Warum hassen wir die Lyrik? - Ben Lerner - E-Book

Warum hassen wir die Lyrik? E-Book

Ben Lerner

0,0
13,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die Lyrik wird heftig denunziert wie keine andere Kunstform sonst. Sogar die Dichter:innen selbst scheinen sie zu missbilligen »Darin, dass sie Lyrik hassen, sind sich viel mehr Menschen einig, als sich darüber einigen können, was Lyrik überhaupt ist.«, schreibt Ben Lerner. »Ich mag sie auch nicht, habe aber mein Leben weitgehend um sie herum organisiert und empfinde das nicht als Widerspruch, weil Gedichte und der Hass auf die Lyrik für mich unentwirrbar miteinander verknüpft sind.« Auf welche Weise sie miteinander verknüpft sind, das wird hier in einem straffen Panorama skizziert.

Ben Lerner nimmt die Argumente der größten Lyrikfeinde in Augenschein, er lässt die besten und die schlechtesten Dichter:innen zu Wort kommen und erschließt uns beiläufig neuartige Perspektiven auf die Werke von Keats, Dickinson, McGonagall, Whitman und etlichen anderen. Und dabei versucht er, den grundsätzlich ehrenwerten Anspruch im Kern eines jeden Gedichts zu veranschaulichen – an dem die wahrhaft guten und die sagenhaft schlechten letztlich gleichermaßen scheitern.

Hassen wir die Lyrik, weil wir sie nicht verstehen? Oder hassen wir die Lyrik, weil sie Lyrik ist? Ben Lerner hat die originelle, aufschluss- und voltenreiche Verteidigung einer Gattung geschrieben, die seit 2500 Jahren inkriminiert wird.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Titel

Ben Lerner

Warum hassen wir die Lyrik?

Essay

Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl

Suhrkamp

Übersicht

Cover

Titel

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Inhalt

Cover

Titel

Inhalt

Zitatnachweise

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

In Englisch in der neunten Klasse verlangte Mrs. X von uns, ein Gedicht auswendig zu lernen und aufzusagen, und so ging ich zur Bibliothekarin der Topeka High und bat sie, mir das kürzeste Gedicht zu nennen, das sie kannte, worauf sie »Lyrik« von Marianne Moore vorschlug, das in der Version von 1967 vollständig so lautet:

Ich mag sie auch nicht.

Wenn man sie jedoch mit absoluter Verachtung für sie liest, entdeckt man in ihr am Ende doch einen Ort für das Echte.

Ich weiß noch, dass ich meine Klassenkameraden für dämlich hielt, weil sie in der Mehrzahl Shakespeares achtzehntes Sonett auswendig gelernt hatten, während ich nur siebenundzwanzig Worte aufsagen musste. Lassen wir den Umstand beiseite, dass ein festes Reimschema im jambischen Fünfheber dafür sorgt, dass vierzehn Zeilen Shakespeare leichter zu behalten sind als die drei von Moore, die jeweils durch Konjunktionaladverbien unterbrochen werden – ein Parallelismus des Ungelenken, der im Grunde als Form des Gedichts dient. Das plus die dreimalige Verwendung von »sie« lassen Moore wie einen Priester klingen, der widerwillig zugibt, dass die Sexualität durchaus ihre Funktion hat, dabei aber keinesfalls das Wort verwenden will, ein Effekt, der noch verstärkt wird durch das absichtlich plumpe Enjambement von zweiter und dritter Zeile (»in/ihr«). Tatsächlich ist »Lyrik« sehr schwer auswendig zu lernen, was ich dadurch demonstrierte, dass ich es bei keinem der drei Versuche hinkriegte, die Mrs. X mir einräumte, während sie in den Text schaute und meine Klassenkameraden sich kaputtlachten.

Meine Verachtung für die Hausaufgabe war am Ende unvollkommen. Noch heute zitiere ich den zweiten Satz jedes Mal falsch; eben habe ich das Gedicht gegoogelt und musste das bereits Getippte korrigieren; aber wer könnte den ersten vergessen? Ich mag sie auch nicht läuft seit 1993 in meinem Kopf auf REPEAT; wenn ich zum Schreiben einen Laptop oder zum Lesen ein Buch aufklappe, hallt in meinem inneren Ohr Ich mag sie auch nicht wider. Wenn bei einer Lesung ein Dichter (einschließlich meiner selbst) vorgestellt wird, höre ich, was auch immer ich sonst noch höre: Ich mag sie auch nicht. Wenn ich unterrichte, summe ich es praktisch vor mich hin. Wenn mir jemand, was schon sehr häufig vorgekommen ist, sagt, er könne mit Gedichten im Allgemeinen oder mit meinen im Besonderen nichts anfangen und/oder glaube, die Lyrik sei tot: Ich mag sie auch nicht. Manchmal mutet dieser Refrain wie ein negatives Ruminieren an, manchmal auch wie eine Art manisches, mantrahaftes Rezitieren, und ich komme einem unablässigen Gebet damit so nahe, wie es nur geht.

