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Ein Sommer in Italien. Ein altes Ferienhaus. Und eine Begegnung, die alles verändert. Lena reist mit ihrer Familie in ein kleines Dorf am See, um Abstand vom Alltag zu gewinnen. Doch als sie dort auf Milo trifft - einen Mann aus ihrer Vergangenheit - beginnt etwas in ihr zu erwachen, das sie längst vergessen glaubte. Zwischen Lavendelduft, Kinderlachen und stillen Blicken entfaltet sich eine Geschichte voller Nähe, Zweifel und Erinnerungen. Als eine Tragödie alles erschüttert, wird klar: Manche Menschen treten nicht zufällig in unser Leben. Und manche Sommer bleiben für immer. Ein Roman über das, was bleibt, wenn das Leben sich weiterdreht
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Seitenzahl: 164
Veröffentlichungsjahr: 2025
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INHALTSVERZEICHNIS:
Vorwort
Seite: 2 - 2
Prolog – Eine Stimme aus der Erinnerung
Seite: 3 - 3
Kapitel 1 – Der Zitronensommer
Seite: 4 - 11
Kapitel 2 – Ein Wiedersehen mit Folgen
Seite: 12 - 18
Kapitel 3 – Zwischen den Zeilen
Seite: 19 - 26
Kapitel 4 – Der Junge, der im See verschwandSeite: 27 - 33
Kapitel 5 – Ein neuer Anfang
Seite: 34 - 46
Kapitel 6 – Heimliche Vorbereitung
Seite: 47 – 51
Kapitel 7 – Der Duft von Lavendel
Seite:52 - 58
Kapitel 8 – Zwischen Familienurlaub und HerzklopfenSeite: 59 - 65
Kapitel 9 – Fragmente einer Liebe
Seite: 66 -73
Kapitel 10 – Die Ruhe vor dem Sturm
Seite: 74 - 89
Epilog – Ein Jahr später
Seite: 90 - 90
Du hast das Buch aufgeschlagen — also bist du hier. Vielleicht aus Neugier. Vielleicht einfach nur so. Und das reicht mir schon.
Was du gleich lesen wirst, ist eine Geschichte, die erfunden ist. Aber sie hat ihre eigene Wahrheit, zwischen den Sätzen, unter dem, was nicht ausgesprochen wird. Ich erzähle hier nicht von perfekten Menschen. Im Gegenteil. Es geht um Zweifel, Nähe, Umwege. Um diesen Moment, wenn aus einem Sommertag etwas wird, das man nicht mehr ganz loswird. Ich hab lange gebraucht, um das alles aufzuschreiben. Nicht, weil es schwierig war — sondern weil es mir wichtig ist. Wenn du weiterliest, dann nimm dir Zeit. Atme zwischendurch. Und wenn du kurz innehältst und denkst: Genau so fühlt sich das an.
Dann war das hier nicht umsonst.
Danke, dass du da bist.
Ich wünsch dir eine gute Reise durch diese Seiten. John M. Winter
EinE StimmE auS dEr ErinnErung
„Manchmal genügt ein einziger Moment, um ein Leben zu verändern. Man erkennt ihn oft erst, wenn er längst vergangen ist – wie der Abdruck einer warmen Hand auf kaltem Glas.
Diese Geschichte beginnt nicht an einem bestimmten Ort. Sie beginnt überall dort, wo das Herz sich fragt: 'Was wäre gewesen, wenn?' Dann, wenn sie mitten in der Nacht aufwachen und spüren, dass irgendwo in ihnen noch eine Tür offen steht.
Es ist die Geschichte zweier Menschen,
die sich begegneten, bevor sie den Mut dazu hatten. Die sich vermissten, bevor sie sich ganz verstanden. Es geht um eine Liebe, die leise blieb – und dennoch unvergessen. Um Sätze, die zu spät kamen. Und um Blicke, die mehr sagten als jedes gesprochene Wort.
Man sagt, man könne die Zeit nicht zurückholen. Aber vielleicht kann man ihr zuhören.
Und wenn man still genug ist – ganz still –
dann spricht sie vielleicht zurück.
