534 - Band I - Milena Himmerich-Chilla - E-Book

534 - Band I E-Book

Milena Himmerich-Chilla

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Beschreibung

Sein Gefühl hatte ihn auch dieses Mal nicht betrogen. Etwas lief ganz und gar nicht nach Plan. "Wo ist sie? Sie sollte doch hier sein!" Wir schreiben das Jahr 534. Lilith ist tot, Grindelwald verbannt und der Krieg schon lange vorüber. Das jedenfalls nahm die Welt an. Wie sehr sie sich darin täuschen sollte. Grindelwald, der endlich vor der Auferstehung Liliths steht, suhlt sich bereits in seinen Siegesvorstellungen und ahnt dabei mit keiner Silbe, dass es nicht Lilith ist, die ihre Augen aufschlägt, sondern Elisabeth, ihr Alter Ego. Entschlossen, einen Weg nach Hause zu finden, begibt sich diese auf eine Reise, welche sie zu Wahrheiten führt, die sie verdrängt, Erkenntnissen, die sie von sich stößt und einem Ich, das sie bis zuletzt verleugnet. Die Geschichte zeigt, dass sie ein Monster ist. Doch stimmt das wirklich?

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Seitenzahl: 632

Veröffentlichungsjahr: 2017

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PROLOG
Kapitel I
Kapitel II
Kapitel III
Kapitel IV
Kapitel V
Kapitel VI
Kapitel VII
Kapitel VIII
Kapitel IX
Kapitel X
Kapitel XI
Kapitel XII
Kapitel XIII
Kapitel XIV
Kapitel XV
Kapitel XVI
Kapitel XVII
Kapitel XVIII
Kapitel XIX
Kapitel XX
Kapitel XXI
Kapitel XXII
Kapitel XXIII
Kapitel XXIV
Kapitel XXV
Kapitel XXVI
Kapitel XXVII
Kapitel XXVIII
Kapitel XXIX
Kapitel XXX
Kapitel XXXI
Kapitel XXXII
Kapitel XXXIII
Kapitel XXXIV
Kapitel XXXV
Kapitel XXXVI
Kapitel XXXVII
Kapitel XXXVIII
Kapitel XXXIX
Kapitel XL
Kapitel XLI
Kapitel XLII
Kapitel XLIII
Kapitel XLIV
Kapitel XLV
Kapitel XLVI
Kapitel XLVII
Kapitel XLVIII
Kapitel XLIX
Kapitel L
Kapitel LI
Kapitel LII
Kapitel LIII
Kapitel LIV
Kapitel LV
Kapitel LVI
Kapitel LVII
Kapitel LVIII
Kapitel LIX
Kapitel LX
Kapitel LXI
Kapitel LXII
Kapitel LXIII
Kapitel LXIV
Kapitel LXV
Kapitel LXVI

Fantasy-Roman

von

Milena Himmerich-Chilla

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzung, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung, können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden

Texte: © Copyright by Milena Himmerich-Chilla Cover: © Copyright by Milena Himmerich-Chilla Grafiken: © Copyright by Milena Himmerich-Chilla

Verlag: Milena Himmerich-Chilla Mainzer Str. 34 63456 Hanau [email protected]

ISBN 978-3-7450-8365-1

In Erinnerung an meinen Vater, der stets alles für seine Familie gab.

PROLOG

Es ist reiner Selbstbetrug anzunehmen, dass die Zeit vergangenes Leid erträglicher gestaltet, denn ein Herz kann nicht um die Verletzung, die es erlitten hat, betrogen werden. Es befindet sich in jener ewig währenden Ausgangssituation, die der tragischste aller Verluste vorgibt. Die Zeit ist weder im Stande etwas an unseren Schuldeingeständnissen, noch an der Leere, die in uns zurückbleibt, zu ändern. Dennoch reden wir uns tagtäglich ein, dass es eine Heilung der Seele gibt. Wir können die Wahrheit einfach nicht ertragen. Es wird nie ein Entrinnen seiner Gefühle geben, denn jene sind ewig währende Male, die auch mich seit einer Ewigkeit zeichnen.

Gebrandmarkt meiner Vergangenheit an der Seite jenes Wesens, welches mich unwillentlich dazu verdammt hat, in diesem grauen Gefängnis den Rest meines kümmerlichen Daseins zu fristen. Mich immerfort mit stumm gehauchten Worten drängt, so dass ich ihr nichts entgegenzusetzen habe, als hörig die Spitze meiner Feder in das tiefe Blau zu tauchen.

