221 Tage - Iris Antonia Kogler - E-Book

221 Tage E-Book

Iris Antonia Kogler

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Beschreibung

Von September bis April des folgenden Jahres kreuzen sich die Lebenswege verschiedener Menschen. Ohne sich zu kennen, beeinflussen sie sich und ihre Handlungen gegenseitig. Sie alle sind auf der Suche nach einem Ausweg aus ihrer jetzigen Lebenssituation und kämpfen darum, ihre Träume zu verwirklichen oder die Vergangenheit zu bewältigen. Stiller, berührender und realitätsnaher Roman über die Suche nach dem Glück.

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Seitenzahl: 229

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Iris Antonia Kogler

221 Tage

Alle Rechte vorbehalten 2019 Iris Antonia Kogler

Das Werk darf - auch in Auszügen - nicht ohne die Genehmigung des Autors/der Autorin wiedergegeben werden.

Iris Antonia Kogler

c/o Barbara´s Autorenservice

Tüttendorfer Weg 3

24214 Gettorf

Teil I

Vom Suchen und Finden

September

In Marks Büro gibt es wenig Himmel. Da ist nur ein schmaler Streifen, der sich zwischen zwei Hochhäusern hindurch drängelt und heute trüb aussieht. Er überlegt, ob die beiden Häuser näher zusammengerückt sind. Jeden Tag nur ein winziges Stückchen, denn eine größere Verschiebung der Gebäude wäre ihm aufgefallen. Auf der Straße hätte er dann Asphaltbrocken gesehen, die durch das Zusammenschieben der Straße entstanden wären. Aber wenn sich die Häuserriesen jeden Tag nur wenige Millimeter aufeinander zu bewegten, fiele es niemandem auf. Heute aber ist Mark sich sicher, dass sie sich bewegt haben, denn der Himmelsabschnitt zwischen ihnen ist kleiner geworden. Er nimmt ein Lineal aus dem Becher auf seinem Schreibtisch und hält es in die Höhe. Ein Flugzeug fliegt durch das Grau. Er misst 14,3 Zentimeter Himmel und schreibt die Zahl auf einen kleinen, gelben Zettel. Das Telefon klingelt.

„Ich bin´s“, sagt Sarah, „denkst du an unseren Termin heute Abend?“

„Ja, ich werde früher Schluss machen.“ Mark hält das Lineal noch einmal in die Luft. 14,3 Zentimeter.

„Es ist wirklich wichtig, dass du bei der Sache bist, Mark“, sagt seine Frau.

Mark misst den Abstand der Hochhäuser weiter unten, etwa auf Höhe des zwölften Stockwerks.

„Mark? Ich will nur sichergehen, dass du rechtzeitig kommst. Ich dachte, wenn du wieder länger im Büro bleibst-“

„Ja, ich werde da sein“, unterbricht Mark sie. Er hat eine minimale Abweichung von zwei Millimetern entdeckt, gemessen auf der Höhe des Büros mit der Grünlilie auf der Fensterbank. Auf den Zettel schreibt er Grünzeug 14,1 Zentimeter und legt auf. Die Abweichung muss an seiner Messung liegen, weil er das Lineal nicht im exakt gleichen Abstand von sich weggehalten hat. Also rollt er mit seinem Schreibtischstuhl zur Seite, an seinem Tisch vorbei an eine Stelle, von der aus sich eine Strebe des Fensters mit der Außenkante des einen Hochhauses deckt. An die Außenkante des anderen Hochhauses hält er nun sein Lineal, dieses Mal hochkant, und ist sich sicher, dass es eine Abweichung gibt. Er rollt zurück an seinen Tisch, und gerade, als er ihn erreicht, wird die Tür nach nur einer Andeutung eines Klopfens geöffnet. Ein Kollege kommt herein und braucht einige Unterlagen. Was, wenn er Mark bei der Vermessung des Himmels gesehen, ihn bei dieser kindischen Tätigkeit erwischt hätte? Mark stellt sich die Situation vor, in der sein Kollege sagen würde: „Was machst du da?“, und Mark würde antworten: „Ich vermesse den Himmel.“ Sein Kollege würde ihn mit einer Mischung aus Ungläubigkeit und Mitleid ansehen, vielleicht auch mit Abscheu. Mark stellt sich die Situation noch einmal vor. Er sitzt mit dem Lineal da, schaut konzentriert darauf, und es würde klopfen, ohne dass sich die Tür gleich öffnet. Mark würde ein ruhiges „Herein“ rufen und der Kollege würde den Kopf durch die Tür stecken, anstatt einfach so hereinzuplatzen, als wäre dies sein Büro. Auf die Frage, was er da mache, würde Mark antworten: „Ich vermesse den Himmel. Aufgrund der Wetterlage erscheint er heute in einem leichten Grau, und die Häuser haben sich um zwei Millimeter aufeinander zubewegt.“ Sein Kollege würde hereinkommen und fragen, was man da nun tun solle. Er würde ihm, Mark dem Himmelsvermesser, diese Frage ehrfürchtig stellen, weil er ihn und seine Arbeit anerkennt und wertschätzt.

