240 Kilometer in 24 Stunden - Michael Stocks - E-Book

240 Kilometer in 24 Stunden E-Book

Michael Stocks

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Beschreibung

Michael Stocks ist 49 Jahre alt, als er an der Startlinie des Laufs steht, der sein Leben verändern soll. Es ist 12 Uhr mittags, und der Regen setzt gerade ein. Michael hat das Laufen erst wenige Jahre zuvor für sich entdeckt, in seinem ersten 10-Kilometer-Lauf musste er zahlreiche Gehpausen einlegen. Und nun will er sich mit 49 Jahren für den Ultralaufkader von Großbritannien qualifizieren. Dafür muss er in den nächsten 24 Stunden 240 Kilometer auf einer 400m-Tartanbahn ohne Unterbrechung laufen. Sechs Marathondistanzen, immer im Kreis, immer dieselben 400m. Sehr unterhaltsam reflektiert Michael Stocks entlang der Stunden des Rennens, welche Parallelen zwischen dem sportlichen Erleben und dem Auf und Ab des Lebens in Summe bestehen. Er zeigt auf, welche Lehren ihm die körperliche und mentale Extrembelastung beschert, und wie man diese für Situationen außerhalb des Sports nutzen kann. »240 Kilometer in 24 Stunden« ist eine Liebeserklärung an den extremen Ausdauersport, die auch Nicht-Läufer:innen in ihren Bann zieht.

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MICHAEL STOCKS

WAS MAN BEIM LAUFEN ÜBERS LEBEN LERNT

Übersetzt aus dem Englischen von Sven Scheer

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Copress Verlag

erschienenen Printausgabe (ISBN 978-3-7679-1288-5).

© Michael Stocks, 2021.

Erstmals erschienen in Großbritannien 2021 unter dem Titel

»One Track Mind – What Running 150 Miles in a Day can Teach You about Life«

bei Reed Peak Ltd, Suite 282, 17a Highgate High Street, London, N6 5JT, United Kingdom

(www.reedpeak.com)

Published under license from Reed Peak Ltd.

1. Auflage 2022

© 2022 der deutschen Ausgabe:

Copress Verlag in der

Stiebner Verlag GmbH

Hirtenweg 8 b

82031 Grünwald

www.copress.de

Übersetzung aus dem Englischen: Sven Scheer

Satz und Lektorat: Pierre Sick

Covergestaltung nach einem Entwurf von Emiliano Dacanay: Roman Bold & Black, Köln

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten. Dieses Buch darf nur nach vorheriger schriftlicher Zustimmung des Copyright-Inhabers vollständig bzw. teilweise vervielfältigt, in einem Datenerfassungssystem gespeichert oder mit elektronischen bzw. mechanischen Hilfsmitteln, Fotokopierern oder Aufzeichnungsgeräten bzw. anderweitig weiterverbreitet werden.

ISBN 978-3-7679-2099-6

Für Jane

Zum Gedenken an Eddie

INHALTSVERZEICHNIS

PROLOG

EINLEITUNG: VOR DEM STURM

TEIL EINS: 12:00 BIS 15:59

11:59LOS GEHT’S

12:00MIT DEM ANFANG ANFANGEN

12:06EVE

12:16IM HIER UND JETZT BLEIBEN

12:30ESSEN

12:42ÄLTER WERDEN

12:51UNTER BEOBACHTUNG

13:10ZEIT, DISTANZ UND PLATZ

13:55IRGENDWO IN SÜDLONDON

14:06ZÄHIGKEIT

14:12KONZENTRATION

14:17EINE FRAU GANZ OBEN?

