26. open mike -  - E-Book

26. open mike E-Book

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Beschreibung

»Das ist literarische Völlerei: Der Literaturwettbewerb open mike in Berlin zeigte das hohe Niveau von Nachwuchsautoren. Er wird als Eintritt in den Literaturbetrieb gesehen.« taz »Im wohlig warmen Foyer drängen sich die Besucher, knisternde Spannung liegt in der Luft. Das Publikum freut sich auf die Lesungen, auf reizvolle Prosa und packende Lyrik.« Deutschlandfunk Kultur

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26. open mike

Wettbewerb für junge Literatur

Die 20 Finaltexte

November 2018

Allitera Verlag

Ein Verlag der Buch&media GmbH, München

© 2018 Anthologie: Buch&media GmbH, München

© 2018 Texte: bei den Autorinnen und Autoren

Projektbetreuung: Heidi Keller, München

Corporate ID / Grafik: Beratung, Konzeption, Produktion,

Covergestaltung: studio stg; www.studio-stg.com

Satz: Franziska Gumpp

ISBN 978-3-96233-090-3 (print)

ISBN 978-3-96233-092-7 (epub)

ISBN 978-3-96233-091-0 (PDF)

Printed in Europe

Allitera Verlag

Merianstraße 24 • 80637 München

fon 089 139290 46 • mail [email protected]

www.allitera.de

Inhalt

Vorwort von Lucy Fricke Hier fängt alles an

Kyrill Constantinides Tank alles ὕλη nix είδος

Astrid Ebner Janes’ Nacht

Katharina Goetze Das Suchen nach dem Finden

Rebekka Greifenberg Heute und der nächste Tag

Christian Hödl Baumgrenze

Caren Jeß Die Ballade von Schloss Blutenburg

Felix Krakau Wimbledon (Auszug)

Grit Krüger Unser Job

Demian Lienhard Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat (Auszug)

Olivia Meyer Montero Ich, Frau Hellwig

Merle Müller-Knapp Feldzeit

Yade Yasemin Önder bulimieminiaturen

Sven Pfizenmaier Die Uninteressierten

Eva Raisig Ein Arm geht verloren, noch einer

Caroline Rehner Überflüssige Meere

Lara Rüter Gedichte

Lennart Schaefer Arche Arndt

Marina Schwabe Namgem Farm

Robert Wenzl Rauschen

Erik Wunderlich Porträt

Die Autorinnen und Autoren

Die Jury

Die Lektorinnen und Lektoren

Preisträgerinnen, Preisträger & Jurys 1993–2018

LUCY FRICKE

Hier fängt alles an

Hier fing alles an. Zumindest für mich. Damals vor dreizehn Jahren.

Es war meine allererste Lesung überhaupt, ich war das gesamte Wochenende derart aufgeregt, dass ich entweder starr in der Ecke stand oder mich draußen schwindelig rauchte.

Neulich sah ich ein Foto von der damaligen Preisverleihung. Ich stehe weit hinten, mit einem Blumenstrauß in der Hand. Es ist das einzig existierende Foto von mir mit einem Blumenstrauß. Danach habe ich nie wieder einen Preis gewonnen. Was mich, das gebe ich unumwunden zu, dazu gebracht hat, sämtliche Jurys zu verachten.

Jetzt selbst in einer Jury zu sitzen, ist schon allein deswegen keine leichte Angelegenheit. Ich nehme es sehr ernst, weil ich weiß, was Preise bedeuten, was einem vor allem die Preise bedeuten, die man nicht gewinnt. Hier aber liegt der Unterschied zwischen dem open mike und den anderen Wettbewerben. Hier fängt die Öffentlichkeit an, ob man gewinnt oder nicht.

Die schon als legendär geltenden Visitenkarten von Lektoren, Verlegern, Agenten. Ich bekam sie fast alle vor der Preisverkündung.

Danach schickte mir eine Agentur per Kurier Schokolade nach Hause, der Posteingang quoll über, ich las meinen Namen zum ersten Mal in der Zeitung. Ein paar Tage lang hielt ich mich tatsächlich für die Größte. Ein Gefühl, das ich danach nie wieder haben sollte.

