Die Traumbinderin - Kaja Bergmann - E-Book

Die Traumbinderin E-Book

Kaja Bergmann

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Beschreibung

Hey, ich bin Ella, 18, gerade mit dem Abi fertig und weiß nicht, was ich jetzt machen soll. Zur Überbrückung wohne ich bei früheren Bekannten meiner Eltern, die sowieso gerade nach einer neuen Babysitterin suchten. Weil die alte verschwunden ist. Und inzwischen vermisst wird. Ich kümmere mich also um den neunjährigen Tim, treffe mich mit Levi, dem FSJ-ler aus dem Kindergarten und habe Albträume. Immer wieder den gleichen. Und dann ertrinkt die Nachbarstochter …

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HYBRID VERLAG

Vollständige elektronische Ausgabe

09/2023

 

Die Traumbinderin

 

© by Kaja Bergmann

© by Hybrid Verlag

Westring 1

66424 Homburg

 

Umschlaggestaltung: © 2023 by Magical Cover Design, Giuseppa Lo Coco

Lektorat: Julia Schoch-Daub, Eva Kunadt

Korrektorat: Senta Herrmann

Buchsatz: Paul Lung

Illustration: © 2021 by Kaja Bergmann, [email protected]

Autorenfoto: privat

 

Coverbild ›Das Haus der verwunschenen Kinder‹

© 2023 by Magical Cover Design, Giuseppa Lo Coco

Coverbild ›Passwort Rote Alge‹

© 2019 by Creativ Work Design, Homburg

 

ISBN 978-3-96741-230-7

 

www.hybridverlag.de

www.hybridverlagshop.de

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

 

Printed in Germany

 

Kaja Bergmann

 

 

 

Roman

 

Prolog

2. Oktober 2016, 14:01 Uhr

2. Oktober 2016, 14:47 Uhr

Exkurs: Das neue Zuhause

3. Oktober 2016, 07:47 Uhr

3. Oktober 2016, 08:03 Uhr

4. Oktober 2016, 03:32 Uhr

4. Oktober 2016, 06:29 Uhr

4. Oktober 2016, 12:50 Uhr

4. Oktober 2016, 14:46 Uhr

4. Oktober 2016, 16:01 Uhr

5. Oktober 2016, 03:28 Uhr

5. Oktober 2016, 13:21 Uhr

5. Oktober 2016, 13:27 Uhr

5. Oktober 2016, 13:42 Uhr

19. Oktober 2016, 18:02 Uhr

19. Oktober 2016, 18:44 Uhr

19. Oktober 2016, 20:02 Uhr

20. Oktober 2016, 04:27 Uhr

Die dritte Woche

26. Oktober 2016, 17:03 Uhr

28. Oktober 2016, 12:16 Uhr

28. Oktober 2016, 12:54 Uhr

28. Oktober 2016, 15:36 Uhr

28. Oktober 2016, 16:40 Uhr

30. Oktober 2016, 03:31 Uhr

31. Oktober 2016, 09:23 Uhr

31. Oktober 2016, 15:03 Uhr

31. Oktober 2016, 15:41 Uhr

27. November 2016, 00:11 Uhr

31. Oktober 2016, 17:34 Uhr

31. Oktober 2016, 18:35 Uhr

31. Oktober 2016, 18:42 Uhr

1. bis 6. November 2016

6. November 2016, 14:03 Uhr

6. November 2016, 14:17 Uhr

7. November 2016, 03:35 Uhr

7. November 2016, 17:36 Uhr

7. bis 25. November 2016

10. November 2016, 19:37 Uhr

13. November 2016, 12:13 Uhr

15. November 2016, 04:36 Uhr

15. November 2016, 04:37 Uhr

25. November 2016, 12:42 Uhr

25. November 2016, 17:54 Uhr

25. November 2016, 18:09 Uhr

25. November 2016, 18:11 Uhr

26. November 2016, 04:36 Uhr

26. November 2016, 04:55 Uhr

26. November 2016, 06:43 Uhr

26. November 2016, 07:22 Uhr

26. November 2016, 08:13 Uhr

26. November 2016, 09:07 Uhr

26. November 2016, 10:34 Uhr

26. November 2016, 12:00 Uhr

26. November 2016, 13:47 Uhr

26. November 2016, 15:08 Uhr

26. November 2016, 18:43 Uhr

26. November 2016, 20:59 Uhr

26. November 2016, 21:21 Uhr

26. November 2016, 22:16 Uhr

26. November 2016, 22:54 Uhr

16. November 2016, 23:09 Uhr

26. November 2016, 23:18 Uhr

26. November 2016, 23:24 Uhr

26. November 2016, 23:59 Uhr

 