»Lyrik«: Welche Kunstform geht von der Abneigung ihres Publikums aus, und welche Künstlerin schließt sich dieser Abneigung an, ja fördert sie? Eine von innen und von außen gehasste Kunst. Welche Kunstform hat zur Bedingung ihrer Möglichkeit absolute Verachtung? Und auch beim verächtlichen Lesen gewinnt man das Echte nicht. Man kann nur einen Ort dafür freimachen – dem eigentlichen Gedicht, dem echten Gegenstand, begegnet man nicht. Alle paar Jahre erscheint in einer Mainstream-Zeitschrift ein Essay, der die Lyrik denunziert oder ihren Tod verkündet und den lebenden Dichtern die Schuld an der relativen Marginalisierung ihrer Kunst gibt, und dann erhellen Verteidigungen die Blogosphäre, ehe die Kultur, wenn man das Kultur nennen kann, ihre Aufmerksamkeit, wenn man das Aufmerksamkeit nennen kann, wieder auf die Zukunft richtet. Aber warum fragen wir nicht: Was für eine Kunst wird – und das schon seit Jahrtausenden – durch einen solchen Rhythmus von Denunzierung und Verteidigung definiert? Darin, dass sie Lyrik hassen, sind sich viel mehr Menschen einig, als sich darüber einigen können, was Lyrik überhaupt ist. Ich mag sie auch nicht, habe mein Leben weitgehend um sie herum organisiert (wenn auch mit viel weniger Disziplin und Können als Marianne Moore) und empfinde das nicht als Widerspruch, weil Gedichte und der Hass auf die Lyrik für mich – und vielleicht auch für Sie – unentwirrbar miteinander verknüpft sind.

Caedmon, der erste namentlich bekannte Dichter des Englischen, lernte die Sangeskunst in einem Traum. Laut Bedas Historia war Caedmon ein unwissender Schafhirte, der nicht singen konnte. Wenn man während dieses oder jenes lustigen Festes beschloss, dass alle der Reihe nach ein Lied zum Besten geben sollten, zog sich Caedmon verlegen zurück, vielleicht unter dem Vorwand, er müsse nach den Tieren sehen. Eines Abends nach dem Essen versucht jemand, Caedmon die Harfe aufzudrängen, und er flüchtet in den Stall. Dort inmitten der Paarhufer schlummert er ein, und ihm erscheint eine geheimnisvolle Gestalt, wahrscheinlich Gott. »Du musst mich besingen«, sagt Gott. »Ich kann nicht«, sagt Caedmon, wenn auch nicht in diesen Worten, »deswegen schlafe ich auch im Stall, anstatt mit meinen Freunden am Feuer Met zu trinken.« Aber Gott (oder ein Engel oder Dämon – der Text legt sich da nicht fest) fordert immer wieder ein Lied. »Aber was soll ich denn singen«, fragt Caedmon, der, stelle ich mir vor, verzweifelt ist und von seinem Alptraum in kalten Schweiß gebadet. »Singe den Anfang der Schöpfung«, weist ihn der Besucher an. Caedmon öffnet den Mund, und zu seiner Verblüffung strömen herrliche Verse zum Lobe Gottes hervor.

Caedmon erwacht als Dichter und wird schließlich Mönch. Aber das Gedicht, das er beim Erwachen singt, ist laut Beda nicht so gut wie das Gedicht, das er im Traum gesungen hat, »denn Lieder, und seien sie noch so gut verfertigt, können nicht Wort für Wort von einer Zunge in die andere übertragen werden, ohne dass es ihrer Anmut und ihrem Wert Abbruch tut«. Wenn das schon für die Übersetzung in der Wachwelt gilt, so gilt es doppelt für eine Übersetzung aus einem Traum. Das konkrete Gedicht, das Caedmon in die menschliche Gemeinschaft zurückbringt, ist zwangsläufig ein bloßes Echo des ersten.

