280 For Future - Andreas Elser - E-Book

280 For Future E-Book

Andreas Elser

0,0

Beschreibung

Haben Sie schon einmal versucht, sich IHRE EIGENE Zukunft vorzustellen? Und die der nachfolgenden Generationen? So realistisch wie möglich? In Anbetracht der immer schlimmer werdenden Unwetter-Katastrophen? Machen Sie sich Ihr eigenes Bild! Lesen Sie '280 For Future'! Der umfassende, wissenschaftsbasierte Klima-Thriller über unsere Zukunft. Mit politischer Strategie, das Klima professionell zu retten! Begleiten Sie eine Gruppe Forschende auf ihrer atemberaubenden Reise für das wichtigste Projekt der Menschheit!

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 820

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Andreas Elser

Der umfassende wissenschaftsbasierte Zukunfts- und Klima-

280 For Future

© 2022 Andreas Elser

Deutsche Ausgabe:

ISBN Softcover: 978-3-347-75675-5

ISBN Hardcover: 978-3-347-75676-2

ISBN E-Book: 978-3-347-75677-9

ISBN Großschrift: 978-3-347-75678-6

English edition:

ISBN Softcover: 978-3-347-77640-1

ISBN Hardcover: 978-3-347-77641-8

ISBN E-Book: 978-3-347-77642-5

ISBN Large print: 978-3-347-77643-2

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH

An der Strusbek 10

22926 Ahrensburg,

Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter:

tredition GmbH

Abteilung "Impressumservice"

An der Strusbek 10

22926 Ahrensburg, Deutschland

Liebe Leserin, lieber Leser,

zunächst ein paar Anmerkungen, die Ihnen helfen sollen, einzuschätzen, ob dieses Buch für Sie interessant sein könnte:

'280 For Future‘ ist meine persönliche Studie, in der ich versucht habe, die Fragen zu beantworten, wie die zukünftige Klimasituation und das damit verbundene Schicksal der Menschheit im Detail aussehen könnten.

Denn ich sehe bisher keine annähernd ausreichenden Aktionen seitens politischer Parteien oder irgendwelche Zusammenschlüsse ausreichend qualifizierter Zeitgenossen, die im Stande wären, eine weitere Zerstörung unserer Lebensgrundlagen zu stoppen oder gar die entstandenen Schäden an der Natur rückgängig zu machen.

Zudem werden die offiziell veröffentlichten Klimaprognosen alle paar Jahre von der Realität überholt und müssen immer deutlich zum Schlechteren hin korrigiert werden.

Aus sehr großer Sorge um die Zukunft unserer Kinder als auch aus naturwissenschaftlichem Interesse als Physiker war ich motiviert, selbst einmal und möglichst realitätsnah einen Blick in unsere Zukunft zu wagen. Um dabei ein gutes, also für Sie und mich nachvollziehbares Ergebnis zu erzielen, habe ich alle mir zur Verfügung stehenden Informationen zusammengefügt und die aktuellen Wetter- und Klimaereignisse entsprechend der immer weiter fortschreitenden globalen Erwärmung adaptiert und in einen Zusammenhang gebracht. Diese Herangehensweise ähnelt dem Addieren von 1 plus 1, unter Berücksichtigung möglicher Wechselwirkungen und Rückkopplungen.

Um das Ergebnis leicht lesbar zu machen, habe ich daraus einen spannenden Roman gemacht, wie Sie hoffentlich finden werden.

Manches darin mag Ihnen phantastisch erscheinen, aber für mich liegen all diese Szenarien und Ereignisse im Bereich des Möglichen, auch wenn ich meine persönliche Einschätzung nicht für unfehlbar halte. Ich hoffe jedoch, dass mein Roman Ihnen interessante Ideen, Anregungen und Informationen für Ihren eigenen Blick in die Zukunft liefert.

Beispiele dafür sind das von der Politik ausgegebene 1,5°C-Ziel zur Begrenzung der Erderwärmung, das keines- falls auch nur annähernd erreicht werden kann. Auch das 'Nachlassen des Golfstroms' und dessen dramatische Konsequenzen wird durch die Handlung von '280 For Future' anschaulich, ebenso wie der Treibhauseffekt und seine physikalische Grundlage.

Für Klimaaktivisten könnte die ausführliche Diskussion einer politischen Strategie im Kapitel 'Rückblick 2045' interessant sein, um das Klimaproblem professionell zu lösen.

Es gibt heute klare Beweise für die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen:

Die verheerenden Brände in Australien, Kalifornien, Sibirien und Brasilien in den letzten Jahren, das immer schnellere Abschmelzen der eisbedeckten Gebiete am Nord- und Südpol sowie in Grönland, der Permafrostböden und Gletscher, die enorme Zunahme von verheerenden Überschwemmungen, Stürmen und Dürren, Hitzewellen weltweit mit Tagestemperaturen von weit über 40° C über Wochen und vor dem Jahr 2022 noch unvorstellbaren Höchstwerten von über 50° C, wie auch das weltweit grassierende Artensterben.

Sie alle sind eine Folge von über 100 Jahren exzessiven Fehlverhaltens. Obwohl die klimaschädlichen Auswirkungen der Verbrennung von Öl, Kohle und Erdgas, schon damals in naturwissenschaftlichen Kreisen bekannt waren, interessanterweise spätestens seit 1959 durch den Physiker Edward Teller auch in der fossile Brennstoffe fördernden Industrie sowie in der Öffentlichkeit, wurde bedenkenlos daran festgehalten.

Der durch völlige Missachtung dieser wissenschaftlich bewiesenen Tatsache verursachte rasante Anstieg der CO2-Konzentration in der Atmosphäre um bis heute 50 Prozent trifft das äußerst empfindliche Klimasystem der Erde wie mit einer gewaltigen Keule, sodass es zunehmend aus dem Gleichgewicht gerät und mit enormen Ausschlägen, also verheerenden Wetterereignissen, reagiert.

Da sich ein weiterer Anstieg der Konzentration von Treibhausgasen noch für lange Zeit nicht verhindern lassen wird, werden sich die Lebensbedingungen weiter deutlich verschärfen.

Einzige Abhilfe können nur naturwissenschaftlich fundierte Maßnahmen sein. Durch Pseudo- und Höflichkeitsstudien, die von Lobbyismus und Ignoranz beeinflusst sind, mit entsprechend halbherzigen und sogar falschen, also kontraproduktiven Maßnahmen, werden zukünftige Generationen jedoch in unverantwortlicher Weise gezwungen sein, ein nicht mehr menschenwürdiges Leben in einer zerstörten Umwelt zu führen.

Die von manchen beschworene Klimaneutralität wird leider noch für viele Jahrzehnte reine Illusion bleiben.

Wie sie vielleicht schon erahnen, stellt '280 For Future' einige Thesen auf, die nicht jedem gefallen werden. Sie beschreiben grundsätzlich auch nicht meine persönlichen Vorlieben, sondern sie sind für mich als logische Konsequenz der heutigen gesellschaftspolitischen und klimatischen Bedingungen zu sehen. Ebenso spiegeln die in den Dialogen geäußerten Ansichten nicht unbedingt meine eigene Meinung wider.

Für die in '280 For Future' beschriebene, romanhafte Geschichte habe ich auch das Recht auf künstlerische Freiheit ausgeübt, da eine in der Zukunft spielende Handlung natürlich nur exemplarisch sein kann. Jegliche Ähnlichkeit mit realen Dingen und Personen oder gar exakte Übereinstimmungen wären daher auch rein zufällig.

Die Hauptgeschichte spielt in den Jahren 2203 und 2204. Dies mag Ihnen im Moment unfassbar weit entfernt erscheinen und vermessen von mir, diese Zeit zu beschreiben.

Die in '280 For Future' vorgenommene Betrachtung der Klima- und Gesellschafts-Entwicklung führte mich jedoch zwingend dorthin. Da die menschlichen Grundbedürfnisse in jedem Fall die gleichen sein werden wie heute und auch die Naturbeschreibungen auf Phänomene der uns heute bekannten Welt zurückgreifen, sollten die Schilderungen nachvollziehbar erscheinen. Dazu führen auch mehrere eingeschobene Kurzgeschichten über persönliche Schicksale in früheren Jahre (2032, 2045, 2047, 2049, 2078, 2099, 2103) in diese Zukunft.

Alles in allem wird Ihnen '280 For Future' wahrscheinlich einiges an Durchhaltevermögen abverlangen, besonders in den ersten beiden Kapiteln, in denen die Lebensbedingungenund einige der technischen Möglichkeiten der neuen Welt im Jahr 2203 beschrieben werden.

Sie sollten dazu Interesse an naturwissenschaftlichen sowie politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen mitbringen und gegenüber neuen Perspektiven sowie philosophischen Aspekten grundsätzlich aufgeschlossen sein.

Beim Schreiben von '280 For Future' war es mir besonders wichtig, keinen wissenschaftlichen Fach-Jargon zu verwenden, um auch komplexere Sachverhalte leicht lesbar zu formulieren.

Nur an wenigen Stellen werden Sie daher aus stilistischen Gründen zur Beschreibung der überwältigenden Komplexität der Natur ansatzweise darauf treffen.

Von den sonst verwendeten Vereinfachungen werden die Kernaussagen des Romans nicht berührt.

Ich möchte betonen, dass '280 For Future' nichts für schwache Nerven ist und das Weltbild selbst hartgesottener Thriller-Freunde so weit erschüttern kann, dass sie in Panik verfallen.

Dabei hoffe ich natürlich, dass die beschriebenen Ereignisse aufgrund besonders glücklicher Umstände nicht eintreten werden.

Da Sie, liebe Leserin, lieber Leser, es bis zu diesem Punkt geschafft haben, werden Sie '280 For Future' vermutlich durchaus lesenswert finden.

Wie immer freue ich mich sehr über Ihre qualifizierten Kommentare und Fragen!

Schreiben Sie mir an meine email Adresse:

[email protected]

 

Es bleibt mir nur noch, Ihnen spannende Unterhaltung zu wünschen!

