30 Tage Dunkelheit - Jenny Lund Madsen - E-Book

30 Tage Dunkelheit E-Book

Jenny Lund Madsen

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Beschreibung

»Ein wahrhaft origineller Krimi, der Humor und Spannung perfekt ausbalanciert.«VOGUE Scandinavia Eine Schriftstellerin auf der Suche nach Inspiration. Ein kleines isländisches Dorf. Ein ungelöster Mordfall. Und eine Realität, die sich mehr und mehr selbst schreibt. 30 Tage Dunkelheit ist die Entdeckung des Jahres aus Dänemark. »Jeder Idiot kann in einem Monat einen Krimi schreiben!«, schimpft die renommierte, aber leider auch ziemlich erfolglose Schriftstellerin Hannah Krause-Bendix vor laufender Kamera. Nun muss sie, um ihren Ruf zu retten, in einem Monat einen Krimi abliefern. Kurzentschlossen wird sie von ihrem Lektor in die winterliche Einöde Islands geschickt – die perfekte Kulisse, wie ihm scheint. Doch als der Neffe ihrer Gastgeberin unter mysteriösen Umständen tot aufgefunden wird, wird die Fiktion plötzlich Realität. War es Mord? Je tiefer Hannah gräbt, desto deutlicher wird ihr zu verstehen gegeben, dass sie sich raushalten soll. Und bald steht nicht mehr nur Hannahs Karriere auf dem Spiel.

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Seitenzahl: 509

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Dies ist der Umschlag des Buches »30 Tage Dunkelheit« von Jenny Lund Madsen, Julia Gschwilm

Jenny Lund Madsen

30 Tage Dunkelheit

Kriminalroman

Aus dem Dänischen von Julia Gschwilm

Tropen

Impressum

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Tropen

www.tropen.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Tredive dages mørke« im Verlag Grønningen 1, Kopenhagen

© 2020 by Jenny Lund Madsen

Published by agreement with Copenhagen Literary Agency ApS, Copenhagen

Für die deutsche Ausgabe

© 2023 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Zero-Media.net, München

unter Verwendung einer Abbildung von © gettyimages/maina Aldamjarova

Gesetzt von C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Gedruckt und gebunden von CPI – Clausen & Bosse, Leck

ISBN 978-3-608-50165-0

E-Book ISBN 978-3-608-11997-8

Für Trin

Prolog

Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Warum musste es so enden? Er wollte schreien, sich die Haut vom Leibe reißen, auf jemanden einschlagen. Jemandem gegen den Kopf treten, bis das Leben aus ihm entwich. Es musste nicht einmal unbedingt er sein, Hauptsache, es war jemand, der es verdient hatte. In diesem Moment kam es ihm so vor, als hätte es die ganze Welt verdient zu sterben.

Er lief schneller. Die Wiese war nass und matschig wie immer, er hasste diesen Ort. Es war dunkel und kalt und feucht. Immer dasselbe, zum Kotzen. Ohne zu wissen, warum, rannte er weiter in Richtung Wasser. Konnte bereits die Wellen hören. Je näher er kam, desto größer wurde die Lust, ins Meer zu springen und das Ganze einfach zu vergessen. Er wollte weg von hier, hasste das Dorf und alle seine Bewohner. Er fror. War ohne seine Jacke gegangen, so aufgewühlt war er gewesen. Kurz dachte er darüber nach umzukehren, doch dann würde er sein Gesicht verlieren. Und das war das Letzte, was er wollte. Er wollte über sie alle siegen, sie hinter sich lassen und das Leben erobern, zurückkehren und ihnen zeigen, was aus ihm geworden war. Fuck them. Er war jetzt fast ganz unten am Meer, konnte das Salz schon schmecken. Er leckte sich über die Lippen, spürte, dass er alles konnte. Er konnte sich selbst das Leben nehmen, jemanden umbringen, egal. Er war etwas wert, er hatte die Macht, er konnte tun, was auch immer er wollte. Er hielt inne, riss sich das Shirt herunter, stand mit nacktem Oberkörper da und merkte, wie die Novemberkälte sich in seine Haut fraß. Es tat weh und würde bald lebensgefährlich werden. Wieder dachte er darüber nach, in die Wellen zu springen, dem Ganzen ein Ende zu setzen. Doch dann sank er mit einem Brüllen in sich zusammen, rang nach Atem, schluchzte, schrie. Es kümmerte ihn nicht, dass er im feuchten Gras saß. Auch wenn es für die Jahreszeit mild war, kroch die Kälte durch seinen ganzen Körper bis in sein Herz. Es war so ungerecht! Alle anderen saßen im warmen Wohnzimmer und hatten keinerlei Probleme, während er hier hockte wie ein Tier, mitten im Nichts. Sein Leben war zerstört. Er schluchzte, merkte, wie Selbstmitleid ihn erfüllte. In diesem Moment wollte er nur eines: umarmt werden. Und er wusste, wer ihn jederzeit bereitwillig umarmte – selbst, wenn er sie erst kurz zuvor abgewiesen hatte. Allein der Gedanke tröstete ihn etwas, er hörte auf zu weinen. Er schüttelte sich vor Kälte; er wollte nur nach Hause zu ihr, wollte nur eine Umarmung und eine Tasse Tee.

Plötzlich sah er etwas in der Ferne, die Scheinwerfer eines Autos. Der Wagen näherte sich, und er erkannte die speziellen Scheinwerfer, selbst aus dieser Entfernung. Niemand sonst im Dorf hatte solche weißen, blendenden Scheinwerfer. Scheiße. Das war das Letzte, was er jetzt brauchen konnte. Unter keinen Umständen würde er mit diesem Idioten reden. Er stand auf, zog sein Shirt an. Am besten sah er zu, dass er nach Hause kam – er wollte leben, nicht sterben. Doch im selben Augenblick hörte er eine Stimme hinter sich, jemand sagte seinen Namen. Konnte das sein? Er wollte sich gerade umwenden, doch da spürte er ihn schon. Den Schlag. Es fühlte sich an, als stürzte ihm der Himmel auf den Kopf. Er fiel zu Boden, nahm gerade noch das nasse Gras und das Blut wahr, das ihm durch die Haare lief. Jemand zog an seinen Beinen, schleifte ihn zum Wasser hinunter, er versuchte sich zu bewegen, aber es gelang ihm nicht. Dann verlor er völlig das Bewusstsein. Merkte nicht, dass ihn jemand in etwas hineinzog, von dem er kurz zuvor noch geträumt hatte. Das eiskalte, dunkle und todbringende Wasser.

1

Eine Hand berührt über die Armlehne hinweg eine andere, Finger verschränken sich ineinander. Sie lehnen sich gleichzeitig zurück. Er dreht den Kopf eine Millisekunde vor ihr herum, er hat Angst vor dem Fliegen, versucht es jedoch zu verbergen, sie hat keine, tut jedoch so, als ob. Sie lieben sich mit den Augen und üben die Liebe aneinander, während sie vom Boden abheben.

Sie: Ich hab auf einem Berg gecampt.

Er: Ich bin Ski gefahren.

Sie: Ich hab dir den Atem genommen.

Er: Ich hab in Brüssel getanzt.

Das Flugzeug ist in der Luft, seine leicht schwitzige Hand …

So weit, so gut. Was jetzt? Wie erzählt man von zweien, die sich gerade verlieben? Wie schildert man ihre Gefühle, ohne wie eine schlechte Kopie von Goethe zu klingen, oder noch schlimmer: eine viel zu gute Kopie von Barbara Cartland? Wie auch immer, das Ganze ist viel zu banal. Mit einem festen Druck auf delete löscht sie den kompletten Abschnitt. Das Gefühl der Unzulänglichkeit spült sie mit einem großen Glas Rotwein hinunter und kippt gleich noch eines hinterher – um das Gefühl der Mittelmäßigkeit loszuwerden, braucht sie mehr als ein Glas. Hannah Krause-Bendix hat noch nie eine schlechte Rezension bekommen, nicht ein negatives Wort haben die Rezensenten über einen ihrer vier Romane verloren. Sie ist ein literarischer Superstar, war zweimal für den Literaturpreis des Nordischen Rates nominiert, hat ihn nie gewonnen, aber das ist unerheblich: Sie glaubt nicht, dass Literatur mit Preisen bewertet werden kann. Aus diesem Grund hat sie auch nie einen der vielen Preise angenommen, die ihr im Lauf der Jahre zugesprochen wurden. Hannah ist in ihren eigenen Augen ein fünfundvierzigjähriger Ausbund an Integrität und unterstreicht bei jeder sich ihr bietenden Gelegenheit, dass kommerzieller Erfolg unter ihrer Würde ist. Ihr Lektor ist möglicherweise der Einzige, der weiß, dass das eine Lüge ist. Dialog, von vorne:

Er: Es gibt Straßen in Kopenhagen, die nur in meinen Träumen existieren.

Sie: Aber sind sie deswegen weniger real?

