22. open mike -  - E-Book

22. open mike E-Book

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Beschreibung

»Wer wissen will, wer in den nächsten Jahren mit dem großen Roman oder dem epochalen Gedicht auf der Matte stehen wird, der muss den open mike besuchen.« taz; »Literaturwettbewerbe gibt es viele. Wer Neues und Unverbrauchtes sucht, sollte das Literaturfestival open mike in Berlin besuchen.« Deutschlandradio Kultur

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Seitenzahl: 210

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Sie sind alle am Anfang ihrer schriftstellerischen Karriere, nicht älter als 35 Jahre. Die meisten suchen nach einer ernsthaften Herausforderung in der Literaturszene. Dazu haben sie die Chance – als Teilnehmerinnen und Teilnehmer des open mike der Literaturwerkstatt Berlin.

Der open mike ist ein internationaler Wettbewerb junger deutschsprachiger Prosa und Lyrik. Schon längst ist er über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt.

Viele Autoren, deren Namen heute im Literaturbetrieb bekannt sind, haben ihre Karriere beim open mike in der Literaturwerkstatt Berlin gestartet. Dazu gehören zum Beispiel Zsuzsa Bánk, Nico Bleutge, Karen Duve, Rabea Edel, Julia Franck, Verena Güntner, Björn Kuhligk, Kathrin Röggla, Terézia Mora, Tilman Rammstedt und Jochen Schmidt.

Sechs Lektorinnen und Lektoren aus renommierten Verlagen – Hans Jürgen Balmes (Ammann Verlag), Gunnar Cynybulk (Aufbau Verlag), Günther Eisenhuber (Jung und Jung), Susanne Krones (Luchterhand Literaturverlag / btb), Diana Stübs (Rowohlt Verlag) und Jörg Sundermeier (Verbrecher Verlag) – haben riesige anonymisierte Textberge abgetragen, sich durch 600 in die Wertung gekommene Einsendungen gelesen und die 22 interessantesten Texte herausgesucht. Die ausgewählten Autoren lasen im Finale im November 2014 in Berlin.

Der 22. open mike ist eine Gemeinschaftsveranstaltung der Literaturwerkstatt Berlin und der Crespo Foundation.

Kooperation mit dem Heimathafen Neukölln und dem Allitera Verlag. Mit freundlicher Unterstützung des Fachbereichs Kultur des Bezirksamtes Neukölln.

22. open mike

Internationaler Wettbewerb junger deutschsprachiger Prosa und Lyrik

Die 22 Finaltexte

Weitere Informationen über den Verlag und sein Programm unter: www.allitera.de

November 2014 Allitera Verlag Ein Verlag der Buch&media GmbH, München © 2014 Anthologie: Buch&media GmbH, München © 2014 Texte: bei den Autoren Corporate ID / Grafik: Beratung, Konzeption, Produktionwww.heckerconsult.com Gestaltung Umschlagmotiv: www.allstarsdesign.de Foto: Holger Stüting ISBN print 978-3-86906-709-4 ISBN ePub 978-3-86906-710-0 ISBN PDF 978-3-86906-711-7 Printed in Europe