Mark zieht sich aus seinen Überlegungen heraus, verspürt ein Gefühl der Scham darüber, solch kindische Gedankengänge zu haben. Ständig lebt er in Gedanken und in Träumereien von einem anderen Leben.

Zwei Stunden später hört er den Geräuschen der Stadt zu, an denen er auf seinem Rad vorbeifährt. Das Aufprallen eines Balls und das Geräusch seiner Drehung über den Asphalt, als ein Junge ihn von sich weg kickt. Baustellenlärm, ein lautes Motorrad, das ihn überholt. So ist die Stadt, so hört sich Leben in Zwischenräumen an. An der Haltelinie einer Linksabbiegerspur bleibt er stehen. Der Fahrer des Autos neben ihm telefoniert über die Freisprechanlage. Arbeit im Auto. Auch so ein Zwischenraum, oder doch ein Schloss? Mark hört der Arroganz zu, diesem Wichtigsein des Mannes. Er will es nicht länger hören und fährt über den Fußgängerübergang nach rechts Richtung Uferpromenade.

Sarah holt das Obst aus den Einkaufstüten, wäscht es ab und legt es in die Schale. Sie wird es noch einmal waschen, bevor sie es isst. Das Wasser stellt sie in den Getränkeschrank, den Wein rechts daneben, das Bier nach unten. Das Gemüse in die unteren Fächer im Kühlschrank. Es ist noch Huhn von gestern da. Sie faltet die Tüten zusammen, Kante auf Kante, und legt sie in die Schublade zu den anderen. Mark hat seine Tasse von heute Morgen stehen lassen, Sarah räumt sie weg und wischt mit einem Tuch die Theke ab. Die Blumen, die darauf stehen, sehen noch gut aus und dürfen daher bleiben. Sie wählt Marks Nummer und fährt mit dem Finger über die Theke, so dass es ein leises, quietschendes Geräusch gibt. Sie hält inne, hört dem Freizeichen zu, ihre Fingerkuppe verfärbt sich durch den Druck auf die Theke.

„Hey“, sagt Mark, als er endlich an sein Handy geht, „ich bin unterwegs.“

„Wo bist du?“

„An der Uferpromenade.“

„Warum?“ Sarah nimmt das Tuch wieder zur Hand.

„Ich bin auf dem Heimweg.“

„Am Fluss entlang?“

„Ja.“

„Warum?“

„Ich hatte einfach Lust dazu.“

„Wir haben einen Termin heute.“

„Ja, ich weiß, aber es ist noch Zeit.“ Mark hört, wie Sarah ein Putzmittel versprüht.

„Ich warte hier auf dich“, sagt sie.