Prolog

 

 

Da ist Blut, so viel Blut fließt auf den Boden, eine rote Pfütze um mich herum. Kalt, so furchtbar kalt, mein Körper, mein Herz, die Menschen, die auf mich herabstarren. Verdrehte Erinnerungen, alles ein einziges unentwirrbares Gedankenknäuel, unentwirrbar wie die Fäden neongrüner Baumwolle, und mittendrin eine Frage: Wo bist du? Ja, genau du. Wo liest du gerade dieses Buch? Zu Hause auf der Couch? Im Zug? In einer Buchhandlung? Ist es laut dort, wo du bist?

Wenn ja, blende die Geräusche ganz aus. Konzentrier dich nur auf meine Worte. Deine Umgebung verschwimmt, die Konturen lösen sich auf in einem weichen Strudel aus Farben und Formen. Die Laute um dich herum werden leiser, eintöniger, du kannst sie nicht mehr voneinander trennen, kannst sie nicht mehr dekodieren, alles ein einziger tiefer Bass. Fühlt sich so ein Schlaganfall an?

Und plötzlich ist da Panik. Panik, dass es nie wieder laut wird. Dass du auf ewig gefangen bist in diesem Meer aus endlos gedämpften Tönen und gähnender Langeweile.

Fühlst du es? Fühlst du die schleichende Angst?

Genau so ist Ödenhausen.

 

2. Oktober 2016, 14:01 Uhr

 

 

Es war ein Fehler gewesen. Ich wusste es in dem Moment, als ich aus dem Bus stieg und die staubige Straße entlangblickte. Ja, staubig. Es leben die Klischees.

Einem plötzlichen Impuls folgend drehte ich mich um und wollte zurück in den Bus steigen, doch der Fahrer hatte die Tür bereits geschlossen und trat gerade aufs Gas. Die Reifen wirbelten den Straßenstaub nach oben, ich atmete ihn ein und bekam einen heftigen Hustenanfall. Als ich mit tränenden Augen aufblickte, war der Bus verschwunden. Und ich allein.

Zerknirscht setzte ich meinen Rucksack ab und sah mich um. Sah nach rechts, nach links, hinter mich, vor mich. Straße, Straße, Feld, Wald. Wo hatte sich das verdammte Dorf versteckt? Ich entdeckte vor meinen Füßen einen kleinen Kieselstein und überlegte, ihn umzudrehen und zu schauen, ob das Dorf vielleicht darunter lag. Mehrere Sekunden lang stand ich bewegungslos da und starrte auf den Stein. Der Stein starrte zurück. Und irgendwann fiel mir auf, dass Steine keine Augen haben und Dörfer sich nicht unter ihnen verstecken können. Für gewöhnlich. Also bückte ich mich, hob ihn hoch (kein Dorf darunter, sagte ich doch!), drehte mich ein paarmal schnell im Kreis und warf ihn so weit fort, wie ich konnte. Als ich schwankend zum Stehen kam, sah ich ihn ein paar Meter weiter die Straße entlangkullern.

„Die Richtung also“, murmelte ich leise, nahm meinen Rucksack und folgte dem Stein.

 

Ja, ich weiß, es ist bescheuert, sich von einem Stein die Richtung weisen zu lassen. Noch viel bescheuerter aber ist es, wenn der Stein auch noch recht hat. Denn nach einer Viertelstunde wahnsinnig monotoner Wanderung bog ich um eine Kurve und sah mich einem dreckig-gelben Ortsschild gegenüber. „Ödenhausen“, verkündete es stolz, „Gemeinde Trödelheim.“

Beeindruckt lugte ich zu dem Stein in meiner Hand hinunter, den ich aus einem unerfindlichen Grund aufgehoben und mitgenommen hatte.

„Sag ich doch, dass der Weg richtig ist!“, erwiderte der Stein selbstgefällig. „Und jetzt mach deine Hand ein bisschen weiter auf, ich seh hier drin fast gar nichts!“

Ich steckte ihn in meine Hosentasche und schämte mich ein wenig für die diebische Schadenfreude, die ich dabei empfand. Bis mir wieder einfiel, dass Steine keine Augen haben. Für gewöhnlich.