Dies ist eine solche Geschichte.“
dEr ZitronEnSommEr
Italien, Castelverde 13.Juli 1998
Der See lag still unter dem Abendhimmel, als hätte jemand ihn vergessen. Zypressen zeichneten dunkle Silhouetten in die flirrende Wärme, und das Licht der untergehenden Sonne warf goldene Muster auf das Kopfsteinpflaster. Es war ein Sommer wie ein Lied ohne Refrain – man kannte die Melodie nicht, aber irgendwie fühlte sie sich vertraut an. Der Wind roch nach heißen Steinen, Lavendel und Zitronenschale und sie – nach Sonnencreme . Lena ließ ihre Sandalen an der Tür stehen und betrat barfuß den kleinen Garten hinter dem Haus ihrer Nonna. Die Erde war warm, der Lavendel duftete süß und scharf. Sie konnte kaum glauben, dass sie wirklich hier war – drei Wochen Italien, weg von der stickigen Wohnung in Bonn, weg von Schulstress und allem, was sich anfühlte wie zu viel für ihre sechzehn Jahre. Ihre Haut war leicht gebräunt von der Julisonne, über Nase und Wangen verstreut ein paar winzige Sommersprossen. Ihr schulterlanges, dunkelbraunes Haar war vom Wind zerzaust; einzelne Strähnen hatten sich gelöst, tänzelten über ihr Schlüsselbein und blieben dort wie Gedanken, die nicht eingefangen werden wollten. Und dann waren da ihre Augen, Haselnussfarben mit einem ganz feinen grünen Rand um die Iris – ein Blick, der zugleich beobachtete und hinterfragte. Sie blinzelte oft in die Sonne, kniff ein Auge zu, als würde sie das Licht messen. Die warme Erde klebte an ihren nackten Füßen, während sie durch das trockene Gras ging. Der Duft von Rosmarin und Zitronenblättern lag in der Luft, schwer wie ein Erinnerungsfoto. In der Ferne brummte eine Vespa. Alles vibrierte leicht, wie die Luft kurz vor einem Sommergewitter – oder einem Abenteuer. Sie war sechzehn, offiziell zu cool für Tagebücher, aber heimlich schrieb sie trotzdem, in einem Notizbuch mit Sonnenblumen drauf. Der erste Satz heute:
„Vielleicht verliebt man sich nicht in Menschen, sondern in Augenblicke, die man nicht fassen kann.“
Sie fand, das klang halb poetisch, halb peinlich. Also genau richtig für sie. Ihre Gedanken wurden abrupt unterbrochen, als sie Geräusche vernahm. Kies, der unter Turnschuhsohlen knackte, ein leises Pfeifen zu einer Melodie – unbestimmt, aber vertraut. Und plötzlich war er da! Ein Junge, lehnte sich über den alten Gartenzaun, die Arme locker aufgelegt, das Kinn auf dem Handgelenk, die zerzausten Locken wie ein Haufen Wellen, der sich gegen die Mittagssonne stemmte. Sein Fahrrad lag achtlos auf der Schotterauffahrt hinter ihm, schief, ein Pedal drehte sich noch träge im Wind.
„Hey“, sagte er und grinste. „Du bist neu. Oder ich hab dich die letzten fünf Sommer übersehen.“
Lena stand unter dem Feigenbaum, barfuß, mit einem Aprikosenkern in der Hand, den sie in der Sonne drehte. Sie blinzelte, ließ den Blick langsam von seinem Gesicht zu seinem Fahrrad und wieder zurück wandern.
„Vielleicht hast du einfach nur schlechte Augen.“
Milo zog gespielt die Brauen hoch, so theatralisch, dass seine Locken zitterten.
„Oder einen schlechten Orientierungssinn.“
Er zuckte mit den Schultern. „Aber mein Fahrrad findet den Weg hierher. Heißt das was?“
Lena zog die Mundwinkel hoch, nicht zu einem Lächeln, eher zu einem anerkennenden Schmollen. „Kommt drauf an. Wenn es schlauer ist als du, vielleicht.“
Milo lachte laut auf, nicht gezwungen, nicht zurückhaltend – es kam so überraschend aus ihm heraus, dass sogar der Feigenbaum über ihnen kurz zu erschrecken schien. Seine Schultern hoben sich, der Kopf fiel leicht zurück, und aus seiner Kehle kam ein Ton, der eindeutig sagte: Das war wirklich witzig. Dann, plötzlich etwas ernster, aber nicht weniger neugierig: „Ich bin übrigens Milo.“ Er sagte es, als würde er sich nicht vorstellen, sondern anbieten, entdeckt zu werden.
