30 Sekunden zu spät - Kaja Bergmann - E-Book
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30 Sekunden zu spät E-Book

Kaja Bergmann

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Beschreibung

"Der 10. September 2016. Ich weiß, dass ich gerade im Seniorenheim stehe. Ich weiß, dass ich meinen Opa besuche. Ich weiß, wer ich bin. Nepomuk. Ich bin Nepomuk. Mein Opa weiß es nicht. Meine Freundin holt mich ab, Miranda. Wir packen unsere Sachen und fahren los, Richtung Nordsee. Einfach so, von einem Moment auf den anderen, ganz spontan. Ich hasse Spontanität! Wir kommen in Büsum an, mein Kopf tut weh, immer öfter, immer stärker. Miranda fühlt sich verfolgt, immer öfter, immer stärker. Doch ich nehme sie nicht ernst, bin abgelenkt, suche etwas. Etwas. Etwas stimmt nicht, etwas ist seltsam – was läuft hier falsch? Ich weiß es nicht. Und dann … Tod. Zu spät. Nur ein wenig, nur 30 Sekunden. Nur 30 Sekunden früher, dann wäre … Vielleicht wäre dann alles anders." Was-wäre-wenn: Der neue All-Age-Roman von Kaja Bergmann führt gekonnt den faszinierenden butterfly effect vor!

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Seitenzahl: 177

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Kaja Bergmann

30 Sekunden zu spät

Roman

EDITION 211

Impressum

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- oder Bildteile.

Alle Akteure des Romans sind fiktiv, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind von der Autorin nicht beabsichtigt.

Copyright © 2016 by EDITION 211, ein Imprint von Bookspot Verlag GmbH

1. Auflage

Lektorat: Martina Kuscheck

Korrektorat: Thilo Fahrtmann

Satz/Layout: Martina Stolzmann

E-Book: Mirjam Hecht

Covergestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung eines Motivs von shutterstock/Catalin Lazar

Made in Germany

ISBN 978-3-95669-076-1

www.bookspot.de

25. September 2016, 23:06 Uhr

Prolog

Ich könnte drauf verzichten

Im Nachhinein ist es wohl immer schwierig, zu entscheiden, welche Tage das Leben bestimmen. Einige sagen, es wäre jeder einzelne. Jede Stunde, Minute, Sekunde, jeder verdammte noch so kleine Augenblick. Obwohl es keine Zeitpunkte gibt. Damals, Grenzwertberechnung, elfte Klasse. Die Erkenntnis ernüchternd: kleine Intervalle. Lassen wir sie gegen Null laufen und bestimmen wir die Steigung. Ich habe nie daran geglaubt.

Ich glaube, es gibt Tage, die einen zwingen, sich in eine scharfe Linkskurve zu legen und eine andere Richtung einzuschlagen. Nur dass man es nicht weiß. Man weiß es nicht, rast in voller Fahrt auf eine unsichtbare Mauer zu, und wenn der Tarnmantel abfällt und man es in letzter Sekunde doch noch bemerkt, ist es längst zu spät.

Übrig bleiben nur Gedanken. Gedanken können in die Vergangenheit wandern, wo Zeit und Ort verschwimmen. Menschen können das nicht.

So glitten meine Gedanken zurück. Durchforsteten das Geschehene und das Geschehen, das, was war, und das, was nun ist. Und sie fanden einen Tag. Einen Tag, an dem alles begann. An dem ich eine andere Richtung einschlug, ohne es zu merken.

Der Name einer Epoche wird immer erst bestimmt, wenn die Epoche vorbei ist. Ich weiß nicht, in welcher ich zurzeit lebe.

Hinterher ist man immer schlauer.

Der Tag war der 10. September.

10. September 2016, 10:34 Uhr

Von weinenden Wolken und falscher Freude … und von einer malträtierten Stimme, die ich allerdings nicht mit in den Untertitel aufgenommen habe, weil sie die Alliterationen zerstört hätte

Der 10. September war ein Samstag. Und wie jeder Samstag begann er im Altersheim.