Die Farbe müsste reichen, denkt Andrea, nimmt den Eimer, holt Schwung und schüttet die Farbe gegen die Leinwand, wo sie aufprallt und dann beginnt, langsam herunter zu fließen. Andrea nimmt ihre Zigarette aus dem Mund und wirft sie in den Eimer, wo die Reste der Farbe nach ihr greifen und die Glut ersticken. Achtlos stellt sie den Eimer zur Seite und sieht der Farbe zu, die langsam von der Leinwand zu tropfen beginnt. Eine Wolke zieht an der Sonne vorbei, ihr Schatten huscht über den Boden des Ateliers und über das neu begonnene Bild. Eine interessante Sache, weil sich der Wolkenschatten viel schneller bewegt als die Farbe. Andrea sucht eine Dose Blau heraus und schüttet die Farbe in den Eimer mit der ertränkten Zigarette. Dann zündet sie sich eine zweite an, wirft die Farbe wieder gegen die Leinwand und sucht eine Weile nach dem richtigen Pinsel. Sie taucht ihn in die Restfarbe im Eimer und betrachtet die herunterfließende Farbe auf der Leinwand. Vom Pinsel tropft Farbe auf ihre Füße. Barfuß in Sommerschlappen. Sie drückt ihre Zigarette in die Erde einer Zimmerpflanze, ein Baum, der schon vor längerer Zeit abgestorben ist, aber Andrea bemerkt es erst jetzt. Es macht sie ein wenig traurig, weil sie das Leben mag. Sie schiebt den toten Baum zur Seite, hindurch durch andere große Pflanzen, von denen in ihrem Atelier mindestens zehn herumstehen. Ein Vogelschwarm fliegt am Fenster vorbei, schnelle Schatten flattern über die Leinwand.

Die Psychologin hatte ihnen in der ersten Stunde erzählt, dass sie nicht eng nebeneinander sitzen sollen. Für Mark kein Problem, bei Sarah sieht das je nach Laune anders aus. Manchmal rutscht sie auf ihrem Sessel ganz nach außen, um noch weiter von ihm weg zu sitzen, dann wieder sitzt sie ihm so zugewandt da, dass sie beinahe vom schwarzen Leder herunter zu rutschen droht. Mark hat ihr von der Promenade aus eine Nachricht geschrieben, dass er vor der Sitzung nicht heimkommen wird. Nicht geschrieben hat er, warum. Weil er heute den Himmel sehen muss, weil sich die Vögel beginnen zu sammeln, weil der Herbst angefangen hat und er die Farben sehen will. Weil er bei Sarah nicht atmen kann und nicht weiß, wie er ihr das sagen soll. Sie hat die Nachricht gelesen und sofort angerufen, aber er hat das Handy weggesteckt, hat es auf stumm gestellt, um den anderen Geräuschen zuhören zu können. Als er in der Praxis zwei Minuten zu spät ankommt, sitzt sie schon in ihrem Sessel. Ganz außen. Sie sagt nicht: „Du bist zu spät“, aber er hört es trotzdem und denkt dabei an die 14,3 Zentimeter Himmel. Ihr Angriff kommt schon in den ersten Minuten, aber er versucht, gelassen zu bleiben, weil eine ganze Stunde Streit auf diesen Sesseln sitzend anstrengend ist. Mangelnde Unterstützung ist heute ihr Thema. Brav macht sie ihm keinen Vorwurf, weil das in der Therapie verboten ist.

„Ich habe das Gefühl, nicht richtig von dir unterstützt zu werden“, sagt sie stattdessen.

Das hatte sie von Anfang an gut drauf. „Ich habe das Gefühl“ anstatt „du hast, du bist, du tust.“ Das geht ihm auf die Nerven. Immer nur ich, ich, ich. Aber so will es die Psychologin.

„Ich habe nur gesagt, du setzt dich zu sehr unter Druck mit der ganzen Geschichte, das ist alles.“ Mark lässt seine Stimme tief klingen. Er will Ruhe, und fügt deshalb nicht hinzu, dass es doch sein Recht sei, seine Meinung zu sagen.

„Es läuft nicht richtig zwischen uns. Das ist das Problem.“ Sarahs Stimme klingt wie das Aufkommen eines Messers auf dem Schneidebrett, wenn ein Profikoch Gemüse schnippelt. Schnell, präzise und routiniert in ihrer Rolle der Unverstandenen.

„Und woran liegt das deiner Meinung nach?“, fragt er ruhig.

„Ich finde, du nimmst dich zu sehr aus unserer Ehe raus“, antwortet sie und blickt kurz zu ihm herüber.

„Was soll das heißen?“

„Das, was ich gesagt habe. Du nimmst dich raus.“

„Was soll ich denn anders machen?“

„Mehr da sein.“ Wieder ein kurzer Blick zu ihm. Als ob sie aus einem Versteck heraus einen Stein auf ihn werfen würde und sofort wieder in Deckung ginge. Irgendwo wird sie ihn schon treffen.