„Lena“, antwortete sie. „Nur Lena.“ Dann, nach einem winzigen Zögern: „Ich bin für den Sommer bei meiner Nonna.“
Milo nickte, als wäre das eine akzeptable Art, neu zu sein. Ein paar Sekunden lang sagte keiner etwas. Nur das Summen einer Biene, die kurz über dem Lavendel schwebte, bevor sie weiterzog. Ein paar Minuten später saßen sie auf der alten Mauer, die den Garten vom See trennte. Der Kalk war über die Jahre verwittert, an manchen Stellen von Moos überzogen, in anderen rissig und spröde, als hätte der Stein zu viel Sonne geschluckt. Die Mauer war nur etwa kniehoch, aber breit genug, um darauf zu sitzen – warm vom Tageslicht, das in goldenen Winkeln durch die Olivenzweige fiel. Zwischen den Fugen wuchsen Kräuter: Thymian, wilder Oregano, ein bisschen Minze, die ihr scharfes Aroma abgab, wenn man sie versehentlich mit der Ferse streifte. Vor ihnen fiel das Gelände sanft zum See hinab. Das Ufer war bewachsen, nicht gepflegt, mit hohen Gräsern, Schilf und einem schmalen Pfad, den man nur erkannte, wenn man wusste, wo er war. Zwischen den Halmen glitzerte das Wasser, ruhig, ein wenig grün, ein wenig golden, je nach Stand der Sonne. Milo saß auf dem Mauerabsatz, die Beine baumelnd, die Ellbogen lässig auf den Knien abgestützt. In der Hand drehte er einen Grashalm, den er vorher aus dem Boden gezogen hatte, langsam zwischen den Fingern. Lena neben ihm hatte die Augen halb geschlossen, das Kinn auf die Schulter gestützt, als würde sie der Welt für einen Moment beim Atmen zuhören. Dann, ganz ohne Vorwarnung, drehte sich Milo zu ihr. Sein Blick war halb schelmisch, halb ernsthaft interessiert.
„Okay. Entscheidende Frage.“
Lena öffnete langsam ein Auge. „Oh-oh.“
Er grinste. „Zitroneneis oder Schokoladeneis?“
Sie richtete sich ein Stück auf. „Was?“
„Das ist wichtiger, als du denkst.“
Lena schnaubte leise. „Du willst mich auf Eisbasis psychoanalysieren?“
„So in etwa.“ Er warf den Grashalm weg, schnippte ihn wie eine Münze über den Boden. „Zitronenmenschen vertrauen instinktiv. Die nehmen das Leben, wie’s kommt. Schokomenschen...“ – er beugte sich leicht zu ihr – „...sind gefährlich. Süß, aber gefährlich.“
Lena lachte leise. „Und Vanille?“
Milo tat so, als würde er in den Himmel schauen, dann wieder zu ihr. „Die große diplomatische Mitte. Friedensstifterin der Eisdielenwelt.“
Sie schüttelte den Kopf, aber sie grinste. „Dann bin ich wohl Vanille mit einem Spritzer Zitrone.“
„Würde ich nehmen“, sagte er. Sein Blick ruhte einen Moment länger auf ihr, als es nötig war. Nicht aufdringlich. Nur... aufmerksam. Ein paar Sekunden schwiegen sie. Der See glitzerte durch das hohe Gras. Eine Biene flog kurz über ihre Köpfe hinweg.