Inhalt

Hans Jürgen Balmes Hoffnung auf Glückskekse

Doris Anselm Die Krieger des Königs Ying Zheng

Kathrin Bach Gedichte

Jenifer Johanna Becker Molicure Moss

Gerasimos Bekas Feierabend

Özlem Özgül Dündar Gedichte

Marie Gamillscheg Die Stadt ist tot

Anna Gräsel Drinnen

Lara Hampe sic

Simon Kalus Babyfischglück

Simone Kanter Dreck am Stecken

Eva Maria Leuenberger Birkenhaut / weich, rau

Nora Linnemann Jackie-Olé

Arnold Maxwill Gegenden

Nouveaubéton Im Staub

Pascal Richmann Weber

Alexandra Riedel Die Prinzessin

Felix Schiller darwins kollegen

Walter Fabian Schmid Turing Galaxis

Mareike Schneider Die Holzmieten

Astrid Sozio Was nicht Fenster ist, ist Wand

Robert Stripling Prosagedichte

Michael Wolf Liebe in Zeiten der Schreibschule

Die Autoren

Die Jury

Die Lektoren

Preisträger & Jury 1993–2014

Hans Jürgen BalmesHoffnung auf Glückskekse

Sechs Kilo Poesie standen ab August als unverdächtiges Paket mit Einsendungen für den open mike im Büro, eine riesige Schachtel, die früher 5000 Seiten Kopierpapier gefasst hatte. Die 97 Manuskripte darin tragen keine Namen, sind aber nummeriert, nur so kann nach der Auswahl deren Anonymität aufgehoben werden. Es zählt also allein der Text. Als im September eine mahnende Mail von Jutta Büchter zart andeutete, dass es ernst wird, schulterten die sechs Lektorinnen und Lektoren ihre Tonnen voller Lose und hofften auf eine Fülle an Glückskeksen.

Sechs Wochen schleppte ich Packen aus den Lyrik-Einsendungen mit mir herum, las am Schreibtisch, in Zügen, im Garten, in der Mittagspause, die halbe Nacht durch und morgens beim Cappuccino noch mal quer. Der Reihe nach und von vorn nach hinten.

Mit blaugelesenen Lippen stellte ich mir spätnächtliche Telefonate mit Thomas Kling vor, der sich, solange er lebte, um junge Dichterinnen und Dichter gekümmert hatte wie kein Zweiter. Mit Zuneigung und mitunter beißender Ironie, denn er wusste, wie schwer es ist, mehr als zehn gute Texte zusammenzukriegen. Zehn hätten erst einmal gereicht, aber in den meisten Konvoluten fand sich das Gelungene oft nur als Opener oder Zugabe.

Ich stellte mir sein leichtes Stöhnen vor, wenn ich ihm ins Große Dunkel flüsterte, dass fünfmal Meerjungfrauen erwähnt wurden, aber nur ein Ankertattoo. Ein »Oh«. Je dreimal Klassenfahrten, dreimal Klippklapp, und dreimal wurde die Tatsache beklagt, dass Pluto nur noch ein Zwergplanet sei. – »Interessant, ist ja ein Anfang, Astronomie, bei Pluto Erwähnung griechischer Mythologie? « – Fast Fehlanzeige, Mythologie eher Zaungast in Gedichten mit Balladenrest. – »Und?« – Wie immer in letzter Zeit Auferstehung des Barock aus dem Geist des Poetry Slam. Nein, kaum noch Hiphop. Dafür einmal Dave Grohl und Gert Jonke in einer Strophe! Das ergab für den nächsten Text fünffache Payback-Punkte. Zweimal ging es um die Dronte. – Thomas legte auf, Jonke und Grohl fand er klasse, aber die vielen Impressionen von Berliner Partys erreichten ihn nicht mehr.

Manchmal lasen die Sitznachbarn in den Zügen mit, mal begeistert, mal entgeistert. Wissen die Menschen in den ICEs, was die sechs Lektorinnen und Lektoren machen, bevor das DB-mobil- Magazin auf dem Bistrotisch den open mike als Event ankündigt? Wir schrieben unsere Zinken an die Blattränder und schielten verstohlen, ob der Nachbar zustimmt oder verlegen mit dem Kopf schüttelt. Einmal las eine Frau zehn Texte in einer Folge mit und nickte oder schüttelte Kopf. Sie hatte immer recht und stieg in Hannover aus. Vielleicht schaute uns ja sogar einmal einer der Autoren über die Schulter, erfreut, erschreckt oder mit einem leichten Unbehagen, seinem Text in der Öffentlichkeit wieder zu begegnen. Gutes oder böses Omen?