Finden Sie selbst heraus, wie unsere Zukunft aussehen könnte und begleiten Sie eine Gruppe von Forschenden auf ihrer Reise für das wichtigste Projekt der Menschheit!

Ihr freundlicher Physiker

Andreas Elser

Das Geheimnis der Veränderung ist, alle Energie nicht auf die Bekämpfung des Alten zu legen, sondern auf den Aufbau des Neuen.

Sokrates, 469 - 399 v. Chr.

Rückblick 28. Juli 2032

Europa, Südfrankreich / Avignon

Es war drei Uhr früh. Louis Morrisant lag wach in seinem Bett, obwohl er von den Ereignissen der letzten Tage völlig erschöpft war. Es war eiskalt im Zimmer und er fror wie nie zuvor.

Draußen heulte der Blizzard.

Schnee im August …

Anstatt der üblichen Hitzeglocke

mit plus fünfundvierzig Grad …

oder mal wieder Sturzregen …

Wahnsinn!

Der Gedanke an die bisher unvorstellbaren Ereignisse ließ unbändigen Hass auf die Regierung in ihm aufsteigen. Noch vor einer Woche hatte er die Hoffnung auf passable Erträge gehabt. Doch dann kam die aktuelle Katastrophe.

Dies war nun schon das dritte Jahr in Folge, dass es in Mittel- und Südeuropa wegen nie dagewesener Wetterkatastrophen einen Totalausfall der Ernten gab. Diesmal würde es sein finanzielles Ende bedeuten, wenn nicht mehr.

Am Abend zuvor hatte er kurz mit seiner chinesischen Geschäftspartnerin Jing Chiang in Beijing einen Videochat geführt. Sie war die Vorsitzende einer großen Investorengruppe, der über vierzig Prozent der renommiertesten Weingüter Frankreichs gehörte. Sie war außer sich über seine Mitteilung, dass die gesamte Weinernte wieder ausfallen würde und auch alle Lager inzwischen leer waren.

Vor zwei Jahren schon war fast überall in Europa kaum Niederschlag gefallen und die Temperaturen im Sommer hatten hier in der Region neue Rekordwerte nahe der fünfzig-Grad-Marke erreicht. Da es auch in den Jahren zuvor kaum Regen gegeben hatte, waren nahezu alle Wasserspeicher, Seen und Flüsse ausgetrocknet. Die Landwirtschaft hatte dadurch enorme Schäden erlitten.

Auch die Industrieproduktion war wegen des Wassermangels massiv eingebrochen, weil die Kernkraftwerke nicht mehr gekühlt werden konnten und deshalb abgeschaltet werden mussten. Insbesondere hier in Frankreich mit seiner enormen Abhängigkeit von dieser Technologie gab es riesige Probleme durch die zum Erliegen gekommene Stromproduktion. Auch die Bevölkerung musste sich extrem einschränken, weil die meisten elektrischen Geräte nicht mehr betrieben werden konnten.

Im vergangenen Jahr war es dann von Februar bis Oktober viel zu kalt, stürmisch und regnerisch gewesen. Die Durchschnittstemperatur in Mitteleuropa hatte im Jahr 2031 mehr als sieben Grad unter dem Normalwert gelegen. Die Lebensmittelpreise hatten sich durch die Ernteausfälle in den vergangenen fünf Jahren mindestens verdreifacht, je nach Produkt sogar verzehnfacht, weil sie in den USA und Russland teuer eingekauft werden mussten. Für die allermeisten war dies eine finanzielle Katastrophe.

Die EU hatte zwar begonnen, mit nordafrikanischen Ländern Verträge zu schließen, um unter den dort herrschenden etwas günstigeren klimatischen Bedingungen neue Agrarflächen anlegen zu können. Aber das benötigte natürlich viel Zeit.

Um sich ein Bild von der aktuellen Lage zu machen warf Morrisant die Bettdecke zur Seite, schaltete die alte Taschenlampe auf seinem Nachttisch an und stand auf. Erfüllt von Angst schlurfte er zur Terrassentür. Ihre Scheiben waren innen stark beschlagen und verhinderten den Blick nach draußen. Trotz des tosenden Blizzards öffnete er die Tür einen Spalt. Sofort drückte die eiskalte Luft des Sturms ins Zimmer.

Morrisant blickte nach Süden in Richtung der Stadt und des alten Papstpalastes. Wegen des Schneetreibens und weil Avignon ohne jegliche elektrische Beleuchtung komplett im Dunkeln lag, war jedoch kaum etwas zu erkennen. Nur für kurze Momente warf der Mond durch Lücken der dahinrasenden Schneewolken etwas Licht auf das Geschehen.

Er konnte noch immer kaum fassen, was sich hier seit Tagen abspielte. Jetzt, mitten im Hochsommer, wenn normalerweise glühende Hitze über der Landschaft und der Stadt lag, war alles unter einer dicken Schneedecke verschwunden. Seit gestern Abend war diese noch einmal um mindestens dreißig Zentimeter angewachsen und es schneite immer noch heftig. Von der Balustrade seiner Terrasse mit über einhundertzwanzig Zentimeter Höhe war inzwischen nichts mehr zu sehen. Hier an der Tür reichte ihm der Schnee sogar bis zur Brust.

Der Blizzard, der seinen Ursprung im Arktischen Ozean nördlich von Sibirien hatte, war mit Orkanstärke über Skandinavien und das Baltikum nach Polen und Weißrussland gezogen und weiter über Mitteleuropa und die Bergketten der Alpen und Pyrenäen bis nach Mittelitalien und Nordspanien. In Norwegen, Schweden Dänemark, Polen und Deutschland war schon vor Wochen wegen lokaler Wintereinbrüche der Notstand verhängt worden. Jetzt hatte es auch Mittel- und Südeuropa getroffen.

Auch die Natur außerhalb der Agrarflächen wurde zunehmend zerstört. Die belaubten Äste der Bäume und Sträucher brachen unter den enormen Schneelasten, die sich darauf auftürmten. Die meisten Tiere hatten sich nicht in Sicherheit bringen können und waren erfroren oder unter den Schneemassen erstickt.

Für die Bevölkerung war die Lage ebenfalls akut lebensbedrohlich. Die meterhohen Schneeverwehungen hatten sämtliche Straßen unpassierbar gemacht, sodass die gesamte Infrastruktur und Versorgung zusammengebrochen waren. Der Präsident hatte daraufhin den nationalen Notstand ausgerufen und die Nationalgarde eingesetzt. Mit schweren Räumfahrzeugen wurden die wichtigsten Straßen und Flughäfen vom Schnee befreit. Es gab jedoch wie in ganz Europa viel zu wenige Helfer und Räumungsgeräte, um die Lage schnell in den Griff zu bekommen. Seit vier Tagen war die Armee im Dauereinsatz, um die wichtigsten Einrichtungen wenigstens ansatzweise betriebsbereit zu halten. Natürlich gelang dies nur an wenigen Orten und Plünderungen von Läden und Privathäusern konnte sie überhaupt nicht verhindern.

Monsieur Morrisant bekam weiche Knie bei der Vorstellung, wie sich die Situation weiter entwickeln könnte. Ihm wurde bewusst, dass es auch für ihn bald um das nackte Überleben gehen würde, denn seine Nahrungsmittelvorräte waren fast aufgebraucht. Morgen musste er unbedingt das Haus verlassen, um an das Allernötigste zu gelangen. Wie das gelingen konnte, war ihm momentan allerdings noch völlig unklar. Es blieb nur die Hoffnung, dass das Militär schnell die Versorgung der Bevölkerung aus der Luft übernahm. Er spürte, wie sich sein Hals vor Angst verkrampfte und das Atmen erschwerte.

Ein heftiger Windstoß drückte die Tür plötzlich nach innen. Monsieur Morrisant konnte nicht mehr reagieren und die Türkante knallte ihm mit voller Wucht gegen Stirn und Nase. Er torkelte nach hinten, stolperte rückwärts über den Teppich und schlug mit dem Hinterkopf gegen das eiserne Bettgestell. Nach dem ersten schmerzvollen Schlag zunächst ins Gesicht dröhnte jetzt sein Kopf durch den weiteren Aufprall. Er ging zu Boden und blieb völlig benommen liegen.

Enorme Mengen Schnee wehten von der Terrasse durch die weit aufgedrückte Tür herein und begruben ihn und alles im Raum innerhalb von Sekunden unter einer dicken Schicht. Nur weil die Kälte in seinem blutverschmierten Gesicht und an seinen nackten Beinen und Füßen ihn schnell genug wieder zu sich kommen ließ, erstickte er nicht darunter. In höchster Atemnot und völlig desorientiert, weil er nichts mehr sah, gelang es ihm im letzten Moment, Kopf und Oberkörper mit den Händen durch den schweren Schnee nach oben zu drücken. Vollkommen geschockt schnappte er mehrfach panisch nach Luft.

Als er sich nach einiger Zeit etwas erholt hatte, erhob er sich mühsam. Voller Wut und Verzweiflung schwankte er zu der wild im Sturm schlagenden Terrassentür und drückte sie mit letzter Kraft zurück ins Schloss.

12. Februar 2203

Europa / Svalbard

Svalbard, die gebirgige Inselgruppe aus nacktem, graubraunem Fels, im Nordatlantik zwischen Europa und dem Nordpol gelegen, war neben Antarktika die einzige noch bewohnte Region der Erde.

Heute würde hier auf dem neunundsiebzigsten nördlichen Breitengrad die Polarnacht zu Ende gehen, die Sonne also nach vielen Wochen zum ersten Mal wieder über den Horizont kommen.

Das kleine Team um Jia Giacomelli hatte soeben die Schutzkuppel des Forschungsinstitutes für einen kurzen Aufenthalt im Freien durch die Sicherheitsschleusen verlassen. Die Wetterbedingungen in Svalbard erlaubten nur sehr selten einen Aufenthalt im Freien, im Moment jedoch war der hier übliche Sturm zu einem schwachen Wind abgeflaut, der Himmel nur wenig bewölkt und auch die Luftqualität war mit Werten im gelbgrünen Bereich ziemlich gut. Sie alle hatten daher nicht einmal die sonst unerlässliche Schutzkleidung angelegt.