„Wo mehr da sein? Soll ich zwischen dir und deiner Freundin sitzen, wenn du ihr mal wieder davon erzählst, dass dein Leben nicht so läuft, wie du es geplant hast?“

Er bereut den Satz schnell, denn Sarah springt sofort darauf zu und verbeißt sich in ihm.

„Meine Freundin hört mir wenigstens zu, im Gegensatz zu dir!“

„Ich höre dir zu. Immer!“

Sarah holt Luft, aber die Psychologin springt ein.

„Wie könnte Mark Ihnen vermitteln, mehr für Sie da zu sein?“

„Nun ja“, antwortet sie, „ich hätte gerne mehr Sicherheit.“

Natürlich wiederholt die Psychologin das letzte Wort fragend.

„Ja“, antwortet Sarah, „mehr Sicherheit, mehr familiären Halt. Ich fühle mich irgendwie nicht zugehörig.“

„Da ändert ein Kind aber auch nichts dran“, wirft Mark ein.

„Darum geht es doch gar nicht. Es geht um uns beide.“

„Natürlich geht es darum. Es dreht sich alles nur noch um das Schwangerwerden. Du hast doch gar kein anderes Thema mehr! Und jedes Mal, wenn es wieder nicht geklappt hat, naja, dann ... dann nimmst du das irgendwie persönlich oder findest ständig jemanden, der dran schuld ist. Du setzt dich unter Druck.“

„Wie lange versuchen Sie schon, schwanger zu werden?“, will die Psychologin wissen.

„Schauen Sie doch bei ihr im Kalender nach“, antwortet Mark.

„Was meinst du?“ Jetzt sieht Sarah ihn an. Endlich.

„Du tickst seit zwei Jahren so, seit dir diese Freundin von dir erzählt hat, dass sie schwanger ist.“ An die Psychologin gewandt fährt er fort. „Sie hat es Sarah an ihrem Geburtstag erzählt, weil Sarah irgendwas bemerkt und gefragt hat.“

„Das ist doch Blödsinn“, wirft Sarah ein.

„Nein, ist es nicht. Seitdem willst du schwanger werden. Seit dieser Geschichte gefällt dir unser Leben nicht mehr.“

„Wünschen Sie sich auch ein Kind, Mark?“, will die Psychologin wissen.

„Ja, schon, aber ich habe die Schnauze voll von diesem ...“, Mark dreht seinen Zeigefinger in der Luft und sucht nach dem richtigen Wort, „Familiending.“

Sarah schnappt nach Luft. „Das hat damit nichts zu tun.“

„Was für ein Familiending?“, fragt die Psychologin.

Kaum hat sich die Tür zwischen ihnen und der Praxis geschlossen, stürmt Sarah auf die Straße. Mark läuft ihr genervt nach, und kurz bevor er sie eingeholt hat, dreht sie sich zu ihm um. Ihr Blick ist böse.

„Familiending, ja?“, faucht sie.

„Ja, Familiending!“

„Das hat damit gar nichts zu tun. Lass das mit meinem Vater da raus!“

„Okay, schön, dann nehmen wir eben deine Mutter!“

„Fick dich selbst!“ Sarah stürmt davon.

„Mach ich, du tust es ja nur an den fruchtbaren Tagen!“, ruft er ihr noch hinterher und bleibt allein auf der Straße zurück, holt sein Fahrrad, das noch vor der Praxis steht und hebt den Kopf, weil ein Flugzeug niedrig über die Stadt fliegt. Wegfliegen. Einfach so. Ein Windstoß kommt, Mark sieht die Straße entlang. Die Kastanien beginnen zu fallen. Das ist schön, aber es macht Mark immer ein bisschen wehmütig.