Wieder delete. Sie hat in ihren Büchern noch nie von der Liebe erzählt, und momentan sieht es so aus, als würde es ein One-Night-Stand ohne Folgen bleiben. Hannah steht rastlos vom Schreibtisch auf, deutsches Design, Mahagoni, schwer genug, um ihre normalerweise so genialen Worte zu tragen. Doch heute gibt es nicht viel zu tragen, die Worte kommen einfach nicht. Auch heute nicht. Hannah schreitet ihre Dachwohnung ab, siebenundsechzig Quadratmeter, das ist schnell getan. Sie stellt sich ans Fenster, öffnet es, bläst Rauch über die Dächer der Stadt. Es ist ein schöner Tag, Kopenhagen macht sich gut in der Herbstsonne, die Menschen laufen beharrlich mit kurzen Ärmeln herum, obwohl schon November ist. Als würde die nackte Haut den Sommer halten. Manchmal ist sie neidisch auf diese Menschen, die ihren Nachwuchs im Kinderwagen herumschieben, sich sorglos gegenseitig grüßen und Soja-Latte aus Pappbechern trinken. Die Kopenhagener sind so gut darin, sonntags glücklich auszusehen. Einen kurzen Moment überlegt sie, ob sie doch hingehen soll. Bastian wird ihr monatelang keinen Wunsch mehr abschlagen können, wenn sie es tut. Keine schlechte Aussicht: ein dankbarer, fügsamer Lektor. Äußerst verlockend. Doch dann drückt sie die Zigarette aus und reißt sich zusammen. Sie wird nicht auf einer todlangweiligen Buchmesse ihre Romane für einen Pöbel signieren, der Bücher nicht von Literatur unterscheiden kann. Außerdem erwarten sie dort auch keine Busladungen voller jubelnder Fans. Hannahs Leserschaft ist genauso klein wie elitär – trotz ihres Renommees lebt sie nach wie vor als Autorin von des staatlichen Kunstfonds Gnaden. Sie schreibt die Art von Büchern, in denen ein alter Mann einen Schluck Kaffee nimmt und über vierzig Seiten hinweg nachdenkt, bevor er einen weiteren Schluck nimmt. Und dann ist nicht nur der Kaffee kalt geworden. Die meisten ihrer Leser sind es auch.

Hannah geht in die Küche und redet sich ein, dass sie es aus einem bestimmten Grund tut. Aber das stimmt nicht. Ihr Hungergefühl ist nicht echt, sie hat erst vor einer Stunde gefrühstückt. Erst vor einer Stunde, wirklich? Die Uhrzeit leuchtet ihr vom Herd her digital entgegen, ein stummer Vorwurf: Es ist noch nicht einmal elf Uhr, und sie ist schon bei ihrem dritten Glas Wein und ihrer fünften Kippe. Das muss aufhören. Von jetzt an kein Alkohol mehr vor zwölf. Ein Versprechen, das sie schon viel zu oft gebrochen hat, und sie weiß, dass sie es auch diesmal tun wird. Was für ein verdammtes Schriftstellerklischee sie doch ist. Sie öffnet ein paar Schranktüren, schließt sie wieder. Dasselbe Ritual mit dem Kühlschrank: öffnen, schließen. Doch der Hunger kommt nicht, sie hat auf nichts Lust. Warum lässt ihre Inspiration sie in letzter Zeit nur so im Stich?

Korrektur: Ihre Inspiration ist nicht das Problem. Stoff hat sie genug. Es ist eher der Umgang damit, die Verschriftlichung sozusagen. Eine bestimmte Empfindung, ein scharfsinniger Gedanke oder ein bedeutungsvolles Wort bilden keinen Erzählanlass mehr, denn der Rest kommt einfach nicht. Oder genauer gesagt, das, was kommt, ist zu schlecht, zu floskelhaft, zu prätentiös, zu beliebig. Sie trifft nicht mehr wie sonst den Nerv. Charakterstudien sind Hannahs Stärke. Sie hat ein intuitives Gefühl für ihre Figuren, sodass ihre Leser nicht nur denken, sie würden diesen Menschen kennen, sondern sie wären dieser Mensch. Hannah ist eine Beobachterin. Während die anderen Gäste bei einem Abendessen um allgemeine Aufmerksamkeit wetteifern, beobachtet sie – sie erhebt nicht wie die anderen die Stimme und zitiert Fakten, sie sitzt still da und lächelt nur flüchtig über das etwas schräge Gespräch. Hannah registriert die flackernden Augen einer Person und die leeren Worthülsen, die sie von sich gibt, sie spürt die innere Entfremdung und den verzweifelten Wunsch, nicht ertappt zu werden. Doch wobei? Dem seelischen Ungleichgewicht, der empfundenen Langeweile, dem Versuch, etwas zu schützen, das zu gut und schön für die Umwelt ist? Über derartige Fragen grübelt Hannah nach, ihnen dichtet sie Geschichten an, um ihre Leser lebensklüger zu machen. Aber mittlerweile zweifelt Hannah daran, dass sie mit ihrer Schreiberei tatsächlich irgendjemanden klüger macht. Am allerwenigsten sich selbst. Da sind nur endlose Gedankenreihen auf Papier. Das ist der Grund, weshalb sie sich nun an der Liebe versucht, sie will zurück auf die richtige Spur kommen. Oder eine neue finden.

Doch es ist schwer, eine Handlung zum Thema Liebe zu erfinden, wenn man selbst in einer Paarbeziehung nie über den ersten Wendepunkt hinausgekommen ist – und vielleicht besonders schwer, wenn man nicht an Handlungen glaubt. Sie wirft einen Blick aus dem Küchenfenster, hinaus in den Garten, wo ein paar Kinder spielen. Falls es ein Spiel ist, Regenwasser aus einer großen Tonne zu holen und die Blumen zu gießen. Dem Lachen und fröhlichen Kreischen der Kinder nach zu urteilen, macht es ihnen jedenfalls Spaß. Hannah seufzt, wie schön muss das sein, ein so leichtes und unbekümmertes Leben. Sie schüttelt den Gedanken ab, will nicht hier sitzen und sich selbst bemitleiden. Wenn sie ganz ehrlich ist, hat sie einen Teil ihrer Probleme selbst geschaffen, besonders im Hinblick auf die Liebe. Es ist nicht so, dass Hannah nicht lieben kann. Das hat sie sogar schon ziemlich oft getan, aber immer nur für kurze Zeit. Generell hat sie einfach nicht besonders viel Geduld mit anderen Menschen, und in Liebesbeziehungen ist sie immer enttäuscht worden, bevor sie sich überhaupt richtig entwickelt haben. Enttäuscht ist vermutlich das falsche Wort. Gelangweilt trifft es wohl besser. Vielleicht liegt es daran, dass sie ihre Zeit damit verbringt, in den Köpfen ihrer Charaktere herumzufuhrwerken, und dadurch immer den Eindruck hat, allen anderen zehn Schritte voraus zu sein. Sie würde so gern einmal überrascht werden, jemanden treffen, den sie nicht gleich durchschaut. Doch langsam zweifelt sie daran, dass das jemals geschehen wird.

Bastian zweifelt nicht an ihr, das hat er noch nie getan. Aber er hat so ein unfassbar schlechtes Urteilsvermögen. Wenn er nicht ihr bester (na ja, seien wir mal ehrlich, einziger!) Freund, größter Fan und unverrückbar loyaler Lektor wäre, hätte sie ihm schon vor vielen Jahren die Freundschaft gekündigt. Er ist ihr zu kommerziell geworden. Sie fragt sich schon seit Langem, warum er sie eigentlich mag. Hannah ist Bastians einzige literarische Autorin, die anderen »Autoren«, die er betreut, schreiben Kochbücher, Krimis, Schundromane – all diesen Mist, den die Leute kaufen, weil er leichtverdaulich und ungefährlich ist. Da gibt es Antworten, gute Menschen und böse Menschen, Probleme, die alle gelöst werden. In Hannahs Romanen gibt es keine Antworten, nicht einmal Fragen. Wenn man sie liest, muss man eigenständig denken. Sich vertiefen. Fühlen. Und das können dann eben doch die Wenigsten. Hannah seufzt bis in die Fingerspitzen. Aber sie weiß sehr gut, dass sie keinen Gedanken daran verschwenden dürfte, Bastian loszuwerden – er ist derjenige, der sie eigentlich schon vor vielen Jahren hätte fallen lassen sollen. Sie ist schwierig, ihre Bücher verkaufen sich nicht. Woran es wohl liegen mag, dass Bastian sie nun schon seit vierzehn Jahren hartnäckig im Verlag behält? Prestige, Philanthropie, schlechtes Urteilsvermögen? Jedes Mal, wenn sie darüber nachdenkt, erscheint ihr die letzte Möglichkeit als die wahrscheinlichste. Ich muss ihm etwas zurückgeben, denkt sie in einem Anflug von Einsicht, der nur den Bruchteil einer Sekunde währt. Da hat sie Bastian schon angerufen und ihm mitgeteilt, dass sie zur Buchmesse kommt. Sie bringt ja ohnehin nur Banalitäten zu Papier. Bastian ist glücklich.

2

Vor dem Bella Center zündet Hannah sich eine Kippe an und bereut ihr Vorhaben. Während sie sich genügend Mut anraucht, um den Messebesuchern entgegenzutreten, betrachtet sie die fettverschmierten Glastüren, durch die mit Schwingmechanismus und Handschubkraft Grauhaarige, Jütländer und Kinder in die Welt der Bücher und wieder hinaus geschleust werden. Mit diesen Menschen soll sie sprechen. Oh Gott, ich will lieber sterben!

»Entschuldigung, aber können Sie mit der Zigarette vielleicht etwas weiter vom Eingang weggehen?«

Hannah wendet sich um und blickt direkt auf das Haar einer Frau, die zu anderen Zeiten bestimmt eine ausgezeichnete Milchmagd abgegeben hätte. Heutzutage ist sie Lehrerin, und die selbstgefärbten Haare sind seit dem letzten Bleichen vier Zentimeter gewachsen. Hannah senkt ihren Blick, schaut der Frau in die gekränkten Augen. Die Pädagogin weist mit Leidensmiene auf die Gruppe unruhiger Kinder, die hinter ihr stehen.

»Die rauchfreie Zone geht bis ganz dahinten.«

Die Frau zeigt nun auf eine Bude, die so weit weg liegt, dass Hannah sie kaum noch erkennt. Hannah lächelt demonstrativ.