Jia gehörte der hier beschäftigten Elite von Nature-Scientists an, die sich der Wiederherstellung der Lebensbedingungen auf der Erde verschrieben hatte. Sie nannten ihr Projekt 'Fixin', ein Kunstwort, wie viele heute verwendeten Begriffe, das von den chinesischen und amerikanischen Gründern des Projekts aus 'Fùxlng' und 'Fùxīng' zusammengesetzt worden war, was soviel wie Wiedergeburt und Reparieren bedeutete.

Das Projekt bestand aus zwei großen Teilprojekten. Hier in Svalbard befanden sich die Forschungseinrichtungen des CC-Projekts, in dem Meeresalgen erforscht wurden, die als Grundlage für ein intaktes Klima benötigt wurden.

Der Standort auf dieser abgelegenen, nördlichsten Inselgruppe war gewählt worden, weil sich hier immer noch der erste globale Gen-Tresor befand, der aus der Zeit vor der Klimakatastrophe stammte. In dieser Anlage hatten viele Pflanzensamen und Mikrolebewesen bis heute überleben können. Zudem war Svalbard mit seiner riesigen Entfernung von Antarktika gut vor Sabotage geschützt, was von höchster Bedeutung war, denn das Projekt hatte in der Bevölkerung viele Gegner.

Der zweite wichtige Forschungsbereich befasste sich mit Flora und Fauna, also der Pflanzen- und Tierwelt, wie sie einmal auf den alten Kontinenten existiert hatte. Sie nannten es abgekürzt daher auch das FF-Projekt. Darin wurde versucht, alte Arten an neue Lebensbedingungen anzupassen, wie sie möglicherweise in Zukunft herrschen könnten.

Der Hauptstandort des FF-Projekts befand sich auf Finistere, einer Insel in der nördlichsten Region Antarktikas, ebenfalls weit abgelegen vom antarktischen Festland.

Die Gruppe hatte sich rund fünfzig Meter weit von der weißen Schutzkuppel vorgewagt, die einsam auf dem höchsten Bergplateau der Hauptinsel thronte. Sie überspannte mit einem Durchmesser von über siebenhundert Metern die gesamte Svalbarder Forschungsanlage, die aus achtundfünfzig mehrstöckigen Einzelgebäuden bestand. Diese waren im heute typischen Industrielook errichtet und boten Platz für die Labore der zweihundertfünfzig hier Forschenden und das technische Personal.

Die Kuppel selbst verlief wegen der hier auftretenden extremen Windgeschwindigkeiten in einem besonders flachen Bogen über den gesamten Komplex und endete rundum direkt auf der Felsoberfläche in einer Ringmauer, mit der zusammen sie das Innere hermetisch von der Außenwelt abschirmte.

Jia und die anderen standen nun kurz vor der Abbruchkante des Plateaus, oberhalb des steilen Abhangs zum Fjord hinunter und blickten voller Erwartung nach Süden. Die dort am Horizont gelegene Bergkette erschien als schwarze, scharf abgegrenzte Silhouette vor dem schon sehr hell orange und violett leuchtenden Himmel.

In wenigen Minuten würde zwischen zwei der 'Blue End'-Gipfel, wie sie diese besondere Stelle nannten, zum ersten Mal wieder ein kleines Stück der Sonne zu sehen sein. Für Jia war dies ein besonderes Ereignis, denn nach dem Eingeschlossensein in der Svalbard-Forschungsanlage während der langen Dunkelperiode, sehnte sie sich nach Tageslicht und Abwechslung von der sterilen Umgebung der Labore.

Anders als die Städte in Antarktika war dieser Außenposten der Zivilisation weder mit einem künstlichen Himmel noch einem der wunderschönen Naturparks ausgestattet. Svalbard war ein reiner Forschungsstandort. Antarktika dagegen bot seiner Bevölkerung die verschiedensten Annehmlichkeiten, sodass dort kaum jemand die Polarnacht wahrnahm.

Die Bergspitzen der Umgebung und der obere Teil der Kuppel wurden schon von den ersten Strahlen getroffen und in ein rötlich violettes Licht getaucht. Kaum eine Minute später erschien die Sonne am Horizont. Jia lief beim Anblick des gleißenden, schmalen Bogens ein angenehmer Schauer über den Rücken, auch wenn sie wusste, dass von der extremen UV-Strahlung Gefahr für die ungeschützten Hautpartien ausging. Die Anzeige ihrer Eyefoil schnellte auch sofort auf den Wert von sechzehn und begann rot zu blinken. Der UV-B-Index lag also gefährlich hoch.

Obwohl auch sie versucht war, den Anblick noch einige Sekunden länger zu genießen, ging sie wie alle anderen schnell wieder zurück zur Schleuse. Auf dem Weg dorthin schaute sie noch einmal kurz zurück. Ihre Nase und Lippen fühlten sich schon heiß und trocken an, wie bei einem Sonnenbrand.

Ich hätte doch Helm und Schutzanzug anlegen sollen!, dachte sie.

Nach einem tiefen Zug aus ihrer Fresh-Air begab sie sich zusammen mit den anderen wieder in den Schutz der Kuppel. Nachdem sie darin das nahe gelegene Gebäude erreicht hatte, in dem sie arbeitete, ging sie hinunter zum Labor im zweiten Untergeschoss. Dort befanden sich die großen, geschlossenen Meerwassertanks, in denen ihre technisch bisher fortgeschrittensten Algen-Experimente abliefen. Jia checkte routinemäßig die Statusanzeigen der aktuellen Testsequenz, die hier seit Tagen lief.

Es sah nach wie vor nicht gut aus, was sie nicht überraschte. Seit Wochen rechnete hier kaum jemand mehr damit, schnell bessere Resultate zu erzielen.

Sie standen vor lebensbedrohlichen Problemen, und Jia konnte es kaum erwarten, nach acht Wochen hier in Svalbard morgen zurück nach Antarktika und Byrd Island zu fliegen, um dort möglicherweise doch noch irgendwie ein Lösung zu finden.

Svalbard war aus historischen Gründen einer der Hauptsitze ihres Projekts. Hier war vor über zweihundert Jahren, also schon zu Beginn der Klimakatastrophe, eine Art Arche Noah im damals noch vorhandenen Dauerfrostboden errichtet worden.

Die Inselgruppe war zu dieser Zeit von mächtigen Gletschern und Schnee bedeckt, der felsige Boden darunter bis in große Tiefe das ganze Jahr über minus achtzehn Grad Celsius kalt. Dieser Permafrostboden bot damit vermeintlich bis weit in die Zukunft eine ideale Umgebung zur Konservierung von Pflanzensamen. Die Nature-Scientists dieser Zeit hatten daher Millionen Exemplare aus der ganzen Welt gesammelt und klimatisierte Räume in tiefen Stollen eines Berges dort angelegt, um sie vor Wärme zu schützen. Es war der Vorsicht der Planer zu verdanken, dass sie die Anlage weit oberhalb der Wasserlinie gebaut hatten. So wurde sie nicht sofort überflutet, als der Meeresspiegel im Jahre 2035 in unvorstellbarem Tempo zu steigen begann und Sturmfluten die Küstenregionen mehr und mehr unbewohnbar machten.

Ob und in welchem Ausmaß dies überhaupt jemals eintreten würde, hatte zuvor natürlich niemand genau gewusst. Die meisten gingen wohl eher davon aus, dass durch die Erwärmung der Erde nur die eine oder andere Tier- und Pflanzenart aussterben würde und das Abschmelzen des antarktischen und grönländischen Eispanzers erst in tausenden von Jahren stattfinden würde. Dass bald alle Kontinente, mit Ausnahme von Antarktika, unbewohnbar sein würden, hätte damals kaum jemand für möglich gehalten.

Innerhalb weniger Jahrzehnte stiegen jedoch die Temperaturen durch eine Kaskade vollkommen unvorhergesehener Rückkopplungsprozesse weltweit auf extrem hohe Werte. Dies zerstörte auf den alten Kontinenten nicht nur alles Leben in der freien Natur. Auch die Eispanzer der Antarktis und Grönlands sowie die Permafrostböden der Polarregionen und Hochgebirge schmolzen schnell vollständig ab, was den Meeresspiegel um fünfundneunzig Meter ansteigen ließ.

Weil sich die zuvor eisbedeckten Landmassen wegen der Entlastung des Untergrunds auch heute noch hoben, kam es dort ständig zu Erdbeben als auch Bergstürzen gewaltigen Ausmaßes. Die Beben hatten oft eine Stärke von 10,0, und wenn sie im Küstenbereich auftraten, was sehr häufig der Fall war, lösten sie riesige Flutwellen aus, genauso wie die enormen Felsmassen, die sich durch die Beben lösten und ins Meer abstürzten.

Die so in Grönland ausgelösten Wellen jagten über den Nordatlantik und donnerten als bis zu sechzig Meter hohe Tsunamis auch gegen Svalbards Küste. Die Gen-Tresor-Anlage, die sich an einem Fjord der Westküste befunden hatte, lag nun unglücklicherweise genau an einer der am schlimmsten betroffenen Regionen und war dadurch in höchster Gefahr.

Um den wertvollen Inhalt vor der Zerstörung zu bewahren, wurde schon während des Zusammenbruchs der alten Welt eine neue Anlage errichtet. Um sie auf lange Sicht auch vor den weiter steigenden hohen Temperaturen zu schützen, war sie mit riesigen Kühlsystemen ausgestattet und lag an einem der wenigsten heißen Orte der Insel auf eintausend Metern Höhe.

Von ganz besonderer Bedeutung und für sie heute vielleicht sogar lebensrettend war, dass dort auch Reservoire für Kleinstlebewesen der Meere errichtet worden waren. Diese konnten so wie die Millionen Pflanzensamen bis heute konserviert und am Leben erhalten werden.