Andrea schiebt ihren Einkaufswagen durch den Supermarkt. Scheinbar wahllos legt sie Waren in den Korb, Dinge, die nicht zusammenpassen. So hat sie auch früher für ihre Tochter gekocht, als die noch klein war. Eines Tages hatte Sarah ihr gesagt, dass sie lieber woanders wohnen würde, irgendwo, wo es ordentlicher wäre. Andrea hatte ihre Tochter angesehen und den Moment gesucht, an dem aus dem kleinen Mädchen, das im Chaos spielte, das barfuß durch die Farbreste am Boden lief, um farbige Fußabdrücke auf Papier zu verteilen, Sarah, der Teenager geworden war, der plötzlich vor ihr saß und nach Ordnung suchte. Wohin war das lachende Kind verschwunden, das keine Regeln brauchte, das frei war, das so herrlich anders war? Andrea kommt am Alkoholregal vorbei und packt alle möglichen Flaschen ein, sehr zielgerichtet und durchaus zusammenpassend dieses Mal. Auf dem Weg zur Kasse entdeckt sie Pflanzen im Sonderangebot und nimmt eine Yucca-Palme mit. Schließlich ist da jetzt eine Pflanze weniger im Atelier und das gefällt ihr nicht. Zuhause angekommen, trägt sie die Palme zwischen ihren großen Bildern, den Tischen mit Farbtöpfen und den kaputten Möbeln hindurch. Der abgestorbene Baum fliegt in den Garten. Was tot ist, ist tot. Es kommt nicht wieder. Es sollten mehr Dinge nicht wiederkommen, auch lebende. Andrea zündet sich eine Zigarette an, begutachtet die neue Pflanze und denkt über noch lebende Dinge nach.

Obwohl die Terrasse voller Stühle ist, setzt sich Andrea auf eine der drei Stufen, die in den Garten führen. Kaum ein Stuhl oder ein Tisch, der gerade steht oder dessen Lack nicht abgeblättert ist. Die Terrasse sieht aus, als würde Andrea Stühle sammeln, herrenlose Stühle, die ausgesetzt wurden, weil sie ihre Schönheit verloren haben oder auch ihre Funktion, weil ein Bein abgebrochen ist oder eine Armlehne fehlt. Mitten zwischen den Stühlen steht eine Christusstatue mit einer Hulakette um den Hals. Manchmal trägt sie auch Andreas Sonnenhut. Es ist früher Abend, als sie ihr Telefon zur Hand nimmt und eine Nummer wählt. Sie weiß, dass bei Sarah auf dem Display Unbekannte Nummer steht und Sarah deshalb immer ihren Namen nennt, wenn sie ans Telefon kommt.

„Ich bin es, deine Mutter“, sagt Andrea. Sie meldet sich immer so, wenn sie bei Sarah anruft. Als müsste sie da etwas klarstellen.

„Warum rufst du an?“

„Darf ich denn nicht einfach so meine Tochter anrufen?“

„Was willst du?“

„Wart ihr beim Therapeuten?“ Andrea zieht den Rauch ein und hält dann die Luft an, damit sie die Reaktion besser hören kann. Erst, als sie das Geräusch einer Sprühflasche hört, bläst sie den Rauch wieder aus. Es kommt keine Antwort von Sarah.

„Also ja, ihr wart beim Therapeuten. Und, war es so erfolgreich wie immer?“

„Ich muss auflegen.“

„Glaub mir“, sagt Andrea, „deine Küche ist sauber genug. Dein Bad übrigens auch und auch alles andere.“

Sie steht auf, geht zurück in ihr Atelier und drückt ihre Zigarette in einer Tasse auf einem Tisch aus, der mit Tassen, Gläsern und Flaschen vollgestellt ist. Die Tasse fällt herunter und zerbricht auf dem Boden des Ateliers.

Sarah hört das Zerbrechen durch das Telefon. Sie steht in ihrer Küche und sieht regungslos dem Putzmittel zu, das sich auf der Theke langsam auflöst. Sie würde gerne etwas sagen, vielleicht, dass sie keine Zeit hat, dass sie sich um etwas kümmern muss, dass gleich Besuch kommt oder sogar spontan ein Besucher vorbeigekommen ist, um den sie sich nun kümmern muss. Hätten sie und Mark einen Hund, so müsste dieser nun vielleicht hinaus.

„Wie geht es Mark? Gefällt ihm die Therapie?“

Sarah will diese Frage nicht hören. Sie stellt sich vor, wie ein Hund durch die Küche läuft, und da ist jetzt auch ein Kind, das sie gerade gefüttert hat und das seine kleinen Hände nach dem Hund ausstreckt und lacht. Der Hund geht zu dem Kleinen hin und Sarah denkt, bestimmt würde er dem Kleinen gleich das Gesicht ablecken, weil da noch Essensreste um den Mund sind, und sie hört sich in Gedanken zu ihrer Mutter sagen, dass sie dem Kind den Mund abwischen muss, bevor es der Hund tut. In ihrer Gedankenwelt findet sie diese Vorstellung von der Hundezunge im Gesicht des Kindes lustig. Ihre Gedankenwelt ist manchmal weit entfernt von der echten.