Immer die Befürchtung, etwas zu übersehen, einen Text, dem man dann drei Monate später in einer Literaturzeitschrift begegnet, er kommt einem verdächtig vertraut vor, bis man ahnt: Das beste Gedicht habe ich verpasst. Dann findet man etwas, ganz großartig, man macht Schluss für heute, löscht das Licht, aber staunt am nächsten Tag über sein Urteil: Was habe ich mir gestern Abend nur dabei gedacht? Ist es ein Autor oder eine Autorin? Man klopft die Bilder nach ihrem Produktionsort ab – Leipzig oder Hildesheim? Viel erste Liebe, das ändert sich nie, Bilder von der Abifeier an der Raufasertapete im Jugendzimmer. Getändelt und gesäuselt und manchmal ganz schön volltrunken vom Selbst. Und manchmal fast ganz ohne, Neuronengesänge, Remixes, Cover- Versionen. Und woher kommt die Politik, und wo geht sie hin, die fremde Tante, die nur selten mit am Tisch sitzt?

Dann ist die Frist verstrichen und man muss entscheiden: ein Feld voller Manuskripte im Garten, aus dem ich die Einser und Zweier zupfe, um sie noch einmal gegeneinander zu lesen. Am Abend ist es dann klar, diese sieben. Am Morgen noch einmal schnell ein Gegencheck, alles sitzt, hat Luft und wackelt, wie die Handwerker sagen, und rasch die Mail an Jutta Büchter …

Doris AnselmDie Krieger des Königs Ying Zheng

Draußen ist Sommer, da sitzen wir Springbrunnen. Mit Klimaanlage. Sonst ist nicht anders als Winter. Wir sind hier. Alles ist hier. Für Essen, für Trinken, für Schönsein, für Kranksein, für Schenken. Gibt welche von uns, die waren schon hier vorletzten Sommer und davor sogar. Die sind hier aufgewachsen, wir schwören. Vorn eine Sitzbank, da haben wir paarmal Hausaufgaben gemacht. Aber die Zettel nehmen Platz weg für andere Leute, sagt Center. Ein Zettel, das geht. Ein Brief schreiben, das geht.

Die Stimme von Center kommt, wenn du Fehler machst. Und wenn auch jemand was verliert. Ein Kind. Eine Tasche. Du kannst die Stimme gut verstehen. Center sagt nicht: Gleich passiert was komm hau ab du Missgeburt. Center sagt: Dies ist ein rauchfreies Center. Wir gehen für Rauchen nach draußen. Nicht oft. Es stinkt da und meistens regnet oder ist heiß. Meistens keiner hat Zigaretten. Die Penner warten vor der Tür und wollen unsere aufrauchen. Wir können wieder rein. Jetzt noch, ein Monat. Aber deshalb wir machen den Brief und deshalb ist Streit. Wer muss den Brief schreiben? Ich. Die anderen sagen mir wie.

– Mach nicht so. So denken die, kann keiner richtig schreiben hier.

– Denken sie eh.

– Kann ja auch keiner.

– Wir machen so Volksbegehren, Dicker. Mit Demokratie.

– Demokratie deine Mutter.

– Fick dich.

– Schreib das mal mit Natur.

Es gibt hier Palmen und grüne Blattbäume im Kasten. Echte Erde. Ist verboten, da drauf zu sitzen. Die Erde geht kaputt. Neben dem Kasten und auch woanders der Boden ist aus so Marmorstein. Center hatte mal Geld. Wenn der Kasten weg ist und der Boden und alles, dann ist nur noch Sand. Der kann nicht kaputtgehen, der weht einfach weg, wir schwören.

– Ist aber egal mit Sand. Mach wegen Schule so was.

Oft waren schon Ausstellungen hier. Manchmal. Das ist sehr wichtig, weil man kann etwas lernen für das Leben. Jetzt gerade sind chinesische Tonkrieger aus Plastik und Museumtafeln. Darauf steht: Es waren Bauern, die 1974 die Grube 1 in der Nähe von Xi’an entdeckten. Nach und nach fanden Archäologen dort Tausende Kriegerfiguren. Sie werden dem König Ying Zheng zugeordnet.