14:28LERNEN, WAS MÖGLICH IST

14:45EINE HERZENSANGELEGENHEIT

15:09EINIGE AUSSERGEWÖHNLICHE STUNDEN ERFORDERN VIELE GEWÖHNLICHE TAGE

15:30ZIELE

TEIL ZWEI: 16:00 BIS 19:59

16:00RICHTUNGSWECHSEL

16:05DAS GEFÜHL

16:13SCHLANK SEIN

16:57GROSSHERZIGKEIT

17:03RUNDEN ZÄHLEN

17:05DIE ANGST DES LÄUFERS VOR DER FÜHRUNG

17:18DIE NEGATIVE STIMME

17:49DAS WIDERSPENSTIGE SHIRT

18:04ERKENNE DEINE STÄRKEN

18:22DIE KRAFT DER GEDULD

18:33MEHR ZEIT, ALS MAN DENKT

18:41POSITIVE MENSCHEN

18:51EXZENTRIKER UND VERRÜCKTE

19:04SELBSTTRANSZENDENZ

19:35DAS TEAM

TEIL DREI: 20:00 BIS 23:59

20:06AUSDAUER

20:19SCHEITERN

20:33EINE HANDVOLL WORTE

20:41NEGATIVES DENKEN

20:55DER AMATEUR ALS PROFI

21:04TIEFPUNKTE

21:38ANERKENNUNG

21:47DIE EIGENEN ERFAHRUNGEN MACHEN

22:01ESSEN

22:22FREUNDSCHAFTSDIENSTE

22:58DIE BEDEUTUNG DES PERSÖNLICHEN FORTSCHRITTS

23:04COACHING

23:14MENSCHLICHE BEDÜRFNISSE

23:21IM DUNKLEN

23:43WARUM?

TEIL VIER: 00:00 BIS 03:59

00:09STEMPEL LOSWERDEN

00:20GESUNDHEIT

00:42JANE

01:16ZUHAUSE

01:26WER WIR SIND

01:42MUSIK

02:17WEITE REISE, KURZER WEG

02:28KONTEXT UND ERWARTUNG

02:58DIE RICHTIGEN WORTE KÖNNEN ENTSCHEIDEND SEIN

03:10WETTKAMPF

03:34SOLO IST GUT

03:39FREUDE

03:45VISUALISIERUNG

TEIL FÜNF: 04:00 BIS 07:59

04:06MEIN HALBSTUNDENPLAN

04:28GEMÜTLICHES LEBEN

04:33SCHMERZ

04:52DIE ANGST VOR SCHLAFLOSIGKEIT

05:04KAMERADSCHAFT

05:12DER BEINAHE-MANN

05:24ENTSCHLOSSENHEIT

06:17UHR ERSTES LICHT

06:26AM BODEN

06:42TRÄUMEN

06:55DAS WETTER MACHT, WAS ES WILL

07:12EIN TIER SEIN

07:45MENSCHENLIEBE

07:54ZWEITE LUFT

TEIL SECHS: 08:00 BIS 12:00

08:15LANGEWEILE

08:52ALLES GEBEN

09:02NASS

09:35EIN ANDERER BLICKWINKEL

09:43PROBIERE ES MAL MIT LÄCHELN

09:52ZEIT

10:27HOFFNUNG

10:59DIESE EINE STUNDE

11:03EINE FRAGE DER PERSPEKTIVE

11:28ZURÜCK AUF START

11:35DIE ZUSCHAUER STRÖMEN HERBEI

11:50IN REICHWEITE

11:58DAS ENDE

TEIL SIEBEN: NACH DEM RENNEN

12:04DER KOPF ENTSCHEIDET

12:05SPORTSGEIST

12:07GRÖSSE UND BESCHEIDENHEIT

12:09DIE NATUR HAT EINEN SINN FÜR HUMOR

12:15RÜCKKEHR UNTER DIE LEBENDEN

12:52SIEGEREHRUNG

14:30DAS LEBEN

DANKSAGUNGEN

PROLOG

SAMSTAG, 22:40

Wie aus dem Nichts fährt mir ein scharfer, stechender Schmerz in die rechte Wade und zwingt mich, augenblicklich stehenzubleiben. Das wird nicht wieder. Ich kann nichts machen. Gott sei Dank ist es vorbei. Diese Gedanken schießen mir durch den Kopf. Doch schon einen Moment darauf weichen sie dem Erschrecken und einer alles verzehrenden Verzweiflung. Alles umsonst. Achtzehn Monate Vorbereitung, und jetzt war es das. Gescheitert.

Hinter dem grellen Stadionflutlicht lauert die Dunkelheit, der Wind treibt die Regentropfen vor sich her. Ich stehe noch immer wie angewurzelt da.

