Der Mephisto-Deal - Kaja Bergmann - E-Book

Der Mephisto-Deal E-Book

Kaja Bergmann

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Beschreibung

"Ich sitze hier mit sieben anderen in einem öden Klassenzimmer und diskutiere mit unserer Deutschlehrerin über Goethes Faust. Stoff nachholen fürs Abitur, na prima. Ansonsten ist die Schule verwaist, nur Herr Udoriwitschs Mathekurs im Nebengebäude schwitzt über Formeln, nachsitzen wegen eines Streichs. An einem Samstag, damit's auch richtig wehtut. Okay, jetzt wird's heftig: Mitten im Diskurs über Mephisto springt der Schullautsprecher an und eine knarrende Stimme befielt Frau Sommer, die Tafel hochzuschieben. Dahinter stehen die Worte "Ich will, dass Udoriwitschs Kurs stirbt!" Die Stimme erklärt uns freundlich, dass wir alle krepieren werden, wenn wir diesen Satz nicht unterschreiben. Oder wenn wir zu lange zögern. Wir haben vergiftete Waffeln gegessen, Udoriwitschs Leute auch; wer als Erstes unterschreibt, bekommt das Gegenmittel, der andere Kurs stirbt. In wahrscheinlich zwei Stunden sind wir alle tot. Ich bin Finn, 18 Jahre alt. Ich mag Fotosynthese - und seit Kurzem keine Waffeln mehr." Der neue All-Age-Thriller von Kaja Bergmann für Leser ab 14 Jahren - packend, rasant und gnadenlos spannend! Nominiert für den Hansjörg-Martin-Preis 2015!

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Seitenzahl: 188

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Kaja Bergmann

DER MEPHISTO DEAL

Roman

EDITION 211

Impressum

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- oder Bildteile.

Alle Akteure des Romans sind fiktiv, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind von der Autorin nicht beabsichtigt.

Copyright © 2014 byEDITION 211, ein Imprint von Bookspot Verlag GmbH

1. Auflage

Lektorat: Eva Weigl

Satz/Layout: Martina Stolzmann

E-Book: Mirjam Hecht

Covergestaltung: Nele Schütz Design, München unter Verwendung eines Motivs von Thinkstock

ISBN 978-3-95669-013-6 (EPUB)

ISBN 978-3-95669-014-3 (MOBI)

www.bookspot.de

Zitat

Die Verzweiflung geht die ganze Persönlichkeit an, der Zweifel nur den Gedanken.

Søren Kierkegaard

1. Akt

Samstag, 18. Mai 2013, 10:00 Uhr

Der Duft frischer Waffeln hing noch in der Luft, als Mephisto mit Faust den Pakt besiegelte. »Topp!«, rief er und das Licht des Vollmonds ließ seine schneeweißen Zähne furchterregend aufblitzen. Sein diabolisches Grinsen spiegelte die Vorfreude wider, die er bei dem Gedanken empfand, Faust nur ein paar Jahre lang dienen zu müssen, um dann für alle Ewigkeit einen Sklaven zu besitzen, der ihm in der Hölle die Fingernägel maniküren und die Nase pudern musste. Ein erfüllter Augenblick, was für eine lächerliche Herausforderung! Mephisto schnaubte verächtlich und betrachtete seine gespreizten Finger – oh ja, sie konnten durchaus eine Maniküre vertragen. Er hörte Faust kaum mehr zu, der weiter über den – für ihn noch als unmöglich erachteten – erfüllten Augenblick schwadronierte und die Bedingungen der Wette nochmals aufzählte. Was scherte sich der Teufel um das Kleingedruckte?!

»… es sei die Zeit für mich vorbei!«, sprach Faust betont feierlich.

Ah, mein Einsatz!, dachte Mephisto, unterdrückte ein aufsteigendes Kichern, was ihm auch ohne große Mühe gelang (er war schon immer ein begnadeter Schauspieler gewesen), und bemerkte mit einem gespielt ernsten Blick: »Bedenk es wohl, wir werden’s nicht vergessen!«

Während Faust sich bemühte, mit seinem nächsten Satz Mephistos Reim zu vollenden, war der Teufel in Gedanken schon längst im Kosmetikstudio, wo er sich …

»Finn!«

Hä? Ach ja, Finn. Das bin ich. Hallo.