Einer lacht.

– Kenn ich König Ginseng, kannst du vorne Apotheke holen.

Dieser wurde später der erste chinesische Kaiser. Um sein Reich zu einen, gaben die Krieger ihr Leben – das empfanden sie als eine Ehre.

Steht nicht da, was ein Krieger kostet. Tausend, sagen welche, weil du alles hier kaufen kannst. Die Krieger sind aber nicht zum Kaufen. Die stehen nur so.

Noch drei Wochen, und paar Tage hat keiner Idee für den Brief. Bei manchen Sachen bringt nichts, die hinzuschreiben. Aber manche Sachen sind trotzdem so und ich schreibe die hin.

Zum Beispiel, wie sich die Chicks die Haare machen lassen am Stand in der Mitte. Kriegen sie Lockendildo reingesteckt, halten sie still und die Haare verbrennen. Nur etwas. Danach sehen die Chicks aus wie Puppen und wackeln ganzen Tag mit dem Kopf.

Zum Beispiel, wie die Typen es im Sanipay-Klo machen wollen. Das kostet fünfzig Cent. Es ist sauber und gibt gutes Licht. Beim Rausgehen kriegst du einen Gutschein für fünfzig Cent, aber lösen nicht alle Läden ein. Also hast du meistens umsonst gemacht. Manche Typen sagen aber auch nur so zu einer, Sanipay, im Scherz. Und gucken runter. Weißt du Bescheid.

Oder zum Beispiel, wie eine von den Chicks jetzt unter der Rolltreppe ist. Im Keller, seit letztes Jahr. Da ist ein Spielplatz. Sie passt auf, dass ihr Kind nicht weint. Wenn doch, sie kommt her und holt zwei Euro von einem von den Typen für das Feuerwehrauto. Sie wickelt auch das Kind unten auf dem platten Ende von der Rutsche. Die Stimme von Center sagt nichts, also ist in Ordnung. Die Feuerwehrsirene heult und heult.

Das schreibe ich nur so, bringt nichts. Wir müssen aber jetzt was finden, was was bringt. Wir gehen alle Läden. Bubbletea ist schon zu. Center hat Gold auf das Schaufenster geklebt. Vielen Dank für Ihre Treue Vielen Dank für. Kannst du durch die Kratzer im Gold gucken und drinnen ist dunkel und dreckig und Kabel hängen runter. Daneben Softwich ist noch offen. Ich schreibe: Bei Softwich kannst du alles haben, wie du willst. Sie fragen dich: Welches Brot, Käse oder kein Käse, doppelt Fleisch, Gemüse oder zweimal Sauce und ob du richtig sparen möchtest. Oder nicht. Du musst wissen, was du willst, dann kriegst du, was du willst, wir schwören.

Im Nagelstudio hocken Mangamädchen. Die bringen nichts für den Brief. Aber sind vielleicht auch aus China wie die Krieger. Und sehen aus wie Krankenschwestern. Große Augen und weißer Mundschutz und Kittel. Kommt eine Kundin und zeigt ihre kranken Fingernägel, machen die gesund. Sonst machen die nichts.

Wir sitzen Springbrunnen. Ich sage: Wir müssen jetzt alles geben. Wenn du was willst, musst du alles geben. Deshalb, die Chicks lassen sich die teuersten Nägel machen, Metallic mit Stein. Alle essen ein Softwich. Wer schafft, zwei. Oder mit Getränk. Wir gehen Sanipay und werfen die Gutscheine in den Müll. Unser ganzes Geld bleibt bei Center.

Aber die Krieger sind dann trotzdem weg, weil nur noch zwei Wochen. Die Museumtafeln sind noch da. Ich schreibe was ab, weil keiner redet. Aufrecht und in Reihen standen Figuren verschiedenster Dienstgrade in der Grube. Generäle, aber auch einfache Soldaten. Ein Fußsoldat in der Armee Ying Zhengs hatte nicht die Möglichkeit, sich zu ergeben.