Diese zweite Anlage war glücklicherweise selbst im Krieg während der Klimakatastrophe vor Zerstörung bewahrt geblieben, weil alle kriegführenden Parteien an deren Unversehrtheit interessiert gewesen waren. In der Zeit danach, während des Aufbaus der Städte in Antarktika, wurde die Anlage mit größter Sorgfalt weiter aufrechterhalten. Selbst heute noch wurde sie aus Sicherheitsgründen parallel zu den Laboren in Byrd Island in Antarktika betrieben und immer wieder auch erweitert.

Die Erhaltung der hier konservierten Pflanzen war für viele Jahre eine der wichtigsten Aufgaben überhaupt, denn sie waren für die Besiedlung von Antarktika und die Ernährung seiner Bevölkerung überlebenswichtig.

Die riesige Entfernung zwischen Svalbard und Antarktika war dabei anfangs ein großes Problem. Die Distanz von fast zwanzigtausend Kilometern konnte damals nur mit U-Booten überwunden werden, denn Flugzeuge waren wegen der extremen Stürme vor allem bei Start und Landung nicht mehr beherrschbar. Aus diesem Grund wurde versucht, so schnell wie möglich auch in Antarktika einen Gen-Tresor aufzubauen. Dazu war schon in den 2120er Jahren die Forschungsanlage auf Byrd Island gegründet worden, einer ebenfalls weit vom Festland abgelegenen und unbewohnten kleinen Insel. Alle in Svalbard existierenden Arten wurden vermehrt und in den dort neu aufgebauten Gen-Tresor gebracht. Im Gegensatz zu der von da an auch in Byrd Island betriebenen Forschung wurden die aktuellen Experimente wegen der für sie erhöhten Sabotagegefahr jedoch nur in der Hochsicherheitsanlage auf Svalbard durchgeführt. Dieser Standort war unerreichbar für Personen, die nicht absolut hinter dem Projekt standen.

Am nächsten Morgen wurde Jia in ihrer kleinen Svalbarder Wohnung wie immer von den streichelnden Bewegungen ihres Bettes sanft aus dem Schlaf geholt. Nach einer Weile öffnete sie die Augen. Der Raum war noch dunkel. Nur an der Zimmerdecke war das zu ihrem Weckprogramm gehörende und von ihr geliebte Farbspiel der Polarlichter zu sehen. Es waren die von den Kameras außerhalb der Schutzkuppel übertragenen Livebilder des aktuellen Geschehens am Himmel, an dem die im Magnetfeld türkis, violett und orangerot leuchtenden Gase wie transparente Schleier in Zeitlupe langsam durch die oberen Schichten der Atmosphäre wehten.

Noch leicht schlaftrunken schaute sie ein paar Minuten zu, schwang sich dann aus dem Bett und setzte ihre Datenbrille auf, die sie auf dem Sideboard neben sich abgelegt hatte. Ihr erster Blick ging auf den Status der Experimente, die über Nacht im Labor weitergelaufen waren.

Leider hatte sich die Situation auch jetzt nicht verändert.

Datenbrillen wurden heute von fast allen Erwachsenen den ganzen Tag über getragen. Sie nannten sie kurz 'Eyefoil', und mit ihrer höchst entwickelten 'Augmented Reality'-Funktion, die immer alle aktuell erforderlichen Information ins Blickfeld einblendete, gehörte sie zur Grundausstattung des täglichen Lebens, auch weil sie als Kommunikationsmedium und Steuerzentrum für verschiedenste Geräte und Prozesse diente.

Ihr Äußeres ähnelte mit der glänzenden Oberfläche einer stark überdimensionierten Sportbrille, wie man sie früher gerne trug. Sie bedeckte einen Großteil des Gesichts, von der Mitte der Stirn fast bis zum Mund. Ihre Form war leicht gewölbt, wie aus einer großen Kugel ausgeschnitten, und sie legte sich mit einer Aussparung für die Nase eng um die obere Gesichtshälfte.

Um das Blickfeld nirgends einzuschränken, behielt sie zu den Seiten hin diese Dimensionen bei und verlief auch ohne Unterbrechung über Schläfen und Wangenknochen, war also aus einem einzigen Stück ohne Scharniere oder Rahmen. Erst kurz vor den Ohren wurde sie schmal und bildete einen Halbkreis um die äußeren Gehörgänge. Auch dieser Teil war für jede Person individuell angepasst, nicht nur um einen sehr guten Halt zu erreichen, sondern auch, weil dort die Audioeinheit saß, die ebenfalls mit AR-Funktionen ausgestattet war und optimalen Ton lieferte. Da die Eyefoil aus einer nur ein Millimeter starken Folie eines LCP-Hochleistungspolymers bestand, war sie superleicht und trotzdem extrem stabil.

Ihre Außen- und Innenseite spiegelte in allen Regenbogenfarben, wenn man sie entsprechend ins Licht hielt und solange sie nicht eingeschaltet war. Diese Farben kamen durch die mikroskopisch kleinen Pixel zustande, die auf der Außenseite der Bildaufnahme dienten und auf der Innenseite die Lichtstrahlen so ins Auge lenkten, dass darin das berechnete Bild erzeugt wurde.

Ihre Funktionsweise war einfach. Die bei der Bildaufnahme anfallenden Daten wurden an Rechner weitergeleitet, mit denen die Eyefoils permanent drahtlos verbunden waren. Diese Rechner gehörten heute generell der Quasar-Klasse an. Es handelte sich dabei um Quantencomputer, die jede Aufgabe quasi momentan erledigen konnten, da die auf ihnen laufenden Algorithmen aufgrund der Quantennatur alle Berechnungen gleichzeitig ausführen konnten, im Gegensatz zu den ersten Computern, die diese nur hintereinander abarbeiten konnten, was milliarden- und billiardenfach länger dauerte.

Die Quasarrechner erzeugten so ein perfektes Bild der Umgebung und schickten dieses einschließlich aller relevanten und gewünschten Zusatzinformationen verzögerungsfrei zurück an die Eyefoils.

Die meisten nutzten ihre Eyefoil ausschließlich in den beiden Standard-Modi 'Normal' und 'Real'.

Im Realmodus erschien die Umgebung exakt wie mit bloßem Auge, wobei auch wichtige Informationen angezeigt werden konnten. Im Normalmodus wurde alles entsprechend dem persönlichen Profil und den darin eingestellten Vorlieben und mit optimaler Klarheit und Helligkeit dargestellt. Selbst bei völliger Dunkelheit konnte man in dieser Einstellung alles deutlich wie bei Tageslicht erkennen.

Die Eyefoil diente natürlich auch der Video- und Audiokommunikation. Die von ihr erzeugten Bilder konnten an andere weitergestreamt werden. Als Mikrofon diente die gesamte Oberfläche der Eyefoil, die Schallwellen aus allen Richtungen aufnahm.

Darüberhinaus diente sie als Steuerzentrum für die verschiedensten Funktionen, die man ausführen wollte. Diese konnten in Form von Symbolen angeboten werden, die je nach Art, Thema oder Wichtigkeit in bestimmten Sektoren im Blickfeld der Eyefoil angezeigt wurden und über Finger- und Handbewegungen aktiviert werden konnten. Dazu wurden diese von den in der Eyefoil vorhandenen Mikro-Radar-System und den Tracker-Algorithmen permanent verfolgt und analysiert, um sie mit den Symbolen zu koordinieren und die gewünschten Befehle auszuführen.

Die zum Betrieb notwendige Energie bezogen die Eyefoils, wie auch die Quasarrechner und alle anderen Geräte und Maschinen, über die überall vorhandenen Ladepunkte des Energienetzes, mit denen sie sich bei Bedarf drahtlos verbanden und in Sekundenschnelle wieder aufluden. Diese Energie wurde völlig klimaneutral von Fusionsreaktoren erzeugt, die überall in kompakter Form vorhanden waren.

Jia war ziemlich enttäuscht, obwohl sie schon damit gerechnet hatte, dass auch die gestern gestarteten Tests wieder negativ verlaufen würden. Trotz einer erneut verbesserten Giftresistenz waren wieder alle Algen abgestorben, wenn auch ein paar Mikrosekunden später als bisher.

Die Algen in ihren Versuchen stammten von den alten Arten aus der Zeit vor der Klimakatastrophe ab und hatten besondere Fähigkeiten, die sie dringend für ihr Projekt benötigten.

Allerdings starben sie im Meerwasser sofort ab, da dieses wegen der heute darin lebenden Algenarten für sie tödlich war. Diese produzierten zur Abwehr konkurrierender Algen extrem starke Gifte. In vielen Regionen der Ozeane war das Meerwasser dadurch so gefährlich wie früher die stärksten Schlangengifte. Von einigen Algengiften wurden diese sogar noch übertroffen, nur die Verdünnung durch das Meerwasser reduzierte die Wirkung wieder etwas.

Seit Monaten arbeitete Jia zusammen mit anderen hervorragenden Nature-Scientists an einer Gensequenz, mit welcher sie die mikroskopisch kleinen Lebewesen gegen diese Gifte resistent machen konnten.

Leider hatten sie bisher damit bestenfalls nur ansatzweise Erfolg gehabt. Das gesamte Projekt stand womöglich kurz vor dem Scheitern, wenn sie hier nicht bald einen Durchbruch erzielen würden.

Dabei waren sie in dem anderen wichtigen Punkt, nämlich der CO2-Aufnahme, vor kurzem erst sogar erfolgreich gewesen.

Jia hatte noch genügend Zeit für ihr fünfzehnminütiges, morgendliches Fitnessprogramm, bevor sie zum Hyperport fahren würde. Sie schlüpfte schnell in ihre V-Schuhe, die sie immer bei Simulationen trug, um den Eindruck des Gehens oder Laufens auf realem Untergrund zu erzeugen, ohne sich tatsächlich mehr als einen Meter von der Stelle zu bewegen.