»Finn, was sagst du denn zu dem Teufelspakt?«

Frau Sommer, unsere Deutschlehrerin und Tutorin, sah mich mit einem auffordernden Lächeln an. Ich kippelte mit meinem Stuhl so weit zurück, dass ich mich an der Wand hinter mir abstützen musste, um das Gleichgewicht zu halten. Dafür konnte ich jetzt aber auch meiner neuen Lieblingsbeschäftigung nachgehen: Mit meinen Fingern das Loch in der Wand vergrößern. Irgendwann würde es ein Tunnel sein, durch den ich kommen und gehen konnte, wann ich wollte! Die Wandlöcher hatte es schon immer gegeben. Nach der Renovierung waren sie für kurze Zeit verschwunden, doch recht bald wieder aufgetaucht. Vielleicht fühlten sie sich in unserer Schule wohl. Irgendwer muss sich ja wohlfühlen. Wenn nicht die Schüler, dann wenigstens ein paar Wandlöcher.

»Finn?«

»Ähm, ich denke, es wäre interessant zu wissen, was Mephisto in dem Moment dachte, als er mit Faust die Wette einging«, murmelte ich und unterdrückte ein verlegenes Husten. Tom lachte leise.

»So?« Frau Sommer runzelte die Stirn. »Ja, wahrscheinlich wäre es das. Ich meinte aber eher, ob du denkst, dass es ein Pakt war oder eine Wette.«

»Ach so. Ja, eine Wette, denke ich. Schließlich wettet er mit Faust, dass er es nicht schafft, ihm einen erfüllten Augenblick zu bescheren. Der Wetteinsatz ist Fausts sofortiger Sklavendienst in der Hölle.«

»Ja, aber wenn es um Faust geht, spricht man doch immer vom berühmtenTeufelspakt«, warf Emma ein. Ich sah sie an und sofort stieg mir wieder der süßliche Duft frisch gebackener Waffeln in die Nase. Und ein leicht salziger Nachgeschmack. Aber trotzdem lecker, die Waffeln. »Außerdem«, fuhr Emma fort, während sie in ihrer Ausgabe desFaustblätterte, »sagt Mephisto doch ab Vers 1656, dass er Faust im Diesseits, Faust ihm im Jenseits dienen soll. Das klingt doch ganz klar nach Pakt, oder?« Zufrieden legte sie das Heft wieder auf den Tisch (vielleicht ein bisschen zu grob, mich packte die unwillkürliche Angst, es könne sich Schrammen zugezogen haben) und schaute mich aus ihren großen, braunen Augen aufmerksam an.

»Okay, gibt es dazu noch andere Meinungen?«, wollte Frau Sommer wissen und blickte in die Runde. Tom neben mir schielte auf den Boden, auf dem er soeben fast den gesamten Inhalt seines Spitzers verschüttet hatte, und pfiff leise den Refrain vonOops I Did It Again.Auch meine netten Mitschüler schienen nicht sonderlich am Gespräch interessiert. Miranda und Nepomuk hielten sich mal wieder an den Händen und lächelten ihr zuckersüßes, verliebtes Künstlerlächeln, das mich gleichzeitig freute und nervte, Nevin wischte sich den Schweiß von der Stirn und starrte zum gefühlt zweihundertachtundzwanzigsten Mal in der letzten halben Stunde sehnsüchtig auf die Uhr (vielleicht waren seine Augen aus Metall und die Zeiger der Uhr magnetisch), Liliana vermisste bereits jetzt ihr iPhone und Sonja … Sonja fixierte die Wand ihr gegenüber und war – fort. Wie immer, eigentlich.

»Na gut«, meinte Frau Sommer mild. »Da ihr heute eher schweigsam seid, wie wäre es mit einer Abstimmung? Die macht ihr doch so gerne.« Sie schwang sich auf ihren Krücken nach vorne und teilte ihre kleinen, bunten Notizzettel aus, die sie nur aufgrund der progressiv steigenden Abstimmungen in unserem Kurs gekauft zu haben schien; denn für mehr als ein Wort boten sie kaum genügend Platz.

Ich schrieb schnellWetteauf meinen Zettel – Moment, es wäre wohl angebrachter, hier von einemPapierfetzenzu sprechen – und lugte zu Emma hinüber, deren Stift gerade die Funktion einer Waffe übernommen hatte, mit deren harten, schwarzen Linien sie ihrenPaktverteidigte.