»Alles klar, Mike?«, ruft mir irgendjemand zu. Ich reagiere nicht. Habe keine Ahnung. Vorsichtig versuche ich mich zu bewegen, nur einen Schritt. Meine Wade hat vollkommen dichtgemacht. Sie ist steinhart. Ein erneuter Versuch, humpelnd mache ich einen Schritt, dann zwei, drei, zehn, zwanzig. Die Wade beginnt sich zu entspannen. Doch dann durchzuckt mich erneut ein Schmerz, als würde mir ein Messer in den Muskel gerammt, und ich bleibe abrupt stehen. Das ist das Aus. Kein Zweifel. Tränen steigen mir in die Augen. So darf es nicht zu Ende gehen.

Ich versuche es noch einmal. Der Schmerz lässt langsam nach, und auf der Gegengeraden hinke ich nur noch leicht.

Norman, mein Trainer, steht auf der dritten Bahn und beobachtet jeden meiner Schritte. Ich laufe innen vorbei, ohne stehenzubleiben und mich mit ihm zu beraten. Das gehört zum Plan: Ich werde nicht anhalten, wegen nichts.

»Die Wade«, sage ich, mehr nicht.

Ich schleppe mich weiter, bis zum Ende der Geraden und durch die Kurve. Irgendwann komme ich abermals an Norman vorbei. Auch Jane ist da. Sie steht in dem kleinen Pavillon neben der Strecke, in dem sich mein Team eingerichtet hat. Selbst in diesem Moment muss ich lächeln angesichts ihres weißen, bauschigen Mantels, den wir unter uns nur den »Schneekegel« nennen. Ihr von Wollmütze und Schal eingerahmtes Gesicht verrät ihre Besorgnis.

»Es geht schon wieder«, erkläre ich und laufe beinahe normalen Schrittes vorbei.

Ich horche auf die Warnsignale meines Körpers. Die Gelenke tun mir weh, die Beinmuskeln senden einen dumpfen Schmerz aus und immer mal wieder schießt es mir vom Ischiasnerv durch den Oberschenkel bis zum Knöchel, sodass ich zusammenzucke. Meine Sprunggelenke und Füße protestieren jedes Mal, wenn ich auf dem Boden aufkomme, doch das alles ist mehr oder weniger normal.

Kaum zu glauben, doch offenbar ist die Wade wieder in Ordnung. Möglicherweise hält sie durch, und es ist eher ein Krampf als ein Muskelfaserriss, sodass am Ende doch noch alles gut wird. Ich bin meinem Zeitplan voraus, und ich tue, was ich tun möchte. Es gibt keinen Ort, an dem ich in diesem Moment lieber wäre.

Die Müdigkeit geht vorüber, die Schmerzen ertrage ich, und die Übelkeit wird sich wieder legen. Zehn Stunden Laufen liegen hinter mir. Und noch vierzehn vor mir.

EINLEITUNG

VOR DEM STURMNOCH DREI WOCHENBIS ZUM STARTSCHUSS

Ich bin Ultraläufer, und seit einiger Zeit nimmt der Sport einen wesentlichen Teil meines Lebens ein. Vermutlich ist das vollkommen normal angesichts meines Vorhabens und was ein Gelingen für mich bedeuten würde. In gerade einmal drei Wochen werde ich versuchen, in 24 Stunden mehr als 150 Meilen zu laufen. Ich hoffe auf rund 155 Meilen oder 250 Kilometer, also annähernd sechs Marathons. Für diesen Versuch gibt es viele Gründe, aber vor allem möchte ich für das britische Nationalteam nominiert werden. Mit jedem Schritt über die 150-Meilen-Marke hinaus erhöht sich meine Chance, bei der 24-Stunden-Weltmeisterschaft für Großbritannien antreten zu dürfen.

Lange Zeit war es nicht mehr als ein ferner Traum, für mein Land starten zu dürfen. Doch nach vielen Jahren voller Training und Wettkämpfe habe ich nun eine realistische Chance – sofern ich die beste Leistung meines Lebens abliefere und mir all meine Erfahrung zunutze mache. Wenn ich am Start stehe, werde ich 49 Jahre alt sein.