»Frank, wo ist denn Kerstin?«

Ich suchte in den blauen Augen nach einer Spur von Belustigung. Ein bisschen Ironie. Ein bisschen Witz. Doch ich fand nur eine ehrliche Frage. So beschissen ehrlich.

»Zu Hause, ihr geht’s gut«, antwortete ich seufzend und wandte den Blick ab.

»Was ist los, Junge?«

Langsam sah ich wieder nach oben, schaute in das fragende, runzlige Gesicht meines Großvaters und schüttelte den Kopf. »Nichts, Opa.«

»Opa?« Die wachen Augen blickten irritiert. Wie konnten sie nur so wach erscheinen, so wach und lebendig und jung, als hätte man die Augen eines zehnjährigen Jungen in das Gesicht eines alten Mannes gepflanzt. Sie erzählten von warmen Sommerabenden, grünen Wiesen und Latzhosen. »Warum nennst du mich denn Opa, Junge? So alt bin ich doch noch nicht.«

»Nein, tut mir leid, ich … ich bin heute ein bisschen …«

»Oder ist Kerstin schwanger?« Ein erwartungsvolles Lächeln gesellte sich zu den wachen Augen, ein Lächeln, das nicht gerne enttäuscht werden wollte. Zum Glück enttäuschte ich nicht gerne. Nichts ist schlimmer, als ein umsonst verschenktes Lächeln.

»Ja, ja, sie ist schwanger«, antwortete ich daher schnell und zwang mich zu einem leisen Lachen. Klang schrecklich. »Es wird ein Junge. Wir wollen ihn Nepomuk nennen.« Ich hustete und wischte mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht, um ihn besser sehen zu können. Immer fielen sie mir vor die Augen. Nahmen mir die Sicht. Trübten meinen Blick. Na ja, besser Haarsträhnen als Demenz, nicht wahr, Opa? Scheiße.

»Was, ihr wisst schon, dass es ein Junge wird? Und jetzt erst sagst du es mir? Ich bin dein Vater, Frank, du hättest es mir schon viel früher sagen müssen.«

»Ja, klar, tut mir leid. Ich … Wir waren uns nur so unsicher, das ist alles …«

»Da siehst du mal, wie lange ich Kerstin nicht mehr gesehen habe! Das nächste Mal bringst du sie mit, versprochen?«

Ich betrachtete das Fenster, den blassblauen Himmel dahinter, an dem ein paar weinende Wolken hingen. Die eine hatte die Form einer Sonne. Merkwürdig.

»Junge, hörst du mir überhaupt zu?«

»Was? Ja, klar, O… Dad.«

»Dad?« Mein Großvater runzelte die Stirn. »Seit wann nennst du mich denn Dad?«

»Ich … ich weiß nicht. Ist heute ein komischer Tag.«

»Du bist verwirrt, das ist alles.«

Ich musste ein Lachen unterdrücken. Hätte bestimmt auch falsch geklungen. Wie das Weinen der Sonnenwolke.

»Ja, stimmt, ich bin wohl ein bisschen verwirrt.« Ich.

»Aber das ist doch auch ganz normal, schließlich wirst du Vater! Na, komm schon her, Junge!«

Zögernd stand ich auf, ging die paar Schritte zu meinem Großvater hinüber und ließ mich von ihm umarmen. Er roch nach Kleidung, die zu lange im Schrank gehangen hatte, nach altertümlichem Rasierschaum und nach Freude. Falscher Freude. Was für ein Glück, dass er das nicht wusste.

»Ich bin so stolz auf dich!«

Seine Bartstoppeln kratzten an meiner Wange. Bartstoppeln und Geruch nach Rasierschaum. Eine Mischung, die mir in letzter Zeit immer öfter bei ihm begegnete.

Als er mich wieder losließ, konnte ich ihm nicht in die Augen sehen. Starrte auf den gesprenkelten Boden, zählte die Tropfen zu meinen Füßen. Achtzehn schwarze Tropfen. Und ein durchsichtiger. Ich fuhr mir über die Augen und eine zweite Träne fiel auf das dunkelgraue PVC.