Frau Sommer sammelte ihre Papierfetzen wieder ein, blätterte sie fünf Sekunden lang durch und sagte dann: »Eine Enthaltung, vier Leute sind für die Wette, drei für den Pakt. Tut mir leid, Emma.«

Emma zuckte nur leicht mit den Achseln und fragte mit einhundert Prozent echtem Interesse: »Und ist es denn nun eine Wette?«

»Tja«, antwortete Frau Sommer gedehnt, »genau genommen ist es einepaktartige Wette.« Sie ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen, als wäre es eine Edelpraline von Finke, der neuen Chocolaterie in der Stadtmitte. Tom neben mir stöhnte nur leicht auf und murmelte so etwas wie »Typisch Deutsch, nichts ist eindeutig« und Nevin mir gegenüber stöhnte auch. Nur klang es irgendwie schmerzerfüllt. Außer mir schien es allerdings niemandem aufgefallen zu sein und so fuhr Frau Sommer fort, uns zu erklären, wie Faust den Teufelspakt zu einer Wette erweitert hatte.

»… sozusagen durch einefreiwillige Zusatzklausel«, beendete sie ihre Erläuterung und versuchte, die letzten zwei Pralinenwörter ebenfalls auszukosten. Die paktartige Wette schien ihr allerdings besser geschmeckt zu haben.

»Möchte vielleicht noch jemand etwas zu dem Pakt sagen? Ja, Emma?«

»Also«, fing Emma an, und in mir keimte eine ungute Vorahnung, worauf das Ganze hinauslaufen könnte. »Also, ich kann nicht verstehen, warum Faust einen Pakt mit dem Teufel schließt.« Nicht schon wieder. Ich musste ein Seufzen unterdrücken. »Nein, mal im Ernst. Klar verstehe ich, dass sein Forschungsdrang über allem steht. Und ja, er fühlt sich innerlich zerrissen, möchte alles Sinnliche und Wissenschaftliche auf der Welt erfahren – aber der TEUFEL?! Ich verstehe nicht, warum er da keine Grenze setzt.«

»WeilGoethedenFaustgeschrieben hat, dieser Schwachmat!«, warf Tom ein und verzog angeekelt das Gesicht.

»Ich denke, jeder Mensch hat seinen Preis«, meinte Nevin, während er gleichzeitig versuchte, ein Husten zu unterdrücken und eine Spielkarte zwischen seinen verschwitzten Fingern erscheinen zu lassen. »Für irgendetwas würdest auch du einen Pakt mit dem Teufel eingehen, glaub mir.«

»Ach, Blödsinn, ich glaube, niemand von uns würde das! Ich meine, der Teufel, das ist doch …«

Jetzt dachte ich doch darüber nach, worum ich mit dem Teufel wetten würde. Mir fiel aber auf Anhieb nichts ein, was einen lebenslangen – falsch, einen todeslangen – Dienst in der Hölle aufwiegen würde. Schade, eigentlich.

»Moment«, unterbrach Frau Sommer die inzwischen tatsächlich recht rege Diskussion. »Das alles hatten wir doch schon gestern. Und am Mittwoch. Und letzte Woche. Ich würde vorschlagen, wir machen jetzt erst mal fünf Minuten Pause und danach befassen wir uns mit der Frage, ob Faust ein geschlossenes oder ein offenes Drama ist.« Ihr antwortete verhaltenes Gemurmel. »Hey, freut euch drauf, es wird spannend!«, versuchte sie uns aufzuheitern. »Und wenn ihr ganz viel Glück habt, stimmen wir am Ende einfach wieder darüber ab.« Mit einem übertrieben lässigen Augenzwinkern humpelte sie nach vorne und begann, eine Tabelle an die Tafel zu malen.

Immer noch Samstag, 18. Mai 2013, 10:06 Uhr

Fünf Minuten Pause, sehr gut. Während Tom die Zeit nutzt, um sich mit Emma über den Sinn von Goethe in der deutschen Literatur zu streiten und Nevin, um schnell runter auf die Toilette zu rennen, kann ich jetzt versuchen, mich vorzustellen. Und meine Mitschüler. Und euch erklären, warum wir an einem sonnigen Samstagvormittag im Mai nichts Besseres zu tun haben, als in einem stickigen, löchrigen Klassenraum zu sitzen.