»Okay, ich soll also nach Schweden, um eine Kippe zu rauchen?«

»Es ist doch wegen der Kinder. Sie werden vielleicht zum Rauchen verleitet, wenn sie jemanden mit Zigarette sehen. Oder sie könnten Krebs bekommen.«

»Davon, dass sie mich rauchen sehen?«

»Davon, dass Sie ihnen ins Gesicht rauchen.«

Hannah blickt zuerst die Milchmagd-Pädagogin und dann die Kinder müde an, die sie anstarren, als wäre sie Darth Vader. Dann beugt sie sich zu dem Erstbesten hinunter, einem rotznasigen Jungen mit roten Backen. Hält ihm die qualmende Zigarette hin.

»Hast du Lust, die hier fertig zu rauchen?«

Der Junge schüttelt ängstlich den Kopf. Hannah richtet sich auf, schaut der Pädagogin direkt in die Augen.

»Sehen Sie – ich inspiriere niemanden einen Dreck.«

Hannah drückt die Kippe aus, dreht sich um und betritt die Buchmessenhölle. Die Rufe der Frau, sie solle die Kippe aufheben und in den Mülleimer werfen, ignoriert sie.

Bücherstände bilden die Wände dieses Labyrinths, in dem von grauhaarigen Weißweinfrauen aus Lesezirkeln bis hin zu jungen Paaren mit umgeschnallten Babys alle möglichen Leute herumirren. Manche auf der Jagd nach dem nächsten großen Leseerlebnis, andere in der Hoffnung, einen Blick auf ihren Lieblingsautor zu erhaschen – die meisten wohl einfach auf der Flucht vor der Langeweile zu Hause. Einen Schal um den Kopf geschlungen, gelingt es Hannah, Begegnungen sowohl mit Kollegen als auch mit Lesern und Journalisten zu vermeiden, während sie sich vorankämpft. Sie spürt, wie ihre Platzangst in einem Anfall von kaltem Schweiß und Atemnot ihren Höhepunkt erreicht, während sie den Stand betritt, wo ihre Bücher auf einem eigenen Tisch arrangiert sind. Hier soll sie stehen und ihren Namen hineinsetzen. Bastian ist nicht da, obwohl er versprochen hatte, zu kommen. Verärgert stellt sie fest, dass der Stapel ihrer Bücher völlig unberührt zu sein scheint. Es sieht auch nicht so aus, als würde sich das ändern: Außer einer müde wirkenden Verlagspraktikantin hinter dem Tresen ist sie die Einzige hier. Hannah nimmt den Schal ab, die Praktikantin blickt sie an, ohne sie zu erkennen.

»Für diese Bücher gibt es ein spezielles Messeangebot, zwei zum Preis von einem. Wir werden sie irgendwie nicht richtig los, aber sie sind wirklich gut. Die Autorin hat zweimal den Literaturpreis des Nordischen Rates gewonnen.«

»Diese Autorin hat nie den Literaturpreis des Nordischen Rates gewonnen.«

»Doch, Hannah Krause-Bendix. Sie ist wirklich eine der besten Autorinnen Dänemarks, sie ist nur nicht so bekannt. Aber sie ist meine Lieblingsautorin.«

Hannah bekommt Lust, den Revolver zu ziehen, den sie glücklicherweise nicht in der Tasche hat. Sarkasmus und Demütigung sind ihre einzigen Waffen.

»Okay, sie ist Ihre Lieblingsautorin? Welchen von ihren Romanen würden Sie dann empfehlen?«

Die Praktikantin zögert erschreckend kurz mit ihrer Lüge.

»Ich komme in Stille ist wirklich episch.«

»Episch?«

»Ja, also, Sie wissen schon, es ist ein bisschen seltsam, aber das ist ihr Stil. Es hat richtig Tiefe.«

»Tiefe?«

»Ja, das ist schwer zu erklären, weil …«

»Weil Sie es nicht gelesen haben?«, unterbricht Hannah sie.

Die Praktikantin blinzelt einen Moment lang unsicher, schafft es aber nicht, ihre Gedanken zu einer Antwort zu sammeln. Hannah ist schneller.

»Sie sollten nicht auf einer Buchmesse stehen und Werke verkaufen, von denen Sie obendrein behaupten, Sie hätten sie gelesen, wenn Sie offensichtlich weniger von Literatur verstehen als ein analphabetischer …«

»Analphabetischer was?«

Hinter Hannah ist Bastian in seinen vollen zwei Metern Größe aufgetaucht. Er blickt Hannah fragend an, dann wandert sein Blick ebenso fragend zu der Praktikantin, die den Tränen nahe hinter dem Tresen zusammenschrumpft.

»Analphabetischer Idiot.«

Hannah ärgert sich, dass ihr keine raffiniertere Beleidigung eingefallen ist, und konstatiert gleichzeitig irritiert, dass die Praktikantin weder genug Angst noch Scham besitzt, um einen vollendeten Zusammenbruch zustande zu bringen. Stattdessen richtet sich das junge Mädchen auf, sicher in der Überzeugung, dass ihr Chef, der große, attraktive Bastian, die fremde Angreiferin im Polizeigriff aus dem Gebäude eskortieren wird. Hannah weiß, dass das eine Fehleinschätzung ist.

»Claudia ist neu hier, sie studiert Literaturwissenschaften.«

Vermutlich noch in Gedanken an den Polizeigriff drückt Claudia bei Bastians Worten die Brust etwas heraus. Sie wendet sich an ihn.

»Ich hab nur versucht, der Kundin hier was über Hannah Krause-Bendix zu erzählen, und dann hat sie mich total angeschnauzt.«

Eine Frau, die sich als Opfer stilisiert. Wie banal.

Praktikantin Claudia schielt zu Bastian hinüber: Wann kommt jetzt der Polizeigriff? Hannah beginnt allmählich, den Konflikt zu genießen. Wenn sie Glück hat, feuert Bastian diese Praktikantin. Ihretwegen darf die Folter ruhig in die Länge gezogen werden. Leute, die andere über etwas belehren, von dem sie nichts verstehen, sollen einen langsamen und qualvollen Tod sterben. Andererseits hat sie hier auch etwas zu erledigen, und diese Diskussion führt nicht gerade zu mehr signierten Büchern.

»Ich weiß nicht, ob Sie in Statusupdates oder Modeblogs belesener sind, aber von Romanen haben Sie jedenfalls keine Ahnung. Sonst würden Sie nämlich wissen, dass ich Hannah Krause-Bendix bin und dass ich diese Bücher geschrieben habe, die Sie hier feilbieten, als wären es saure Gurken im Sonderangebot.«

Claudia schnappt nach Luft.

»Hannah, sie ist neu.«

Bastian versucht, der Demütigung die Spitze zu nehmen.

»Ich kann ja nicht wissen, dass Sie das sind, wenn Sie ganz anders aussehen als auf dem Foto … Sie sind ja auch wirklich viel älter geworden.«

Claudia fummelt an Hannahs Büchern herum und versucht, sie schön zu drapieren. Als würde das irgendetwas helfen. Hannah schluckt eine schnippische Antwort herunter, zieht stattdessen ihre Jacke aus und wirft sie hinter den Tresen.

»Wollen Sie nicht einfach für ein Stündchen rausgehen und sich eine heiße Öko-Soja-Latte kaufen, während ich hier stehe und meine epischen Romane signiere?«

Claudia blickt Bastian an. Wie eine Schülerin, die gefragt hat, ob sie auf die Toilette gehen darf.

»Mach ruhig eine Pause.«

Claudia stiehlt sich davon. Verschwunden sind auch die aufrechte Haltung und die durchgedrückte Brust.

»Schön, dich in deiner besten personalverschreckenden Form zu erleben.« Bastian trommelt mit dem Zeigefinger auf dem Tisch herum.

»War es wirklich so schwierig, eine Messeaushilfe zu finden, die auch nur eines meiner Bücher gelesen hat?«

Bastian zögert. Hannah seufzt. Natürlich. Wenn es ihr nicht bald gelingt, ein größeres Publikum heranzuziehen, wird man ihre unverkäuflichen Bücher demnächst direkt zum Wertstoffhof fahren.

»Du musst wissen, dass ich das hier nur tue, weil ich so ein gutes Herz habe. Einzig und allein.«

»Kannst du die Leute nicht wenigstens anlächeln?«

»Teuflisch oder sexy?«

»Einfach nur freundlich. Ich weiß, dass du das kannst.«

Bastian lächelt und zuckt mit den sakkobekleideten Schultern – warum muss ein Lektor aussehen wie ein Geschäftsmann? Hannah kann sich noch an eine Zeit erinnern, in der weicher Cord und Wolle zu Bastians Uniform gehörten, aber das war vor dem wirtschaftlichen Aufschwung der Nullerjahre. Und bevor er Lektor wurde. Seit er im Verlag angefangen hat, hüllt er sich in Sakkos in unterschiedlichen Schnitten und Farben. Hannah ist sich ziemlich sicher, dass das ein bewusstes Zeichen des Übergangs vom literaturliebenden Studenten zum fest angestellten Literaten gewesen ist. Von der Beschäftigung mit Büchern um der Bücher willen zur Beschäftigung mit Büchern um des Geldes willen. Ein Wechsel, den Hannah selbst nie vollzogen hat. Aber in ihrem tiefsten Inneren freut sie sich darüber, dass Bastian den Schritt gegangen ist. Ihr Blick fällt auf den Tisch mit ihren eigenen Werken, und sie spürt eine Welle von Dankbarkeit für Bastians kommerzielle Transformation – ohne ihn wären ihre Bücher auf der Messe überhaupt nicht zu finden. Auch wenn sie den in Wolle gekleideten Cord-Mann, den sie bei einer Inger-Christensen-Lesung von Das Schmetterlingstal Ende der Neunzigerjahre zum ersten Mal getroffen hat, dennoch vermisst.