Ist das tatsächlich eine gute Idee? Der Gedanke kommt mir, als ich meine Beine über die Bettkante schiebe und mich aufrichte. Erschöpft würde ich mich am liebsten gleich wieder hinlegen, doch ich bleibe standhaft und schlurfe los. Zunächst verweigern meine Knöchel den Dienst, sodass ich kaum vorankomme, doch nach einem Knacken in dem einen Gelenk bekomme ich ein steifes Humpeln hin und schleppe mich bis zur Treppe. Ermutigt durch diesen Erfolg, fühle ich mich bereit für den Weg nach unten. Ich stütze mich mit einer Hand auf dem Geländer, mit der anderen an der Wand ab und lasse mich die erste Stufe hinab. Seit einigen Jahren schaffe ich die Treppe nach unten im Grunde ohne einen einzigen Schritt. Damit vermeide ich nicht nur Krämpfe in meiner steifen Wadenmuskulatur, sondern habe mir außerdem noch beneidenswerte Trizepse antrainiert.

Diese spezielle Treppentechnik habe ich vor einigen Jahren entwickelt, nachdem ich an den Sprunggelenken operiert worden war. Irgendwann benötigte ich die Krücken nicht mehr und konnte auch wieder laufen gehen, doch der Weg treppab bereitete mir weiterhin Probleme. Erst nach einem Jahr fühlte ich mich auf den Rolltreppen der Londoner U-Bahn wieder halbwegs sicher – ihre hohen Stufen bildeten für mich den »Goldstandard« zum Test meiner Sprunggelenke. Nach wie vor befinden sie sich in einem alles andere als perfekten Zustand, und gelegentlich kann ich weder gehen noch stehen, auch wenn ich laufen kann. Es kann passieren, dass ich gerade Essen koche oder einfach die Straße entlanggehe und mich aus dem Nichts ein Schmerz durchzuckt und mein rechter Knöchel wegknickt, sodass ich für ein oder zwei Minuten vorwiegend das linke Bein belasten oder mich hinsetzen muss. Doch wenn ich dann fünf Minuten später laufen gehe, habe ich kein Problem. Der menschliche Körper ist schon eine merkwürdige und wundersame Vorrichtung.

Meine Sprunggelenke bereiten mir eine gewisse Sorge, doch auch noch manch anderes an der bevorstehenden Herausforderung ängstigt mich – nicht zuletzt der Gedanke, nonstop 24 Stunden zu laufen. Wobei die Zeit an sich nicht das eigentliche Problem ist, auch wenn das viele Stunden mehr sind, als ich bislang jemals gelaufen bin. Doch weitaus schwieriger dürfte es werden, schnell genug zu sein für eine Distanz, mit der ich für Großbritannien laufen darf.

Für Großbritannien laufen – erst seit Kurzem kann ich das aussprechen, ohne mir wie ein Hochstapler vorzukommen. Kann sich jemand, der mit Mitte Dreißig zu laufen beginnt, ernsthaft ein solches Ziel setzen oder macht er sich nicht selbst etwas vor? Tatsächlich hatte ich jede Hoffnung auf eine ruhmreiche Laufkarriere bereits vor dem Teenageralter aufgegeben, auch wenn ich insgeheim noch davon träumen mochte. Doch mir war klar, dass ein Weltklasseläufer in der Regel nicht gegen seine Klassenkameraden verliert. Nicht klar war mir damals allerdings, dass das Leben kein Sprint ist, sondern eher den endlosen Runden beim Fußballtraining gleicht, die mir nie etwas ausgemacht haben.