»Aber über den Namen müsst ihr noch mal nachdenken!«

»Was?«

»Der Name. Sonst heißt euer Kind ja wie der Drache aus Jim Knopf.«

Jetzt blickte ich ihn doch wieder an. Noch immer waren seine Augen ehrlich. Vor zwei Wochen waren sie es nicht gewesen. Da hatte er so getan, als hielte er mich für meine Tante Berta. Hatte mich gefragt, warum ich in so seltsamen Klamotten rumlaufe. Kleider ständen mir besser. Und dann hatte er gelacht. Und Halma mit mir gespielt. Ich war schon immer ein mieser Halma-Spieler gewesen.

»Frank? Kennst du etwa Jim Knopf nicht?«

»Äh, doch, klar. Du hast es mir doch früher vorgelesen, weißt du nicht mehr?«

Mein Großvater schüttelte irritiert den Kopf. »Nein, habe ich nicht. Sicher nicht. Wenn, dann hat ihn dir deine Mutter vorgelesen. Wo ist sie eigentlich?«

»Sie kommt später«, murmelte ich leise.

»Was? Aber wo ist sie denn? Ist sie nicht in der Küche?«

»Ich muss gehen«, sagte ich schnell und hielt meine Stimme fest, damit sie nicht zitterte.

»Frank, was ist denn heute los mit dir?« Die blauen Augen verwirrt. Verwirrt, enttäuscht und dabei so hinterhältig klar.

»Es tut mir leid.« Meine Stimme zitterte heftiger, ich spannte sie in einen Schraubstock. Ging auf meinen Großvater zu und umarmte ihn. Wieder. Noch immer muffige Kleidung und Rasierschaum, doch die falsche Freude war fast schon verschwunden.

»Du kannst doch jetzt nicht …«

»Entschuldige.« Ich zog den Schraubstock fester an. Es war derselbe, in dem ich früher mit meinem Großvater kleine Schiffe zurechtgesägt hatte. Ich hatte das Holz immer zu fest eingespannt, es hatte Dellen zurückbehalten. Kleine, hässliche Schiffe mit unnötigen Dellen. Mein Großvater war so stolz auf mich gewesen.

»Na gut, ich verstehe ja, wenn du noch einen Termin hast. Aber tritt in Zukunft etwas kürzer, schließlich bekommst du einen Sohn.«

Ich stand schon in der Tür, meine Hand lag unsicher auf dem glänzenden Griff. Hinterließ einen unschönen, dunklen Fleck. Schrieb mit den Fingerkuppen Ich war hier.

»Ja, mach ich«, wisperte ich und zog den Schraubstock noch mal an, meine Stimme stöhnte gequält. Ein dritter Tropfen gesellte sich zu den schwarzen Sprenkeln auf dem Fußboden.

»Du brauchst doch nicht zu weinen, Junge. Es wird das beste Ereignis deines Lebens, das verspreche ich dir. Und bring das nächste Mal Kerstin mit, ja?«

»Versprochen«, flüsterte ich, doch bevor ich den Schraub- stock ein letztes Mal anziehen konnte, brach meine Stimme.

10. September 2016, 10:46 Uhr

Von einem untalentierten Automaten … und George Clooney

Schon eigenartig, dass dieser scheußliche PVC-Boden im gesamten Gebäude verwendet wurde. In den Zimmern, in den Fluren, im Speisesaal. Überall dieselben Tropfen, ich begann wieder zu zählen, zählte 23 schwarze und vier durchsichtige. Ach, Scheiße.

»Nepomuk?«

Ich zuckte zusammen, sah auf. Das Gesicht vor mir war verschwommen. Mit der Hand wischte ich über meine Augen, wischte Salz und Wasser fort und schniefte. Versuchte, das Schniefen durch ein Husten zu übertönen. Gott, klang das bescheuert!

»Hey, alles klar?«

Ich nickte nur, machte eine abwehrende Handbewegung und blinzelte. Das Gesicht wurde deutlicher. Scharf geschnitten und blass, von kurzem, aschblondem Haar umrahmt. Ein müdes Lächeln auf den Lippen, das fast von den dunklen Augenringen abgelenkt hätte. Fast. Abermals musste ich blinzeln – und erinnerte mich plötzlich an ein anderes Gesicht, stark geschminkt, ein abschätziges Grinsen, langes, blondiertes Haar. Ich zuckte zurück und nahm Liliana wieder so wahr, wie sie jetzt aussah, gut zwei Jahre später. Müde, leer, merkwürdig grau. Und irgendwie besorgt. Aber erst seit ein paar Sekunden.