»Ist da Strom drauf?«

Hannah schaut auf. Ein Mikrofon pfeift. Das hatte also gerade die dünne Frauenstimme verstärkt. Die Stimme gehört zu einem Körper, der, falls überhaupt möglich, noch dünner ist: dem von Natasja Sommer. Auf einer Bühne. Auf der Bühne stehen außerdem zwei Stühle, und auf einem Tisch davor zwei Gläser Wasser. Die Kulturjournalistin ohne Ausbildung klopft leicht auf das Mikrofon, dum, dum, Pfeifton. Ja, da ist Strom drauf. Hinter ihr wird ein Plakat aufgehängt. Hannahs Herz setzt einen Schlag aus: Das Plakat zeigt Jørn Jensen, den grauenvollsten Krimiautor der Welt, Hannahs Hassobjekt Nummer eins. Wie es aussieht, wird Natasja Sommer ihn interviewen. Jetzt gleich. Auf der Bühne. Hannah atmet tief durch. Sie hat gewusst, dass diese Buchmesse eine Fehlentscheidung war.

3

Lächeln, Lächeln, Erfolg, Erfolg. Hannah blättert den Messekatalog durch und sieht die Porträts und Buchcover ihrer Kollegen aufblitzen. Kleine Erinnerungen wie Nadelstiche daran, dass sie selbst seit Langem nichts mehr veröffentlicht hat. Sie klappt den Katalog zu, begutachtet ihren Stand, der menschenleer ist, während sich der Platz vor der Bühne nebenan immer mehr füllt. Aus ihrer Einsamkeit wirft sie einen verstohlenen Blick auf das erwartungsvolle Publikum und verspürt den überwältigenden Drang, in eine klitzekleine Zelle ihres eigenen Körpers hineinzukriechen, die kleinste, die es gibt. Warum hasst sie Jørn eigentlich so sehr? Es liegt nicht daran, dass er sich gut verkauft. Oder gelesen wird. Geliebt wird. So primitiv ist sie nicht, sie gönnt anderen ja nun wirklich ihren Erfolg. Sie betrachtet ihre Nägel, biegt die Finger, mustert sie, als enthielten sie den Schlüssel zu einem Geheimnis. Und das tun sie ja in gewisser Weise auch. Sie setzen ihre Gedanken in Worte um, bringen den Geist in die Welt hinaus, materialisieren ihn. Das ist es, was Jørns Büchern fehlt: Geist. Sie bergen nicht die vorzüglichsten, originellsten Gedanken, die ein Individuum hervorbringen kann, es sind Wiederholungen, Aufgüsse der Gedanken anderer, die mechanisch und wie am Fließband reproduziert werden. Seine Bücher sind vielleicht spannend, haben vielleicht eine Moral. Aber diese Qualitäten sind wertlos, denn sie werden nach einer Formel geschaffen. Wo bleibt die Originalität, das Herz, das, was den Autor von jedem anderen mit einem Schreibprogramm und einem leidlichen Gespür für den Aufbau von Spannungsbögen unterscheidet? Und die Sprache. Warum gibt er sich keine Mühe mit der Sprache?

Die Menge applaudiert, als Jørn die Bühne betritt. Er küsst Natasja Sommer auf die Wangen und schenkt seinen Fans ein strahlendes Lächeln. Er versucht, bescheiden zu wirken, doch es gelingt ihm nicht – es ist schwer, Selbstverliebtheit zu verbergen. Jemand pfeift, als wäre er ein Rockstar. Oh Dänemark, du kulturelles Unland; vergöttere die Talentlosen noch ein bisschen mehr, bitte! Hannah starrt Jørn mit stierem Blick an, wie eine Eule, bevor sie die Klauen ausstreckt und eine Maus fängt. Aber ihre Klauen verbleiben auf dem Tisch, sie ziehen sich nur ein wenig zusammen – Jørn ist unangreifbar. Natasja Sommer beginnt in flirtendem Tonfall ihr Interview, Jørn antwortet, selbstsicher, einstudiert, seine Worte sind wie Benzin auf Hannahs brennender Haut.

»Ich würde gern ein Buch in achtzehn Minuten schreiben können und dann etwas anderes anfangen.«

Feuer!

»Schreiben ist ein Handwerk, eine Arbeit wie jede andere. Deshalb ist es auch wichtig, eine straffe Arbeitsdisziplin zu haben; sich für einen bestimmten Zeitraum hinzusetzen und zu schreiben und nicht aufzuhören, bevor man die Anzahl an Seiten erreicht, die man sich vorgenommen hat. Gesunde Ernährung und Sport sind auch wichtig, damit bewahrt man sich einen klaren Geist.«

Flammen!

»Ich sehe es als meine Pflicht an, den Leser nie zu langweilen, sondern so viele Leser zu erreichen wie möglich. Und natürlich läuft eine ganze Industrie rund um ein solches Buch, man kann es vielleicht so ausdrücken, dass ich mich selbst ein wenig als Unternehmer betrachte, der Jobs für andere schafft: im Verlag, in der Druckerei, im Buchladen.«

Scheiterhaufen!

Hannah erträgt keine weiteren Ausführungen über Literatur als marktwirtschaftliche Funktion, sie tastet verzweifelt nach ihrem Handy, ruft Bastian an und landet direkt auf der Mailbox – Mist! Als sie gerade überlegt, ob sie sich einfach davonmachen soll, verirren sich plötzlich zwei Teenagermädchen an den Stand. Sie folgt ihnen mit den Augen, sie blättern aufs Geratewohl in irgendwelchen Büchern. Hannah versucht Jørn auszublenden, es gelingt ihr nicht.

»Wie würden Sie das Verhältnis zwischen – wie soll ich sagen – eher schwierigen literarischen Gattungen und der populären Unterhaltungsliteratur, in der Sie selbst zu Hause sind, beschreiben?«

Hannah spitzt die Ohren bei Natasja Sommers Frage. Jørn nickt ruhig, vielleicht will er signalisieren, dass er die Frage verstanden hat, vielleicht unterstreichen, dass die Antwort kompliziert ist. Er strahlt Autorität aus, Autorität, die auf mediale Präsentation hintrainiert ist.

»Ich sehe das so: Es ist gut, dass es Bestsellerautoren wie mich gibt, die es anderen Schriftstellern ermöglichen, auch etwas zu veröffentlichen. In gewisser Weise werden kommerzielle Bücher gebraucht, damit andere Autoren, die sich nicht so gut verkaufen, immer noch veröffentlicht werden können.«

Verbrennt mich bei lebendigem Leib!

Meine Existenzgrundlage bist also du, denkt sie. Weil du deine stumpfsinnigen Bücher schreibst, kann ich meine veröffentlichen? Weil du in sprachlicher Hinsicht nicht ehrgeizig bist, habe ich die Möglichkeit, es zu sein? Die Klauen strecken sich langsam aus. Die beiden Teenagermädchen kommen auf Hannah zu, die eine wirft ein Buch vor sie hin.

»Können Sie das einpacken?«

Hannahs Blick wandert von dem Buch zu dem Mädchen, dessen Haar auf dilettantische Weise viel zu schwarz gefärbt ist. So strahlt ihre blasse Haut noch mehr den Übergang vom Kind zur Erwachsenen aus. Sie hat keine Augenbrauen. Hannah mag Leute ohne Augenbrauen nicht; sie betrachtet das als einen Ausdruck von mangelndem Charakter. Hätte sie sich nicht wenigstens welche aufmalen können? Aber es liegt nicht am Aussehen, dass Hannah widerwillig vor dem Mädchen zurückschreckt: Das Buch, das sie auf den Tisch geworfen hat, ist Die Frau, die um Hilfe flüsterte. Geschrieben von Jørn Jensen. Hannah hebt das Buch hoch, als wäre es die verlorene Unterhose eines Obdachlosen, und dreht es um. Auf der Rückseite prangt ein Bild von Jørn in einer rauen, unwirtlichen Landschaft, mit verschränkten Armen an einen Baum gelehnt und direkt in die Kamera blickend, als wollte er sein Gegenüber einer Psychoanalyse unterziehen. Unter dem Foto stehen mehrere rühmende Rezensionszitate und ein ganzer Himmel voller Sternchen. Besonders von obskuren Bloggerseiten, von denen Hannah nie gehört hat. Hannah lässt den Blick vom Foto des Mannes zu dem realen Menschen auf der Bühne wandern.

»Ich erwarte nicht, dass ich für den Rest meines Lebens erfolgreich schreiben kann, man muss ja seine Grenzen kennen. Aufhören, wenn es am schönsten ist.«

Jørn sieht Hannah direkt an, als er den Satz beendet. Kurz, aber doch lange genug, dass es kein Zufall sein kann. Sie meint ein kleines höhnisches Grinsen zu erkennen, vielleicht als Dank für all die Male, die sie ihm auf diversen Empfängen den Rücken zugewandt hat. Die aufgestaute Genervtheit vieler Jahre sammelt sich in Hannahs Hand, sie hebt sie, und ehe sie sichs versieht, hat sie Die Frau, die um Hilfe flüsterte schon auf Jørn geschleudert. Vermutlich hat die lange Zeit beim dänischen Militär seine Sinne für fliegende Bücher geschärft, denn auf fast wundersame Weise neigt er den Kopf blitzschnell zur Seite, und sein eigener Bestseller verfehlt seine Stirn nur um Haaresbreite. Das Buch trifft stattdessen einen Ständer mit einem Plakat des Buchumschlags, der Ständer kippt um, fällt von der Bühne, es kracht.