Was mich anschließend überfiel, war eine lange, ausgedehnte Panik. Ich hatte die Chance meines Lebens und nichts in der Hand, keine weiteren Kurzgeschichten, erst recht keinen Roman. Stattdessen hörte ich ein dröhnende Stimme, die mir sagte: Jetzt aber schnell, diese Tür ist nicht lange offen! Rückblickend würde ich sagen: Das stimmt nicht. Es gibt keinen Grund zur Eile (außer man braucht das Geld). Entscheidend ist der Text, nicht die Geschwindigkeit, in der er geschrieben wurde. Diese offene Tür fällt nicht ins Schloss, weil man ein, zwei, drei Jahre länger braucht. Und wenn doch, dann war es die falsche Tür, dann nimmt man eben die nächste. Im Literaturbetrieb gibt es sehr viele, sehr höfliche Menschen, die öffnen. Denn sie alle hoffen auf das nächste große Ding. Die Verlage mögen Panik haben, Autorinnen und Autoren sollten sich davon nicht anstecken lassen. Literatur und Panik vertragen sich schlecht.

Was es braucht, ist ein Glaube an sich selbst, der an Größenwahn grenzt. Dazu eine eine unermessliche Zähigkeit. Nicht zu vergessen: Reserven, und zwar in jeder Hinsicht. Glück. Kontakte. Freunde. Feinde. Wut. Trotz. Hemmungslosigkeit. Krisen. Euphorie. Haltung. Zweifel. Mut. Und für all das eine Sprache, die eine eigene ist.

Hier fängt das alles an.

KYRILL CONSTANTINIDES TANK

alles ὕλη nix είδος

Tods Photos

hohe Plattform guckt über Rebeccas Stadt und wessen Stadt es noch sein will

Hauptstadt der Verbrechen

ich möchte sie trotzdem ungern an der Ampel treffen, wo sie mir hinten das Montagspflaster aufdrückt,

die Zunge an der Zukunft

Altbaus Fallen

von oben herunter bitte keine Portraits

und die extreme Verzerrung

alles Geräusche

zum Ende des Referats hin

– die Schrift wird Schnörkel –

du altes Sitzen!

Du altes Sitzen an Abgrunds Tisch

hochmütige Pracht System

der dunklen Zeitwanne Plan

hadert im Spagat

Da liegen Welten dazwischen!

Bestimmend:

Der Richter wird Es um Kosmen besser als ich regeln

Wo Es zu Wir wird

wir streiten über das Wetter

es fängt schon lange an, kalt zu werden

ich gewinne

ich gewinne, doch die airblades reißen mir die Fingernägel von den Wurstsockeln.

– Siri, wie weh tut eine Mausefalle?

Gedicht für Sich

Formate Zischen.

Birken Bogen

Bald im Arm

Vergebens beeindruckt.

Um des Willen

Pfarrers Fliege

Pitty Patt

Ein Fall für7 Tage Regenwetter

Alle freuen sichhauptsächlich über sich selbst

oberflächlich sein ist wieder okayokay oder ähnlich

bitte zuhören

OK-YOKPlitsch-Platsch

Plaza, Benimm Dich!Tschüssfreie

Zone

wie gesagt, ein Gedicht und eins, das ich dem Freund widme, der betreten im Radio mit einer anderen Freundin unter anderem folgende Stichwortflagge missverstanden hat. Bitte zuhören:

Spaxen, Dachsen, Dachen, Lachen,

Lachsen Laichen Leichen Weichen

Schmatzen Ratzen Dübel Übel

Faxen Schwarte Abrackern Abraxas

Kaninchen Lawinchen Dostojewski Verpetzi

Schmecken Lecken Flächenbrand Decken

Wie Gehts? Wie Stehts?

Aktien Fakten Spekulation Emmission

Tadel Fadel Klirr Geschirr

Kampf Mampf Lampe Beamte

Beruf Verrucht Schnappi Papi

Bett Pfanne Flucht Stech

Malte Lanze Danke PQRST

Steuerung Alt End Fee

Na Warte, Falte

Und man ertappt sich im Aussehen wie sonst was. Was ist immer die Abkürzung für etwas.

An das Wetterleinchen

Es schneidet

Gesicht kann kaum entdeckt

externes Horizontallächeln

nicht erneuert werden

Es passierte schneiend

versteckte Sparmaßnahmenkörper ringsum

Frühling in der Theorie

Blätter sinken von der Krone

Tau hüpft aus dem Ast

Rinde vom Stamm?