„Alles Idioten. Habe ich recht?“, spricht Andrea weiter und Sarah kann Farbeimer klappern hören. „Ist der Therapeut ein Idiot?“

Die Küche ist leer.

„Sie“, sagt Sarah, „es ist eine Frau.“

„Auch das noch. Also eine Idiotin. Das nennt man Gleichberechtigung im Guten wie im Schlechten.“

Die Küche ist so leer wie in einem Prospekt. Sarah weiß, dass, wenn Menschen darauf abgebildet sind, sie im Computer dazugestellt werden. Diese schönen Welten sind nicht echt.

„Was willst du, Mama?“

„Nichts, ich rufe einfach nur an. Ich bin deine Mutter, weißt du. Mütter tun so etwas. Mütter sind ganz furchtbar fürsorgliche Wesen.“

„Ach, wirklich?“

„Ja, hab ich gelesen.“

„In welcher Zeitung denn?“

„Psychologie Heute? Vielleicht war es auch irgendein anderer Esoquatsch. Ich war beim Augenarzt, weißt du?“

„Nein, woher?“

„Gibt es bei der Idiotin auch so nette Zeitschriften im Wartezimmer? Habt ihr wieder über dieses Schwangerschafts- und Familiending geredet? Glaub mir, so wird das nie was. Du setzt dich zu sehr unter Druck mit der Geschichte.“

Sarah sieht die spiegelnden Oberflächen. Die Blumen in der Vase verlieren Blätter.

„Oh, wow, hast du darüber gelesen? Vielleicht in einer Esoquatschzeitung?“, fragt sie.

„Nein, das meine ich ernst“, antwortet Andrea.

„Mama, ich habe keine Lust, mir das auch von dir anzuhören. Es reicht mir von einer Seite.“

„Mein Schwiegersohn und ich sind also der gleichen Meinung. Das muss etwas bedeuten.“

„Weißt du was? Vielleicht solltest du auch mal zu einem Therapeuten gehen. Es würde dir vielleicht gut tun.“

„Über was soll ich denn mit einem Idioten reden?“

„Nun, die ein oder andere Sache könnte es da schon geben.“

„Fang nicht immer wieder mit derselben Geschichte an, Sarah. Das ist Vergangenheit.“

„Für dich vielleicht, aber nicht für mich. Ich will wissen, wer mein Vater ist!“

Sarah hört, wie die Haustür geöffnet wird.

„Okay, also bis dann“, sagt sie mit einer hellen Stimme und dreht sich beim Auflegen um.

Sarahs hochgezogene Schultern erklären die Situation auf den ersten Blick. Mark weiß sofort, dass Sarah mit ihrer Mutter telefoniert hat. Während Mark seine Schlüssel in eine Ablage legt, öffnet sie den Kühlschrank, starrt hinein, knallt die Kühlschranktür wieder zu und verlässt die Küche, in der Mark zurückbleibt. Er ist sehr müde. Er hätte seine Frau gern in den Arm genommen, denn er weiß, wie sie sich fühlt. Aber er ist einfach zu müde, um ihr hinterherzulaufen. Er fühlt sich schon lange so. Im Stehen isst er ein Brot und kann die Stille hören, die Sarah im Haus verbreitet. Und weil diese Stille das Leben zu ersticken droht, setzt er sich auf sein Fahrrad und fährt wieder am Fluss entlang. Auf das Wasser blickend überlegt er, ob sein Leben voller wäre ohne Sarah, aber er glaubt, dass wäre es nicht. Sicher ist er sich allerdings nicht.

Am nächsten Morgen verabschiedet er sich von ihr wie immer. Das hat Routine. Routine verdrängt Gedanken. Auch bei ihr funktioniert das manchmal.