Allen Grossman, aus dessen Caedmon-Deutung ich mich hier bediene, entnimmt dieser Geschichte (und es gibt davon viele Versionen) eine harte Lektion: Die Dichtkunst erwächst aus dem Verlangen, über das Endliche und das Historische – die Menschenwelt von Gewalt und Differenz – hinauszukommen und zum Transzendenten oder Göttlichen zu gelangen. Wegen dieses transzendenten Drangs wird man dazu bewogen, ein Gedicht zu schreiben, fühlt man sich berufen zu singen. Aber sobald man von diesem Drang zum konkreten Gedicht übergeht, wird das Lied vom Unendlichen durch die Endlichkeit seiner Bedingungen kompromittiert. In einem Traum kann man mit seinen Versen die Zeit überwinden, mit seinen Worten die Geschichte ihres Gebrauchs abschütteln, man kann darstellen, was sich nicht darstellen lässt (z. ‌B. die Erschaffung der Darstellung selbst), doch wenn man erwacht, wenn man sich wieder seinen Freunden am Feuer zugesellt, ist man zurück in der Menschenwelt mit ihren starren Gesetzen und ihrer starren Logik.

Deshalb ist die Dichterin eine tragische Gestalt. Das Gedicht ist stets die Manifestation eines Scheiterns. Es besteht ein »unlösbarer Konflikt« zwischen dem Verlangen des Dichters, eine alternative Welt zu singen, und, wie Grossman es formuliert, dem »Widerstand gegen ein alternatives Schaffen, der den Materialien innewohnt, aus denen sich jede Welt zwangsläufig zusammensetzt«. In einem Essay über Hart Crane entwickelt Grossman seinen Begriff eines »virtuellen Gedichts« – was man vielleicht große Dichtkunst nennen könnte, das abstrakte Potential des Mediums, wie es von der Dichterin empfunden wird, wenn sie sich zum Singen berufen sieht – und stellt ihm das »konkrete Gedicht« gegenüber, das diesen Drang zwangsläufig verrät, wenn es in die Welt der Darstellung eintritt.

Ich übergehe hier die schönen Komplexitäten von Grossmans Darstellung und entnehme seinen viel zu wenig gelesenen und fast abnorm brillanten Essays den Gedanken, dass konkrete Gedichte strukturell von einer »bitteren Logik« zum Scheitern verurteilt werden, die durch keine noch so große Virtuosität zu überwinden ist: Dichtkunst ist nicht schwierig, sie ist unmöglich. (Vielleicht hilft uns das, Moore zu verstehen: Unsere Verachtung für irgendein bestimmtes Gedicht muss vollkommen, muss total sein, denn nur eine rücksichtslose Lektüre, die uns erlaubt, die Kluft zwischen dem Konkreten und dem Virtuellen zu ermessen, versetzt uns in die Lage, wenn schon kein echtes Gedicht – so etwas gibt es nicht –, so doch einen Ort für das Echte zu erleben, was immer das heißen mag.) Grossman spricht mich an, weil ich wie so viele Dichter in dem Raum zwischen dem, wozu ich bewogen werde, und dem, was ich zustande bringe, lebe und mich in dieser Unverbundenheit nicht nur meinen individuellen Beschränkungen (obwohl ich diese auch empfinde) gegenübersehe, sondern auch der Struktur dieser Kunst, wie ich sie auffasse. Und dieser impliziten Struktur begegne ich immer wieder in den Behauptungen sowohl derer, die die Lyrik zu denunzieren vorgeben, als auch derer, die zu ihrer Verteidigung herbeieilen.

Die Bitterkeit der poetischen Logik ist besonders schmerzhaft, weil man uns schon in frühem Alter beigebracht hat, wir alle seien schlicht kraft unseres Menschseins Dichtende. Unsere Fähigkeit, Gedichte zu schreiben, sei daher in gewissem Sinne das Maß unserer Menschlichkeit. Zumindest hat man uns das in Topeka beigebracht: Wir alle haben Gefühle in uns (wo genau befinden sie sich eigentlich?); die Dichtkunst ist der reinste Ausdruck (so wie man den Saft aus einer Orange drückt?) dieses inneren Bereichs. Da die Sprache der Stoff des Sozialen und die Dichtkunst der sprachliche Ausdruck unserer irreduziblen Individualität ist, ist unser Menschsein mit unserem Dichtersein verknüpft. »Du bist ein Dichter, und du weißt es noch nicht mal«, pflegte Mr. X in der zweiten Klasse zu uns zu sagen; er gab diesen irritierenden kleinen Spruch jedes Mal von sich, wenn jemand von uns etwas sagte, was sich zufällig reimte. Ich glaube, das scherzhafte Klischee verrät eine wirkliche Überzeugung, was die Universalität der Dichtkunst angeht: Manche Kinder nehmen Klavierunterricht, manche Kinder lernen Stepptanz, aber wir sagen nicht, jedes Kind sei eine Pianistin oder ein Tänzer. Man ist jedoch eine Dichterin, ob man es weiß oder nicht, denn Teil einer Sprachgemeinschaft zu sein – überhaupt als »man« bezeichnet zu werden – heißt, mit dichterischen Fähigkeiten ausgestattet zu sein.