Malerischer Bsirske

setzen und ersetzen

dulden und verdammen

hörig liegt pecunia

herum

injemandes Staub

Dr. Sommer

Kassenpatienten und der Arzt,

der dich nicht schimpft, warten

in Richtung der Parallelgebogenen:

Ich Chef, Du Urlaub!

Indes produzieren die Fabrikangestellten die Schläge, die sie verdienen, am laufenden Band.

La Fraga Tedesca

An allen 3 Geburtsorten vorbei

irgendwas und irgendwie alles kaputtmachen

ich werde zufrieden geboxt

geboren, um über den Zaun zu schauen

und um Ulm herum

ich sehe ein Präteritum von etwas, das eigentlich auf dem Boden liegen sollte

es wird – Zeithammer – aufgehoben und redet mich durch seine Fahne an

»Spar dir deinen Mundgeruch für das Bruttosozialprodukt!«

ich will nicht, dass du für Lieferando fährst.

Ich werde enttäuscht und entschädigt

Service machen

Preisschild in der Mache

9,20 Euro vergehen und wieder wurde nur eins ans andere geheftet

sogar Abteilung leiten

hartes Deutschland, weiches Deutschland

und wann es gegen seine Vergangenheit spielt und wann es endlich gegen die Zukunft verliert

Auch geil:

der feindlichste aller Feinde

Kommando große Worte, nichts dahinter

und mein nüchternes Gewissen benennt Begegnungen:

mugelgerecht, traumersatz, doof, premium, nicht schuldig

eins kann mir keiner, eins kann mir keiner …

eins kann mir keiner, eins kann mir keiner …

eins kann mir keiner nehmen: Raub

grüßend

aus der JVA St. Nimmerlein

wir fristen

Mit Aus Versehen Offenen Hosen

dahin

Aus: Das weinende Echo

Die Erinnerung lacht

Das Weinende Echo

aus

aus Lauschen wird

Grammatik

wird

gegen Meinung deiner Rolle

es geht um tägliches Erwachen

über Aus

über erwachen aus

Das kindliche

Aua ruft: Helft mir!

und meint damit mich

nahtlos leise spricht

während Biene Oberlicht

wie soll ich sie schlagen, die Nahrung in Alu?

das glänzende Pärchen

lacht das weinende Echo

aus

andere kamen vom Pferdeumdekorieren

und der ehemalige Händedruck

glüht noch vor Oxytocin

Der Gesichtsausdruck

hat alles im Griff

und lacht das weinende Echo aus

»Sau!«, dreht sich dein Chef weg, weil

du nix professionelli

Das Ausbezahlte

und

das ans Kreuz geborene

fürchten sich vor der ich-würde-mich-gut-fühlen-wenn-du-dich-bei-mir-entschuldigst-generation

3 Uhr

schwitzt die Uhr

das Enjambement verschläft

die Jacke ohne Eigenschaft

der Crash, der Anlass

Die Hose, in der man leicht 10-15 Euro verlieren kann

dementsprechend planscht

Gemeinheit hie und da

Flansch

höhö, das Vergessen schrieb mir’s ins Gesicht

Die unsichtbare Leine

schweigt

dazu

volle Breite

Sollbruchstelle

auf der Schwelle

die Wiege

ich jobbe

es gibt

kein Weiterkommen,

nicht sO

Kreis des Zirkusses schwerer Trug

weile mit Eile

der Applaus ist Illusion und das Publikum imaginär

schlechtgeredetes und

der Pejorativ auf Reisen

nutzen Schwäche

und das weinende Echo aus

provisorischer Messermord am soundso

untergräbt alle Autoritäten

Selbsttest

Testameds Tiefstpreisgarantie

wägt sich in Sicherheit

geschminkte Lehrer:

Blamiert mich heute Abend bloß nicht!

Ich:

Kruzifix ich muss aufs Klo

auch

problemloser Übergang

jetzt wieder ganze Sätze

und weniger

*freu

belegt

Entsetzen wird sich im Grabe

umdrehenin die echte Richtung

die Tränen spülen das Geschirr gesund

»klirr« macht dann ein Geschirr, und »ooooo«

macht ein ganz anderes

heutiges einziges Zwinkern

mal ganz ehrlich:

was fängt an mit

es gibt nichts Schlimmeres als

wo ich fragen muss: Wirklich?

und andersrum

bin ich du bist eher

Selbstreflektierte Idioten

Gähnen mit den Bildern

ziemlich schwallweise

energische Mitteilung über Anstrengung

und somit bald 1 zu 1

für alle, die die competition

hierin sehen

»Autsch, meine Finger«

oder sonst irgendwas, das Mitleid erregt

Was ich erst wollte, mit Augen, die ich einst wollte;

nur anschauen wolltest du es

trimm dich nicht

im Traum

wer wäre bereit?Jedes Mal?