Sie begab sich in die Mitte ihres kleinen Wohnzimmers, wo sie ausreichend Platz dafür hatte. Dann klickte sie in der virtuellen Ansicht ihrer Eyefoil auf die Schaltfläche für ihre Lieblingsstrecke. Sofort tauchte sie ein in die Szenerie einer kleinen karibischen Insel. Diese war mit ihrem üppigen Grün, der unendlichen Zahl farbenreicher Blüten und dem blauen Ozean so wunderschön wie immer. Jia blickte sich kurz um. Wie immer zu Beginn ihres Trainings stand sie auf einem flachen Felsen in Ufernähe. Zu ihrer Linken erstreckte sich unter ihr eine schmale Bucht nach Osten, die von hunderten schlanken Palmen gesäumt war. Im türkisblauen Wasser glitzerte die Sonne in tausenden kleinen Sternen und leichte Wellen plätscherten an den weißen Sandstrand, nur etwa fünfzig Meter von Jia entfernt. Für einen Augenblick spielte sie mit dem Gedanken, dort schwimmen zu gehen, aber im nächsten Moment ließ sie diesen wieder fallen, denn natürlich funktionierte das nicht mit der Ausrüstung, die sie gerade trug. Sie wandte sich wieder von dieser Seite der Insel ab und sah den Naturpfad vor sich, den sie so mochte. Er verschwand schon nach wenigen Metern in der dichten, tropischen Vegetation und führte hinauf in die Hügellandschaft, von wo es immer wieder fantastische Ausblicke gab.

Die Bilder, die Jia in ihrer Eyefoil sah, wurden von den Algorithmen aus zweihundert Jahre alten Daten rekonstruiert und so animiert, dass nicht nur die Bewegung der Blätter im Wind und die Wellen auf dem Wasser zu sehen waren, sondern überhaupt jedes noch so kleine Detail. Die gesamte Szenerie war jedoch nicht nur visuell absolut realistisch und wäre von einem wirklichen Aufenthalt vor Ort nicht zu unterscheiden gewesen. Die perfekte Illusion wurde vom VG erzeugt, einem Generator für virtuelle Effekte, der alle weiteren Umweltbedingungen simulierte.

Als Jia in lockerem Tempo loslief, spürte sie sofort den warmen, leichten Gegenwind in den Haaren und auf ihrer Haut. Zum leichten Luftstrom erzeugte der VG über elektrische Felder dort auch ein angenehmes Kribbeln.

Hinzu kamen reale Substanzen, die er versprühte und die zur jeweiligen Szenerie passten. Mit tiefen Atemzügen sog sie den typischen Geruch des Meeres und den süßen Duft der Pflanzen ein. Schon nach kurzer Strecke wurde sie dadurch deutlich munterer.

Sie klickte einen vorgeschlagenen Soundtrack an. Die fröhlichen karibischen Klänge zusammen mit der traumhaft schönen Kulisse ließen in ihr schon nach wenigen Metern eine tiefe Sehnsucht nach realer, intakter Natur aufsteigen. Durch die hartnäckigen Probleme im Labor und die zur Lösung verbleibende kurze Zeit erschien ihr dieses Gefühl heute noch stärker, als sie es bisher erlebt hatte.

Nach ihrem Lauf und einigen abschließenden Tai-Chi-Chuan-Übungen ging sie ins Bad, um sich frisch zu machen.

'Was passt am besten zum heutigen Reisetag?', fragte sie Aida, ihren persönlichen Bot.

Sofort entstand zwei Meter vor ihr ein Hologramm, das sie realistisch wie ein dreidimensionales Spiegelbild mit dem vorgeschlagenen Outfit zeigte, ihrem graublauen seidig glänzenden Anzug mit weißem Top und den weißen klimatisierten Softboots. Jia nickte kurz, worauf Aida zum Schrank ging und die gezeigten Kleidungsstücke und den für sie gepackten Backpack holte.

Nach zwei Bāozis und einer Tasse Tee verließ sie pünktlich ihre Wohnung, die ihr hier im Wohnkomplex zur Verfügung stand, so wie allen Nature-Scientists, die nur zeitweilig in Svalbard arbeiteten.

Die Shuttle-Station war in nur zwei Minuten zu Fuß erreichbar. Der Shuttle fuhr in einem Tunnel einschließlich eines kurzen Stopps direkt zum Hyperport, dem Flughafen, der in der Zentralregion der Insel lag. Für die einhundert Kilometer lange Strecke benötigte er fünfzehn Minuten.

Drei Stunden Flug lagen heute vor ihr. Jia wusste schon, dass ein ganz neues Modell eines Hypersonics auf der Strecke eingesetzt wurde. Es würde fast doppelt so schnell sein wie alle Maschinen, die sie kannte, und in noch größerer Höhe fliegen. Sie freute sich darauf, denn von dort aus würde man schon die Krümmung der Erdoberfläche erahnen können. Früher wäre sie am liebsten Astronautin geworden, aber es gab keine Projekte mehr auf dem Mond, dem Mars und im Erdorbit, außer für Bots, die Satelliten warteten.

Die Hypersonics gab es erst seit knapp vierzig Jahren. Sie wurden heute auf allen Langstrecken eingesetzt, nicht nur für die 20.000-Kilometer-Strecke Antarktika-Svalbard.

Früher hatte man mit dem U-Boot dafür fast zwei Wochen benötigt. Diese Subs, wie man die U-Boote kurz nannte, wurden heute fast nur noch für Warentransporte zu abgelegenen antarktischen Inseln verwendet. In der Zeit vor den Hypersonics verbanden sie auch weit auseinanderliegende Städte in Antarktikas Inselwelt.

Das Fixin-Projekt war im Jahr 2122 gegründet worden, nachdem die Lage in Antarktika dies erlaubte. Denn nach dem Krieg und der Flucht auf den fast leeren Kontinent mussten dort natürlich zuerst alle überlebensnotwendigen Infrastrukturen aufgebaut werden. Das Ziel der Nature-Scientists war jedoch immer auch gewesen, die Erde schnellstmöglich wieder abkühlen zu lassen und das Klima in seinen alten Gleichgewichtszustand zu versetzen, so wie er sich in den Millionen Jahren zuvor eingependelt hatte.

Das CC-Projekt, in dem Jia arbeitete, hatte genau dies zum Ziel. Das Kürzel CC war abgeleitet aus den beiden zentralen Begriffen ihrer Forschung, CO2 und Coccolithophore. CO2 war die chemische Formel für Kohlendioxid, also das Treibhausgas, das die Klimakatastrophe ausgelöst hatte und von dem sie den größten Teil wieder aus der Atmosphäre entfernen mussten.

Coccolithophore war der wissenschaftliche Name einer besonderen Art von Kalkalgen. Diese hatten die Eigenschaft, eine Art Schuppenpanzer aus kleinen Kalkplättchen zu bilden, die sie vor Fressfeinden schützten und ihnen Stabilität verlieh. Schon frühere Nature-Scientists hatten herausgefunden, dass diese Algen ideal geeignet waren, um daraus eine neue Art zu erzeugen, die CO2 in jeder gewünschten Menge und in sehr kurzer Zeit aus der Atmosphäre entfernen konnte. Sie nannten diese neue, künstliche Art 'Proto'. Der Trick bei ihr war, dass sie das CO2 in körpereigenes, chemisch stabiles Material umwandeln konnte, das nach dem Absterben der Alge zusammen mit ihr zum Meeresboden sank und für alle Zeit dort verblieb.

Jia forschte schon seit fünf Jahren an diesen Algen. Sie hatte erst kurz davor an der Universität von Montecito ihren Abschluss als Nature-Scientist mit Schwerpunkt Biologie gemacht. Als beste Absolventin seit langem hatte sie die Position im Fixin-Projekt sofort bekommen, das grundsätzlich nur die Allerbesten aufnahm.

Zusammen mit ihrer Kollegin und Freundin Gaia Zhen, Nature-Scientist mit Schwerpunkt Bio-Chemie, war sie heute maßgeblich an der Entwicklung der neuen Protoalge beteiligt.

Schon vor zwei Jahren war es ihnen durch gentechnische Veränderung gelungen, die Photosynthese in diesen alten Kalkalgen deutlich zu steigern. Dies war eine äußerst wichtige Voraussetzung für ihr Projekt, weil dieser Vorgang pflanzlicher Energiegewinnung auch Sauerstoff freisetzte. Dieser wiederum war überlebenswichtig für Menschen und Tiere. Weil alle Algen, die heute Sauerstoff produzierten, im Laufe des Projekts vernichtet und durch die Protoalgen ersetzt würden, war es daher dringend nötig, dass diese ebenfalls dazu in der Lage waren.

Die heute existierenden Algen waren seit über einhundert Jahren die einzig verbliebene Sauerstoffquelle auf der Erde, nachdem in der Frühphase der Klimakatastrophe alle Landpflanzen verbrannt und alle alten Algenarten aus den zu warm gewordenen Meeren verschwunden waren.

Wieso die Menschen diesen Verlust riskiert und sich nie Gedanken gemacht hatten, woher der Sauerstoff eigentlich stammte, den sie andauernd einatmeten, um nicht innerhalb von ein paar Minuten zu ersticken, wurde von den meisten der heute Lebenden als größte Fehlleistung der Menschheit angesehen.

Die neben den Algen wichtigsten Sauerstoffquellen, die Nutzwälder Europas und Nordamerikas, sowie die Urwälder in Südamerika, Zentralafrika, Südostasien und Sibirien, konnten damals nicht wieder aufgeforstet werden oder von sich aus wieder nachwachsen, weil junge Pflanzen zu diesem Zeitpunkt schon nirgends mehr überleben konnten. Sie fielen extremen, Wochen und Monate andauernden Dürreperioden und Überflutungen zum Opfer, verdorrten also oder wurden von den Fluten ertränkt oder mitgerissen. Ohne jegliche Vegetation verschwanden natürlich auch alle Landtiere.

In den Meeren war die Situation nicht besser, nachdem schon vor über einhundert Jahren auch darin alle Ökosysteme gekippt waren. Alle bisherigen Algen waren damals von hitzeresistenteren Arten verdrängt worden. Es war dabei ein unglaublicher Glücksfall, dass diese ebenfalls Sauerstoff produzierten, auch wenn es deutlich weniger als bisher war. Ansonsten wären alle Menschen und Tiere schon lange erstickt.