Ich frage: Was soll noch in den Brief? Einer sagt:

– Dass wir bei ZooMann immer die Fische angucken. Schreib die Namen von den Fischen.

Ich schreibe: Kardinalfisch. Blauer Zwergfadenfisch. Sonnenstrahlfisch. Diese Fische können wir nur hier sehen und sonst nirgendwo anders, wir schwören. Bildung ist sehr wichtig.

Einer sagt:

– Schreib mal Buchladen.

Also schreibe ich Buchladen. Das heißt richtig: Ich schreibe also über den Buchladen. Aber für den Brief ich mache die Worte so, wie wir die sagen. Das versteht jeder. Und du musst zu dir stehen, wenn du was willst. Wenn du zum Beispiel türkisch bist, wie paar von uns. Bin ich nicht, aber verstehe ich trotzdem. Da geht der Satz so rum: Du hängst hinten an die Worte was dran. Sagst du zum Beispiel: Freundmein Sanipayzu geht. Umgekehrt wie Deutsch. Und dann passiert auf Deutsch, dass du Sanipay schon gesagt hast, und dann merkst du, fehlt noch was. Aber dann ist schon zu spät. Also lässt du einfach weg. Und dann geht dein Freund Sanipay. Ohne zu. Versteht auch jeder. Ich bin nicht türkisch, aber verstehe ich trotzdem. Also ich schreibe. Gibt auch einen Buchladen. Der hat vorne für Fußball die Flaggen und Sonnenbrillen und Aschenbecher und Kopfstützenüberzüge für Autos, alles Nationalfarben, und hinten Bücher.

So schreibe ich das. Wir schreiben das so. Der Brief ist jetzt schon mehrere Zettel und nimmt viel Platz weg. Aber die Stimme von Center sagt nichts. Center sagt gar nichts mehr. Und als der Brief fertig ist, wir finden raus: Gibt keinen Briefkasten. Center hat keinen Briefkasten mehr und auch keine Adresse. Eine irgendwo in China, aber dahin dauert der Brief zu lange. Deshalb ist wieder Streit. Ich sage, wir machen auf keinen Fall online. Kommentarfunktion kriegst du nie eine Antwort. Wenn wichtige Sachen sind, weiß jeder, machst du immer auf Papier. Ausbildung zum Beispiel, kriegst du vielleicht auch keine Antwort, aber immer auf Papier.

Also wir machen nichts. Wir sitzen Springbrunnen. Zwischen uns liegt der Brief. Gegenüber von Springbrunnen ist logisch auch ein Laden, für Anziehsachen. Der hat noch offen. Alle gucken da rüber, damit alle denken, sie gucken das Schaufenster an oder die Eiswürfelbilder. Die sind auf das Glas geklebt wegen Sommer. Stimmt aber nicht: Wir gucken uns selber an. Da sind wir, auf dem Glas, so durchsichtig wie die Eiswürfel. Ich denke an die Museumtafeln, die jetzt auch weg sind.

Dieser archäologische Fund ist unter anderem deswegen eine Sensation, weil von den Tausenden Kriegern keiner in Mimik und Gestik dem anderen gleicht. Jede Figur, vom General bis zum Fußsoldaten, trägt individuelle Züge.

Wir gehen ZooMann und kaufen eine Schachtel Heuschrecken. Paar von uns kommen nicht mit. Haben sie Spiele im Telefon, billiger als Heuschrecken, sagen sie. Wenn du das sagst, du brauchst nirgendwo mehr hingehen. Wir kippen die Heuschrecken auf den Blattbaum. Aber fressen sie nichts ab. Fallen sie auf die Erde und sehen kaputt aus und Center sagt nichts dazu.

Die letzten drei Tage sind Aktionstage. Draußen ist sehr heiß. Vor der Tür die Penner kriegen Sonnenbrand. Wir gehen nicht raus. Drinnen jeder Laden macht Aktionsangebote. Wir denken, ob wir auch Aktion machen sollen, aber wir haben kein Angebot. Deshalb ist Streit. Paar sagen, Demo. Ist aber logisch viel zu spät. Sind fast keine Leute mehr da außer wir.