Vertikale Augen!

Zum fetten Schlussbrett kommend

entlolter Textbody, komm endlich zum Schluss!

Damit:

Irgendjemand mit der fünften Sonate auf den Lippen aus der

Toilette kommen kann, dessen

Oberkörper aussieht wie der Unterkörper meiner Wenigkeit.

Und vom Kopf her egal aussieht,

weil oberhalb des Schlipses sowieso alles so aussieht wie die

Super-PIN aller Anbieter.

Im Anhang, ein Countdown.

Troilos besiegen und dennoch wimmern

Auf Dings geht’s los, Freudlos

Freudlos komme ich aus dem Terminal heraus.

Aus dem Terminal heraus konnte ich noch nie arbeiten. Umso mehr in den Benutzerinnenoberflächen

Der Herr sprach: »Bitte nicht schubsen, ich hab einen Philosophen im Beutel«

und es wurd Sieg.

Daraufhin die dialektischen Epigonen: »Hey! Deine Denkblase schaugt fei raus!«

Die Spiegelverkäufer decken sich nachts mit den Spiegeln zu gestreckt

Meine Nachbarn waren noch nie so sehr … einsehbar i like

Sie lassen sich faith auf Rücken und Stirn tätowieren, zusammen mit gemeinen Kommentaren und persönlichen Anreden:

»und wenn du Meer wärst, ich würde dich umarmen

und wenn du Wüste wärst, ich wüsst nicht, was ich mit dir tät

Du kannst meine Arbeitsstätte sein und kommen, wann du willst

Du kannst der Deckel in meiner Nahrungskette sein

ich bin dein kulturelles Habibi

Du kannst Alles

Fast gut

Wenn du willst, gehe ich mit einer Axt in die Bank

Ich kann der Wortschatz sein, der nicht für alle reicht

Ich kann 2 große Hunde sein, beide eher eifersüchtig

Du kannst die Welt sein, die sich selbst als Schaufenster verborgen bleibt

und ich werde belohnt, weil ich nach ihr greife

Du bist und bleibst die Pause, die ich bewohne

Du kannst die Angst vor meiner Lateinlehrerin sein, die ich nie überwunden habe

Du kannst der Professor sein, der dich schlägt

und jemand, der mich von der Seite anwallt«

Mit solchen und oder ähnlichen Worten spricht’s das Frauchen in den Hörer,

Tränen bleich bellt das Tränenblech ins Kanapee

Die Uraufführung, die niemand hört

Die Jalousie pennt

Die potentiellen Augen der Hindernisdesigner, Henker und Henkershenker verweilen noch ein paar Schläge nach der Präambel

ASTRID EBNER

Janes’ Nacht

Ein Stiefelchor hallt das Kopfsteinpflaster entlang, Stein um Stein um Schritt. Dazwischen Stille innehalten suchen; stoppt das Militär, hält auch der Rest der Welt den Atem an und lässt stillschweigend den Scan über sich ergehen – wer nun richtig ist und wer falsch, vogelfrei. So manche zivile Blicke helfen auch gerne fleißig mit und vervollständigen den Apparat. Brüder, auf dass uns keiner entgeht! So höre ich sie denken, sie denken es in die Luft. Pflichtbewusst marschieren die Stiefel fortan, klacken und klacken jedes Pflaster ab und weiter den gesamten Asphalt dieser Stadt. In der nächsten passiert es simultan. Auch das weiß ich irgendwie. Die Straße ist ein Jagdgebiet, offenes Feld, ein paar müssen die Hasen spielen − kleine, wilde, leicht erlegbare Tiere − und der Rest ist hungrig, ja alle sind sie, hungrig wie noch nie. Und Opa ist ein Hase, plötzlich muss er ein Hase sein.