»Nepomuk?«

»Was?« Tolles Wort. Sollte ich öfter benutzen.

»Geht’s dir gut?«

Ich hustete wieder, schob ihr zwei Jahre jüngeres Gesicht in die hinterste Ecke meines Kopfes und verriegelte die Türen davor. Es würde bald wieder ausbrechen. Wie jedes Mal, wenn ich ihr begegnete.

»Ja, klar, mir geht’s gut!«, antwortete ich, wahrscheinlich eine Spur zu hastig. Doch immerhin schien sich meine Stimme langsam von ihrem Schraubstocktrauma zu erholen.

Liliana musterte mich skeptisch, ich wich ihrem Blick aus und fixierte Fußbodensprenkel Nummer 24. »Hab nur Kopfschmerzen«, erklärte ich, als sich die Sekunden kaugummiartig in die Länge zogen. Erdbeerkaugummi. Nicht Pfefferminz. »Und bin ein bisschen müde.«

»Okay, dann lass uns einen Kaffee trinken«, hörte ich Liliana sagen.

Und schon spürte ich einen Griff um mein Handgelenk, ließ mich von ihr den Flur entlangziehen, immer weiter, bis wir vor dem hässlich schwarzen Automaten standen. Liliana kramte in der Tasche ihres Kittels und zog ein paar Münzen hervor, steckte sie in den Geldannahmeschlitz und drückte eine Taste. Misstrauisch beobachtete ich, wie der Automat einen Becher ausspuckte und zu rumoren begann, bis er schließlich eine schwarz-braune Flüssigkeit in den Becher tropfen ließ – woher auch immer die kam. Jede Woche das Gleiche. Und trotzdem war mir dieser riesige dunkle Kasten suspekt.

Liliana reichte mir den Kaffee, zog sich selbst auch einen und setzte sich auf ein Fensterbrett neben dem Automaten. Angesichts der immerwährenden Dunkelheit in diesem Gebäude schien mir das Fenster unpassend. Trotzdem setzte ich mich neben sie und starrte missmutig in meinen Kaffee. Mein Spiegelbild starrte noch missmutiger zurück.

»Warst du bei deinem Großvater?«

»Was?«

»Ob du bei deinem Großvater warst.«

»Nein, ich bin nur hergekommen, weil der Kaffee hier so gut sein soll.«

Liliana verzog den Mund zu einem schmalen Lächeln und deutete auf meinen Becher. »Warum trinkst du dann nichts?«

Ich hob den Becher an die Lippen und nippte ein wenig an der braunen Brühe. Sie war noch widerlicher als sonst.

Liliana lachte leise. »Ich weiß, mir schmeckt dieser Kaffee auch nicht besonders«, sagte sie und nahm einen großen Schluck. Dann schlug sie sich mit der flachen Hand gegen die Stirn und stöhnte: »Ach, Mist, ich hab den Süßstoff vergessen!« Sie griff in ihre Kitteltasche, holte ein paar Dragees hervor (ich wunderte mich, dass es keine Münzen waren), warf einige in ihren, die restlichen in meinen Becher. Dann nahm sie erneut einen Schluck. »Viel besser, findest du nicht?«, fragte sie erleichtert.

Ich trank ebenfalls und verzog das Gesicht. Der Kaffee schmeckte noch immer widerlich.

Wir verfielen in ein unbehagliches Schweigen, nur unterbrochen von gelegentlichen Schluckgeräuschen. Über uns summte eine Fliege an der weiß gestrichenen Wand entlang, ich verfolgte sie mit den Augen und stellte mir vor, fliegen zu können. Einfach weg. Weg von Demenz, weg von unheimlichen Kaffeeautomaten, von gierigen Fußböden, Kopfschmerzen und Erdbeerkaugummisekunden. Einfach nur weg.