Dann Lena: „Und du? Was bist du?“
„Ich nehm immer zwei Kugeln“, meinte Milo, ohne zu zögern. „Schoko zuerst. Für die Hoffnung. Zitrone danach. Für den Ausgleich.“ Er grinste. „Balance ist alles.“
Lena nickte langsam. Dann lehnte sie sich wieder zurück, ließ die Füße leicht gegen den Stein schlagen. „Vielleicht bist du nur jemand, der einfach nicht gern verzichtet.“
„Oder jemand, der weiß, dass er immer beides will. Auch wenn’s tropft.“
Und da war wieder dieses Lachen — langsam, leicht, aber ganz. Wie etwas, das in der Sonne schmilzt und genau deshalb süß schmeckt. Die Sonne war längst untergegangen, nur ein letzter Streifen rötliches Licht hing noch zwischen den Baumwipfeln am gegenüberliegenden Ufer. Die Konturen des Gartens waren weicher geworden, von tiefem Blau und warmem Grau umhüllt. Grillen zirpten im Halbschatten, und aus dem Haus drang das gedämpfte Klirren von Geschirr – Nonna, wahrscheinlich. Milo stand auf, strich sich über die Knie, als hätte das Sitzen auf der alten Mauer ihn müde gemacht, obwohl er sich sichtlich noch nicht lösen wollte. Lena sah ihn an, die Ellbogen auf ihren Oberschenkeln abgestützt, ihr Blick halb in der Dämmerung, halb bei ihm.
„Also gut“, murmelte er, ohne dabei wirklich Nachdruck in der Stimme zu haben.
Er ging ein paar Schritte rückwärts, sein Fahrrad stand da, wo er es vor kurzem hatte fallen lassen – schief, geduldig. Er hob es mit einer beiläufigen Bewegung auf, trat dann wieder näher an den Zaun, die Reifen quietschten leise im Staub. Lena sagte nichts. Aber ihr Blick war hell, trotz der Dämmerung. Offen, abwartend. Milo hielt inne, eine Hand auf dem Lenker, die andere locker an der Bremse, dann sah er sie direkt an — nicht herausfordernd, sondern so, wie man jemanden ansieht, wenn man hofft, dass er sich morgen erinnert, was heute nicht gesagt wurde.
„Wenn du dich traust…“, sagte er, mit einem schiefen Lächeln. „Komm morgen an den See.“
Lena neigte den Kopf leicht, als würde sie überlegen, ob der Satz ein Witz war oder ein Versprechen. Doch da schwang Milo sich schon auf sein Fahrrad. Ein runder, fließender Bewegungsablauf, als hätte er das an genau diesem Ort schon oft geübt. Die Pedalen knackten, das Lichtspiel der Speichen fing kurz das letzte Rot des Himmels.
„Milo?“, rief Lena noch, halb ernst, halb grinsend. „Und wenn ich nicht komme?“
Er sah kurz über die Schulter zurück, während er anfuhr — langsam, mit einem leichten Schlenker, wie ein Junge, der wusste, dass ein sauberer Abgang Eindruck hinterlässt.
„Dann weiß ich, dass du Schokoeis magst.“ Und dann war er weg.
Sein Lachen hallte noch ganz schwach über den Staubweg, während das Summen der Reifen zwischen Gräsern verschwand – bis auch das nur noch ein Geräusch war, das der Abend für sich behielt. Am nächsten Tag, es war kurz vor Mittag, saß Lena am Küchentisch und starrte auf eine halbierte Zitrone, die wie ein kleines Sonnenrad im Kerzenlicht glänzte. Die Küche war warm – nicht von der Luft, sondern von Leben. Ein Topf blubberte leise auf dem Herd, es roch nach geschmolzenen Zwiebeln, Knoblauch und Basilikum. Nonna Maria kochte, wie sie alles tat – mit Hingabe, ohne Rezept, aber mit einer Prise Magie, die man weder kaufen noch lernen konnte.
„Was hast du gestern gemacht, ragazza mia?“ fragte sie und rührte mit einer holzgebeizten Kelle in der dampfenden Soße.
„Gelesen. Im Garten gesessen. Nachgedacht.“ Lena hat Milo nicht verschwiegen. Sie hat ihn bewahrt. Wie man etwas Leuchtendes nicht sofort der Sonne zeigt, sondern es erst im Dunkeln wirken lässt.
Nonna nickte, als hätte sie genau das erwartet. Dann stellte sie den Kochlöffel ab, nahm sich eine Tomate vom Fensterbrett und drehte sie in der Hand.