Alle Köpfe im Publikum drehen sich in Hannahs Richtung. Die Teenagerin ohne Augenbrauen zeigt auf sie.

»Sie hat es geworfen!«

Natasja Sommer schlägt sich erschrocken die Hand vor den Mund, offenbar außer Stande, mit dieser Situation umzugehen, zu der nichts auf ihren zierlichen Interviewkarten vermerkt ist. Jørn dagegen bewahrt die Ruhe. Er steht auf, um über die Menge hinwegsehen zu können, und tritt an den Rand der Bühne. Er entdeckt Hannah, die seinem Blick standhält.

»Na so was! Da ist wohl jemand nicht so begeistert von meinem neuen Buch.« Die Zuschauer lachen. Hannah kocht.

»Ich hab’s nicht gelesen, aber bestimmt ist es nur ein Aufguss von einem deiner früheren Bücher mit einem neuen Titel. Oder einem fast neuen Titel: Soweit ich mich erinnere, hieß deine letzte Veröffentlichung Die Frau, die sich nach Sex sehnte. Das hab ich an einem Tag gelesen.«

»Du hast es also gelesen! Ich fühle mich sehr geschmeichelt.« Jørn lächelt selbstgefällig in die Menge, die mit vereinzeltem Gelächter und hier und da einem Grinsen reagiert. Der Schreck hat sich gelegt, das Publikum hat sich schnell auf diese neue und unterhaltsame Situation eingestellt – zwei scharf gezogene Fronten, eine deutliche Aversion zwischen zwei anerkannten Schriftstellern, eine literarische Fehde. Noch besser als ein einzelner Mann am Mikrofon auf einer Bühne.

Natasja Sommer, die ihre Fassung wiedergewonnen hat, hält den Atem an. Die Pressefotografen knipsen. Hannah blinzelt, einen Moment lang hat sie das Gefühl, als würden ihr gleichzeitig Panik und Kampfgeist injiziert. Sie verdrängt Ersteres, das Adrenalin gibt ihr Mut.

»Du brauchst dich wirklich nicht geschmeichelt zu fühlen, es war ein unglaublich schlechtes Leseerlebnis. Ich habe schon Schreibkurse für Viertklässler gegeben, die besser formulieren konnten.«

Hannah hat einen Stich in Boshaftigkeit gemacht. Um Jørns Mundwinkel zuckt es, Angriffe auf das eigene Können sind das Schlimmste. Selbst für einen Mann, der mehrere Millionen Bücher und jetzt auch noch Filmrechte in ein englischsprachiges Land verkauft hat.

»Wir können ja nicht alle dünne intellektuelle Romane für die Elite schreiben.«

Auf genau dieses Argument ist Hannah vorbereitet. Sie hat es schon oft gehört.

»Prinzipiell könnten wir das schon. Aber das ist keine Entweder-oder-Diskussion. Das eine schließt das andere nicht aus, und es ist nicht so, dass ich Krimis hasse. Ich hasse nur schlechte Krimis, von denen die Leute denken, sie wären gut – wie zum Beispiel deine.«

Der joviale Jørn ist wie weggeblasen. Jetzt ist reine Selbstverteidigung angesagt.

»Du kannst meine Krimis gern schlecht nennen, aber ich glaube, es gibt einige, die nicht deiner Meinung sind. Zum Beispiel meine vielen Millionen Leser.«

Es wird geklatscht, Hannah beachtet es nicht, schließlich sind die meisten Anwesenden Jørns Fans. Das Wissen, in nationalen wie internationalen Kreisen die Königin der Hochkultur zu sein, beruhigt sie. Auch wenn diese Kreise vielleicht ein bisschen klein sind.

»Der Geschmack der Masse ist selten ein Qualitätsmerkmal.«

Hannah hört sich selbst sprechen, ihre Worte klingen bösartiger und persönlicher, als sie beabsichtigt hat. Eigentlich ist ja nicht Jørn das Problem, sondern all das, wofür er steht. Und dann natürlich noch, dass er sich hinstellt und sie auf diese Art über Literatur belehrt. Nein! Er hat es verdient. Er ist das Problem.

Eine Fernsehkamera hat den Weg hierher gefunden – wer hätte gedacht, dass Autoren auch außerhalb ihrer Bücher zu solch einem Drama in der Lage sind! Hannah bemerkt sie – was zum Teufel hat sie da eigentlich in Gang gesetzt? Aber sie kann weder wenden noch bremsen; wie in einem Auto auf vereister Straße bleibt ihr nur, den Kurs zu halten, ohne die Geschwindigkeit zu drosseln – und einfach zu hoffen, lebend anzukommen. Jørn folgt derselben Strategie.

»Ich finde ehrlich gesagt, es ist ein kleines bisschen überheblich, dazustehen und zu behaupten, du hättest einen besseren Geschmack als alle, die meine Bücher lesen.«

Nein! Sie wird ihm nicht erlauben, das Ganze auf eine Frage der Moral zu reduzieren.

»Guter Geschmack, schlechter Geschmack, darum geht es nicht.«

Hannah streckt die Hand nach einem viel zu hohen Stapel von Jørns Büchern aus, hält ein Exemplar hoch.

»Das hier ist Mittelmaß mit Seitenzahlen. Schlechter Geschmack mag ja noch angehen, aber Mittelmaß, das weiß, dass es mittelmäßig ist, und nicht den Willen hat, sich anzustrengen, um besser zu werden oder wenigstens ein bisschen anders zu sein, ist das, was unsere Gesellschaft wirklich bedroht. Leute, die sich nicht einmal ein kleines bisschen Mühe geben wollen, die einfach alles aus der Klischeekiste zusammenraffen. Und daran verdienen. Jeder Idiot kann so einen Krimi in einem Monat schreiben!«

Jørn scheint kurz zu überlegen. Das Publikum hält mit ihm den Atem an.

»Okay. Wenn jeder Idiot das kann, dann kannst du es wohl auch?«

Hannah zögert. Sie spürt, worauf er hinauswill. Eine Wendung, die sie nicht vorhergesehen hat.

»Natürlich kann sie das!«

Hannah dreht den Kopf, Bastian steht neben ihr – ist er die ganze Zeit da gewesen? Und was ist das für eine Behauptung, mit der er sich jetzt ins Gespräch einmischt?

»Also, das ist doch eine wunderbare Herausforderung! Einen Krimi in einem Monat zu schreiben. Ich glaube, viele von uns würden sich sehr auf dieses Buch freuen.«

Jørn erobert das Gespräch mit einem Lächeln zurück, die Keckheit liegt direkt unter der Oberfläche.

Es wird genickt und geklatscht. Blitzlichter und Gerede. Ist das hier ein Mediengag oder ein echter Konflikt, der in einer Art Wettbewerb endet? Der Unterhaltungswert steigt: Das Ganze geschieht hier und jetzt, vielleicht ist es sogar ein historischer Moment.

Alle Augen wenden sich Hannah zu, die wiederum von Jørn zu Bastian blickt, im Raum zwischen den beiden Männern sieht sie die Kontrolle aus ihren Händen gleiten. Sie kann sie nur auf eine Art wiedererlangen.

»In einem Monat habe ich einen Krimi geschrieben, der besser ist als alles, was du jemals veröffentlicht hast.«

Hannah überrascht die Menge, genau wie sich selbst. Sie dreht sich um, marschiert weg von Jørn, den Leuten, den Medien. Bastian gelingt es, sich blitzschnell an die Spitze ihrer Verfolger zu setzen. Die Kampfansage hängt in der Luft.

4

Hannah hat sich gerade eine blaue King’s angezündet, als Bastian sie in einem abgelegenen Raum aufspürt. Der Stille nach zu urteilen, hat er alle Verfolger abgehängt.

»Das ist der beste Marketingtrick, den ich je erlebt habe! Von diesem Buch haben sich ja schon hunderttausend Exemplare verkauft, bevor es überhaupt erschienen ist!«

Hannah blickt Bastian an.

»Scheiße!«

Sie drückt die Zigarette aus, ohne ein zweites Mal daran gezogen zu haben.

Bastian holt tief Luft. Er kennt sie.

»Du willst ihn nicht schreiben?«

»Ich kann das doch gar nicht. Einen Krimi. Ich schreibe introspektive Prosa. Ich kann noch nicht mal eine einfache Liebesgeschichte erzählen.«

»Aber stell dir vor, du könntest es doch!«

»Ja, was dann? Dann gäbe es noch einen schlechten Krimi mehr auf der Welt.«

»Keinen schlechten. Das kannst du nicht.«

»Deine Schmeichelei entspringt der Hoffnung auf Profit.«

Bastian legt eine Hand auf Hannahs Schulter.

»Du schreibst einen guten Krimi, nichts Alltägliches. Innerhalb eines Monats. Er verkauft sich bestens, du hast Jørn und der ganzen Buchwelt gegenüber deinen Standpunkt bewiesen und eine Debatte angestoßen. Dann kannst du dich wieder deinen Romanen widmen, die inzwischen ein breites Interesse bei der Allgemeinheit gefunden haben. Alles, was von dir herauskommt, wird besprochen und gelesen. Die Leute fangen an, deine früheren Bücher zu lesen, Ich komme in Stille wird wieder aufgelegt. Du drückst der dänischen Literaturgeschichte deinen Stempel auf.«

Hannah blickt vor sich hin. Beginnt, sich selbst langsam in einem neuen Licht zu sehen.