Da sage ich: Wir suchen Center.

Steht am Eingang ja Center-Management 4. OG. Wir laufen zweimal alle Läden und suchen die Rolltreppe da hin. Gibt keine, wir schwören. Der Fahrstuhl hat aber eine Taste, wo daneben 4. OG steht. Alle, die reinpassen, fahren hoch. Der Fahrstuhl hält an, aber Tür geht nicht auf. Dann fährt von alleine wieder runter. Vielleicht unten hat jemand gedrückt und ist weggegangen. Wir steigen aus. Ganz hinten gibt noch ein grünes Treppenhaus für Alarm, da gehen wir hoch.

Oben ist ein Flur ohne Marmorsteinboden. Gehen wir langsam hintereinander. Viele Zimmer, ein Duschraum und einer mit Schränken aus Blech zum Abschließen, alle offen. Da ist kein Mensch. Hängt nur über der Tür immer eine Box mit Notausganglicht. Wir machen jede Tür nacheinander auf. Ein Zimmer steht voll alte Computer. Ein anderes ist leer außer ein Tisch, ganz billig, und das Holz ist nur Folie. Eine einzige Tür geht nicht auf. Wir stehen davor. Stehen alle ganz gerade und still. Muss ich an die Krieger denken.

Archäologen halten es deshalb für möglich, dass jede einzelne Figur einem ganz bestimmten, damals lebenden Soldaten nachgebildet wurde. Aber das ist nicht sicher. Bis heute ist lediglich ein Viertel der gigantischen Armee freigelegt.

Stehen wir da und warten, ob wir die Stimme von Center hören. Hinter der Tür summt ganz leise. Erst wollen paar von uns klopfen. Keine Ahnung, warum keiner macht. Keine Ahnung, warum ich sage, nach paar Minuten, wir sollen nicht stören. Ich habe den Brief. Beuge ich mich runter und schiebe den unter die Tür. Dann gehen wir. Gehen wir nacheinander die grüne Treppe runter und sagt keiner ein Wort. Die Treppe runter dauert zehnmal so lange wie rauf.

Kathrin BachGedichte

zäune

die zäune zwischen denen ich laufe sind schultern meine schmalen schultern in die länge gezogen ich gehe durch die straßen und meine sohlen nehmen den asphalt auf feldwege wachsen kniehoch und die kruste unter meinen nägeln setzt teig an als hätte sich um meine haut ein belag geschlagen der klebt der klebt und erschwert mich und die häuser die hallen zu trennen wie ein ei und auch der himmel kommt nicht los von dieser gegend ragt wie ein ast in die stadt hinein als wolle der ast zum spaten werden und in die erde rein wie meine hände jeder einzelne finger

12a, rue des clairistes

1

ich deute auf die hügel der stadt die wenn du sie genauer betrachtest zu meinen händen gehören fingergelenke meiner fäuste oder auch die ausgestreckten kuppen wie schaschlikspieße in dächer gerammt

2

und suchst du häuser auf um dich abzukühlen denn innen ist es kühl erwartet dich eine meiner mickrigen hände als treppe

3

dann stehe ich am marktplatz und führe vor wie sich meine hände hineindrehen in die dinge wie in einen korken

4

in den himmel seine haihaut die algenpolster wo das meer beginnt die kleinen häuschen und die größeren taubenhälse, seifen

5

und ich zeige dir wie ich wohne mein haus das korkt und kühlt

teigwarm

alles ist gerollt ich nehme z. b. tiere in meine hände rolle sie zwischen handflächen zu kugeln fest die tiere nehme ich vom boden denn sie wachsen dort zwischen meinen händen knacken die schalen nur kurz beinchen panzerchen und stachel werden sämig die kugeln gebe ich weiter kreise nicht auf auch mich selbst rolle ich nehme mich zwischen hände reibe kugeln nicht gar so hart reibe erbsenweich kugeln in einen topf der noch nicht gerollt ist