Ich denke, ich fange mit dem letzten Punkt an (die Letzten werden die Ersten sein!):

Frau Sommer hatte sich vor einem knappen halben Jahr ein Bein gebrochen. Es war wohl zu Komplikationen gekommen, jedenfalls war sie über zwei Monate lang nicht in der Schule gewesen. Da unsere Schulleitung entweder zu unfähig oder aber zu gelangweilt war, um einen durchgehenden Vertretungslehrer für uns zu organisieren, hatten wir die letzten Wochen damit verbracht, in den vielen Freistunden den aufkommenden Frühling zu begrüßen und zu versuchen, die plötzlich wärmer werdende Sonne optimal für Fotosynthese zu nutzen. Ein Scherz, tut mir leid.

Jedenfalls hatten wir tatsächlich alles Mögliche gemacht, außer – na ja, Deutsch eben. Da wir jetzt aber in der zwölften Klasse sind und nächstes Jahr unser Abitur schreiben müssen, war Frau Sommer der Meinung, der Unterricht müsseunbedingtnachgeholt werden. Wahrscheinlich entsprang diese fixe und gänzlich unvorhersehbare Idee dem Entsetzen, das sie packte, als sie in unsere Augen sah und in jedem einzelnen den hervortretenden Satz »Wir haben den Faust noch nicht einmal gekauft!« lesen musste. Auf jeden Fall treffen wir uns nun samstags alle zwei Wochen, um den fehlenden Unterricht einigermaßen nachzuholen. Obwohl ziemlich viele – berechtigterweise – keine Lust zu haben scheinen, ihren Samstagvormittag dem Teufel zu opfern. So war die Zahl der Anwesenden in den letzten Wochen, ganz zum Missfallen Mephistos, stetig gesunken, sodass heute nur acht Schüler in der Klasse saßen und sehnsüchtig die dünnen Sonnenstrahlen aufsogen, die es geschafft hatten, sich ihren Weg durch das dicke Fensterglas unserer Schule zu bahnen. Seit der Gebäudesanierung vor ein paar Jahren fühlen wir uns wie die Panzerknacker im lustigen Taschenbuch. Damals hatte unsere Schule irgendwoher einen Zuschuss bekommen und beschlossen, damit das hässliche, quaderförmige Bauwerk in ein Öko-Gefängnis zu verwandeln. Deshalb lassen sich die Fenster nicht öffnen, dafür gibt es ein Belüftungssystem. Ist natürlich viel umweltschonender. Und es verhindert, dass irgendein depressiver Fünftklässler aus dem dritten Stock springt, weil er G8 nicht mehr aushält. Oder, dass er durchdreht und ein Fenster einschlägt. Nur in der Cafeteria gibt es noch normale Fenster, vielleicht, weil der Zuschuss nicht gereicht hat. Oder, weil dort die Tür sowieso andauernd offen steht und für regen Luftaustausch sorgt.EchtenLuftaustausch.

Außer dem modernen Belüftungssystem hat unsere Schule aber noch weitere zweifelhafte Ausstattungsdetails zu bieten: einbruchshemmende Fensterläden mit Hochschiebeverhinderung zum Beispiel. Angeblich. Als Reaktion auf den »legendären« Einbruch vor vier Jahren. Damals ist irgendein Unbekannter (vielleicht jener depressive Fünftklässler?) hier eingebrochen und hat ein paar Chemikalien aus den Naturwissenschaften geklaut. Warum, versteht wohl niemand genau. Und dass bei der Renovierung wirklich diese Sicherheitsfensterläden eingebaut wurden, bezweifle ich auch sehr. Der Einzige, der fest davon überzeugt ist, ist Nevin. Und der Mathe-LK von Udoriwitsch. Die glauben an alle möglichen Verschwörungstheorien. An Verschwörungstheorien und Fischölkapseln. Vor allem an Fischölkapseln im Morgenkaffee ihres Tutors. Das ist der Grund, warum wir heute nicht die Einzigen sind, die ihren Samstag in der Schule verbringen müssen: Wer daran glaubt, dass Udoriwitschs heiliger Morgenkaffee durch fischiges Aroma eine interessante Note erhält, muss nachsitzen, ist ja klar. An einem Samstag, ist auch klar. Damit’s richtig wehtut. Und weil Udoriwitsch am Wochenende sowieso nichts Besseres zu tun hat. Was denn auch? In die Disco gehen? Oder ins Kino? Wenn nicht gerade eine Doku über die Schüler-Foltermethoden des Mittelalters läuft, bezweifle ich das stark. Zugegeben, die Aktion mit der Fischölkapsel war schon ziemlich kindisch, aber mal im Ernst: Udoriwitsch hat’s verdient. Finde ich, finden Schüler aller Altersstufen, findet sein LK. Obwohl wir sie für diese Sache ziemlich gefeiert haben, können wir ihnen heute leider keinen seelischen Beistand leisten, denn sie müssen in den Naturwissenschaften nachsitzen, die nicht mit dem Hauptgebäude verbunden sind. Dafür haben wir ihnen aber heute Morgen die Hälfte unserer Waffeln abgegeben. Weil wir liebe Menschen sind. Und weil Emma sowieso zu viele für uns alleine gebacken hat. Und weil wir dachten, sie könnten eine kleine Aufmunterung vertragen. Da sie doch, mit uns zusammen, zu den sehr wenigen Menschen gehören, die die Ehre haben, eine völlig leere und ausgestorbene Schule zu beleben. Heute Morgen war mir tatsächlich etwas mulmig zumute, als wir das sonst so laute, nunmehr totenstille Gebäude betraten. Inzwischen geht es mir aber wieder ganz gut, danke der Nachfrage.