Als Kind hält man alles für möglich, doch allzu leicht macht einem die Realität einen Strich durch die Rechnung. Ich weiß noch, wie ich mir vor meinem allerersten Rennen, einem 5-km-Lauf, bereits die Interviews mit den Medien ausmalte: »Also, Michael, du bist acht Jahre alt, hast du Chancen, das große Rennen zu gewinnen?« »Ja, natürlich. Ich werde gewinnen.« Der große Tag kam, und ich stürmte los, doch dann musste ich mitansehen, wie Hunderte Kinder am Horizont verschwanden. Einen großen Teil der Strecke legte ich gehend zurück, und nach dem Rennen hatten die imaginären Reporter jedes Interesse an mir verloren. Vor dem nächsten Wettkampf gab ich gerade mal noch ein einziges Interview: »Hast du Chancen, das große Rennen zu gewinnen, Michael?« »Nein. Nein, keine Chance.«

Als ich mit 35 bei einem 10-km-Lauf zwischendurch gehen musste, waren meine Hoffnungen noch geringer. Doch mit meinen Fortschritten als Ultraläufer wuchs auch meine Zuversicht. Dennoch sollte noch eine lange Zeit vergehen, bis ich meine Ziele mehr oder minder selbstverständlich laut formulieren konnte. Das war zu Beginn meines Zweijahresplans, der mich über viele Tausend Trainings- und Wettkampfmeilen dorthin geführt hat, wo ich heute stehe.

Bei dem bevorstehenden Rennen handelt es sich um das Self-Transcendence 24-Hour Track Race auf einer gewöhnlichen 400-Meter-Allwetterlaufbahn in Tooting im Süden Londons. Dort werden wir unermüdlich unsere Kreise ziehen, vom Start am Samstag um 12 Uhr über den Nachmittag und Abend bis in die tiefe Nacht, immer weiter bis Sonnenaufgang, den gesamten Vormittag hindurch bis um 12 Uhr am darauffolgenden Tag. Niemand kommt als Erster oder Letzter ins Ziel – wir starten gemeinsam und hören gemeinsam auf, und Gewinner ist, wer in dieser Zeit die weiteste Distanz zurücklegt.

Wenn ich an diesen Wettbewerb auf der Laufbahn denke, fürchte ich in erster Linie nicht die Monotonie, sondern die beiden Kurven und die möglichen Folgen des sich endlos wiederholenden Kurvenlaufs auf die Beine. Diese sind in der Kurve beim Aufkommen und Abstoßen spezifischen Kräften ausgesetzt, die im Verlauf der endlosen Stunden zu Verletzungen führen können.

Inzwischen habe ich es die Treppe hinab und durch den Flur in die Küche geschafft. Ich lasse Wasser in den Wasserkocher laufen und frage mich, wie ich den Tag überstehen, geschweige denn produktiv arbeiten soll. In den intensivsten Trainingswochen erfasst mich eine bleierne Müdigkeit, die sich auf sämtliche Lebensbereiche auswirkt. Ein 31-Meilen-Lauf gestern war die letzte längere Einheit und der Abschluss meines härtesten Trainingsblocks, zu dem auch ein 50-Meilen-Lauf vor zwei Wochen gehörte. Hin und wieder bin ich am Tag nach einem langen Lauf besonders produktiv, als befände sich mein Gehirn in einer Art »Turbomodus«, doch sehr viel häufiger habe ich Probleme, mich zu konzentrieren.

Als Selbstständiger mit eigener Firma benötige ich ein hohes Maß an Selbstdisziplin. Zudem hilft mir das Wissen, dass über das Land verstreut jeden Morgen andere Läufer vor der Arbeit – und oft noch ein weiteres Mal am Abend – die Zeit und Energie finden, für ihre internationalen Wettkämpfe zu trainieren. Dabei können sie sich nicht auf die finanziellen Zuwendungen des Leichtathletikverbands oder der Lottogesellschaft stützen, sondern allein auf die Geduld und den Zuspruch ihrer Partner, Familienangehörigen, Freunde und Kollegen.

Das Herz meines persönlichen Unterstützernetzwerks bildet meine Frau Jane. Sie hat mir noch nie Vorwürfe gemacht wegen der Zeit und Energie, die ich in mein Training investiere. Sie begleitet mich zu den Rennen und glaubt an mich und stärkt dadurch auch meinen eigenen Glauben an mich selbst.