über die feiertage

die ländereien eingeweicht eine kräftige schicht schaum bäume darin wie besteck porzellan von dem sich nach einiger zeit dreck löst

du stehst da stapelst die handteller räumst etwas ein lässt das wasser ablaufen du drückst den schaum in den abfluss

über die feiertage stehen hinter dem küchenfenster die höfe zum trocknen nässen in geschirrtuch

l‘estaque

ich sitze auf kieselsteinen die unter mir hin und her rucken den stoff um meine beine die hüften ablehnen ihn abwetzen oben in den kalkwänden zucken katzen schwärzen den kalk die kieselsteine rollen mich oval bis ans wasser ich sitze an einem beckenrand sehe köpfe wie sie versuchen das wasser zu durchlöchern sehe münder die sich stülpen halsaufwärts pflanzen auf der wasseroberfläche wachsen und das wasser wie es sich hebt sich als schwarze paste über die haare stopft und schmiert und schmiert bis alles verschmiert ist

la rue

ich nehm die abkürzung zu deinem schlaf dort bellen die hunde dieses atmen wie unwetter ich decke zu mache dich zum gebirge der zweite hund am regen verschluckt wir unter dach und fächern den wind durch schlitze die höhenlinien dein hals pulsiert ein zwei dreimal unsere eigenen vier hände bergstraßen deine haut eine schneedecke das bellen leiser als heizkörper wir sind niederschlag hunde

plage des catalans

der beton bröckelt füttert die fische ich reibe meinen schuhen die sohle ab während ich eine argentinierin lese die geschichte einer schwimmerin geht im hallenbad das licht an ich lege das buch zur seite mir direkt gegenüber hat die sonne einen dicken strahl ins wasser gepisst jetzt ist der beton belegt alle sind aufgetaucht glotzen ich schiebe mich an ihnen vorbei von der straße aus sehe ich dann dass das meer eine qualle ist eine einzelne fette qualle die nicht aufhört an land zu schwappen

knotenpunkte

1

eine matratze sand der blick liegt ruhig unter einer schicht stoff du siehst jersey beige blau weiß das muster einer bettwäsche

sonne grellt als sparlampe auf dem nachttisch die alte minolta und ihr auslöser den unser kuss imitiert

2

ich sehe eine einzige möwe im himmel herum schwimmen ihr körper von hier unten eine tube mayonnaise die ich im supermarkt wiedererkenne

3

ich steck meine zunge in eine kugel eis die dein mund isst

4

die wellen fette barten eines verschollenen wals der leuchtturm tastet ab fahndet nach dem tier fahndet als hätte die insel etwas verbrochen

mehl

ich habe aus deinen augen teigtaschen geformt die augäpfel eingebacken in einen dünnen teig der während du hier liegst abkühlt ich habe das gebäck durch eine dünne naht von dir abgestreut eine linie minze ist dort wo deine wimpern sein müssten dunkler span den darf ich nicht verwischen auch nicht mit der zunge mit der ich deinen teig zu roher masse zurück lecke

tour en l‘air

die tiere haben ein jetlag tiere mit spaghettiträgern als bein vögel die ich nicht benenne auskauernd auf stromlinien starr wie eine ballettstange die in die knie zwingt dich nenne ich wie vokabeln die vögel fliegen auf nur noch ich im plié locker die träger die dein blick trägt

noir sur scène

ich kann nicht sehen wie viele körper es sind sie werden nur sichtbar wenn sie sich zu einem ding zusammen rotten 1 körper ist nackt dreht die knie in einen spitzer spitzt sich in die anderen hinein atem der tickt und tackt ich suche nach etwas, das ich sehen kann ein würfel nebel, darin glieder wie dreck die nackte hockt auf einer bürste reißt arme wie haare heraus ein büschel beine das zu mir ruckt ich fange 1 talghand auf zerklatsche das fett