Während das Kratzen des Kiels, der sich von mir getrieben über das Papier schiebt, den Raum erfüllt, ist es mir, als wäre sie erneut am Leben. Ich erkenne ihre Gestalt am Fenster stehend. Frierend hält sie den zarten Körper fest umschlungen. Der silberne Wasserfall ihrer Haare ergießt sich neckisch, ineinander verwoben über die schmalen Schultern, den geschwungenen Rücken herab und greift mit ausgedörrten Fingern nach ihren Hüften. Zu tief in der Gedankenwelt treibend, blickt sie den langsam und vielfach ziehenden Schneeflocken hinterher. »Wie viele Winter liegen schon hinter uns?«, frage ich mich, meiner Gefühle ergebend.

Als hätte das Mädchen meine unausgesprochene Frage erhört, wendet sie sich von der beruhigend wirkenden Winterszenerie ab und schaut unverhohlen in meine Richtung. Ein Strahlen liegt in ihren saphirblauen Augen, als sie kurz darauf schnellen Schrittes auf mich zu kommt, hinter mich tritt und mir mit gespitzten Lippen über die Schulter sieht. Sie weiß, dass ich dies nicht leiden kann und dennoch bereitet ihr diese herausfordernde Geste unsagbare Freude, dass es mir ein Lächeln abverlangt und ich sie gewähren lasse.

Ich fühle den hitzigen Körper hinter mir, obwohl mir bewusst ist, dass dies nicht sein kann. Dennoch schließe ich automatisch meine Augen und koste dabei jenes stetig wiederkehrende Trugbild bis auf seinen letzten Tropfen hin aus. Tränen treten mir in die Augenwinkel.

Ihre frech auf und ab schwingende Stimme erfüllt den ansonsten menschenleeren Raum und hallt in sich darin verschmelzend endlos wider. »Schreibst du etwas über mich?«

Ich fühle, wie mein Brustkorb sich zusammen zieht, und versuche vergebens, die aufbäumende Trauer zu unterdrücken. »Ich halte mein Versprechen«, hauche ich tonlos, als sie von meinem Rücken ablässt, verblassend vor mich tritt und das strahlende Lächeln das ist, was mir bis zu letzt von ihr bleibt, bevor auch jenes an Kontur verliert und schlussendlich, von einem kalten Luftzug ergriffen, hinaus durch das Fenster getragen wird.

Dann ist sie fort, gegangen so schnell, wie sie gekommen war. Wie vor langer Zeit schon einmal hat sie mich alleine mit dem bohrenden Schmerz ihres Verlustes zurückgelassen. »Das ist nicht fair von ihr«, denke ich, als die Ohnmacht meiner eigenen Hilflosigkeit mich überfällt. Lebendige Erinnerungen an sie peitschen meinen, bereits über Jahre hinweg geschundenen Geist weiter aus. Ich kann nicht anders, als die abgegriffene Feder neben das angefangene Schriftstück zu legen, während mein Blick verschwimmt und die Welt erneut für mich an Bedeutung verliert.

Meine Schultern beben, ohne dass ich etwas entgegenzusetzen habe. Wieder einmal wünsche ich mir, dass wir uns in so manchen Augenblicken anders entschieden und unsere viel zu kurze Zeit miteinander besser genutzt hätten, doch Vergangenes kann nicht zurückgeholt werden.

Wie lange ich in meinen Gedanken dahin trieb und dabei regungslos auf dem Schemel vor dem kunstvoll geschnitzten Schreibpult verweilte, vermag ich nicht zu sagen. Als sich jedoch mein Blick wieder auf das vergilbte Pergament vor mir legt, bemerke ich die rasch schwächer gewordenen Lichtstrahlen der untergehenden Sonne.

Meine Gelenke knirschen frisch gefallenem Schnee gleich, als ich mich unter einem Stöhnen erhebe und die Welt ins Wanken gerät. Die vielen Jahre, welche ich verlassen an jenem Ort verbracht hatte, fordern nun fortwährend weitere Tribute von mir, die ich jedoch willig zu zahlen bin. Viel Zeit würde mir allerdings nicht mehr bleiben.

Diese Erkenntnis lässt mich aufatmen. Ich erlaube mir ein kurzes Lächeln ob des befreienden Gefühls, dass die Zeit für mich bald vorüber sein mochte und lasse meinen Blick flüchtig aus dem Fenster gleiten. Doch müsste ich mich beeilen, wenn ich das einst gegebene Versprechen erfüllen wollte, dessen war ich mir bewusst.