Sarah hat gerade die Post hereingeholt und trinkt ihre zweite Tasse Kaffee. Ein großer Umschlag ist dabei, aus dem sie einen Katalog zieht. Ein Ausstellungskatalog ihrer Mutter. Sarah blättert durch die Seiten und sieht sich die großformatigen Bilder an. Verschwenderisch in Größe, Farbe und in der Bewegung des Pinsels. Wie ein entrückter Tanz, ein Rausch. Im Rausch. Sarah blättert weiter. Das Leben ihrer Mutter auf ein paar Seiten komprimiert. Ein altes Bild von ihr aus jungen Jahren. Andrea steht neben einem ihrer Bilder, neben ihr ein Mann im Anzug. Sarah liest in der Bildunterschrift, dass es Andreas Professor ist. Sarah versucht sich zu erinnern, weil sie den Mann vielleicht kennen könnte. Schließlich war Andrea früh schwanger geworden und hatte Sarah oft überall hin mitgenommen. Es dauert ein wenig, doch dann kommt die Erinnerung. Sie und ihre Mutter hatten in der Küche gesessen, Andrea hatte etwas aus dem gekocht, was gerade da gewesen war. Viel war es damals nicht gewesen. Sarah hatte ein Kochbuch hervorgeholt und darin geblättert. Daran kann sie sich jetzt erinnern. Das Foto auf dem Zeitungsausschnitt, das sie damals in dem Kochbuch gefunden hatte, findet seinen Weg durch die Vergangenheit hinein in den Katalog, und Sarah hört sich fragen: „Mama, wer ist das?“ Und sie hört Andreas Antwort, die mit kalter Stimme sagt: „Niemand.“

An diese Erinnerung denkend holt Sarah Gemüse aus dem Kühlschrank, weil sie es einlegen will, und legt es auf ein Brett. Dann zieht sie ein Messer aus dem Messerblock und beginnt das Gemüse zu schneiden. Ein Sonnenstrahl spiegelt sich im Messer, Sarah hebt es an und betrachtet sich darin, betrachtet ihre Augen und die Augenbrauen, die so besonders geschwungen sind, ihre Wangenknochen und wieder ihre Augen. Der Katalog liegt noch neben ihr. Langsam legt sie das Messer weg und starrt das Bild an. Eine halbe Stunde später hat sie die Kisten aus dem Keller durchsucht und das Kochbuch gefunden. Der Zeitungsausschnitt mit dem Bild liegt noch immer darin. Dann holt sie alte Fotos von sich heraus und vergleicht sich mit dem Mann auf dem Foto. Sie weiß, dass es stimmt. Sie ruft ihre Mutter an, legt aber nach dem ersten Klingeln wieder auf. Was soll sie sagen? Sie spielt im Kopf das Gespräch in verschiedenen Varianten durch, um an ihr Ziel zu kommen. Eine direkte Frage würde nicht funktionieren, ihre Mutter würde die Frage einfach verneinen.

Andrea meldet sich mit ihrem typischen, knappen „Hallo“. Sarah hat ein Blatt Papier vor sich liegen, auf dem sie das Gespräch skizziert hat. Sie sagt Andrea, sie habe den Katalog ihrer neuesten Ausstellung bekommen. Sie beglückwünscht sie dazu. Das tut sie sonst nie und sie weiß, ihrer Mutter wird das auffallen. Sie sagt, wie schön der Katalog geworden sei und merkt, dass ihre Worte bei Andrea so ankommen, wie sie es will, denn etwas in Andrea beginnt zu arbeiten und Fragen zu stellen. Sie kann es an der Stille hören, die Andrea umgibt. Sarah sagt, wie interessant es doch sei, die alten Bilder von ihr zu sehen.

„Was für alte Bilder?“, fragt Andrea.

„Na, von dir, von früher. Zum Beispiel das mit deinem Professor.“

Sarah weiß, dass Andrea eine Zigarette raucht, aber sie kann es jetzt nicht hören, sondern hört Andrea beim Luftanhalten zu.

„Keine Ahnung, habe mir den Katalog nicht angeschaut. Ich muss weiterarbeiten.“

„Er sieht nett aus“, sagt Sarah schnell, weil sie nicht will, dass Andrea auflegt. „Wer ist dieser Roland?“

Sarah hört genau hin, will jedes Geräusch hören, das ihre Mutter macht. Sie hört nichts, und das ist untypisch, weil ihre Mutter sonst immer irgendetwas nebenher macht, wenn sie miteinander telefonieren.

„Mein Kunstprofessor an der Akademie, das weißt du doch“, antwortet Andrea.