»Vielleicht könnte ich einen guten Krimi schreiben, aber nicht in einem Monat. Das ist ja gerade der Kern der Sache – die schlechten Krimis sind schlecht, weil sie in großer Eile produziert werden und sprachlich und inhaltlich oberflächlich bleiben. Das kann ich vielleicht in einem Monat bieten.«

»Die Qualität ist nicht so wichtig, sondern dass du es durchziehst. Es geht um die Bestätigung der Behauptung: Jeder Idiot kann innerhalb eines Monats einen Krimi schreiben. Das rückt das Genre ins richtige Licht.«

»Aber soll man wirklich Papier verschwenden, um einen schlechten Text zu drucken? Das ist es nicht wert, dafür Regenwald zu opfern.«

»In hundert Jahren werden deine Romane Pflichtlektüre an allen Gymnasien sein.«

Hannah denkt nach.

»Ich hab eine Schreibblockade.«

Bastian mustert sie.

»Du brauchst neue Inspiration, eine neue Umgebung, in der du schreiben kannst.«

»Ich war gerade in Berlin. Da hab ich vier Seiten in vierzehn Tagen geschrieben.«

»Was du jetzt nötig hast, ist etwas ganz anderes – Natur, Stille. Du musst nach Island fahren.«

Hannah sieht ihn an.

»Warum gerade Island?«

»Ich hab einen Kontakt da oben, eine Freundin der Familie. Bei ihr kannst du wohnen, sie hat ein großes Haus in einem kleinen Dorf. Du bist ganz weg von allem, kannst dich isolieren, hast Zeit und Ruhe zum Schreiben. Und in einem Monat kommst du mit deinem Krimi zurück.«

»Und was, wenn nicht?«

»Dann hast du dich jedenfalls ehrlich bemüht.«

Bastian tippt etwas in sein Handy, Hannah wägt die Situation ab. Sie hat das Gefühl, an einem entscheidenden Punkt in ihrem Leben zu stehen. Warum sollen Entscheidungen immer im Vorhinein getroffen werden? Das hier könnte eine riesengroße Chance sein. Oder der Fehler ihres Lebens. Bastian blickt von seinem Telefon auf.

»Fahr heim und pack deinen Koffer, in vier Stunden sitzt du in einem Flugzeug nach Reykjavík.«

5

Das Gepäckband holt tief Luft und setzt sich mit einem mechanischen Geräusch in Bewegung, das eine baldige Wiedervereinigung von Koffern und wartenden Eigentümern verspricht. Leute drängen sich um seinen Mund, aus dem die Gepäckstücke in einem unregelmäßigen Strom ausgespuckt werden. Hannah wartet in einsamer Überlegenheit etwas weiter vom Epizentrum entfernt – warum begreifen die Leute nicht, dass die Koffer auf dem Band rundherum gefahren werden und dass es daher ein Vorteil sein kann, sich zu verteilen? Dafür ist es doch zur Hölle noch mal konzipiert und gebaut worden. Mit verschränkten Armen beobachtet sie ihre Mitpassagiere; wohin wollen sie jetzt, wovor haben sie Angst? Dass jemand anderes mit ihrem vertauschten Koffer voller Wäsche abhaut?

Sie sind zusammen durch den Morgen gereist – mit der Dunkelheit eine Stunde zurück in der Zeit geflogen. In gewisser Weise ein beinahe poetisches Gemeinschaftserlebnis, einer der seltenen Umstände, bei denen sich Hannah als Teil einer Gruppe fühlt: Hier hängen wir, hoch über der Erde, und wenn wir herunterfallen, sterben wir alle zusammen. Hannah findet den Gedanken eines gemeinsamen Todes versöhnlich. Doch jetzt stehen sie hier, ihre Mitpassagiere, lebendig und in Sicherheit, wie Hyänen um ein totes Tier. Das Gefühl der Gemeinschaft verflüchtigt sich im Kampf um das Gepäck.

Sie zieht ihren schwarzen Koffer hinter sich her, eins seiner Räder ist kaputt, es klappert und schleift. Der Koffer hätte schon vor vielen Reisen ausgetauscht werden müssen. Hannah blickt sich um, versucht, sich einen Eindruck von Island zu machen – vom Flughafen aus betrachtet, unterscheidet es sich nicht besonders von Dänemark. Oder im Grunde genommen von den meisten anderen Orten der Welt: Stein, Metall, Glas. Schön arrangiert. Vielleicht liegt dahinter die Absicht, die Ankunft zu vereinheitlichen, sodass man nie genau weiß, in welchem Land man sich befindet. Vielleicht ist es eine Art fließender Übergang: Vor ein paar Stunden war man in einem anderen Land, weit weg, jetzt ist man hier, aber es sieht ganz ähnlich aus. Eine Art Schleuse, weil das menschliche Gehirn sonst mit der Umstellung nicht zurechtkommt. Oder vielleicht, weil die meisten Reisenden in Wirklichkeit Angst vor fremden Orten haben. Hannah stellt fest, dass die Neutralität hier auf dem nationalen Flughafen Keflavík von Symbolen der heimatlichen Verbundenheit unterlaufen wird: mit Flaggen geschmückte Duty-free-Shops, Souvenirs, Bauwerke aus Schokolade und Postkarten von Torfhütten und Wasserfällen. Isländischer Wodka, isländische Süßigkeiten. Wer braucht denn eine Kappe mit Hörnern und isländischer Flagge darauf? Hannah wagt einen verstohlenen Blick, während sie weitergeht: amerikanische Touristen. Sie spürt, wie ihr ein eiskalter Tropfen aus der rechten Achselhöhle die Seite hinunterläuft. Kalter Schweiß. Sie kann gar nicht schnell genug aus dieser Schleusensituation des Flughafens Keflavík herauskommen – mit einem heftigen Ruck zwingt sie ihren Koffer in die richtige Richtung und hofft, dass ihre Gastgeberin, Ella, gleich draußen auf sie wartet. So hat Bastian es versprochen.

Vor der Ankunftshalle angekommen, bereut Hannah ihr Projekt zum dritten Mal. Sie ist mit dem halbtoten Koffer im Schlepptau zwei Runden um den Parkplatz gelaufen, hat so langsam wie möglich zwei Zigaretten vor dem Eingang geraucht. Ihrem Treffpunkt. Aber Ella ist nicht da. Hannah schaudert unter dem Vordach vor Kälte, blickt zum Himmel hinauf. Er ist grau in verschiedenen Schattierungen, es hat zu regnen begonnen. Sie findet nicht, dass die Luft auch nur annähernd so frisch ist, wie man es ihr versprochen hat. Wo bleibt Ella? Plötzlich taucht ein irritierender Gedanke in Hannahs Kopf auf: Vielleicht gibt es Ella gar nicht? Vielleicht existiert gar kein Schreiblogis für sie, vielleicht ist das hier nur Bastians Art, sie loszuwerden? Nein, das würde er nicht machen. Ella ist wahrscheinlich nur auf dem Weg hierher an Herzversagen gestorben, sie ist ja eine ältere Frau. Scheiße auch, was, wenn ihre Gastgeberin nun leblos in einem Straßengraben liegt? Mit ihren taubgefrorenen Fingern fummelt Hannah am Feuerzeug herum, zieht den Rauch tief in die Lunge, hält ihn ein wenig, bevor sie ausatmet. Sie betrachtet eine komische Skulptur aus Stahl und Glas in verschiedenen Farben. Das Kunstwerk schwankt und sieht oben seltsam unfertig aus, als wollte es sich gen Himmel strecken und hätte es sich dann anders überlegt. Es ist noch nicht zu spät, um umzukehren. Icelandair fliegt Pendelflüge, vielleicht kann sie in dasselbe Flugzeug einsteigen, mit dem sie gekommen ist? Vielleicht sogar denselben Sitz bekommen?

Plötzlich bemerkt Hannah einen Jeep, der so langsam umherfährt, als würde jemand den Parkplatz nach verlassenen dänischen Autorinnen durchkämmen. Durch die verdreckte Windschutzscheibe meint Hannah die Frau zu erkennen, von der Bastian ihr flüchtig ein Foto gezeigt hat. Hannah hebt den Arm, fuchtelt um Aufmerksamkeit, es vergeht ein Moment, bevor sie sie bekommt. Aber dann ist ihr, als sähe sie ein Lächeln auf den Lippen der Dame erscheinen, der Jeep fährt in ihre Richtung, bleibt stehen. Ella steigt aus, adrett, ihre äußerliche Erscheinung wirkt überraschend gegensätzlich: rot gefärbtes Haar, Goldschmuck, Lippenstift, aber kombiniert mit einem grauen Fleecepullover und Holzschuhen. Unter dem Arm trägt sie ein altes Stück Pappe. Velkomin Hannah steht in roter Tusche darauf. Die Dame, wahrscheinlich etwas über sechzig, hält das Schild mit ausgestrecktem Arm hoch, lächelt übers ganze Gesicht und zeigt auf sich selbst:

»Ella.«

Hannah streckt die Hand aus. Weiß sehr wohl, dass Dänisch hier in der Schule mehr oder weniger Pflichtfach ist. Aber sie weiß auch, dass es ein Mythos ist, dass alle Isländer es sprechen und verstehen. Und sie will nicht als dumme Imperialistin erscheinen, also wird sie sich für den nächsten Monat auf Englisch durchschlagen.

»Hello, I’m Hannah. Thank you for letting me stay at your house.«

Ella sagt sehr schnell sehr viel auf Isländisch, fuchtelt mit den Armen, zerrt an Hannahs Koffer, der fast so groß ist wie sie selbst. Hannah durchschaut rasch die Situation: Ella kann weder Dänisch noch Englisch! In Gedanken schüttelt sie Bastian kräftig dafür, dass er ihr diese Information nicht gegeben hat. Mit Absicht, da ist sie sich sicher. Hätte Hannah das gewusst, wäre sie nie gekommen. Aber jetzt ist sie hier. Hannah greift nach dem Koffer, der aussieht, als würde er gleich die Oberhand über die kleine Dame gewinnen.