Beflügelt der Gewissheit, den nahenden Frühling nicht mehr zu erleben, schlurfe ich schwerfällig zum anderen Ende der Bibliothek. Erinnerungen meiner Jugend formen sich dabei zu greifbaren Abbildern und verfolgen mich durch den karg beleuchteten Raum.

Als ich den kalten Stein des aus der Wand heraus geschlagenen Tisches ergreife, fühle ich mich plötzlich schwerer. Meine Knie beugen sich bedrohlich unter dem Körper, während ich versuche, den Großteil meines Gewichtes auf die spiegelnde Oberfläche zu stützen. Auch ergebe ich mich den aufkeimenden Erinnerungen, lasse meinen Geist von diesen forttragen und mir dabei jene, längst vergessene Gerüche in die Nase treiben, welche so lange schon vergangen waren.

Ein schwerer, metallischer Geschmack breitet sich in meinem Mund aus. Die unterschiedlichsten Orte zucken hierbei vor meinem inneren Auge, unmöglich sie in ihrer ungeordneten Form zu erfassen. Als meine Handfläche sich jedoch wie von selbst über die glatte, steinerne Oberfläche schiebt, verschmelzen die Bilder in einen grauschlierigen, undurchdringlichen Nebel.

Die ledrige Haut meiner Hand, welche sich in tiefen Falten über die hervorstehenden Knochen zieht, wirkt plötzlich fremdartig. Wie ein Kind studiere ich sie, biege meine Finger unter weit aufgerissenen Augen und wiege ihre Handfläche hin und her. Dabei mustere ich die trockene Innenfläche genau, bevor ich jene seufzend zurück auf den kühlen Stein lege.

Wie ein Schlag trifft mich die Erkenntnis, dass jene Person, die einst durch die zahlreichen Gänge geschritten war, nicht mehr vorhanden ist. Jene hatte das alternde Abbild in den himmelhohen Hallen des steinernen Palastes zurückgelassen, während sich die Welt um jenen Ort stoisch weiter dreht.

Mit einem energischen Kopfschütteln, das mir eine einzelne Haarsträhne ins Gesicht treibt, löse ich mich von dem Gedanken, bevor sich meine Hand weiter vorwärts schiebt und den Bauch des Messingkerzenständers, der überraschend schwer in jener wiegt, umschließt.

Das Feuer der ungleichmäßig gezogenen Kerzen brannte bereits, was mir Zeit ersparte. Jene abstrakten Wachsskulpturen waren es, welche das letzte Vermächtnis ihrer einstigen Besitzer bildeten, bevor diese für immer aus der Geschichte des Landes verschwanden. Dass die Magie ihrem vorgezeigten Weg kurz darauf folgen würde, hatte zur damaligen Zeit niemand für möglich gehalten, doch geschah es so.

Müdigkeit befällt meine verschlissenen Gelenke, als ich beginne, meine Beine durchzudrücken und die Füße mich pflichtbewusst zurück an das Schreibpult führen. Dort angekommen fühle ich mich just träger und lasse mich keuchend auf den lauwarmen Schemel nieder. Ich atme die Schwere der Luft ein. Sie riecht nach Staub und Wissen.

Erneut überfällt mich das Trugbild des Mädchens am Fenster, als ich behutsam den alten, feingliedrigen Kerzenständer mit etwas Abstand an den Kopf des angefangenen Pergaments stelle. Der goldene Schein des Flammenspiels darauf spiegelt sich in meinen Augen, zuckt dabei über die an der Wand entlang hangelnden Regalreihen mit ihren wohl sortierten, in verschiedenstem Leder gebundenen Bänden. Die mit Goldfäden kunstvoll verzierten, ausgefransten Lesebändchen blitzen hier und da, während jene zwischen den viel gelesenen Seiten ihr Dasein fristeten und den ausbleibenden Lesern den Weg in längst vergessene Zeiten wiesen.

Ich genieße die Anwesenheit der alten Werke sehr und ihren ganz eigenen Geruch, der mich bis in jeden noch so kleinsten Winkel hin erfüllt. Ein Lächeln huscht mir kurz über das von Falten durchzogene Gesicht, während ich den altbekannten Duft geräuschvoll in mich aufsauge und von jenem beflügelt zur Feder greife, diese erneut in das Tintenfass stoße und mit ihr meine letzten Stunden teile.