Doch vor drei Jahren hatten die Algorithmen eine höchst erschreckende Vorhersage gemacht, die ein Ende dieser Phase ankündigte. Tatsächlich bahnten sich seit wenigen Monaten dramatische Veränderungen an, da die Erwärmung der Erd- und Meeresoberfläche auch heute noch fortschritt.

Der Grund hierfür war, dass der kühlende Effekt kalten Tiefseewassers auf das aufgeheizte Oberflächenwasser immer geringer wurde, denn Meeresströmungen sorgten seit Jahrzehnten für eine Durchmischung und daher eine immer weiter ansteigende Erwärmung dieses Kältereservoirs und damit der Ozeane insgesamt.

Die dadurch schrumpfenden Lebensräume hatten die Meeresalgen zu einem zunehmend härteren Konkurrenzkampf gezwungen. Schon seit Jahrzehnten produzierten sie daher immer noch stärkere Gifte, um sich gegenseitig von der Meeresoberfläche zu verdrängen und so die dort vorhandene energiereiche UV-Strahlung für ihren raffinierten Stoffwechsel nutzen zu können. Denn mit diesem konnten sie sowohl diese Gifte als auch spezielle chemische Stoffe produzieren.

Sie benötigten beides in gigantischen Mengen. Letztere gaben sie in winziger Tröpfchenform in die Atmosphäre ab, weshalb man diese als 'Aerosole' bezeichnete, also in der Luft gelöste Schwebeteilchen. An diesen kondensierte der Wasserdampf der Luft, sodass sich Wolken bildeten, was wiederum zur Abkühlung der Meeresoberfläche und damit auch der Algen führte.

Deren Wettstreit untereinander war bis heute jedoch schon so weit eskaliert, dass, wie von den Algorithmen prognostiziert, die erste Art, Oszillatoria, sogar diese lebensnotwendige Eigenschaft aufgegeben hatte, um stattdessen ein noch stärkeres Gift als bisher produzieren zu können. Mit diesem war sie zwar in der Lage, ihre Konkurrenten viel stärker zu verdrängen, allerdings konnte dieser Vorteil nur von kurzer Dauer für sie sein. Längerfristig zerstörte sie dadurch auch ihre eigene Lebensgrundlage, weil sie ja jetzt von der kühlenden Wirkung der Aerosole der anderen Algen abhängig war, die sie jedoch gerade im Begriff war, zu zerstören.

Diese fatale Folge zögerte sich momentan nur deswegen noch hinaus, weil die anderen Arten immer noch ausreichend Aerosole produzierten. Es war jedoch nur noch eine Frage der Zeit, bis diese Arten von den neuen und noch stärkeren Giftstoffen Oszillatorias so weit zurückgedrängt sein würden, dass sie nicht mehr für ausreichende Kühlung sorgen konnten. Oszillatorias Strategie würde also nicht nur alle anderen Algenarten zum Verschwinden bringen, sondern ihr selbst zum Verhängnis werden, da auch sie den steigenden Temperaturen irgendwann nicht mehr standhalten könnte. Weil die Algen die einzigen und letzten Sauerstoffproduzenten waren, wäre damit auch die Lebensgrundlage für die Menschheit vernichtet.

Es ging bei ihrer Forschung daher nicht mehr nur um langfristige Ziele, sondern plötzlich um die wichtigste Aufgabe, der sich die Menschheit je hatte stellen müssen. Das CC-Projekt hatte so absolute Priorität vor allen anderen Forschungsaufgaben bekommen. Nach den neuesten Prognosen der Rechner blieben höchstens noch zwei Jahre, um den drohenden Erstickungstod abzuwenden. Tatsächlich lag die Temperatur an der Meeresoberfläche inzwischen an immer mehr Stellen schon über dem kritischen Wert.

Jia und ihrer Kollegin Gaia war es glücklicherweise schon vor längerem gelungen, die Coccolithophoren genetisch so zu modifizieren, dass diese tatsächlich sehr schnell jede gewünschte Menge Kohlendioxid aus der Atmosphäre entfernen konnten.

Das dabei zugrundeliegende Prinzip war ganz einfach. Der Kohlenstoff stammte ursprünglich aus dem CO2 der Luft, gelangte aber von dort durch natürliche physikalischchemische Prozesse andauernd ins Meerwasser. Dort baute ihn die Alge über den Stoffwechsel in ihren Kalk-Schuppenpanzer ein.

Bei der neu geschaffenen Protoalge war dieser Prozess durch Modifikation des zugrundeliegenden Genabschnitts abgewandelt worden. Anstatt der bisherigen Kalkplättchen entstanden dadurch viel größere Strukturen. Die dabei verbrauchte Menge CO2 konnte man jetzt auch leicht steuern, ebenso die Geschwindigkeit, mit der dieser Prozess ablaufen sollte. Beides konnte problemlos auf das Hundertfache und mehr der bisherigen Werte erhöht werden.

Genau dies war eine der grundlegenden Voraussetzungen, damit das Projekt Erfolg haben konnte. Der Plan war, diese Protoalgen in den Ozeanen auszusetzen, wo sie sich stark vermehren und so die anderen Algen verdrängen sollten. Nach einer gewissen Zeit würden sie auch selbst absterben und auf den Meeresgrund sinken. Damit bei ihrer Zersetzung nicht wieder CO2 freigesetzt würde, wie das bei den bisherigen Algen der Fall war, hatten sie sich schon einen Trick einfallen lassen.

Leider gelang dieser aber bis jetzt nur im Labor, wo sie die hochgiftigen Algen und deren Giftstoffe aus dem Meerwasser entfernen konnten. Unter realen Bedingungen im Ozean starb ihre Alge sofort ab, da sie auf dieser alten, nicht giftresistenten Art basierte.

Auch der gestern gestartete Test war wieder so verlaufen, obwohl sie von den Rechnern den Genabschnitt ihre Versuchsalge, der für die Schutzreaktionen zuständig war, hatten aufwendig neu berechnen lassen.

Der erneute Fehlschlag zeigte klar, dass alle ihre bisherigen Überlegungen und verwendeten Algorithmen einen grundsätzlichen Fehler hatten, was bedeutete, dass sie etwas völlig Neues ausprobieren mussten, um in dieser Frage weiterzukommen. Ihre bisherigen Vorstellungen waren offensichtlich noch viel zu eingeschränkt und sie benötigten dringend ganz neue Ideen. In ihren Diskussionen, wie dies zu erreichen sei, waren sie zu dem Schluss gekommen, dass es nur noch eine einzige Möglichkeit gab, um die nötige Inspiration zu erlangen. Sie mussten sich außerhalb der Labore auf die Suche danach machen, um das Problem der Giftresistenz mit einem ganz anderen Ansatz als bisher lösen zu können.

Um dazu schnell eine Expedition auszurüsten, flogen sie heute zurück nach Byrd Island.

Der Shuttle hielt tief unten im Berg direkt auf Höhe des unterirdisch angelegten Flughafens an. Jia warf ihre langen, fast schwarzen Haare in den Nacken, schnappte sich ihren Backpack und stieg aus. Hier unten war es deutlich kühler als oben. Sie fröstelte, zog den Verschluss ihrer Jacke zu und warf einen Blick auf die Flugdaten, die im unteren Informationsbereich ihrer Eyefoil angezeigt wurden. Sie nickte kurz, als ob sie sich selbst bestätigen wollte, dass alles planmäßig ablaufen würde und sie rechtzeitig vor Ort war. Als frühest mögliche Startzeit wurde immer noch 8:25 Uhr angegeben. Wegen der Stürme konnte es beim Start leicht zu Verspätungen von mehreren Stunden kommen.

Das Ziel des Hypersonics war New Urumqi, die Hauptstadt des Staates Antarktika. Sie lag auf der Erde fast genau gegenüber von ihrem jetzigen Aufenthaltsort Svalbard, knapp 1.400 Kilometer vom Südpol entfernt.

Die Shuttelstation am Hyperport war direkt am Terminal gelegen. Jia ging hinein und weiter zum Gate, das ihr für den heutigen Flug angezeigt wurde. Viele Mitreisende befanden sich schon im Wartebereich und auch Gaia war bereits da. Jia sah sie in ihrer Eyefoil von einer transparenten hellblauen Sphäre umgeben, wie das bei allen Kontaktpersonen und Zielen der Fall war. Ohne diese Markierung wäre Gaia in der Menge der anderen Passagiere kaum aufgefallen, da sie von mittlerer Größe war und wie die meisten dunkelbraune Haaren hatte, die sie wie diese auch nackenlang trug.

Jia steuerte direkt auf sie zu.

Gaia war vorsichtshalber mit einem früheren Shuttle gefahren und kam zudem direkt vom Labor, wo sie bis fast zwei Uhr früh gearbeitet und anschließend übernachtet hatte.

'Hi!', rief Jia gespielt fröhlich, als sie nur noch wenige Meter von Gaia entfernt war und diese auch gerade aufschaute, weil sie soeben in ihrer Eyefoil einen Hinweis bekommen hatte, dass sich Jia näherte.

Obwohl sie beide ihre Eyefoils trugen, sahen Jia und Gaia voneinander jeweils das gesamte Gesicht einschließlich Live-Mimik. Die Eyefoils selbst waren für sie unsichtbar. Das lag daran, dass sie sich gegenseitig für den Privat-Modus autorisiert hatten, in dem die Innenseite der Eyefoils den von ihr verdeckten Teil des Gesichts scannte und diese Bilddaten auf der Außenseite wiedergaben, anstelle der bunt schillernden Oberfläche.

'Auch Hi!'.

Gaia strahlte, obwohl sie vollkommen übermüdet war, und streckte die Hände nach Jia aus. Beide lagen sich für mehrere Sekunden in den Armen. Obwohl sie sich fast täglich im Institut sahen, war ihre gegenseitige Begrüßung heute besonders intensiv.