»Ich nehme ihn.«

Das Auto ist ein Jeep Cherokee, und aus den abgewetzten Sitzen und dem Radio mit Kassettenrecorder schließt Hannah, dass er schon seit vielen Jahren nicht mehr neu ist. Tickeditack, brumm, tickeditack, brumm. Der Motor spielt seine eigene Melodie, und sie klingt wie ein Abschiedslied. Hannah schaut Ella besorgt an, die beim Fahren den Missklang des Motors überhaupt nicht zu bemerken scheint. Oder vielleicht ist sie auch einfach daran gewöhnt? Hannah seufzt. Wenn sie einen tödlichen Verkehrsunfall haben werden, liegt das wohl eher an der Fahrerin als am Wagen. Ihr Blick wandert von dem bestickten Sofakissen, auf dem Ella gerade hoch genug sitzt, um aus dem Fenster sehen zu können, zu der dicken Gurkenglasbrille, die sie auf der Nase trägt. Die Nase selbst ist so dicht an der Windschutzscheibe, dass Ellas Atem auf dem Glas tanzt – sich absetzt und wieder verschwindet. Hannah überlegt, ob ein Gesundheitscheck für die Verlängerung des Führerscheins hier in Island wohl nicht allgemeine Praxis ist? Aber so alt ist Ella natürlich auch wieder nicht. Als sie einen Mercedes überholen und gerade noch einem entgegenkommenden Bus ausweichen können, wird Hannah allmählich unsicher, ob Ella überhaupt einen Führerschein hat. 110 Stundenkilometer. Auf einer Landstraße. Aber vielleicht wäre es auch gar nicht so schlecht zu sterben, dann müsste sie zumindest diesen Krimi nicht schreiben.

Der Motor klingt nun definitiv so, als wäre er kurz vor dem Kollaps. Hannah deutet mit ihrem ganzen Körper zum Kühler des Autos hinaus, hofft, dass sie Motor signalisiert. Dann hält sie sich die Ohren zu. Ella nickt auf eine Ich-weiß-schon-Art. Sagt etwas auf Isländisch.

Ella schaltet das Radio ein, dreht Phil Collins’ Another Day in Paradise auf. Sie rockt fröhlich mit, bewegt die Hände von einer Seite zur anderen, das Lenkrad und das Auto folgen der Bewegung. Das Auto schlängelt sich voran. Das Störgeräusch des Motors wird also durch ein lauteres Geräusch übertönt. Toll. Wenn es jemanden gibt, den Hannah noch mehr hasst als Jørn Jensen, dann ist es Phil Collins. Er soll auf keinen Fall den Soundtrack zu ihrem Tod beisteuern. Sie sucht ihr Handy heraus, ruft an, Bastian antwortet sofort. Ein Hallo ist überflüssig.

»Du musst mir einen Rückflug buchen.«

»War Ella nicht da?«

»Sie hat uns in den Graben gefahren, wir stecken beide in einem brennenden Auto fest. Ich spüre meine Beine nicht mehr.«

»Ich merke, Island hat deine Fantasie schon in Gang gebracht. Ella ist nett, oder?«

»Warum hast du nicht gesagt, dass sie kein Englisch spricht? Und dass sie Auto fährt wie eine Bekloppte und Phil Collins liebt?«

»Phil Collins ist doch gut!«

»Ach, hör auf! Die ganze Sache ist völlig abartig, ich weiß nicht, was ich da für eine Hirnblutung hatte. Aber ich weiß, dass morgen früh ein Flug nach Kopenhagen geht. Und da will ich mit.«

»Was ist mit dem Roman?«

»Dem Krimi.«

»Soll er sich selbst schreiben?«

»Hoffentlich. Es tut mir wirklich leid, aber ich halte das hier nicht aus. Ich will heim.«

Hannah hört Bastian irgendwo in Dänemark seufzen.

»Ich schau mal, was ich tun kann.«

»Danke.«

Hannah legt auf, lehnt sich zurück. Schicksalsergeben. Murmelt vor sich hin.

»Verdammte Scheiße, Dreckskacke.«

Ella bremst abrupt, macht das Radio aus. Sie halten am Straßenrand.

»Was?«

Hannah richtet sich auf, blickt sich um, weiß nicht, wonach. Sie spürt einen Stimmungswechsel.

Ella schaut stumm vor sich hin. Lange. Beugt sich über Hannah, öffnet das Handschuhfach, findet ein Stück zerknittertes Papier, einen Kugelschreiber. Dann schreibt sie konzentriert. Eine Minute lang. Als würde sie die Worte irgendwo aus ihrem tiefsten Inneren hervorholen. Der Zettel wird vor Hannahs Gesicht gehalten und sie liest – etwas, das aussieht wie eine Mischung aus Dänisch und Norwegisch.

Du gebrauchst viele Flüche und Kraftausdrücke.

Hannah liest noch einmal. Dann sieht sie Ella an. Ihr Magen zieht sich spürbar zusammen.

»Sprichst du Dänisch?«

Ella schreibt wieder. Die Wörter fließen diesmal ein klein wenig leichter.

Ich verstehe. Und schreibe bisschen.

Das Ziehen im Magen nimmt zu. Sie schweigt, es ist mehr als nur eine Kunstpause.

»Ich hab eigentlich schönere Worte in mir.«

Ella schreibt.

Dann gebrauche sie.

Hannah schaut sie an. Zum ersten Mal bemerkt sie Ellas Augen. Sie sind leuchtend grün. Wie hat sie solche Augen nur übersehen können? Hannah nickt.

Ella legt den ersten Gang ein, fährt weiter. Hannah blickt in die Natur hinaus, sie hat bisher überhaupt nicht auf die Umgebung geachtet. Das Auto frisst die Kilometer, sie reisen in Stille. Tickeditack, brumm, tickeditack, brumm. Fast in Stille.

Sechs Stunden, hat Hannah gelesen, dauert es zum Fischerdorf Húsafjörður zu fahren, das den nächsten Monat über ihr Zuhause sein soll. Sie hätte auch dorthin fliegen können; ein lokaler Flughafen erleichtert innerstaatliche Reisen, aber Ella hatte darauf bestanden, sie in Keflavík abzuholen. Hannah überlegt, ob Ella vor der Rückfahrt eine ausreichend lange Pause eingelegt hat, aber traut sich nicht zu fragen. Sie blickt verstohlen zu ihr hinüber, Ella sieht definitiv nicht müde aus. Hannah lehnt sich zurück und stellt sich auf die stundenlange Fahrt auf dem ziemlich harten Autositz ein, hinaus aus der Stadt, durch unerschlossenes Land. Sie haben die flache, von Lava geschaffene Mondlandschaft im Westen hinter sich gelassen und bewegen sich in Richtung Südosten, üppigeren Natureindrücken entgegen – auch wenn die braun-gelben Farbtöne des herbstlichen Verfalls in den Ebenen dominieren, sind überall noch Spuren von Grün zu sehen: Hannah ist überrascht, wie grün Island ist, selbst jetzt, wo es langsam Winter wird. Doch die Berge trotzen der Jahreszeit nicht: Ihre schneebedeckten Gipfel erheben sich in den Himmel, und Hannah betrachtet sie so fasziniert, wie es nur jemand kann, der aus einem Land ohne Erhebungen kommt. Als Autorin sollte sie in einer Art symbiotischen Beziehung zur Natur stehen, die sie zu überschwänglichen Worten inspiriert. Doch das Wesen der Natur macht ihr Angst, auch rein sprachlich, deshalb beschreibt sie in ihren Texten lieber innere Zustände. Nicht, weil Menschen leichter zu beschreiben wären als die Natur, aber es fühlt sich authentischer an.

Auch wenn sie erst vor wenigen Stunden gelandet ist, senkt sich bereits die Abenddämmerung herab. Hannah erinnert sich, irgendetwas über das spärliche Tageslicht in dieser Jahreszeit gelesen zu haben, aber sie fühlt sich unzureichend vorbereitet auf dreißig Tage Dunkelheit. Sie holt tief Luft und nimmt den Anblick der Landschaft durch das dreckige Autofenster in sich auf. Sie hat das vage Gefühl, dass es hier in der Dämmerung besonders schön ist.

Sie reden nicht. Ella konzentriert sich aufs Fahren und aufs Radio, aus dem jetzt die Stimme eines Isländisch sprechenden Mannes dringt. Hannah schnappt Wortfetzen auf, aber kapituliert davor, einen Zusammenhang herzustellen. Sie ergreift nicht die Initiative für ein Gespräch, konnte noch nie genügend Höflichkeitsfloskeln aufbringen, um sich mit Fremden ohne peinliche Pausen zu unterhalten. Smalltalk. Wie machen die Leute das nur? Stattdessen denkt sie darüber nach, was sie gelesen hat. Über Island. Über Húsafjörður. In dem Dorf sollen rund 1200 Einwohner leben, von zirka 360 000 in ganz Island. Geothermische Energie sichert fast die gesamte Wärmeversorgung und einen Großteil der Stromproduktion – mit anderen Worten, ein sehr nachhaltiges Land. Früher lebten die Menschen in Húsafjörður primär von der Fischerei, doch der Tourismus hat als Einkommensquelle inzwischen gleichgezogen.