»Schmeckt dir der Kaffee denn jetzt ein bisschen besser?«, fragte Liliana unsicher.

Weg von peinlichem Smalltalk. »Äh, na ja, eigentlich mag ich überhaupt keinen Kaffee«, erwiderte ich schnell, wahrscheinlich nur, um irgendetwas zu sagen. »Er würde mir nicht mal schmecken, wenn ihn George Clooney persönlich gemacht hätte, schätze ich.«

Liliana sah mich verwirrt an. »Nepomuk, meinst du das ernst? Du kommst Woche für Woche hierher und trinkst mit mir Kaffee, obwohl er dir gar nicht schmeckt? Warum hast du denn nie was gesagt?«

Tja, warum. Vielleicht, weil ich die Kaffee-Momente mit Liliana brauchte. Weil ich Woche für Woche neben ihr saß und versuchte, die richtigen Worte zu finden. Weil ich jedes Mal zu dem Schluss kam, dass »Ach übrigens, danke, dass du mir das Leben gerettet hast!« nicht die richtigen Worte waren. Ebenso wenig wie: »Hey, mir fällt gerade ’ne witzige Anekdote aus unserer Schulzeit ein! Weißt du noch, als wir vor ein paar Jahren gemeinsam im Deutsch-LK waren und an einem Samstag Unterricht hatten? Nur wir und der Mathe-LK im Nebengebäude? Weißt du noch, dass wir alle am Morgen vergiftete Waffeln gegessen haben? Dass uns ein Psychopath im Gebäude einsperrte und vor die Wahl stellte: Entweder, wir unterschreiben das Todesurteil des Mathe-LK und bekommen das Gegengift oder wir sterben? Weißt du noch, wie du mir damals die lebensrettende Spritze verabreicht hast? Weil du die Einzige warst, die dazu imstande war? Weißt du noch? Tja, mir ist gerade eingefallen, dass ich ohne dich schon längst tot wäre. Also, danke und so.«

»Nepomuk?«

»Wa… äh, ich meine, wie bitte?«

»Kann es sein, dass du ein bisschen neben der Spur bist?«

»Ich …« Ich hob den Kopf, sah ihr in die Augen, diese neuen, ungeschminkten Augen und flüsterte: »Ich muss dir etwas sagen.«

Sie schwieg, erwiderte meinen Blick. Da war ein sonderbarer Ausdruck in ihrem Gesicht, er erzählte von Anspannung und langer Erwartung.

Ich suchte nach Worten, buddelte im Sandkasten meines mentalen Lexikons und bemerkte erst viel zu spät, dass ich ein Sieb statt einer Schaufel benutzte. »Ich wollte nur …« Mein Mund war so trocken, ich spürte meine Zunge nicht mehr.

»Nepo, da bist du ja!«

Ich zuckte zusammen, verschüttete den Rest des Kaffees auf mein T-Shirt und blickte auf. Miranda kam auf mich zu, sie machte einen abgehetzten Eindruck. Das hellbraune Haar hatte sie zu einem seitlichen Zopf geflochten, ein rot-gelber Farbstreifen verlief über ihrer linken Wange. Offenbar hatte sie gemalt. Vielleicht einen Sonnenuntergang.

»Ich hab … hab dich schon überall gesucht.« Endlich war sie neben mir angekommen. »Hallo, Liliana. Wie läuft dein Praktikum?«

Ich hörte das Bemühen, mit dem Miranda versuchte, beiläufig zu klingen, ein bisschen Normalität in eine Situation zu zaubern, in der auch ihr die richtigen Worte fehlten. Wir hatten unsere Siebe wohl im Doppelpack gekauft.

»Gut.« Liliana sah uns nicht an. Starrte auf die Sprenkel am Boden. Wow, diesen Sprenkeln wurde heute so viel Beachtung geschenkt, jeder C-Promi wäre neidisch gewesen.

»Das … ist schön«, sagte Miranda zögernd. Dann sagte sie nichts mehr.