„Weißt du, was das Wichtigste ist, Lena? Nicht, wie laut das Leben ist, sondern ob du das Flüstern darin hörst.“
„Welches Flüstern?“
„Das, das dir sagt, wer du wirklich bist. Und was du brauchst. Manchmal ist es leise wie der Wind in Zitronenbäumen. Oder wie ein Gedanke, kurz bevor du einschläfst. Hör gut zu.“
Lena lächelte unsicher. Ihre Nonna sprach oft in solchen seltsamen Bildern – wie jemand, der das Leben schon hundertmal gesehen hat und keine Lust mehr auf klare Ansagen hatte.
„Ich weiß noch nicht, wer ich bin“, murmelte Lena.
Nonna zog die Schultern hoch. „Dann bist du auf dem besten Weg.“ Sie zwinkerte ihr zu, dann hob sie eine frische Basilikumhand voll zum Gesicht, atmete tief ein und sagte: „Und wenn du dich irgendwann verliebst – achte darauf, ob du bei ihm still wirst. Nicht vor Unsicherheit, sondern weil du nichts sagen musst, um dich verstanden zu fühlen.“
Nonna Maria reichte Lena ein Glas mit selbstgemachter Limonata. „Deine Mutter hat angerufen“, sagte sie beiläufig.
Lena senkte den Blick. „Wie geht’s ihr?“
„Wie immer. Viele To-Do-Listen, wenig Schlaf. Und sie hat vergessen, dass du keinen Dill magst.“ Sie lächelten beide schwach. Dann schwieg Lena wieder.
„Und dein Vater?“ fragte Nonna nach einer Weile.
Lena zuckte mit den Schultern. „Irgendwo in Südafrika. Dreht wieder irgendeine Doku über Vögel oder Wüsten. Ich hab die Länder vergessen. Die Anrufe auch.“
Nonna sah sie liebevoll an, aber sagte nichts.
Dann flüsterte Lena, fast unhörbar: „Manchmal frage ich mich, ob ich irgendwo dazugehöre, oder ob ich immer nur kurz irgendwo abgestellt werde.“
Nonna legte ihre runzelige Hand auf Lenas. „Du bist kein Koffer, Schatz. Du bist eine Geschichte. Du musst sie nur selbst weiterschreiben.“
Nonna wischte sich die Hände an der karierten Schürze ab und drehte sich um. Ihr Blick ruhte einen Moment auf dem Mädchen, länger, als es nötig gewesen wäre. Dann wandte sie sich wieder dem Herd zu, hob den Deckel vom Topf, ließ die Sauce kurz aufschäumen. Sie spürte es. Dieses feine Zittern unter Lenas Schweigen. Nicht Wut. Auch kein Trotz. Nur eine dünne Haut aus Traurigkeit, die sich leise über das Gespräch gelegt hatte. Da wechselte sie das Thema. Präzise, aber sanft – wie man mit einem Löffel das Eigelb trennt, ohne es zu verletzen.
„Gestern...“, sagte sie, während sie mit einem langen Holzlöffel umrührte, „hab ich euch im Garten gesehen. Dich und den Jungen vom Nachbargarten.“
Lena hob den Kopf, erst skeptisch, dann halb neugierig. „Milo, heißt er, nicht?“
Nonna nickte leicht, fast feierlich, während sie abschmeckte. „Ich hab ihn oft bei seinem Großvater gesehen, als er kleiner war. Immer mit schmutzigen Knien und einem Taschenmesser in der Hosentasche.“
Lena sagte nichts, aber ihre Lippen zuckten, als müsste sie ein Lächeln unterdrücken.
Nonna stellte den Löffel ab, holte zwei Teller aus dem offenen Regal. „Er ist ein netter Junge. Hat dich so angeschaut, als hätte er etwas Wichtiges gesehen.“
Lena sah zu ihr, rasch, dann wieder weg. Ein leichtes Rot färbte ihre Wangen, aber sie schüttelte den Kopf. „Er hat nur gefragt, ob ich Schoko- oder Zitroneneis mag“, murmelte sie. #
„Und?“, fragte Nonna, ohne aufzublicken. Sie stellte die Teller auf den Tisch, langsam, fast pathetisch.