Kapitel I

15. des Nimh 255 | Randgebiet des Felsplateau's Erdurin

»Es ist vorbei?«, presste Dangar heiser zwischen seinen aufgeplatzten Lippen hervor, während sich auf jenen das derweil geronnene Blut faserig zu lösen begann. Er sah es, war aber nicht im Stande, es zu begreifen.

Mit zittrigen Händen ergriff er den Rand des verbeulten Eisenhelms, welcher ihn zuvor zwar geschützt, seine Sicht aber erheblich eingeschränkt hatte und schob jenen sein kantiges Gesicht hinauf.

Kalter Regen traf ungehindert auf die befreite Haut, stach schmerzvoll auf dieser und rann in dünnen Linien seine ungläubigen Züge herab. »Es ist vorbei«, wiederholte er, diesmal verstehender, während sein Blick, gezeichnet der aufgestiegenen Emotionen, den siegreichen Ausgang der Schlacht verrieten. »DER KRIEG IST VORÜBER!«

Seine geschrienen Worte überschlugen sich, schwappten dabei über das blutig schwarze Feld, welches sich vor seinen Füßen weit, bis an den Rand des Horizontes hin, erstreckt hielt. Seine Stimme brach sich in tausende Echos auf und schlug an die schroffen Felswände. Als er sein zerkratztes Schwert in die Höhe warf, befiel ihn eine Gänsehaut. Wieder schrie er das Ende des Krieges hinaus in die Welt und der Jubel unzähliger, auf dem Schlachtfeld gestandener Soldaten griff augenblicklich um sich. Endlich begriff er zur Gänze seine eigenen Worte.

Frandul, dessen weißes, strähniges Haar ihm ungeordnet über seine Schultern und das vom Alter gezeichnete Gesicht fiel, stützte sich müde auf seinen Stab und trat an Dangars Seite. Gemeinsam betrachteten sie wortlos das sich erstreckende Meer aus tanzenden Soldaten.

Der Magier legte dem Alben eine seiner riesenhaften Hand auf die Schulter. Dieser erlag augenblicklich seinen Emotionen und entledigte sich unbeholfen der dicken Lederhandschuhe, um seine Augen von der aufgekommenen Tränenflut zu befreien. Es war also wirklich vorbei, jener ewig während erschienene Alptraum hatte an jenem Tag sein Ende gefunden. Er war glücklich und bestürzt zu gleich.

Das Siegesgeschrei hatte mittlerweile auch die letzten Ecken des Kriegsschauplatzes erreicht. Die rot-silbernen Wellen aus geschwungenen Schwertern und Schildern funkelten gleich Diamanten unter dem rosa getränkten Himmel. Vereinzelt wurde dessen Glanz jedoch durch die unterschiedlichsten Gestalten getrübt, welche in Richtung Westen davon eilten und im dichten Gehölz des angrenzenden Waldes Schutz suchten. Dangar verfolgte mit gesteigertem Interesse die Flucht der übrig gebliebenen Feinde. »Lass sie. Es bleibt genügend Zeit, sie zur Rechenschaft zu ziehen. Jetzt ist kein Zeitpunkt für die Rache, sondern zu feiern. Es ist vorbei, Dangar. Wir haben gesiegt.« Der König des Albenvolks entspannte sich unter der rauchigen Stimme des Magiers und dessen Worte. Der Alte hatte recht. Für heute war genug Blut geflossen.

So riss er sich vom Anblick des wild gewachsenen Dickichts los und richtete sein Augenmerk auf Andrey, der neben der zerbrechlich wirkenden Gestalt seines Vaters kniete.

»Vater, bitte, spare dir deine Kräfte. Das wird schon wieder. Du wirst sehen! Alles wird wieder gut. Ich nehme dich mit Heim, hörst du?«, sprach Andrey mit erstickter Stimme auf seinen Vater ein, obgleich er seinen eigenen Worten keinen Glauben schenkte. Etwas in ihm wusste bereits, dass sein Weg ihn alleine zurück nach Fernwald führen würde.