Ein paar Meter hinter dem Dorfschild duckten sich die ersten Häuser, alle waren grau. Merkwürdig. Ich kniff die Augen zusammen und erkannte, dass ihre Fassaden keineswegs die gleiche Farbe hatten, sondern lediglich von einer dicken Schmutzschicht bedeckt wurden. Es war eine traurige Ansammlung ehemaliger Pastelltöne: Ehemals-Gelb, Ehemals-Rosa, Ehemals-Creme, wieder Ehemals-Creme, Ehemals-Mint.

„Du hast wirklich keinen Grund, so stolz zu sein“, zischte ich dem Ortsschild zu und trottete griesgrämig an ihm vorbei. Als ich Ehemals-Gelb-Haus erreichte, wandte ich mich um und sah zurück, sah die graue Rückseite des Schilds, dahinter das trockene Feld und den bunten Laubwald, an denen mich der Weg die vergangenen fünfzehn Minuten entlanggeführt hatte. Überlegte, heimlich umzukehren, und trödelte weiter zu Ehemals-Creme-Haus eins. Überlegte ernsthafter, heimlich umzukehren, und erreichte Ehemals-Mint-Haus. Entschied mich endgültig, heimlich umzukehren, und bog in eine Spielstraße hinter Ehemals-Mint-Haus ein, die weiter ins Dorfinnere führte. Während ich mich fragte, warum ich nie das tat, wofür ich mich entschieden hatte, und ob ich mich in Zukunft vielleicht für Dinge entscheiden sollte, die ich nie vorhatte zu tun, registrierte ich, dass der graue Schleier der Fassaden langsam nachließ. Je weiter ich ins Dorfinnere vordrang, desto mehr gewannen die Häuser ihre ehemalige Leuchtkraft zurück, und als die Spielstraße schließlich in eine Art Mini-Platz mündete, fand ich mich umgeben von blitzsauberen, kaugummifarbenen Pastellhäuschen, die eine riesige Kastanie umrundeten. Nach und nach musterte ich die Fassaden, fühlte mich immer mehr wie in Barbie-City und wünschte mir plötzlich die graue Dreckschicht zurück.

Und dann, gerade als ich mich abermals zur Umkehr entschieden hatte, diesmal wirklich und endgültig, gerade als ich vorsichtig einen Fuß zurück in die Spielstraße setzte – da sah ich ihn. Er stand unter der Kastanie und blickte konzentriert nach oben, zwischen seinen ausgestreckten Armen hielt er ein olivfarbenes Tuch. Wie er so dastand, erinnerte er mich auf eine konfuse Art an das Sterntaler-Mädchen. Ein etwa zwanzigjähriges Sterntaler-Mädchen, das sich aus post-pubertärem Trotz die Haare abgeschnitten und schwarz gefärbt hatte, ein buntes, viel zu großes Ringelshirt trug und es als gute Idee empfand, sich an einem strahlenden Herbstnachmittag unter einen Baum zu stellen und … ja, und was eigentlich? Sterne zu fangen? Blätter? Kastanien?

„Pluto!“, rief der Junge plötzlich. Seine Stimme hörte sich an, als versuche er angestrengt, wütend zu klingen, obwohl er eigentlich fabelhaft gute Laune hatte. „Pluto, komm da runter!“

Was machte ein Planet (sorry, Ex-Planet) auf einem Baum? Unwillkürlich trat ich ein paar Schritte näher, starrte nun ebenfalls nach oben in die Krone, doch konnte in dem dichten Blätterwerk nichts erkennen. Erst recht keinen Zwergplaneten.

 

Zeit für ein kleines Zwischenfazit! Fassen wir einmal die bescheuerten Dinge zusammen, die ich auf den letzten drei Seiten getan habe:

 

Es war bescheuert, aus dem Bus zu steigen.

Es war bescheuert, sich von einem Stein den Weg

weisen zu lassen.

Es war bescheuert, nicht umzukehren.

Es war bescheuert, starr nach oben blickend auf einen

Baum zuzulaufen, während überall auf dem Boden verstreut Kastanien lagen. Kastanien, die nur darauf warteten, dass ein unbesonnener Mensch auf sie trat und ausrutschte.