Als wir uns in Dublin kennengelernt haben, war ich ein ausgebrannter Manager, der sich von Wein, Pizza und Kaffee ernährte und dreißig Zigaretten am Tag rauchte. Wenn sie von jener Zeit spricht, beschreibt sie mich als grau. Und so fühlte ich mich auch: körperlich und geistig farblos. Doch Jane sah hinter dem Grau noch etwas anderes und half mir, meine farbige Seite zu entdecken.

Meine Schwester Anne und meine Eltern leben 6.000 Meilen entfernt in Südafrika. Die räumliche Trennung ist nicht leicht, aber wir tun unser Bestes und sehen uns mehrmals im Jahr, häufiger als die meisten Menschen in unserer Situation. Anne hat mich zu vielen Rennen begleitet, und mein Vater unterstützt mich mit Ratschlägen zu Training und Wettkampf. Meine Mutter quält ihre Freunde mit Neuigkeiten aus meinem Läuferleben, und bei allem Mitleid mit ihren Freunden freue ich mich zugleich über den Stolz meiner Mutter.

Dann ist da noch meine Schwiegermutter Eve. Sie hat Krebs, und ihr plötzlicher Verfall belastet uns alle. Sie ist mein größter Fan, unterstützt und ermutigt mich und wünscht mir das Beste. Sie leiden zu sehen ist furchtbar. Beinahe ebenso schrecklich sind Janes Kummer und Verzweiflung – und dass ich nichts dagegen tun kann.

Als Jane und ich uns kennenlernten, war ich Ende zwanzig und hatte noch nicht zu laufen begonnen. Im Fall eines Erfolgs werde ich fünfzig sein, wenn ich das britische Trikot überstreife. Ist das möglich? Kann man mit über fünfzig noch an internationalen Meisterschaften teilnehmen? Ich werde das schon bald herausfinden, doch ich weiß, dass ich nicht der Erste wäre. Vielleicht muss man mit zunehmendem Alter einen etwas stärkeren Willen haben und ein bisschen schlauer trainieren. Doch im Grunde sind die mittleren Jahre das beste Alter für jede Prüfung, bei der es auf Entschlossenheit, Selbstbewusstsein und mentale Stärke ankommt.

Der Weg bis hierher war lang. Während ich in diesem Moment darauf warte, dass das Wasser zu kochen beginnt, mag ich zwar erschöpft sein und Schmerzen haben, dennoch freue ich mich auf die vor mir liegende Herausforderung. Im Lauf der nächsten Stunde wird mein Körper munter werden, und in den kommenden drei Wochen wird die Erschöpfung mit der geringer werdenden Trainingsbelastung allmählich nachlassen. Meine Beine werden mit jedem Tag frischer werden, und in der letzten Woche dürfte ich auch geistig entspannt genug sein, um mich auf das, was vor mir liegt, vorzubereiten.

Mir ist klar, dass die Zeit nicht auf meiner Seite ist, doch diese Einsicht kann ein großes Geschenk sein. Wenn man nicht weiß, ob man noch einmal eine Chance bekommen wird, macht man das Beste aus der, die man hat.

TEIL EINS

12:00 BIS 15:59

11:59LOS GEHT’S

Dieser Spurt zur Startlinie entspricht nicht ganz meinem Plan! Vor mir liegen 24 Stunden, daher kommt mir jeder zusätzliche Schritt wie die Verschwendung kostbarer Ressourcen vor, die ich mir für das Rennen aufsparen sollte. Der Morgen verging wie im Fluge. Der Himmel war von schweren, grauen Wolken bedeckt, als wir vor knapp drei Stunden eingetroffen sind, zeitig genug, um auf jeden Fall einen Platz auf dem Rasenstreifen neben der Strecke zu finden, wo wir die Autos parken und den Pavillon und die Zelte aufstellen konnten. Wir quetschten uns zwischen die Laufbahn und den Zaun, ein Lager in einer Reihe von vielen, die den Unterstützerteams Schutz vor dem angekündigten Regen bieten sollen. Obwohl sich das Stadion mitten in der Stadt befindet, herrscht hier dank der Lage inmitten des Baumbestands der Parkanlage Tooting Commons eine friedliche, beinahe ländliche Atmosphäre.