Nach ein paar weiteren ungesüßten Erdbeerkaugummisekunden kramte Liliana in ihren Taschen und reichte mir ein Tempo. Erstaunt nahm ich es, fragte mich, was noch so alles in ihrem Kittel steckte, ob sie vielleicht einen Ausdehnungszauber benutzt hatte, bevor ich verstand und mit dem Taschentuch mein T-Shirt abtupfte. Es half wenig. Oder gar nicht. Wahrscheinlich irgendwas dazwischen.

Da ich keine Lust hatte, aufzusehen, tupfte ich einfach weiter, immer weiter, bis das Taschentuch langsam zerfaserte, bis ich kalte Finger an meiner Hand spürte, die sie festhielten und langsam umschlossen.

»Lass gut sein, das waschen wir zu Hause raus«, flüsterte Miranda sanft.

Ich nickte, warf einen letzten Blick zu Liliana und murmelte leise: »Ich muss dann.«

Sie antwortete nicht und so ging ich langsam den Flur entlang, hielt Mirandas Hand fest umschlossen und zog sie hinter mir her. Fühlte Erleichterung, fühlte mich elend.

»Hey, Nepo!«

Ich zuckte zusammen, drehte mich verwirrt um.

Liliana saß noch immer auf der Fensterbank, sie deutete auf den Kaffeeautomaten neben sich. »Der kann auch Tee, weißt du.«

»Wie bitte?« Ich merkte, wie sich mein Misstrauen gegenüber dem Automaten in Bewunderung wandelte. Was mich misstrauisch machte.

»Ja, du kannst dann ja nächste Woche probieren, ob er dir schmeckt!«, rief mir Liliana zu, dann schwang sie sich von der Fensterbank, ging den Flur in entgegengesetzter Richtung entlang und verschwand um eine Ecke.

10. September 2016, 12:02 Uhr

Von einer ängstlichen Fernbedienung, die, rückblickend betrachtet, an allem schuld war

Erstaunt beobachtete ich, wie der grüne Zipfelfalter begann, sich zu putzen.

»Krass, der sieht aus wie eine Katze, wenn er das macht.«

Neben mir blickte Miranda von ihrer Zeitschrift auf. »Tatsächlich«, erwiderte sie verblüfft, dann zuckte sie mit den Schultern und begann wieder zu lesen. Ihr gelbes T-Shirt wirkte wie ein kleiner Sonnenfleck auf dem dunklen, zerschlissenen Sofa.

Während ich darüber nachdachte, ob die Sonne tatsächlich gelb war, stakste der Zipfelfalter gemächlich über ein paar runde Kiesel. Sie sahen neben ihm unglaublich groß aus. Lustig, dass manche Dinge erst nebeneinander stehen müssen, um sie im Verhältnis sehen zu können. Ob das bei allem so ist?

»Wie geht’s deinem Kopf?«

»Was?«

»Hast du immer noch Kopfschmerzen?«

Gute Frage. Ich leitete sie weiter an mein Gehirn, erhielt jedoch keine Antwort. Da war eine große graue Wolke, die alles abdämpfte. Opa. Liliana. Verlorene Worte und ein schlechtes Gewissen. Alles verschwand in ihrem grauen Nebel.

»Nepo?«

»Ja?«

»Geht’s dir gut?«

»Ja. Meine Kopfschmerzen sind weg.« Erleichtert versank ich in der Wolke, schloss die Augen und lauschte der monotonen Stimme aus dem Fernseher. Nicht denken. Nur zuhören. Der grüne Zipfelfalter stammt aus der Familie der Bläulinge, erzählte die Stimme. Er ist der einzige heimische Tagfalter mit grüner Flügelunterseite. Die braune Oberseite bekommt man nur selten zu Gesicht, da er sich ausschließlich mit geschlossenen Flügeln niedersetzt.

»Interessiert dich das wirklich?«, fragte Miranda sanft.

Ich nickte, öffnete die Augen und starrte stur auf den Fernseher. Die Szenerie hatte gewechselt. Der Falter hing jetzt kopfüber an einem langen Grashalm. Bestimmt war es ein anderer.