Die entfesselte Gier wirft ihr Echo bis in die hintersten Winkel, die letzte versteckte Häuserecke − bis wir euch finden wir finden euch! Und an jeder dieser Ecken drängt sich einer im Schatten an die Wand, man hört die Herzen klopfen vor Angst. Bumm bumm. Ich bin mittendrin. Ich hör den Angstherzrhythmus und die Terrorgedanken, untermalt von der Regelmäßigkeit der Marschmelodie, dazwischen mischen sich Rufen, Laufen, wirres Durcheinander, dann haben sie einen und der hält sich nicht lange. Auf den Boden gestoßen wird er, niedergedrückt, nach Brauchbarem durchsucht. Das feinere Hemd wird beschlagnahmt, die besseren Schuhe, Portemonnaie und Uhr, auch die Jacke ist schön weich und warm. Dann spielen sie ein wenig. Wie sich das so anfühlt, wenn man auch mal auf was einschlagen darf und ein bisschen schubsen, so lustig drauf los, und bespucken ein Gesicht, es besudeln mit dem jubelnden Clan. Wie es sich lacht dabei, wenn man ein Leben tritt und tritt und heraustritt aus so einem dreckigen Leib. Mit dem Nächsten halten sie sich nicht lange auf, an die Wand gestellt, auf die Erde gedrückt wird er totgemacht, präziser Messerstich, und weiter. Kurzer Jubel, Klack klack klack. Zwischendurch ein Lied für die Moral, laut grölend zum Bass der Stiefelschritte. Und die Moral ist hier zweifelsfrei gesichert, ja unhinterfragbar schwebt die große Rechtfertigung über der blinden Wut, auf dass man nachts gut schlafen kann nach Stunden des Schlachtens. Vielleicht erst jetzt endlich wieder schlafen kann. Ausgleichende Gerechtigkeit, nennen sie’s. Vergeltung, alles verdient, lautet das große Murmeln − ich hör’s unentwegt −, das über allem, ganz oben in der Atmosphäre hängt. Das ist nun mal so im Krieg, danach oder davor. Das ist nun mal so. Ich verstehe kein Wort. Aber Opa versteht, er versteht nur zu gut.

Da hilft nur eines: Wind sein, Schattenbrise. Aber wie wie sich ablegen, sich auflösen, einer von ihnen sein? Das ist die Frage der Stunde, jeder Stunde von nun an, bis man seine falsche Haut über die Grenze gebracht hat. Und über die Grenze muss er kommen, der Opa, damit mein Vater gezeugt werden kann, im ersten Anflug von Frieden, damit ich dann sein kann irgendwann. Dafür muss man sich jetzt einebnen in die erlaubten Massen, den Augen entwischen, die prüfen, die entscheiden, über vorwärtskommen, fortbestehen. Ja, die Menge kann dich wohl besser decken als der Schatten in den Ecken, denkt Opa; ein Glück nur, dass da früher Großtante Alma gewesen ist, weit entfernt, aber doch irgendwie verwandt − wen kümmert das als Kind −, die oft zu Besuch kam, beleibt und schrullig und herzlich wie sie war, bestückt mit frischem Obst und dem Dialekt vom Land. Von der anderen Hälfte der Bevölkerung kam sie in die Familie, das aber war zu jener Zeit noch kein Problem, erzählt Opa mir. Natürlich kann man heiraten, lieben, Gene vermischen, Blut, beleben wir doch alle das gleiche Stück Land. Natürlich, konnte man. Dann sind sie gemeinsam vor dem Haus gesessen, haben die urigsten Ausdrücke über die Lippen rollen und zischen lassen − so fremd so wild so unmittelbar so schön −, süß verschmiert von Trauben, Kirschen, Zwetschgen, Marillen. Ich seh es vor mir. Stolz und zufrieden legen sich die Blicke der Großtante auf den kleinen Schüler und gesättigt döst er selig in den Nachmittag, geschmiegt an ihren weichen Bauch. Das Bild ganz klar.