Nervös habe ich mir die Zeit vertrieben. Ich habe mich warmgehalten und bin zur Toilette, ich bin meine Notizen durchgegangen und habe immer wieder aufs Neue die Startnummern an meinen Shorts und meinem Shirt befestigt, bis sie schließlich perfekt saßen. Ich habe alles dafür getan, um ruhig und zuversichtlich zu bleiben. Doch auf einmal waren die Stunden und Minuten verflogen.

Hektik hat uns erfasst. Norman rennt neben mir her und gibt mir in letzter Sekunde noch ein paar Ratschläge, denen ich nur halb lausche. Hastig reihe ich mich unter die anderen 46 Läufern und Läuferinnen ein. Nieselregen fällt auf die Kappen, Mützen und bloßen Köpfe.

Wir sind ein bunt gemischter Haufen. Von vielen der anwesenden Athleten habe ich in Blogs und Rennberichten gelesen, und ich erkenne einige der Starter, darunter Berühmtheiten der rasch größer werdenden Ultralaufgemeinde, aber auch Legenden der eher überschaubaren Gemeinschaft von 24-Stunden-Läufern. Jeder von uns wird im offiziellen Programmheft vorgestellt, und ich versuche, einige der mir unbekannten Gesichter mit einem Namen und den zugehörigen Leistungen zu verknüpfen.

Begrüßungen werden ausgetauscht, und unterdrückte Gespräche und das ein oder andere aufgeregte Lachen sind zu vernehmen. Zitternd warten wir, vereint in unserer nervösen Energie.

Sekunden vor dem Startschuss erinnere ich mich noch einmal daran, das Rennen langsam anzugehen, und daran, dass ich heute hier bin, weil ich nirgendwo sonst lieber wäre. Dann spreche ich ein kurzes Gebet: »Bitte lass jeden wohlbehalten wieder nach Hause kommen.« Mehr zu verlangen erscheint mir vermessen. Mein Blick geht über die Bahn, ich schlucke schwer und denke daran, dass Jane mich nach dem Ende hier immer noch lieben wird, was auch immer geschehen mag – und dass ich also vor nichts Angst haben muss.

Und los geht’s.

12:00MIT DEM ANFANG ANFANGEN

0,00 MEILEN

Die großartige Ultraläuferin Lizzy Hawker hat einmal berichtet, wie ihr am Start des 100-Meilen-Ultra-Trail du Mont-Blanc ein Zitat aus Alice im Wunderland in den Sinn kam, von dem mir nur eine nicht ganz wortgetreue Version im Gedächtnis geblieben ist: »Fang mit dem Anfang an, und mach weiter bis zum Schluss; dann hör auf.«

In den Monaten vor dem Rennen bin ich durch Augenblicke der Angst gegangen, in denen mir die Vorstellung, 24 Stunden zu laufen, absurd vorkam, als ein Riesensprung in ein unbekanntes Gewässer. Diese Augenblicke waren wie kurze Momente der Klarheit. Ich werde an nur einem Tag mehr als 150 Meilen laufen müssen – zweifellos eine unmögliche Distanz. Aber bei einem derart enormen Vorhaben ist es wichtig, alles so einfach wie möglich zu halten. Der erste Schritt besteht darin, einfach loszulaufen. Fang mit dem Anfang an.

Das Feld hat sich bereits auseinandergezogen, und drei oder vier Läufer sind vor mir. Unsere Unterstützer feuern uns lautstark an, als wir aus der ersten Kurve kommen und zurück in Richtung Startlinie laufen. Lächelnd und winkend genieße ich den Moment. Doch der Reiz des Neuen wird nicht lange anhalten, weder für uns noch für unsere Helfer.

Es fühlt sich befreiend an, nach all den Monaten der Planung und des Vorstellens endlich zu laufen. Das Adrenalin sorgt dafür, dass ich mich beinahe mühelos zu bewegen scheine, und meine Beine fühlen sich ausgeruht und stark an. Ich laufe auf die Zeitmessmatte und kontrolliere auf meiner Uhr die Rundenzeit: 1:57 Minuten. Ich werde die Bahn mehr als 600-mal umrunden müssen, daher könnte diese eine Runde im Grunde bedeutungslos erscheinen. Und doch ist sie so viel mehr: Mit ihr beginnt alles, und nur sie eröffnet mir den Weg in die zweite Runde.