„Ich hab Vanille gesagt.“
„Ha!“, rief Nonna, „Natürlich. Deine Mutter war auch so. Immer in der Mitte, aber mit einem Klecks Marmelade oben drauf.“
Lena lachte leise, es war das erste echte Geräusch von ihr seit Minuten. Und mehr brauchte es nicht. In den folgenden drei Wochen waren Milo und Lena beinahe täglich zusammen. Sie trafen sich morgens am Zaun, barfuß und mit müden Augen, und endeten oft am See – schwimmend, lesend, lachend. Sie sammelten Kieselsteine in alten Marmeladengläsern, erfanden absurde Wettbewerbe wie „Wer länger den Atem anhalten kann“ oder „Was klingt am traurigsten: Regen auf Blech oder ein leerer Eisbecher“. Nachmittags lagen sie in der Hängematte von Nonna Maria, hörten Lieder über Kopfhörer, die sie sich teilten, oder schrieben kleine Zettel, die sie unter Steine klemmten. Abends halfen sie beim Tomatenschneiden, während Nonna laut italienische Schlager im Radio mitsang, und manchmal verschwanden sie noch einmal hinaus – in den Garten, wo die Welt still war und das Gras unter den Füßen warm. Sie sprachen über alles. Und über nichts. Und was sie dabei taten, war: sich kennenlernen, ohne es zu müssen.
Ein WiEdErSEhEn mit FolgEn
Köln, Sommer, 14.Juni 2025
Ein feiner Dunst lag über der Stadt, als hätte der Tag ihn nur zögerlich aus der Hitze entlassen. Der Rhein roch nach warmem Wasser und gesammelter Zeit. Es war Samstag kurz nach sechs, die Sonne stand tief und warf goldene Spuren auf die hellen Hausfassaden der Altstadt. Fußgänger zogen träge vorbei, die Geräusche waren gedämpft, aber lebendig: das Klirren von Besteck auf Porzellan, der Schlag einer Tür, das Lachen von Kellnern aus einer Gasse. Lena stand auf dem Bürgersteig vor einem kleinen italienischen Restaurant in der Südstadt, halb verborgen unter einer Markise, die bereits Schatten spendete. Der Schriftzug an der Tür war in verblassten Lettern gemalt, das Holz vom Rahmen leicht abgesplittert, aber voller Charme. In den Fenstern spiegelte sich der Abendhimmel, in warmen Blau- und Kupfertönen. Sie hatte ihre Arme verschränkt – nicht aus Abwehr, sondern aus einem Bedürfnis heraus, sich irgendwo festzuhalten, während Erinnerungen langsam zu Boden rieselten. Ihr Blick wanderte über die Gäste im Innenraum, dann wieder hinaus auf die Straße, als würde sie abwägen, ob sie nun hineingehen oder schon wieder gehen soll. Lena war 43 Jahre alt. Und wunderschön. Nicht laut. Nicht auffällig. Ihre Haare waren etwas dunkler als früher, leicht gewellt, locker hochgesteckt, ein paar Strähnen hatten sich gelöst und glitten ihr über die Wangen. Sie trug ein helles Leinenkleid, knöchellang, leicht tailliert – schlicht, aber wie für diesen Moment gemacht. An ihrem Handgelenk hing ein schmaler Armreif, kaum sichtbar, aber wenn das Licht ihn traf, funkelte er wie eine Erinnerung. Sie trug flache, lederne Sandalen. Kein Make-up, außer vielleicht ein Hauch Mascara. Ihre Haut war sonnengeküsst, mit feinen Linien um die Augen, die mehr von echtem Lachen erzählten als jedes alte Klassenfoto. Es war nicht nur ihr Äußeres. Es war die Art, wie sie dastand. Eine Ruhe, die nicht von Müdigkeit kam, sondern von jemandem, der gelernt hatte, mit leeren Räumen zu leben, ohne sie füllen zu müssen. Ihre Schönheit lag im Blick: offen, wach, wachsam. Ein bisschen melancholisch. Aber auch: bereit. Vor dem Restaurant flackerte eine Lichterkette über den Tischen auf dem Gehweg, durch ein offenes Fenster klang Jazz. Lena zog ihr Handy aus der Tasche, der Bildschirm flackerte kurz auf: „18 neue Nachrichten – Klassentreffen Gymnasium '03“