'Reisefieber?', fragte Jia, und dachte daran, dass sie beide zu vollkommenem Stillschweigen zu der jetzt eingetretenen lebensbedrohenden Situation des Aeorsol-Rückgangs verpflichtet worden waren, um Panik in der Öffentlichkeit zu vermeiden. Nicht einmal die anderen Nature-Scientists hier in Svalbard durften davon erfahren.

'Ja, ich bin wegen des Fluges wie immer total gestresst! Und außerdem todmüde. Kannst Du Dir ja denken!'

Jia schaute sie für einen Moment voller Mitleid an, zog dann die Augenbrauen hoch und fragte mit ihrem unglaublich selbstsicheren Lächeln

'Hast Du sie?'

Auch wenn das momentan ungelöste Problem gerade etwas an ihrer optimistischen Grundhaltung kratzte, so stachelte es gleichzeitig auch Jias Ehrgeiz an. Bisher hatte sie noch jedes Problem gelöst, und das sollte auch so bleiben.

'Du meinst 'sie'?'

Gaia liebte es auf ungenaue Fragen ebenso zu antworten. Natürlich wusste sie, was Jia meinte, und dass sie in dieser bedrohlichen Situation auch nicht mehr sagen durfte. Jia nahm es gelassen, denn natürlich kannte sie die Marotte ihrer Freundin. Sie verdrehte die Augen gespielt hilfesuchend nach oben.

Gaia überlegte kurz.

'Ja klar hab' ich sie!'

Gaia hatte wie vereinbart eine Probe ihrer Algen vom Labor mitgenommen.

'Sie sind schon drin.', erklärte sie, und zeigte an Jia vorbei durch dunkel getönten Scheiben hindurch, die den Wartebereich von der Halle des Hyperports trennte. Dort war in einiger Entfernung der Hypersonic zu erahnen. der sie heute nach Antarktika bringen würde.

'Ich bin schon seit einer Stunde da. Ich wollte sicherstellen, dass der Transport sicher funktioniert.'

'Gut! Dann kann ja nichts mehr schiefgehen.', und fügte nach kurzer Überlegung hinzu: 'Und unsere Jungs können die Synths schon mal anwerfen.'

Damit meinte Jia ihren Lebenspartner Ray Donnellan sowie Mian Sorokin, mit dem Gaia schon lange eine Beziehung hatte. Auch untereinander waren sie alle vier sehr gut miteinander befreundet.

Parallel zur Forschungsarbeit von Jia und Gaia in Svalbard hatten die Ray und Mian im Labor auf Byrd Island die Synthesizer optimiert und diese biotechnischen Maschinen bis an die Grenzen des technisch Machbaren weiterentwickelt. Sie waren damit selbst den aktuellen Svalbard-Geräten deutlich überlegen. Falls ihre Versuche doch noch irgendwann erfolgreich sein würden, könnten sie mit diesen sehr viel schnelleren Maschinen wesentlich größere Mengen an Protoalgen erzeugen, was ein entscheidender Faktor für das Projekt sein würde.

Das Wiedersehen nach acht Wochen Aufenthalt auf Svalbard stellte den einzigen Lichtblick in der momentanen Lage dar.

Während dieser Zeit waren sie nur per Eyefoil, oder etwas realistischer als Hologramm, miteinander in Kontakt geblieben. Beide Arten der Kommunikation waren jedoch steril. Je länger die Trennung voneinander dauerte, desto fremder wurden sie sich, selbst wenn sie sich dreimal oder öfter am Tag sahen und miteinander sprachen. Dieser Avatareffekt war jetzt nach acht Wochen natürlich so stark wie nie zuvor.

Punkt acht Uhr wurde in den Eyefoils die Anzeige zum Boarding eingeblendet. Offenbar hatten sie heute Glück mit den Wetterbedingungen. Die Türen zur Halle hin bewegten sich langsam zur Seite. Sofort drang grelles Licht herein, denn im Gegensatz zum Wartebereich war diese Fläche, auf der sich die Park- und Taxiflächen der verschiedenen Fluggeräte befanden, taghell erleuchtet.

Als Jia und Gaia hinausgingen hatten sie beinahe das Gefühl, ins Freie zu treten, denn die Halle erzeugte durch ihre Größe und die zweihundert Meter hohe, strukturlos weiß verkleidete kuppelförmige Decke einen ähnlichen Eindruck der Weite. Allerdings war ihnen bewusst, dass sie sich hier zweitausend Meter unter dem Svalbarder Gebirgsmassiv befanden. Schon auf der Herfahrt war angezeigt worden, dass der Tunnel auf den letzten fünfzig Kilometern andauernd bergab bis weit unter den Meeresspiegel verlief.

Vor ihnen erstreckte sich jetzt die weite, kreisrunde Fläche des Hyperports. In den Eyefoils erschien sie weiß mit vielen farbigen Linien und Flächen, die Flug- und Rollbahnen sowie Parkflächen markierten.

'Da, schau!' stieß Jia ihre Freundin an und machte eine Kopfbewegung geradeaus.

Genau im Zentrum der weißen Fläche war der Hypersonic gut zu erkennen. Er wirkte schon aus dieser Entfernung mit seiner schwarzblau metallisch glänzenden Außenhaut äußerst elegant. Wie sie beide wussten, handelte es sich um das mit Abstand schnellste Passagierflugzeug, das je gebaut wurde.

Während sie sich der Maschine näherten, schauten sie sich weiter um. Ganz am Rand der riesigen Fläche standen Servicefahrzeuge und verschiedene Kopter. Diese flügellosen, ziemlich kastenförmigen Flugkörper mit abgeflachter, spitzer Nase waren viel eher nach Gaias Geschmack, denn sie flogen meistens nicht sehr hoch und auch fast ohne Erschütterungen. Für die lange Strecke nach Antarktika wurden sie aber nicht eingesetzt, denn gegen die gewaltigen Wirbelstürme über dem Atlantik und Pazifik konnten sie nicht ankommen. Die Hypersonics hingegen flogen in so großen Höhen, dass sie das sich in den Atmosphäreschichten darunter abspielende Wettergeschehen überfliegen konnten.

Die Passagiere wurden durch Barrieren ans hintere Ende der Maschine geleitet. Je näher sie kamen, desto klarer wurden deren gewaltige Dimensionen. Der Rumpf erstreckte sich von der nadelförmigen Bugspitze über eine Länge von einhundertfünfzehn Metern bis zum fast ebenso spitz zulaufenden Heck, das bis weit hinter die Tragflächen mit ihren steil nach oben gebogenen Enden verlief. Die fensterlose Außenhaut wies wegen der sehr hohen Temperaturen, die während des Hyperschallfluges durch Luftreibung auftraten, nicht die geringsten Unebenheiten auf. Auch waren keine Lackierung oder Schriftzüge vorhanden, denn beides wäre während des Fluges einfach weggebrannt. Dies war definitiv der größte und stromlinienförmigste Hypersonic, den sie sich vorstellen konnten. Gaia war sehr gespannt, ob der Flug mit diesem Modell tatsächlich wie angekündigt viel angenehmer sein würde als bisher.

Jia wusste, dass ihre Freundin das Rütteln und Tosen hasste, das vor allem in der Start- und Landephase auftrat und sie dabei jedesmal Todesangst hatte. Auch sie selbst bekam dabei gelegentlich ein mulmiges Gefühl, war aber sonst von diesen Flügen fasziniert, mit denen sie diese riesige Distanz zwischen den Polregionen in wenigen Stunden zurücklegten.

'Hey, schau mal, ganz vorne! Die neuen Hyperwinglets. Das wird Dir gefallen!'

Aus der Spitze ragten vier ganz kleine Flügel diagonal heraus, was von vorne betrachtet wie ein 'x' aussah. Sie dienten zu feinsten Richtungskorrekturen und dem Ausgleich von Turbulenzen bis in den Hyperschallbereich. Angeblich wurde der Flug dadurch sehr viel angenehmer.

'Bin mal gespannt!', antwortete Gaia. 'Ich finde, es ist auch wirklich Zeit, dass es hier endlich einmal Fortschritte gibt.', und stellte überrascht fest, dass sie es diesmal viel gelassener nahm. Bis jetzt hatte sie sich keine Gedanken dazu gemacht, aber die Angst vor dem Flug erschien ihr heute angesichts der aktuellen Probleme viel geringer.

Der einzige Zugang ins Innere der Maschine befand sich aus Gründen der Aerodynamik und der hohen Temperaturen, die während des Fluges auftraten, ganz hinten im schon spitz zulaufenden Teil des Rumpfes, direkt unterhalb des Seitenleitwerks. Beim Blick nach oben wurden in ihren Eyefoils die Zahlen eingeblendet, welche die enormen Dimensionen veranschaulichten. Die Maschine war doppelt so hoch wie jene, mit denen sie bisher geflogen waren. Das Leitwerk direkt über ihnen reichte fünfzehn Meter in die Höhe. Auch alles andere an der Maschine besaß die doppelten Ausmaße. Der Kabinenabschnitt war fast über die gesamte Länge knapp zehn Meter breit, der Rumpf zu beiden Seiten stark abgeflacht. Er wurde dabei von der Nase bis hier zum hinteren Ende immer breiter und ging ganz flach in die deltaförmigen Tragflächen über. Zusammen mit den vier gewaltigen Triebwerken, die in deren Unterseite integriert waren, und der geringen Spannweite von nur fünfunddreißig Metern ließ das pfeilförmige Design der Maschine schon erahnen, dass sie tatsächlich eine Spitzengeschwindigkeit von acht Mach erreichen konnte, also achtfache Schallgeschwindigkeit.

Jia und Gaia betraten den Mover, der sie zusammen mit den anderen Passagieren hinauf in den Zugangsbereich in der oberen Hälfte des Hypersonics brachte. Im gesamten unteren Teil befanden sich neben dem Gepäckraum nur noch die riesigen Wasser- und Sauerstofftanks.

Der Zugangsbereich war abgesehen von den größeren Dimensionen genauso wie sie es gewohnt waren. Von dort aus ging es sowohl weiter nach vorne in die Passagierkabine, als auch nach hinten ins Cockpit, das sich wie bei allen Hypersonic-Modellen ganz am Ende des Rumpfes befand.