Fang mit dem Anfang an. Es hat angefangen.

12:06EVE

0,74 MEILEN (1,2 KILOMETER)

Selbst in diesem Moment höchster Konzentration kann ich die Traurigkeit nicht vollkommen ausblenden. Wie ein Schatten liegt sie über jedem meiner Gedanken, und als ich an Jane vorbeikomme, kann ich sie auch ihrem Gesicht ablesen. Diese Traurigkeit durchdringt alles. Die letzten beiden Monate wurden von der Krankheit ihrer Mutter bestimmt. Als herzensgute und loyale Tochter unternimmt Jane alles, um ihrer Mutter das Leben so angenehm wie möglich zu machen, doch der bevorstehende Verlust verfinstert alles.

Eve befindet sich sieben Meilen entfernt von hier. Sie würde alles dafür geben, an Janes Seite zu sein und mir ein Getränk zu reichen oder mich anzufeuern. Sie hat unzählige Male am Straßenrand gestanden, beim London-Marathon nach mir Ausschau gehalten oder mir bei Trainingseinheiten im Victoria Park zugeschaut. Sie hat meinen Plänen gelauscht, ohne auch nur ein einziges Mal einen Hauch eines Zweifels zu äußern. Ihr Vater, Robert Banks, war ein hervorragender Mittelstreckenläufer und hat sogar am prestigereichen Rennen Emsley Carr Mile teilgenommen. Eve versichert mir immer wieder, wie sehr es ihn gefreut hätte, dass ich laufe. Ich weiß, dass sie an mich denkt und mir die Daumen drückt, während sie auf das Ergebnis wartet, in der Hoffnung, mit mir meine Qualifikation für das britische Team feiern zu können.

Die Planung für diesen Wettbewerb läuft seit eineinhalb Jahren, doch die endgültige Entscheidung über die Teilnahme fiel erst gestern. Laut den Krankenschwestern wird Eve nicht heute von uns gehen, doch Gewissheit gibt es nicht. Für jemanden in ihrer Verfassung sind 24 Stunden eine lange Zeit. Während des Rennens wird sich Janes Schwester Anni um sie kümmern und Jane benachrichtigen, sollte sich Eves Zustand verändern und Janes Anwesenheit im Hospiz erforderlich werden.

Ich könnte jederzeit mitbekommen, wie Jane sich auf den Weg macht. Was soll ich dann tun? Oder noch schlimmer: Was soll ich tun, falls ich nach 23 Stunden von Eves Tod erfahre? Wir haben über diese Möglichkeit gesprochen, so unwirklich und morbide das auch erscheinen mag. Eve wünscht sich für mich, dass ich die Qualifikationsnorm schaffe, so viel wissen wir. Sie würde nicht wollen, dass ich das Rennen abbreche, sollten mir nur noch wenige Meilen fehlen. Schließlich sind Körper und Geist wahrscheinlich nur einmal im Jahr in der Lage, bei einem derartigen Wettkampf eine Leistung auf dem erforderlichen Niveau abzuliefern.

Doch auch wenn Eve wollen würde, dass ich weitermache, was ist mit Jane? Mein Platz wäre an ihrer Seite. Ich müsste los, auf der Stelle, komme, was da wolle.

Die letzten beiden Monate waren emotional höchst belastend. Alles, einschließlich dieses Rennens, wurde in mancherlei Hinsicht seiner üblichen Bedeutung beraubt. Ich mache mir Sorgen, denn sollte meine Motivation auch nur ein wenig leiden, kann ich möglicherweise nicht mehr die nötige mentale Stärke aufbringen. Auch wenn ich Schmerzen habe, erschöpft bin oder mir übel ist, darf für mich nur zählen, bis zum Ende durchzuhalten. Niemals könnte ich es ertragen, Eve in ihren letzten Tagen oder Stunden gegenüberzutreten und ihr sagen zu müssen: Tut mir leid, es hat leider nicht gereicht. Vielleicht ja beim nächsten Mal.