Andrey umklammerte mit beiden, jene noch immer behandschuhten, zuckenden Hände seines Vaters, während sich unter diesem bereits eine rot-schwarze Lache ausdehnte. Erinnerungen seiner frühen Kindheit, in der noch alles so leicht für ihn erschienen war, zogen an seinem inneren Auge vorbei und er wünschte sich einmal mehr in der Zeit zurück. »Es wird wieder so, wie früher, ja? Wir werden zusammen die Bibliothek führen. Du und ich, hörst du? Nur wir zwei und abends, wenn wir nach Hause kommen hat Sira bereits gekocht. Sie ist schwanger, weißt du? Wir sind uns noch nicht sicher, ob es ein Mädchen oder Junge wird. Aber wenn es ein Junge wird, dann werden wir ihn Dendayar nennen.« Theodors Lippen bedeckte ein schwaches Lächeln. »Sohn der Erde … ein wundervoller Name.« Andrey nickte hektisch und erwiderte das Lächeln seines Vaters. Tränen lagen in seinen Augenwinkeln.

Andrey, dessen Blick den des Magiers zu seiner Linken traf, wirkte benommen, beinahe so, als hätte ihn sein Verstand verlassen. Noch immer lag das vorherige Lächeln in seinem Gesicht, doch nun wirkte es grotesk. »Nimm das hier.« Theodor keuchte und streckte seine rechte, zu einer weichen Faust geballten Hand seinem Sohn entgegen, welcher sofort wieder auf seinen Vater herab sah. Unsicher griff er nach der Hand Theodors, in der ein silbern eingefasster, matt schimmernder, grauer Stein lag. »Mein Sohn, es tut mir so leid, was ich dir und deiner Mutter angetan habe und noch mehr, dass ich dich von nun an nicht mehr auf deinem Weg begleiten kann. Nicht zu sehen, welch wundervollen Dinge du erschaffen wirst, erfüllt mich mit Schmerz. Bitte, nimm das. Es wird dir und deiner Familie irgendwann von Nutzen sein. Hörst du? Und vergiss niemals meine Worte. Nichts ist unmöglich, solange man seinem Herzen treu bleibt. Der Weg wird steinig sein, aber am Ende wird das Glück liegen. Das weiß ich. Das hoffe ich. Vergib mir bitte, mein Sohn … Ich liebe dich.« Andrey konnte nicht anders, als sich seiner Tränenflut zu ergeben.

Frandul, von der Hilflosigkeit seines Gegenübers getrieben, trat auf die gegenüberliegende Seite Theodors, der bereits seine letzten Atemzüge nahm, und seinen Sohn dabei nicht aus den Augen verlor. Das tiefe, weit klaffende Loch in seiner Brust gab den Blick auf den blutgetränkten Boden frei. Andrey stöhnte erstickt auf, als sein Augenmerk sich auf die Wunde seines Vaters legte und das letzte erzwungene Pumpen dessen Herzens wahrnahm. Hektisch zog der den sterbenden Körper an den seinen und schrie in die Welt. »Ich vergebe dir. Hörst du, Vater? Ich vergebe.« Die Glieder des Alben erschlafften zeitgleich eines flüchtigen, dankbaren Lächelns, als seine Augen langsam nach oben rollten und ihren Fokus verloren.

»Graue Opale«, schoss es Andrey durch den Kopf, während das Rauschen seines Blutes ihm in den Ohren dröhnte und die restlichen Geräusche verschluckte. Nicht einmal die Stimme des Magiers, der mit besorgter Miene zu ihm sprach, vermochte er zu hören. Einzig und alleine blieben ihm die letzten Worte seines Vaters, welche ihn ein Leben lang verfolgen würden.

Die nunmehr leblose Hand fiel seitlich herab und versank in der blutgetränkten Erde unter ihr. »Vater?«. Andreys zitternde Hände griffen erneut nach Theodors, als Frandul ehrfürchtig, ob der aufopfernden Geste des Alben, dessen Lider bewegt schloss. »Ich danke dir, mein alter Freund. Möge deine Seele nun endlich die verdiente Ruhe finden, nach der sie so lange gesucht hat«, murmelte der Magier mit erstickter Stimme, als er sich, schwer auf seinen Stab stützend, aufstemmte und den Blick in Richtung des Horizontes richtete. Auch er begann zu weinen.

»Vater?!«, wiederholte Andrey. »VATER!«, spie er in den Himmel, welcher im unausgesprochenen Vorwurf des Alben keine Schuldigkeit sah und stumm die Szenerie unter sich betrachtete.

* * *

Die gellenden Freudenschreie der zahlreich feiernden Soldaten hallten von den schroffen Felsen wider, als Merin das leblose, in Stoff gehüllte Kind schulterte und sich in den Schutz der Schatten zurückzog. »Wie hatte das Ganze solch eine Wendung nehmen können?«, dachte er, während seine Brauen sich enger zusammen schoben und nunmehr eine dunkelblonde Linie bildeten.