»Oder schaust du das nur, um dich von deinem Großvater abzulenken? Oder von Liliana?«

Ihre Worte schnitten eine scharfkantige Schneise in meine graue Wolke. Fast so scharfkantig wie Lilianas Gesicht. Seufzend tastete ich nach der Fernbedienung, wollte die Dokumentation abschalten und Miranda alles erzählen. Wollte ihr sagen, dass ich schon wieder nicht die richtigen Worte für Liliana gefunden hatte. Wollte ihr sagen, dass mich mein Großvater wieder nicht erkannt hatte. Dass er mich diesmal für meinen Vater gehalten hatte. Dass Demenz scheiße war. Und dass ich Angst hatte. Opa war 76 gewesen, bei Ausbruch der Krankheit. Sollte sie mich im gleichen Alter treffen, dann hatte ich noch genau 56 Jahre Klarheit vor mir. Klingt viel, ich weiß. Aber was, wenn sie früher kam?

Die blöde Fernbedienung hatte anscheinend auch Angst. Vor mir. Vielleicht war das der Grund, weshalb ich sie nicht fand: Weil sie sich absichtlich versteckte. Ich sah mich um, betrachtete den schmuddeligen kleinen Couchtisch und das Sofa.

Im Frühjahr legen die Weibchen ihre Eier an der Futterpflanze ab, erzählte die tiefe Stimme weiter.

Wo war nur die verdammte Fernbedienung?

Solche Futterpflanzen sind zum Beispiel Ginster, Himbeeren oder Brombeeren. Aufgrund letzterer wird der grüne Zipfelfalter auch Brombeerzipfelfalter genannt.

Ich blickte auf. Der kleine Schmetterling flatterte gerade über eine violett leuchtende Heide, die Kamera zoomte zurück und plötzlich waren da Gräser, Sand, Dünen und ganz weit hinten erkannte man das Meer. Der Erzähler redete weiter, ich verstand ihn nicht, hörte auch nicht mehr zu, starrte auf den kleinen Fernsehbildschirm und sagte: »Miranda, lass uns ans Meer fahren.«

Sie runzelte die Stirn. »Wann?«, fragte sie zweifelnd.

»Jetzt!«

Ein unsicheres Lachen als Antwort.

»Nein, ich mein’s ernst! Lass uns einmal spontan sein!«

Sie schüttelte verwirrt den Kopf. »Nepo, wie stellst du dir das denn vor? Wie sollen wir da hinkommen?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Wir nehmen den Zug!«

»Aber wahrscheinlich geht heute gar kein Zug mehr. Und überhaupt: Weißt du, wie viel die Tickets kosten?«

»Wir haben doch sowieso Geld für den Sommerurlaub gespart. Nur konnten wir uns bisher noch nicht entscheiden, wo wir hinfahren. Komm, fahren wir an die Nordsee. Emma war doch vor zwei Jahren da, lass uns das auch mal machen! Sonst sind die Semesterferien vorbei und wir waren nur zu Hause.« Ich konnte nicht mehr still sitzen, stand auf und trat nervös von einem Bein aufs andere.

Miranda zögerte, dann erhob sie sich ebenfalls.

»Aber wir müssen doch erst noch packen … Und überhaupt, wo sollen wir schlafen?«

»Wir zelten!«

Wieder ein unsicheres Lachen, diesmal klang es erschreckend ängstlich. »Nepo, du hast doch gar kein Zelt.«

Mist, das stimmte. »Aber ich hab einen Schlafsack. Und eine Plastikplane. Außerdem ist es doch noch super warm, die wärmsten Septemberwochen seit Jahren! Wenn das Wetter mitspielt, könnten wir unter freiem Sternenhimmel schlafen. Einfach so, direkt am Meer. Ach, komm schon, Miranda!«

Das Bild meines Großvaters erschien vor meinen Augen und eine rastlose Ungeduld stieg in mir auf. Sie hinterließ ein nervöses Zucken in meinen Fingern und fiebrigen Glanz in meinen Augen.

Miranda biss sich auf die Lippen. Wiegte leicht den Kopf hin und her. »Ich weiß nicht … Ich kann jetzt eigentlich nicht wegfahren. Meine Hausarbeit ist auch noch nicht fertig …«