wären wir wieder, Schwester Eberheart. Grüßen Sie Darren von uns. Überlagert wurden diese Symptome von seiner Angst vor ihnen, vor dem Umstand, dass die neurologischen Verzerrungen ihm seine Gehirnerschütterung ins Gedächtnis zurückriefen; sein Orientierungsverlust wurde verschlimmert von seiner Panik vor Orientierungsverlust, und jeder Migräneanfall, der in der Regel zwischen acht und zwölf Stunden dauerte, kam ihm wie eine kleine Wiederholung jenes Traumas vor.

Dass die Migräneanfälle so schrecklich waren, hatte auch mit seiner Überzeugung zu tun, dass er selbst sie hervorgerufen hatte. Du wirst dir eine Migräne einhandeln, hörte er häufig, warnte er sich häufig. Wenn die Ursache der Kopfschmerzen Stress war, dann kehrte jeder intensive Gedanke, jedes falsche Verlangen, jeder wirkliche oder eingebildete Konflikt in Form von Schmerzen wieder. Der ständige Druck, sich als echter Mann auszugeben, sich erwartungsgemäß zu verhalten – das ständige Gewichtheben, der Kampf mit Worten –, machten ihn schließlich wieder zum Kind, das vom Bett aus nach seiner Mutter rief. Die Migräneanfälle waren seine regelmäßig wiederkehrenden, rückhaltlosen, unwillkürlichen Geständnisse, dass er ein Weichling war, ein Poser. Und er hatte zwar nie mehr als einen alle sechs Wochen, meinte aber hundert Mal am Tag, einen kommen zu spüren: Jedes Mal, wenn er den Blick von einer Lichtquelle abwandte und bunte Flecken seine Sicht trübten, jedes Mal, wenn ihm ein Körperteil einschlief oder sich aufgrund einer ungeschickten Haltung leicht taub anfühlte oder, was sehr selten vorkam, wenn er stotterte oder beim Reden kurz den Faden verlor – stieg panisches Entsetzen in ihm auf. Weil jeder falsche Alarm Angst auslöste, brachte er ihn einem wirklichen Anfall näher.