 

Stöhnend lag ich auf dem Rücken, fühlte mich mit meinem Rucksack wie ein Käfer und sah in den Himmel. Blau. Der Himmel war blau. Als wäre er gerade eben einem Ärzte-Song entsprungen. Blau waren auch die Augen, die sich plötzlich vor den Himmel schoben und mich irritiert musterten.

Nach ein paar Sekunden verschwanden sie und ich hörte ein scharrendes Geräusch neben mir. Und dann nichts mehr. Stille. Ich stöhnte wieder und drehte den Kopf nach rechts. Etwa einen halben Meter entfernt lag der Sterntaler-Junge. Er hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt und blickte nach oben.

„Was tust du da?“, fragte ich verwirrt.

„Ich habe mich zu dir gelegt, damit es so aussieht, als würden wir chillen.“ Ungerührt begutachtete der Junge weiter den Himmel.

„Hä?“ Irgendwie kam mir die Szene bekannt vor. Doch bevor mir klarwurde wieso, sprang der Junge auf und streckte mir eine Hand entgegen. Ich sah nur irritiert zu ihm hoch. Als ich auch nach ein paar Sekunden keine Anstalten machte, seine Finger zu ergreifen, hob er die Augenbrauen. „Milady? Darf ich Ihnen meine Hilfe anbieten?“ Er fiel in einen übertriebenen Knicks und ich beschloss, dass es vielleicht wirklich das Beste war, mir von ihm hochhelfen zu lassen – wer weiß, was er sich sonst noch einfallen ließ. Also schlug ich ein und er zog mich auf die Beine.

Schwer atmend blieb ich neben ihm stehen und klopfte mir den Dreck von der Jeans. Er beobachtete mich dabei. „Was ist?“, wollte ich wissen.

Er zuckte mit den Achseln. „Du bist falsch abgebogen.“

„Was?“

„Na ja, wenn du zum Himalaya willst, hättest du dort vorne rechts gehen müssen. Dann immer weiter geradeaus, bis zu einem Feld. Dort biegst du links ab und gehst dann einfach wieder geradeaus. Nach 20 Tagen kommst du dann an ein Meer. Da schwimmst du durch …“

„Hä?“ Langsam fragte ich mich, ob ich mir bei dem Sturz eben vielleicht eine Gehirnerschütterung zugezogen hatte.

Der Junge grinste, dann nickte er über meine Schulter. „Dein Rucksack“, erklärte er vergnügt. „Wo willst du denn sonst damit hin?“

„Ach so. Lustig.“

„Gell?“ Sein Grinsen wurde breiter. Dann streckte er mir wieder seine Finger hin.

„Aber ich steh doch schon“, nuschelte ich zerstreut.

Ohne darauf einzugehen, nahm er meine Hand, schüttelte sie übertrieben und sagte mit ernstem Gesichtsausdruck: „Freut mich, Sie kennenzulernen, werte Lady. Ich bin Levi. Dürfte ich auch Ihren Namen erfahren?“

„Ella“, antwortete ich automatisch.

„Sehr erfreut.“ Endlich ließ Levi meine Hand los. „Und was machst du hier?“

„Ich suche die Krumme Gasse.“

„Warum?“, fragte er überrascht. Als ob es so erstaunlich wäre, dass sich irgendjemand für diese Straße interessierte.

„Na ja, da wohnt doch die Familie Traummann, oder?“

Levi runzelte die Stirn und nickte.

„Das sind Bekannte meiner Eltern“, fuhr ich fort. „Ich passe die nächsten Monate auf ihren Sohn auf.“

„Tim?“

„Ja, genau.“ War ja klar. Hier in diesem pastellfarbenen Mini-Dorf kannte jeder jeden. „Wo ist denn die Krumme Gasse?“

Levi pustete sich eine seiner schwarz gefärbten Haarsträhnen aus den Augen und zeigte auf die Spielstraße, aus der ich eben gekommen war. „Da rein, dann rechts und dann die zweite links. Es ist das letzte Haus; wenn du denkst, die Straße wäre zu Ende, geht es noch mal um ’ne Kurve. Und da ist es dann.“

„Danke.“ Ich wusste nicht, was ich weiter hätte sagen sollen, und stand ihm noch eine Weile unschlüssig gegenüber. Betrachtete seinen abgenutzten Ringelpulli, die zerschlissene Jeans mit dem Loch am linken Knie, das den Blick auf eine halb verheilte Schramme freigab. Wie hatte er sich die nur zugezogen?