Jenifer Johanna BeckerMolicure Moss

(Auszug Kapitel I)

Irgendjemand hatte alle Schlösser mit Kleber zugeschmiert, weswegen wir nach dem zweiten Gong immer noch hinter den Restmüllcontainern standen und rauchten. Es roch süßlich und nach nasser Pappe, und neben meinem Schuh lag irgendwas, das mal ein halbes Brot gewesen sein könnte, und überall waren kleine Fruchtfliegen, die um unsere Köpfe schwirrten. Ich behielt die Lücke zwischen Wand und Mülleimer im Auge, durch die man hereinschlüpfen konnte – wenn man beim Rauchen erwischt wurde, gab es zwei Aufräumstunden und einen Brief an die Eltern –, aber an diesem Tag streifte nur der grauhaarige Chemielehrer halbherzig über den Schulhof, er hatte alle Raucherecken ausgelassen und sich stattdessen der Mauer zugewandt, hinter der die gesamte Lehrerschaft mit dem Hausmeister diskutierte. In den vier Jahren, die ich auf dieser Schule gewesen war, hatte ich noch nie erlebt, dass der letzte Schultag völlig boykottiert wurde. Normalerweise bewarfen sich die Leute mit Wasserbomben oder schmierten sich gegenseitig Lebensmittelfarbe auf den Rücken. Aber die Nummer mit den Schlössern war etwas anderes – Vandalismus – und die Polizei sollte bald hier sein.

Ich pustete dünnen Qualm in die Luft, der sich sofort verflüchtigte. Es sah immer noch etwas unbeholfen aus, wenn ich am Filter zog und meine Lippen zu einem weißen Strich zusammenpresste, anstatt es irgendwie lässig zu machen, wie diese Frauen in Filmen, die auf Brückenpfeilern sitzen und ihre feucht schimmernden Lippen um den Filter legen. Aber den anderen war es bisher nicht aufgefallen, sie hatten noch keinen blöden Spruch gebracht und verhielten sich normal. Normal bedeutete, dass sie mich nicht beachteten. Ich war ein Anhängsel, eine Fickmaschine, wie Tobster die anderen Mädchen nannte, und ich wusste, dass er es hinter meinem Rücken genauso machte. Und wenn ich ehrlich war, war es mir egal. Ich wusste, wie es war, bei den Jungs nicht mitspielen zu dürfen – ich hatte einen älteren und einen jüngeren Bruder und war das einzige Mädchen in meiner Familie –, früher oder später würde der Punkt kommen, an dem sie mich anerkennen würden, ganz automatisch, weil ich ihnen aus der Scheiße helfen würde. Und eigentlich ging es mir auch gar nicht darum, dass mich die Clique akzeptierte. Ich hatte meine Leute, und das hier waren nur ein paar Fünfzehnjährige, die so taten, als wären sie erwachsen, dabei hatten sie keine Ahnung. Der einzige Grund, warum ich hinter dem Mülleimer stand, war Marek Heidler. Wir gingen seit ungefähr einem Monat miteinander, nachdem wir uns auf dem Sportfest beim Weitsprung kennengelernt und am gleichen Abend auf dem Sofa einer Freundin rumgeknutscht hatten. Seitdem waren wir zusammen. Er stand genau vor mir und trug hellblaue Baggies und einen weißen Pullover mit eckiger Fila-Aufschrift und pustete seine dunkelblonden Nick-Carter-Haare aus der Stirn, die im gleichen Moment wieder auf seine Augenbrauen zurücksegelten. Wir lächelten uns an, und er öffnete seinen Mund nur so weit, dass man die Ränder seiner weißen Schneidezähne sehen konnte. Marek wusste einfach, wie es ging. Schon allein, weil er einen Vornamen hatte, der türkisch und russisch klang, und das hatte ihm eine privilegierte Position in allen Kreisen verschafft. Türken, Russen, Mädchen, Jungen, scheißegal, alle liebten Marek.