Und jetzt wird die präzise Erinnerung an diese Alma-Stunden zum Einzigen, das neben Opas beiden Beinen noch nutzbar ist für ihn an seiner Person; meint er. Ich deute intern Zweifel an, »Warte«, schon nähert sich die nächste Patrouille, »wirst sehen«, und Opa zeigt es mir. Die Uniformen marschieren in die Menge und teilen die Menschen mit Gesten in zweifelsfrei und auffällig, winken die einen weiter und heißen die andern stehen zu bleiben; und zu genau so einem auffälligen Untersuchungsgegenstand wird dem erstem Blick nach gleich mal Opa, sehr hasenverdächtig. Also stellen sie ihn auf die erste Probe, »Wer bist du und wo willst du hin?«, fragen sie forsch in ihrer Sprache. Das sollte Kauderwelsch für mich sein, aber Opa versteht genau und macht mich verstehen. Der Gewehrlauf erzwingt eine Antwort von ihm. Und er brabbelt los, rollt und zischt ohne Atempause − Nur keinen Zweifel aufkommen lassen, keine Unsicherheit! −, aber er kann den Dialekt immer noch wie aus der Pistole schießen, sein vorbeugendes Geschoss. Ich halt ihn immer wach im Geiste, sagt er, denke ich, ständig einsatzbereit. Hier. Und. Plötzlich ist alles da, plötzlich kann ich es auch. Schuss und Schuss. Es sprudelt aus uns, wie wir vermeintlich heißen und welche Einkäufe wir gerade in welchem Laden erledigen wollen, um dann damit unsere kranke Tante zu besuchen, der es leider gerade gar nicht gut gehe, und deshalb sei man auch extra in die Stadt gefahren heute, aber man müsse der armen Frau ja unter die Arme greifen, sei man dazu nicht verpflichtet, also mache man eben ein paar Erledigungen für sie und emotionale Unterstützung, genau, die sei ja ganz besonders wichtig bei so alten Leuten, aber man sei ja auch schon viel zu spät dran, weil so viel Trubel heute ist auf der Straße und. Doch zweifelsfrei. − denken sie und winken uns weiter − Soll die kranke Tante Tante bleiben, wir sind auf Hasenjagd! Der Nächste, hier, ein Hase, wo? Und weiter sind sie, die Stiefel. So haben wir unsere Unschuld belegt oder unsere Irrelevanz für den brutalen Rausch. Denn nur einer von ihnen, so glauben sie, ist eingeweiht in die Geheimnisse dieser alten Sprachstrukturen, beinahe versiegt schon, jenseits aller Literatur, aller Schriftlichkeit.

Wir aber halten sie am Leben, unsere Tarnsprache, und im Gegenzug rettet sie uns über Wochen. Wochen, in denen wir akribisch versuchen, für unsere Lieben, Freunde, Bekannte und ehemalige Angestellte die Ausreise zu organisieren. Auch Oma inklusive kleinem Onkel Otto sind fürs Erste im Elternhaus auf dem Land in Sicherheit gebracht. Wir haben an alles gedacht. Sehr früh schon haben wir Schlimmes befürchtet, begonnen, Dinge vorzubereiten, als die meisten noch nichts geahnt hatten, versichert sich Opa, denke ich. Zunächst dient uns die städtische Wohnung als Unterschlupf. Wir haben den Namen an Klingel und Türschild getauscht, das Falsche an uns ausradiert und uns neu und diesmal richtig getauft. Vor der Straße sind wir nun sicher, erst mal.

Doch die Nachbarn kennen uns seit Jahren. Also kommen wir nach Hause, gehen die Treppe hinauf, da kommt die Nachbarin entgegen, die Frau aus dem dritten Stock rechts, eingehüllt in Omas feinen Mantel, und sie grinst uns ins Gesicht, streichelt sanft und tief befriedigt ihre Beute. Sie ruft uns zu, singt es fast: »Steht mir der nicht viel besser als Ihrer Frau?« Sie stolziert auf die Straße, wie sie nie stolziert ist, nie stolzieren konnte, jetzt ist es Zeit. Und jetzt spätestens wissen wir: Nichts gehört mehr uns.