„Na dann … Mach’s gut.“ Verlegen drehte ich mich um und schlenderte in Richtung der Spielstraße. Am ersten Haus angekommen sah ich noch einmal zurück. Levi stand unverändert inmitten der Kastanien, zwirbelte eine Haarsträhne zwischen den Fingern und blickte mir gedankenverloren nach. Ich hob unsicher die Hand, er bemerkte es erst nach einer Weile, winkte dann aber freundlich zurück. Und endlich wandte ich den hässlichen Barbie-Häusern den Rücken zu und machte mich auf die Suche nach der Krummen Gasse.

Erst sehr viel später fiel mir auf, dass ich gar nicht nach Pluto gefragt hatte.

 

2. Oktober 2016, 14:47 Uhr

 

 

Das Haus der Traummanns war wahrscheinlich das einzige in diesem Dorf in weißer Farbe. Als ob es sich weigerte, an dem pastellfarbenen Pseudo-Individualismus der anderen teilzunehmen. Blitzblank stand es da, in einem Meer aus Sonnenblumen, die fransige Schatten auf die Pflastersteine vor meinen Füßen warfen. Ich fühlte mich unwohl, als ich auf die zittrigen Flecken trat, und heftete meinen Blick auf die Haustür vor mir. Noch fünf Meter. Blumen sollten nicht größer sein als man selbst. Vier Meter. Blumen sollten nicht im Oktober blühen. Drei Meter. Überhaupt waren mir Blumen schon immer suspekt gewesen. Zwei Meter, ein Meter, da. Drei Stufen nach oben.

Die Tür glich dem Haus: weiß, glatt und sauber, mit einem langen Streifen Milchglas in der Mitte. Als ich auf den Klingelknopf drückte, erklangen innen die Glocken von Big Ben.

„Was soll das denn?“, fragte der Stein in meiner Hosentasche. „Hast du mich nach London gebracht?“

„Schön wär’s …“

Hinter dem Milchglas ertönten Schritte, sie wurden lauter und ich starrte unwillkürlich auf meine Füße. Links neben der Tür stand ein grüner Blumentopf voller Chrysanthemen. Seit wann weiß ich eigentlich die Namen irgendwelcher Blumen? Na ja, man muss seine Feinde kennen.

„Ella, da bist du ja!“

Boris Traummann war Zahnarzt. Ich wusste das von meinen Eltern. Jeder andere wusste es, wenn Boris lächelte und dabei eine strahlende Reihe schneeweißer kerzengerader Zähne entblößte. Schnee und Kerzen. Tolle Wintermetaphern für eine Geschichte im Oktober. Läuft.

„Wir haben uns schon Sorgen gemacht, du wolltest doch eigentlich um zwei da sein.“ Er drückte mich kurz und fest und ich fühlte mich gefangen in einer Wolke aus teurem Aftershave. Wie früher – interessant, dass ihn die Marke auch nach zehn Jahren nicht langweilte.

„Komm, Sarah und Tim sind hinten im Garten.“ Er schenkte mir ein weiteres Schneekerzen-Lächeln und spazierte voraus durch einen Flur, der in einen großen hellen Raum mündete. Erst dachte ich, es sei ein Wohnzimmer, doch dann entdeckte ich die Küchenzeile und den Esstisch. Eine Wohnküche also? Auch hier dominierte Weiß: das Sofa, der Teppich, die Tapete. Die Hängeschränke, der Tisch, die Stühle. Alles hell. Alles sauber. Vielleicht waren das die Nebenwirkungen, wenn man zu viel Zeit in einer Zahnarztpraxis verbrachte?