Island ist Hannah immer wie ein Land vorgekommen, das von einem Volk mit leichtem Größenwahn bewohnt wird; ob das nun an den Vulkanen, den Wasserfällen oder den Sagas liegt, weiß sie nicht. Einmal war sie zu einer Vernissage eines isländischen Künstlers eingeladen, der Lithographien im Miniaturformat gestaltete, bei der sie die einzige Dänin gewesen war. Einen ganzen Abend verbrachte sie in einer Gesellschaft, in der nur Isländisch gesprochen wurde, obwohl alle auch Englisch und die meisten Dänisch konnten. Die Leute waren nicht unfreundlich, man lächelte und nickte ihr als Anerkennung für ihre Anwesenheit zu, und in ihrer Schweigsamkeit hatte Hannah sich außergewöhnlich gesellig gefühlt. Hätte sie ihr schweigendes Selbst an diesem Abend von außen betrachtet, hätte sie sich vermutlich eine spannende Geschichte darüber ausgedacht, wer sie war. An ihrem Rotwein nippend saß sie da und lauschte, und ohne die Worte zu verstehen, hatte sie den Stolz gespürt. Keinen dänischen Ich-muss-mich-behaupten-Stolz, der im Komplex eines kleinen Landes wurzelt. Eine Selbstsicherheit, die angeboren zu sein schien. Dass diese Selbstsicherheit in den Nullerjahren zu einer übermütigen Wirtschaftspolitik und Investitionen geführt hatte, die die Vulkaninsel fast in den Ruin getrieben hätten, war natürlich die Kehrseite der Medaille.

Húsafjörður steht auf einem Straßenschild, sie sind also fast am Ziel. In der Dunkelheit ist das Dorf schwer zu erkennen, aber Hannah kann am Rand der Ebene vereinzelte Häuser und das Meer erahnen. Sie stellt fest, dass das Dorf während des wirtschaftlichen Aufschwungs der 1960er Jahre erbaut wurde, mit allem, was an wenig charmanter Betonarchitektur dazugehört. Nicht gerade die Schreibidylle, die sie sich vorgestellt hat, ohne eigentlich zu wissen, was die Vorstellung genau beinhaltet hätte. Eine Lehmhütte mit Moos auf dem Dach wie auf den Postkarten am Flughafen? Sie fahren an einem Teenager auf einem Fahrrad ohne Licht und einer geschlossenen Tankstelle vorbei. Alles hier riecht nach Provinz. Ihr Telefon klingelt, es ist Bastian.

»Und?«

»Es gibt keine Plätze mehr für morgen früh, aber abends um zwanzig Uhr kannst du einen SAS-Flug mit Zwischenstopp in Oslo nehmen. Es war nicht einfach, einen Platz zu kriegen, und du musst wissen, dass dir deine Spritztour vom Vorschuss abgezogen wird.«

»Welchem Vorschuss?«

»Jetzt hör auf. Willst du mitfliegen oder nicht?«

Hannah zögert.

Sie fahren auf ein einsam gelegenes Haus zu, es steht allein auf einer Ebene. Ella schaltet den Motor ab, Hannah betrachtet das Haus, das von Dunkelheit und Stille umgeben ist. Es ist aus Holz, übertrifft seine Besitzerin an Alter, und Hannah schätzt, dass es mit seinen zwei Stockwerken viel zu groß für eine Person ist. Dahinter hängt der Halbmond am Himmel, und Hannah kann ganze Sternbilder erahnen – ihr fällt auf, dass es schon viele Jahre her ist, seit sie zuletzt die Sterne gesehen hat. In der Stadt vergisst man leicht, dass es sie gibt.

Im Hörer an ihrem Ohr räuspert sich jemand.

»Ich sitze mit der Kreditkarte in der Hand und dem Finger auf der Maustaste da, soll ich auf Buchung bestätigen drücken?« Bastians Stimme hat einen ungeduldigen Klang angenommen. Hannah blickt zum Haus hinauf, ahnt Möglichkeiten, die sie noch nicht ganz kennt. Ein Augenblick vergeht. Sie holt tief Luft, so ruhig, wie schon lange nicht mehr.

»Nicht bestätigen! In einem Monat hast du deinen Krimi.« Sie öffnet die Tür und steigt aus.

6

Ella öffnet die Tür ohne Schlüssel, zuerst denkt Hannah, die alte Dame hätte das Abschließen vergessen – aber dann, anhand der Leichtigkeit, mit der sie hereingebeten wird, begreift sie, dass das offene Haus kein Versehen ist: Húsafjörður ist ein Dorf, in dem Türschlösser überflüssig sind. Ella wirft ihre Jacke achtlos auf eine Kommode, um dann in einer, wie Hannah es nennen würde, gleitenden Bewegung aus dem kleinen Eingangsbereich in den Raum, der das Wohnzimmer sein muss, zu gehen. Hannah selbst zerrt ihren Koffer durch die Tür und zieht Schuhe und Mantel aus, platziert sie auf dem Boden und an einem Haken, als hätten sie dort schon immer ihren Platz gehabt. Sie atmet den Duft nach bewohntem Heim ein; es liegt eine unerklärliche Sicherheit darin. Sie geht hinein, über den von einem dicken Teppich bedeckten Boden, der Koffer hinterlässt Reifenspuren.

»Þetta er mit heimili.«

Ella macht eine einladende Geste. Hannah sieht sich um: Das Haus scheint vollständig aus Holz gebaut zu sein; die getäfelten Wände sind blau gestrichen, die Decke weiß. Hannah vermutet, dass sich ein hübscher Dielenboden unter dem dicken Teppich verbirgt, den Ella offenbar sehr schätzt – Hannah überlegt, ob aus ästhetischen Gründen oder gegen Fußkälte? Sie bohrt die Zehen in die lange, goldbraune Wolle und tippt auf Letzteres. Der Raum, eine kombinierte Küchen-, Wohnzimmer- und Nähmaschinenzentrale, ist groß und bei Tageslicht sicher ziemlich hell, da sich in jeder der beiden Längsseiten vier große Sprossenfenster befinden. Nicht gerade energieeffizient, und durch sie dringt die Novemberkälte herein. Hannah schaudert, entdeckt einen Heizkörper, der auf Maximalstufe hochgedreht ist. Ihr fällt ein, dass es durch den Überfluss an thermischer Wärme in Island fast kostenlos ist, sein Haus zu heizen. Trotzdem feuert Ella einen kleinen Kamin an, fuhrwerkt nun mit einem Schürhaken herum, Funken stieben, die sie offenbar nicht kümmern. Langsam breitet sich die Wärme des Feuers aus, und Hannah entspannt sich ein ganz klein wenig. Sie bemerkt die Details: einen Schaukelstuhl, der aussieht, als stamme er weder aus diesem noch aus dem letzten Jahrhundert, antikes Werkzeug aus Holz und Metall, das als Schmuck an den Wänden hängt. Und dann noch etwas, das an die ausgestellten Schätze eines Sammlers erinnert: eine Vitrine voll mit verschiedenen Elefantenfiguren aus Porzellan, Glas und Holz. Hannah tritt näher an das Schränkchen heran, dessen Inhalt ein ganzes Leben lang zusammengetragen worden sein muss. Besonders eine Figur in der Sammlung von naturalistisch bis hin zu abstrakt geformten Elefanten sticht in ihren Augen hervor, nämlich ein besonders realistisch gearbeitetes Elefantenmännchen, wunderschön geschnitzt aus einer Holzsorte, die sie nicht kennt. Sein Rüssel hängt bis zum Boden hinunter, sein rechtes Hinterbein ist gebeugt, als ruhe er sich aus. Sie findet, er hat etwas Trauriges an sich.

»Minn uppáhalds.«

Hannah zuckt zusammen, sie wendet sich um und sieht, dass Ella direkt hinter ihr steht. Hannah blickt ihre Gastgeberin verständnislos an. Ella nimmt eine Zeitung vom Wohnzimmertisch und einen Kugelschreiber. Sie schreibt:

Mein Liebling. Ich kaufe ihn in Indien.

Hannah schaut sie überrascht an.

»Warst du in Indien?«

Ich war in viele Länder. Ich liebe Elefanten. Können eine ganze Familie tragen.

Hannah sieht sich um, ihr fällt etwas auf. Die Abwesenheit von Bildern.

»Hast du keine Kinder?«

Ella schüttelt den Kopf, schreibt.

Leider.

Ella sieht allerdings nicht sehr traurig aus, stattdessen gibt sie durch ein Zeichen zu verstehen, dass Hannah einen Moment warten soll, sie verschwindet kurz und kehrt dann mit dem Foto eines Teenagerjungen zurück. Hannah nimmt es in die Hand, betrachtet es mit aufrichtiger Neugier. Normalerweise hasst sie es, sich Fotos anderer Leute von irgendjemandem anzusehen, den sie mögen, aber dieser Junge hat etwas unerklärlich Anziehendes. Es ist nicht sein Aussehen, denn mit seinem blonden Haar, den dunklen Augenbrauen und den für Island charakteristischen hohen Wangenknochen ist er zwar hübsch, aber nicht außergewöhnlich. Was ihn besonders macht, ist seine Haltung; sie ist nicht kokett posierend, sondern voller verführerischem Selbstvertrauen. Und dann sein Blick. Er hat die gleichen grünen Augen wie Ella, der Blick durchdringend, fordernd. Ella zeigt auf ihn.

»Frændi.«

»Freund?«

Ein weiteres Kopfschütteln, dann denkt Ella nach, als suche sie ein dänisches Wort, das weit weg liegt. Wieder nimmt sie die Zeitung, schreibt auf den Rand.

Neffe. Thor.

Hannah nickt verstehend.

»Wohnt er hier im Dorf?«

Noch ein Nicken, gefolgt vom Schreiben.

Das tut meine ganze Familie.

»Das klingt schön.«