Die Cockpitbesatzung bestand aus zwei humanoiden Bots sowie zwei menschlichen Piloten. Sie waren nur aus psychologischen Gründen an Bord, denn eine manuelle Steuerung der Maschine war nicht möglich. Während des gesamten Fluges würden sie nur die Flugdaten beobachten. Selbst bei einem Notfall würden die Hypersonics vollkommen selbstständig agieren. In den vierzig Jahren war es jedoch noch nie zu Problemen oder gar Unfällen mit Hyperschallflugzeugen gekommen.

Die vier standen jetzt am Kabineneingang und begrüßten die Passagiere.

Gaia und Jia nahmen auf ihren Sitzen in der zehnten Reihe links Platz. Da sie schon vor drei Tagen gebucht hatten, saßen sie direkt nebeneinander.

Aus technischen Gründen waren in diesem neuen Modell alle Sitze und Reihen im Abstand von einem Meter neben- als auch hintereinander angeordnet. Die riesige Kabine bot daher nur einhundertundzwanzig Passagieren auf dreißig Reihen zu je vier Sitzen Platz. Der freie Raum dazwischen war notwendig, um die Sitze für den Landeanflug entgegen der Flugrichtung drehen zu können, ohne dass sich die Passagiere dabei erheben mussten. Mit dieser neuen Technik wurden die physischen Belastungen durch die enormen Bremskräfte so klein wie möglich gehalten.

'Hey, nicht schlecht! Da haben sie ja ganz schön viel Luxus spendiert!', fand Jia, als sie sich umschaute.

Die Inneneinrichtung der Kabine war hochwertig in beige und hellgrau gehalten. Die Sitze bestanden aus Xitrea, einem intelligenten Material, dessen Eigenschaften an die persönlichen Vorlieben angepasst werden konnten, sodass es sich wie Leder oder beliebige Gewebearten wie Seide oder synthetische Materialen anfühlte, theoretisch sogar wie Metall, Stein oder Holz. Ebenso war die Form der Oberfläche sowie die Kontur des gesamten Sitzes veränderbar.

Gaia nickte. 'Ja, absolut! Schau mal! Der Service scheint auch gut zu sein.' Ihr waren gerade die sechs humanoiden Servicebots aufgefallen, die vor dem Start noch in den Kabinengängen geparkt gewesen waren, drei davon am vorderen Ende der Kabine, drei bei ihnen im mittleren Teil.

Jia und Gaia checkten die für ihre Eyefoils angebotenen Ansichten, über die der Blick nach draußen möglich war und entschieden sich spontan für die Normalansicht, die virtuelle Kabinenfenster zeigen würde, wenn sie sich in der Luft befanden. Momentan stand noch keine direkte Sicht nach draußen zur Verfügung.

Schon nach wenigen Minuten fing der Hypersonic an, zu seiner Startposition zu rollen. Im Inneren der Kabine war von der Bewegung nichts zu spüren. Sie war dort nur an den Bewegungsdaten zu erkennen, die in die Eyefoils eingeblendet wurde. Eine Animation mit nur skizzenhafter Realität zeigte den Hypersonic in langsamer Fahrt auf einer durch grüne Linien markierten Rollbahn, die von der Hallenmitte geradewegs zum Rand führte, vorbei an einigen Technik- und Servicebots, die überall auf der Hyperportfläche beschäftigt waren.

'Wow, das fängt schon mal gut an!' staunte Gaia über die vollkommen vibrationsfreie Fahrt.

'Es ist überhaupt nichts zu spüren.'

Tatsächlich war das einzige Geräusch nach wie vor nur das ganz leise Säuseln der Klimaanlage. Gespannt verfolgten Jia und Gaia, wie sich der Hypersonic geräuschlos dem Starttunnel näherte, der speziell für Maschinen dieses Typs neu im Felsmassiv angelegt worden war. Die beiden Hälften des riesigen Tunneltors bewegten sich soeben schon nach links und rechts an der Kuppelwand entlang und gaben den Weg frei auf die schwarze, ellipsenförmige Öffnung des Tunnels dahinter. Der Hypersonic wartete noch einige Sekunden auf die Freigabe, dann fuhr er langsam hinein.

Kaum hatte sich das Tor hinter ihm wieder geschlossen, zündeten die vier Triebwerke. Deren Aufbrüllen war von den Passagieren nur als leises Zischen zu hören und nicht zu vergleichen mit den bisherigen Modellen. In der Halle bebte jedoch die Luft wegen der Luftauslässe des Tunnels in der Hallenwand mit einer solchen Stärke, dass sich während des Startvorgangs eines Hypersonics darin nur Bots, jedoch keine Menschen aufhalten durften.

Die Maschine beschleunigte stark und schoss den steilen Tunnel hinauf, der zum Plateau des Tafelbergs führte. Hier im Schutz des Berges konnte sie die für eine stabile Fluglage notwendige Startgeschwindigkeit aufnehmen. Damit war sie gegen die häufig in der unteren Atmosphäre tobenden Stürme gewappnet. Dennoch waren bei den bisherigen Flügen die ersten dreißig Sekunden nach Verlassen des Tunnels fast jedesmal ziemlich turbulent gewesen.

Nach wenigen hundert Metern begann der Hypersonic bereits vom Boden des spiegelblanken Tunnelinneren abzuheben und zu schweben. Eine knappe Minute später und einer Strecke von siebentausend Metern hatten sie den oberen Tunnelausgang erreicht. Jetzt schaltete sich die virtuelle Live-Ansicht des Hypersonics ein und streamte die Bilddaten der Inselumgebung auf die Eyefoils der Passagiere.

Erst hier draußen wurde Jia und Gaia wieder bewusst, dass es immer noch Nacht war. Die riesigen, vierhundert Meter hohen Seitenwände zu beiden Seiten der Abflugschneise ragten in fahlem gelblichen Licht steil in den dunklen Himmel.

Die Konstruktion bestand aus 'C-rox', dem härtesten und gleichzeitig leichtesten Baumaterial und schützte die Hypersonics etwas vor den Stürmen direkt nach Verlassen des Starttunnels. Der innere Bereich, durch den die Hypersonics starteten, wurde wegen seiner V-Form auch Valley genannt. Die Flanken des Außenbereichs verliefen sehr viel flacher, um den Windkräften dort so wenig Angriffsfläche wie möglich zu bieten.

Die ständig tobenden Stürme waren eine Folge der extremen Temperaturunterschiede, die es heute zwischen der glühend heißen Tagseite der Erde und der kühleren Nachtseite gab. Dort kühlten die Landmassen auf unter vierzig Grad Celsius ab, während sie sich auf der Tagseite auf über einhundert Grad Celsius erhitzten. Die heiße Luft stieg dort sehr schnell nach oben und sog die kühlere Luft der Nachtseite mit brachialer Gewalt an. In den mittleren Breiten der Erde und am Äquator trat dieser Effekt besonders stark auf, aber auch zu den Polregionen hin, wenn dort in der Zeit des Polarwinters die Temperaturen sanken.

Lokale thermische Effekte über den kahlen, erodierten Kontinenten und die riesigen Wasserdampfmengen, die aufgrund der hohen Temperaturen in der Atmosphäre enthalten waren, taten ihr übriges und erzeugten Gewitter mit Hagel und Böen der Megaklasse.

Nachdem sie den Schutzbereich hinter sich gelassen hatten, wurde der Hypersonic tatsächlich auch von einigen starken Böen und Scherwinden erfasst. Allerdings war dies heute nur an der Anzeige der Wetterbedingungen in ihren Eyefoils zu erkennen. In der Kabine gab es auch jetzt keinerlei Erschütterungen oder Vibrationen.

Jia sah, dass Gaia plötzlich entspannt lächelte.

'Viel besser!', freute sie sich.

In diesem Moment färbte sich die Schubanzeige in den eingeblendeten Flugdaten von grün auf orange und die Triebwerke fuhren innerhalb weniger Sekunden auf volle Leistung hoch. Der brachiale Schub drückte die Passagiere so sehr in die Sitze, dass schon kleinere Bewegungen äußerst anstrengend und nur mit hoher Konzentration möglich gewesen wären. Jia und Gaia ließen diese Phase jedoch wie alle anderen Passagiere fast regungslos über sich ergehen.

'Ich werde versuchen, ein bißchen Schlaf nachzuholen', erklärte Gaia, und rutschte schon etwas tiefer in ihren Sitz.

'Ja, das Beste, was Du machen kannst!' stimmte Jia zu.

Gaia schaltete ihre Eyefoil aus, sodass die Innenseite vollkommen schwarz wurde, und schloss die Augen.

Die Maschine drehte jetzt schon leicht nach Südwesten ab, um auf der vorgesehenen Flugroute entlang des zehnten östlichen Längengrads nach Süden zu fliegen. Wenige Sekunden später befanden sie sich schon über dem offenen Meer. Als sie nach knapp eineinhalb Minuten zwanzig Kilometer Höhe erreicht hatten, ließen der Schub und der Druck in die Rückenlehne etwas nach.

Die völlige Dunkelheit um sie herum verlor sich innerhalb weniger Minuten. Die anfangs bunten Polarlichter verblassten langsam am nördlichen Horizont hinter ihnen und verschwanden schließlich ganz.

Jia checkte die angebotenen Außenansichten und entschied sich für die Bird's Eye View, eine Einstellung, die den gesamten Hypersonic samt Passagieren ausblendete, ebenso alle Geräusche. Sie zuckte kurz zusammen, als sie diese Option anklickte, denn sie konnte sich nicht einmal mehr selbst sehen und schien nun völlig allein und körperlos durch den Himmel zu rasen.

Ihr Blick fiel als erstes auf die weit unter ihr dahinziehende dunkle Meeresoberfläche und die verschiedenen Wolkenstrukturen. Diese Ansicht wurde direkt von den Rechnern anhand von Satellitenaufnahmen und der aktuellen Flugposition erzeugt, da die Hypersonics wegen der Reibungshitze nicht einmal Außenkameras besaßen.