Zuerst kommen die Nachbarn, dann kommt der Staat. Er öffnet einfach die Tür, als sei es seine, ein großer Apparat, mit unzähligen dicken Schläuchen als Tentakel und einem fetten, gierigen Rumpf. Er rollt in die Wohnung, wir werden völlig ignoriert, weder gefragt noch gegrüßt, und er wirft sich an, fährt mit einem lauten Röhren nach und nach alle Räume ab und saugt alles ein, was ihm unterkommt oder sich nicht halten kann vor dem Enteignungsluftzug aus seinen Armen. Er verschlingt unser Hab und Gut wie ein ausgehungerter Binge-Eater in einem Süßigkeitenladen. Später wird er sich wohl in irgendeinem Lager übergeben. Verzweifelt wollen wir gegen den Sog ein paar Dinge retten, greifen nach Wichtigem und versuchen es mit aller Kraft festzuhalten, doch die Tentakel holen es sich schnell. Allein die Familienfotos, die wir wie unser heiligstes Gut umklammern, bleiben als Ramsch von dem Staatstreiben verschont. Ist alles Wertvolle verschlungen, fährt der Apparat beinah lautlos aus der Tür, bedeutend langsamer allerdings, als er eingetreten ist, weil bis oben hin vollgefressen mit den Spuren unsres Lebens. Wir sitzen auf dem nackten Boden und starren auf die Fotos in unsrer Hand. Opa verbietet uns, jetzt sentimental zu werden. Also raffen wir uns auf, die nächsten Pässe zu besorgen.

Wir gehen einen schmalen Gang entlang, die Beleuchtung ist dürftig, alle paar Meter ist eine der Lampen kaputt, die andern flackern. Es riecht ziemlich modrig, die Tapete an den Wänden welkt sich und ist mit allen möglichen Flecken übersät. Sperma und Blut, spekuliere ich, Opa insistiert, sich so was nicht mehr zu fragen − Schau gar nicht hin! Links und rechts von uns gehen laufend Türen ab, zum Teil hört man Geräusche aus den Zimmern dahinter, Murmeln, Stöhnen, Schreien, Kratzen und Sägen, Hämmern, Bohren und Heulen. Man kann sich keinen Reim daraus bilden, wer hier wohnt und was hier treibt − gut, ja, wir fragen nicht mehr wir hören nicht hin. Und gehen weiter, durch Türen in den nächsten Flur und den nächsten, durch Tür um Tür, Hinterzimmer und Hinterhöfe, bis wir am hintersten Eck angelangt sind, ja, es kann schlichtweg kein Dahinter mehr geben, denken wir, nur dieses eine Zimmer hinter dieser rostigen Stahltür, und da wollen wir hin. Zum alten Passfälscher-Louis, der gerade seinen runzligen Körper tief über seine Präzisionsarbeit bückt. Dabei wirkt er so alt und fragil, vielleicht zerweht er einfach, wenn man etwas Luft gegen ihn bläst, denken wir, so staubtrocken ist seine Haut, so ausgedörrt sein ganzer Körper. Er trägt eine Art alter Lokführerkappe und einen hellgrauen Arbeitsmantel, wie im Bilderbuch. Aber auf seine Nase ist eine Aneinanderreihung von unzähligen Brillen geschichtet, dünne Gläser, die direkt vor seinem Auge bis zur Stirn hinaufragen und nach vorne hin immer kleiner werden, bis das letzte nur noch den Durchmesser eines Stecknadelkopfes hat. Ungerührt blickt er durch sein Brillenmeer und keinen Augenblick hoch zu uns, während wir die paar spärlichen Worte mit ihm wechseln. »Nummer?«, fragt er im Beamtentonfall, ohne vorhergehender Begrüßung. »112498740077«, schießt es aus uns, der Überlebenscode. Wir haben ihn uns eingebrannt. Und das Geld haben wir ihm schon zukommen lassen − jetzt weiß ich’s plötzlich − sonst wär es auch im Staatsapparatsbauch gelandet und wir säßen fest; es schaudert uns kurz. So aber schiebt uns Louis einen kleinen Stapel Pässe über den Tisch und damit ein neues Leben. Wir gehen alle durch; da ist Omas Pass, Onkel Ottos, Uromas und Uropas, der von den zwei Großtanten und -onkeln, alle da. Nur unser Pass, der fehlt. »Einer ist noch nicht fertig. Übler Trubel, hab auch nur zwei Augen. Nächste Woche.« Sein Schweigen wirft uns hinaus.