So, nächstes Thema: Ich. Na toll.

Ja also, ich bin Finn, 18 Jahre alt und freue mich, dich kennenzulernen. Ja, mir ist bewusst, dass ich mich anhöre, als würde ich mich in einer Selbsthilfegruppe vorstellen. Apropos Vorstellen: Stell dir vor, jetzt in diesem Moment würde meine Hand aus dem Buch kommen, damit du sie schütteln kannst. Okay, das war vielleicht ein wenig merkwürdig. Wie in dieser lahmen Gruselgeschichte mit der schwarzen Rose. Na ja, Fehlstarts sind meine Spezialität.

Ich gehöre zum letzten G9-Jahrgang, deshalb besuche ich diese Schule leider schon seit acht Jahren. Am Anfang war sie dreckig, löchrig und man konnte jederzeit lüften. Jetzt ist sie wieder dreckig, wieder löchrig, aber die Fenster gehören eher zu Fort Knox und deshalb machen sie mich paranoid. Was ich nicht mag, ist die Vorstellung, dass irgendwann einmal das Belüftungssystem ausfällt und ich in unserer umweltbewussten Schule ersticke. Was ich mag, ist der Frühling und die Tatsache, dass Bäume Fotosynthese betreiben können. Tatsächlich bin ich sogar ein klein wenig eifersüchtig auf sie. Wäre ich ein Baum, dann bestimmt eine Linde. Hoffe ich.

Ich habe Angst vor Spritzen und eine Abneigung gegenüber Zahlen (außer 4, 8, 15, 16, 23, 42). Leider ist es so, dass unsere ganze Welt manchmal nichts weiter zu sein scheint als ein großartiges Gebilde aus Codierungen und Werten. Egal, wohin man geht, überall lauern sie und warten darauf, dich in einem unbedachten Augenblick von hinten anzugreifen. Ob Preise im Supermarkt, die ISBN-Nummer deines Lieblingsbuches oder schlicht die altbewährten Schulnoten. Sogar hier in diese Geschichte haben sie sich eingeschlichen – zähl sie mal, es sind erschreckend viele. Obwohl ich sie oft ausgeschrieben habe, um ihre Wirkung abzuschwächen. Okay, ich hätte auch keine Lust, sie zu zählen, vor allem nicht, weil das Ergebnis eine weitere Zahl sein würde. Vielleicht ist letztlich sogar mein Leben nichts weiter als eine ellenlange Zahlenfolge, die sich irgendwann zu einer Schlinge zusammenzieht. Auch das macht mir Angst.

Ja, vielleicht sollte ich weniger über solches Zeug nachdenken. Vielleicht. Gedanken sind sowieso etwas Merkwürdiges.

Ich mag Matheformeln, die gänzlich aus Variablen bestehen.

War’s das? Ach, mein Aussehen, logisch. Also, ich sehe natürlich atemberaubend gut aus, ist ja klar. Noch ein Scherz, wird lustig heute. Nein, ich habe dunkelbraune, wahrscheinlich irgendwie zu lange Haare, die in alle Richtungen abstehen, und grüne Augen. Jap, jetzt war’s das aber. Genug von mir. Endlich.