„Warum lädst du ihn nicht zu deiner Ausstellungseröffnung ein? Ich würde ihn gerne kennenlernen.“

Andrea schnaubt. „Warum?“

„Ach, weißt du“, antwortet Sarah und ist beinahe selbst erstaunt über die Kühle in ihrer Stimme, „er sieht mir so wahnsinnig ähnlich.“

„Hör auf mit dem Blödsinn, überall deinen Vater zu suchen! In jedem älteren Mann, den du in meiner Vergangenheit findest, vermutest du deinen Vater. Du brauchst keinen Vater!“, schreit Andrea und Sarah hört Farbeimer, die durcheinander zu fallen scheinen, bevor Andrea auflegt.

Sarah setzt sich auf einen der Hochstühle an der Küchentheke. Es fühlt sich an, als wäre sie in den letzten Wochen gegen eine Tür gerannt. Mark hatte Recht gehabt, denn seit der Schwangerschaft ihrer besten Freundin hatte sich in Sarah diese Idee festgesetzt, ihren Vater suchen zu wollen und selbst schwanger zu werden. Im Lauf dieser zwei Jahre war die Suche immer wieder mal ein Thema gewesen, aber in den letzten Wochen war sie zu einer Manie geworden. Und plötzlich hatte das Bild im Katalog die Tür geöffnet und Sarah war durch sie hindurch gefallen. Sie steht unter der Dusche, als Mark nach Hause kommt und die Fotos und das Bild im Katalog entdeckt und betrachtet. Als Sarah mit einem Handtuch auf dem Kopf die Küche betritt, erkennt sie an seinem Gesicht, dass sie richtig lag. Sie hat gefunden, wonach sie gesucht hat.

Oktober

Auf seinem Tisch liegt die Zeit in schweren Stapeln aus Papier. Alte Kataloge, Bücher, beschriebene Blätter, Zeitungsausschnitte, auf denen Briefbeschwerer liegen, ein Füllfederhalter, Tintengläser, ein Laptop. Je tiefer man in den Bergen graben würde, umso mehr Leben würde man finden, das damals noch jung war. Neben dem Schreibtisch hängt ein Bild.

Roland steht an diesem Schreibtisch, alt und sehr schlank und immer noch sehr aufrecht. Er trägt Anzug und Krawatte mit einem dicken Knoten. Er betrachtet die Unmenge an Büchern, die sich in den vielen Regalen stapeln, und er überlegt, wie alt wohl die Sessel aus Leder sein mögen, weil sie noch gut erhalten sind. Roland hat auf Qualität immer Wert gelegt. Manchmal kommt er sich wie ein altes Klischee vor, obwohl er stets versucht hat, mit der Zeit zu gehen, Schritt zu halten, der Moderne zugewandt zu sein. Er setzt sich in einen der Sessel und betrachtet die Dinge seines Lebens, die im Lauf der Jahre in diesem Zimmer einen Platz gefunden haben.

Seine Frau Christin klopft an die Tür, kommt herein und setzt sich zu ihm.

„Weißt du, ich könnte jetzt wieder mit dem Rauchen anfangen, es wäre völlig in Ordnung, es würde nichts mehr ändern. Sterben werde ich daran nicht mehr“, sagt er und versucht, es leichthin und belustigt klingen zu lassen.

Christin sieht ihn an, wie sie es seit über fünfzig Jahren tut, nur, dass ihre Liebe nun mit Sorgen gepaart ist und mit einem Schmerz, der noch viel größer werden wird. Roland sucht ihre Hand.

„Alles ist gut“, sagt er und entdeckt den Brief in ihrer Hand. „Was hast du da?“

Christin legt den Brief, der am Morgen ankam, auf den Tisch.

„Ein Brief für dich. Ich hatte vergessen, ihn dir zu geben. Komm schlafen. Es ist spät“, sagt sie und steht auf.

„Jawohl Madame, stets zu Ihren Diensten“, antwortet er ihr, wie er es seit Jahren gerne tut. Dann dreht er den Brief um, liest und kennt den Absender nicht. Eine Frauenschrift. Christin geht schon aus dem Zimmer, und Roland benutzt den Brieföffner mit der Ente als Griff. Der Umschlag zerreißt, und Roland entfaltet ein Leben.