Boris ging durch die geöffnete Terrassentür und ich folgte ihm in einen gepflegten kleinen Garten. Mein erster Blick fiel auf die riesige Nestschaukel, in deren Korb ein Junge saß. Er bewegte sich nicht, hockte bloß stumm da und beäugte mich misstrauisch. In der hinteren Ecke des Gartens erstreckte sich ein buntes Blumenbeet (o Wunder, schon wieder Blumen), dessen Zentrum ein kitschiger Marmorspringbrunnen zierte. Inmitten der Blumen stand Sarah Traummann. Sie hielt eine Leseschere in den Händen, hatte eine karierte Schürze umgebunden und ihre hellblonden Haare zu einem ordentlichen Dutt hochgesteckt. Konzentriert beugte sie sich über eine dicke Hortensie und schien zu überlegen, wo sie den nächsten Schnitt anbringen sollte. Mich beschlich das sonderbare Gefühl, dass sie lieber Schönheitschirurgin statt Zahnärztin geworden wäre. Ja, sie hatte den gleichen Beruf wie ihr Mann. Überraschung! Abwechslung schien in den traumannschen Lebensentwürfen genauso wenig angebracht wie in der Farbgestaltung ihrer Innenarchitektur.

„Sarah, schau mal, wer da ist!“, rief Boris heiter. Sarah blickte hoch und auf ihrem Gesicht breitete sich dasselbe Schneekerzen-Lächeln aus wie auf dem ihres Mannes.

„Ella, na endlich!“ Sie legte die Schere beiseite und eilte durch die Blumen hindurch auf mich zu. „Mensch, bist du groß geworden!“ Ihre Umarmung war weniger fest, dafür aber länger als die von Boris. Auch sie trug dasselbe Pfirsichparfüm wie vor zehn Jahren.

„Ihr habt euch gar nicht verändert“, murmelte ich verlegen und mir fiel auf, dass es die ersten Worte waren, die ich zu ihnen sagte. Sarah ließ mich los, sah Boris an und beide strahlten um die Wette.

Dann wandte sich Boris dem Jungen zu, der noch immer auf der Schaukel saß und die ganze Szene teilnahmslos beobachtet hatte. „Tim!“, rief er. „Möchtest du nicht herkommen und Ella Hallo sagen?“

Erst reagierte der Junge nicht, dann kletterte er langsam aus seinem Korb und trottete mürrisch zu uns herüber. „Hallo“, knurrte er und steckte die Hände in seine Hosentaschen.

„Tim“, ermahnte ihn Boris. „Worüber haben wir gesprochen?“

Tim zog eine Grimasse. „Schön, dass du da bist“, säuselte er übertrieben freundlich. Die Hände aber ließ er in den Taschen.

„Mach dir nichts draus“, meinte Sarah gelassen. „Er ist sauer wegen Sophie, weil …“ Sie stockte, als hätte sie etwas Verbotenes gesagt, und fuhr nervös durch Tims rotblonde Locken.

Der Junge schlug ihre Hand weg. „Gar nicht, ich bin sauer, weil ich keine dumme Babysitterin brauche!“ Wütend drehte er sich um und rannte durch die Terrassentür ins Haus.

„Er kriegt sich schon wieder ein“, brummte Boris und zupfte gedankenverloren am Blatt eines Wilden Weins, der sich an einem feinen Drahtgitter die Außenwand emporrankte. „Und auch, wenn er es nicht wahrhaben will: Er braucht schon jemanden, der auf ihn aufpasst. Früher hat sich mein Vater um ihn gekümmert, wenn Sarah und ich in der Praxis waren. Dann ist er leider verstorben, deshalb haben wir Sophie eingestellt. Das hat auch ziemlich gut funktioniert, aber seit August ist Tim wieder ständig allein.“ Er schaute zu mir, lächelte. „Aber zum Glück bist du ja jetzt da!“

„Äh, danke …“ Ich spürte Blut in meine Wangen steigen. „Ich, äh, freue mich auch. Aber wer … wer ist Sophie?“

Sarah blickte zur Terrassentür, als wollte sie sich vergewissern, dass Tim außer Hörweite war. Dann antwortete sie leise: „Seine alte Babysitterin.“

„Ah, klar. Und wo ist sie jetzt?“

Sarah kaute nervös auf ihrer Unterlippe. „Na ja, sie ist … Sie wird vermisst. Seit zwei Monaten. Sie hatte bei uns gekündigt und war auf dem Weg nach Hamburg, um sich dort eine Wohnung zu suchen. Aber sie ist … Sie kam nie dort an.“

„Oh.“ Mehr konnte ich nicht sagen. Und Sarah ansehen konnte ich auch nicht. Also senkte ich den Blick und schaute betreten auf meine Schuhspitzen.

---ENDE DER LESEPROBE---