Das nächste und letzte Thema: Meine lieben Mitschüler. Irgendwie ziehen sich die Erklärungen ein bisschen, dafür möchte ich mich in aller Form entschuldigen: Tut mir leid. Und da ich gerade beim Entschuldigen bin und es eigentlich auch so weit gut läuft, fahre ich direkt mal damit fort: Es tut mir nämlich ebenso leid, dass die ersten Seiten dieser Geschichte nicht nur langweilig, sondern darüber hinaus auch noch äußerst verwirrend waren. Damit du einen besseren Blick auf meine Mitschüler bekommst und deine Gedanken ordnen kannst, ist hier der Sitzplan von heute – schön, was? Wie ich den in der kurzen Zeit noch gezeichnet habe …

Ich fange mal mit Tom an. Tom ist sozusagen mein bester Freund. Ich kenne ihn schon seit dem Kindergarten und habe mich auf Anhieb gut mit ihm verstanden. Er ist ein wenig chaotisch und hin und wieder ein bisschen – schräg, vielleicht. So hat er zum Beispiel eine merkwürdige Abneigung gegenüber Goethe entwickelt, die dazu geführt hat, dass er manchmal sogar aufschreit, wenn er ein Bild von ihm sieht. Das kann in einer normalen, ruhigen Deutschstunde schon ein wenig erschreckend sein. Aber grundsätzlich ist er ein echt netter Kerl. Das scheinen auch meine Mitschüler zu denken, denn sie haben ihn vor ein paar Monaten zum neuen Klassensprecher gewählt. Tom hat hellblonde Haare und blaue Augen.

Mir gegenüber sitzt Emma. Sie hat keine Abneigung gegen Goethe, dafür aber gegen Blumenkohl. Ihre Haare sind kurz und braun, ihre Augen haben die Farbe von frisch geschmolzener Schokolade. Sie hat die Waffeln gebacken, die wir heute Morgen gegessen haben. Meinte, wenn sie schon ihren Samstagvormittag mit dem Teufel verbringen müsse, solle der Tag wenigstens süß beginnen. Mit ganz viel Puderzucker. Wahrscheinlich, damit man nicht schmeckte, dass die Waffeln ein wenig versalzen waren. Müsste ich Emma mit einem Adjektiv beschreiben, so würde es lauten:vergnügt. Und zwar dauerhaft.

Neben Emma sitzt Nevin. Er ist ziemlich klein, blass und dünn, dafür aber ein hervorragender Zauberer. Ich bewundere sein Geschick immer wieder aufs Neue, wenn er aus dem Nichts Spielkarten erscheinen lässt oder hinter Emmas Ohr eine Münze hervorzieht. Sein hervorstechendstes, äußeres Merkmal sind seine großen, blauen Augen. Mit ihnen, seinem strahlenden Lächeln und den blonden, fransigen Haaren sieht er aus, als wolle er Dauerwerbung für Zwieback machen. Heute scheint es ihm aber nicht besonders gut zu gehen.

Jetzt zur hinteren Reihe: Hinter Emma sitzt Liliana. Sie ist der Inbegriff einer Blondine – oder eines Models. Groß, dünn, mit langen, wasserstoffblonden Haaren und mindestens fünf Kilo Schminke im Gesicht. Ein flacher Charakter, sie wird im Laufe dieser Geschichte keine Entwicklung durchmachen, tut mir leid. Nein, ich bin dir nicht böse, falls du das in einer negativen Amazon-Kritik erwähnst.Alle Charaktere sind lieblose Stereotype, die Handlung ist gnadenlos unlogisch und realitätsfern, der Stil nervt und der Protagonist ist ein Idiot. Kommt vor. Äh, wo war ich? Ach ja: Lilianas größte Sorge scheint – wie bereits erwähnt – der Verlust ihres iPhones zu sein. Frau Sommer sammelt nämlich zu Beginn jeder Stunde alle unsere Handys ein. Nicht (nur) aus bösem Willen, sondern vor allem, weil es an dieser Schule eine ziemlich dämliche Vorschrift gibt, nach der der Besitz eines Mobiltelefons einer Todsünde gleichkommt. Deshalb muss sich jeder Lehrer verpflichten, während der Stunde alle Handys zu verwahren. Widerstand ist zwecklos, und nach einem gescheiterten Versuch, ihr iPhone zu behalten, fügte sich auch Liliana den engen Beschränkungen unserer Schule und übergab ihre Verbindung zur Außenwelt der dunklen, muffigen Obhut des Innenlebens von Frau Sommers Tasche. Wie jeder von uns inzwischen. Die meisten haben wohl einfach keine Lust auf Stress. Ich frage mich, weshalb trotzdem noch jeder sein Handy mitnimmt?