Zurück in der elendslangen Gangröhre − und wir gehen und gehen wieder scheinbar endlos − läutet auf einmal ein rotes Telefon, das herrenlos in einer Ecke steht. Es läutet dringlich. Und wir wissen, es ist für uns. Wir heben ab. »Sie dürfen nicht mehr nachhause gehen. Die warten dort auf Sie«, sagt erschreckend eindringlich die süße Mädchenstimme unserer ehemaligen Sekretärin − Opa lässt’s mich erkennen. »Woher wissen Sie …?« Sie legt auf. Wir laufen los, so schnell wir können, laufen ins Freie. Bis kurz vorm Umkippen. Dann bleiben wir abrupt stehen und schnaufen tief nach Luft. Opa pfeift dreimal laut. Darauf kommt eine Schar weißer Tauben geflogen und bleibt kreisend über uns. Einer nach der anderen landet auf seinen Schultern, ich binde ihnen je einen Pass an die Beine und Opa flüstert ihnen die Adresse zu. Die Pässe müssen zum Versteck aufs Land geschickt werden, wir aber dürfen nicht mit. Opa pfeift erneut, da fliegen sie davon, hoch, weit höher, als Tauben eigentlich fliegen, denke ich. Sie müssen sichergehen. Und wir? Wir wissen, es gibt keinen Ort mehr für uns. Ich habe keinen Ort.

Doch wir harren aus, bis ein Papier uns ein sicheres Ich ausstellt. Bis dahin wechseln wir jede Nacht die Couch oder den Fußboden, klappern alle Freunde und Bekannte ab, die den richtigen Namen haben. Wir hasten durch die Stadt, gejagt von all den Stiefeln. Da ist nur ein Aufflackern von Bildern, Fetzen von Gesichtern, Wohnungen, Straßen und Häuserecken, wir hetzen wie in Zeitraffer. Mir wird fast übel vor Angst, vor Anstrengung, vor der Bilderflut, der Panik und dem Chaos. Wir rasten nie, wir schlafen wie zum Schein.

Alles verlangsamt sich auf einmal wieder, die Bilder halten. Wir stehen auf der Straße inmitten einer Menge, die wie abgesprochen im selben Augenblick stehen bleibt. Das Stiefelklacken ist zum Greifen nah, immer lauter, die Marschmelodie, ich hör’s. Sie rufen »Kontrolle!«, alle denken nichts als »Kontrolle«. Und schon sind sie da. Ihre Gewehrläufe teilen die Masse. Sie bilden Reihen, gehen alle Erstarrten ab und kontrollieren Ausweise. Kein Wort wird gesprochen, sie zeigen nur. Wer den falschen hat oder gar keinen vorweisen kann, wird an die Wand gestellt. Es ist ganz einfach. Dort bilden sie eine Linie entlang der Ziegel. Schusslinie. Todeslinie. Aber Louis hat noch unsern neuen Namen den bekommen wir erst sie kommen zu früh nein wir haben noch nicht aber sie kommen. Vor uns, das Gewehr ist da, ungeduldig, will einen Hasen jagen. Wir erfinden Ausflüchte, verteidigen uns in der Tarnsprache, dass wir den Pass liegen gelassen haben, wie dumm, wir seien auch nur zu Besuch und die Geschichte mit der kranken Tante. Aber niemand hört zu. Sie schreien nur »Pass her!« und fuchteln mit den Gewehren. Sie wollen Identitätsbeweise sehen, alles andere ist nichts mehr wert, für Geschichten keine Zeit. Wir aber haben nichts zu zeigen, nichts zu geben, Opa und ich, als eins, bin ich er, bin ich immer schon er ich komme an die Wand. Hier müssen wir alle warten, die Waffen vor der Nase, bis die Masse ausgesiebt ist, alles Richtige sich verflüchtigt hat und nur noch wir übrig sind. Eine Reihe Falscher, eine Reihe Zweifelsfälle. Doch besser einen zu viel, als einen entwischen lassen. Ganz egal. Es ist Hasenjagd. Auch andere Tiere sehen schön aus beim Sterben. Ob ich schön aussehen werde beim Sterben, gleich? Es geht ganz schnell, Kopf, sie zielen gut. Schuss. Einer fällt. Schuss. Einer fällt, Schuss, einer fällt, Schuss, einer fällt, Schuss ich bin bald dran ich bin – »Halt!«, eine Frau hält den Stiefel vor mir an, fasst ihm an die Schulter. »Der nicht, der ist ein Guter«, sagt sie, die Frau eines meiner Angestellten von früher, mit Nachdruck sagt sie es. Der Stiefel nickt, er nickt tatsächlich. Und heißt mich laufen. Und ich laufe, ich laufe ich laufe laufe laufe laufe lauf!

KATHARINA GOETZE

Das Suchen nach dem Finden

1. Stoke Newington