Neben Liliana sitzen Miranda und Nepomuk, unser Künstlerpaar. Sie verbringt nahezu ihre gesamte Freizeit mit Malen, er dichtet. Über sie wahrscheinlich. Oder über ihre Bilder. Fast jedes ihrer Kleidungsstücke weist mindestens drei Farbkleckse auf. Er hat immer einen Schreibblock in der Tasche. Beide haben sie dunkle, lange Haare. Vielleicht mögen sie keine Friseure.

Dann gibt es noch Frau Sommer. Wie gesagt, sie ist unsere Deutschlehrerin und Tutorin, hat kurzes, schwarzes Haar und eigentlich immer ganz gute Laune. Seit ihrem Beinbruch ist sie allerdings leicht gestresst und irgendwie ziemlich genervt von uns, habe ich den Eindruck. Im Großen und Ganzen ist sie aber in Ordnung.

Tja, und dann wäre da noch Sonja. Auch hier gibt es ein Wort, das vielleicht schon ausreichen würde, um sie zu beschreiben:traurig. Sie sitzt immer hinten, trägt nur dunkle Kleidung und hat ihre langen, braunen Haare so weit im Gesicht hängen, dass es unmöglich ist, ihre blauen und früher so lebhaften Augen zu sehen. Manchmal glaube ich, sie hat das Sprechen verlernt. Oder aufgegeben. Seit der Sache mit ihrem Freund ist sie nicht mehr dieselbe. Auch ich kannte Gabriel, er war in der Elften bei mir im Mathe-Kurs. Auch ein Udoriwitsch-Geschädigter. Direkt nach … nachdem das mit Gabriel passiert war, verschwand Sonja. Für zwei Monate. Dann fing ein neues Schuljahr an, Udoriwitsch bekam seinen Mathe-LK, ich war ihn endlich los, Sonja kam wieder – und sagte kein Wort mehr. Unsere Verschwörungstheoretiker aus dem Mathe-LK behaupten, sie sei in der Psychiatrie gewesen. Ich für meinen Teil glaube nicht daran. Sonja selbst gibt es nicht zu. Bestreitet es aber auch nicht. Bleibt stumm. Weitgehend. Vielleicht für immer.

»Alles klar, jetzt, wo Nevin auch wieder da ist, können wir ja weitermachen!«

Ah, genau rechtzeitig. Und mit einer weiteren Entschuldigung (Wenn’s läuft, dann läuft’s! Dabei hasse ich Tautologien) für diese überaus langen fünf Minuten, wechsele ich jetzt in den Erzähler- und Vergangenheitsmodus, übergebe das Wort an Frau Sommer – Tutorin und vorübergehend stolze Besitzerin von acht Handys, darunter ein iPhone – und widme mich nun ganz und gar der Frage, ob Faust ein offenes oder geschlossenes Drama ist. Da kommt Freude auf!

Gedanke 2047

Was es wohl heute zum Mittagessen gibt?

Samstag (ach nee), 18. Mai 2013, 10:11 Uhr

»Okay, als Erstes fassen wir noch einmal den Aufbau eines geschlossenen Dramas zusammen. Stichwort Gustav Freitag.« Voller Elan schwang sich Frau Sommer an die Tafel und malte ein wunderschönes, ziemlich unsinniges Dreieck an die dunkle Schieferplatte. Dabei bestehen Tafeln heutzutage doch gar nicht mehr aus Schiefer. »Kann mir jemand die fünf klassischen Akte aufzählen?« Sie warf einen auffordernden Blick in unsere stumme Runde. Ich bohrte mit meinem Finger weiter in dem Loch hinter mir herum, Tom summteHit Me Baby One More Timeund Nevin beugte sich nach vorne und kniff die Augen zusammen, als versuche er, das Dreieck an der Tafel zu erkennen. In diesem Moment war ich mir ziemlich sicher, dass er eine Brille brauchte. Das würde der Zwieback-Firma gar nicht gefallen.