Waren sie doch im Begriff gewesen, den Sieg für sich zu beanspruchen, änderte sich mit der unerwarteten Opferbereitschaft Theodors einfach alles. Die daraus resultierende Unaufmerksamkeit Liliths brachte die Wende. Indem er das Zusammenspiel der Magier störte, hatte Merin es jedoch geschafft, das Schlimmste abzuwenden.

Da jener um die Strafe des begonnenen Hochverrates wusste, hatte er die allgemeine Verwirrung seiner Brüder genutzt und sich Liliths Hülle zu eigen gemacht. Anschließend war er mittels einem der schwindenden Schatten in den angrenzenden Wald entkommen.

Dort entledigte er sich seines Mantels und wandte diesen um die regungslose Gestalt, der sein Herz gehörte. Es war das erste Mal seit langer Zeit, dass er ihr wieder so nah sein konnte. Die bereits angedeuteten weiblichen Züge wirkten weich im Schlaf, während er ihren Körper fest im Griff hielt. »Es gab keine andere Wahl«, verteidigte Merin sein vorheriges Bemühen.

Die ungewisse Zukunft schlug ihm just entgegen und formte sogleich einen schweren Kloß im Hals des Magiers, als dieser die Finger durch ihr silbern schimmerndes Haar zog und jenes folgend mit dem Rest des schweren Stoffes verdeckte. »Schlaf gut, du unsere Hoffnung, du mein Herz«, säuselte er, als er seine Lippen auf ihre Stirn legte und ihren Geruch in sich auf nahm. Er würde bei ihr sein, wenn sie ihre saphirblauen Augen erneut aufschlug, schwor er sich, während er den federleichten Körper anhob und über seine schmale Schulter legte. Augenblicklich hüllte ein süßlicher Duft den Gestaltwandler. »Flieder«, wisperte er mit einem sanften Lächeln.

Merins goldglänzende, spitz zulaufende Augen richteten sich ein letztes Mal auf das Schauspiel hinter ihm und fixierten eine kleine Ansammlung noch immer gerüsteter Soldaten, welche einen unsteten Kreis formten und enger zogen. Aus Vorahnung heraus schloss der Magier seine Lider, während er sich bereits abwandte und kurz darauf ein markerschütternder Schrei, die in den Baumkronen ruhenden Vögel aufschreckte. »Auf bald, Bruder«, murmelte er geistesabwesend.

So würde es weiter gehen, bis auch der Letzte aus Grindelwalds Heers, der nicht rechtzeitig seine Chance ergriffen hatte zu fliehen, gefallen war.

»Merin!« Der Gestaltwandler zuckte augenblicklich zusammen. Hörig wandte er sich jedoch nach einigen Augenblicken um und betrachtete den Mann, welcher sich aus einem der tiefblauen Baumschatten schälte. Entgegen dem Magier hatte jener hünenhafte Seemann zu Fuß fliehen müssen. Bardur richtete seinen fahlen Blick durch das Gestrüpp, an den Soldaten vorbei, auf den verdreht da gelegenen Leichnam, der mit leeren, weit aufgerissenen Augen ihm entgegen starrte. Mitleid war etwas, was er sich nicht leistete.

Unbeeindruckt der Brutalität, die sich vor ihm offenbart hatte, drehte er sich Zunge schnalzend davon ab. Er konnte sowieso nichts mehr tun und wollte auch keine weiteren Verzögerungen in Kauf nehmen.

Merin, der mittlerweile an dessen Seite trat und das leblose Paket auf seinen Schultern trug, musterte sein Gegenüber mit vorwurfsvollem, stechendem Blick.

»Wir müssen hier weg!«, bellte der Hüne mit seiner immerwährend tiefen Baritonstimme, als er auch schon den ersten Schritt in Richtung des nahe gelegenen Bergkammes tat. Merins Augen verengten sich so weit, dass er Mühe hatte, die Umrisse vor ihm aus zu machen. Dabei trat er vorsichtig und bewusst in Bardurs Fußstapfen. Dieser setzte stoisch einen Fuß vor den anderen. »Er hatte recht«, dachte Merin. Beide mussten schnell so viel Land zwischen sich und dem Schauplatz ihrer Niederlage schaffen, wie es ihnen in der nur kurzen Zeit möglich war. Die Soldaten würden nicht ewig dort auf dem Feld verweilen und einfach zusehen, wie sich ihre Feinde einen Weg in die Freiheit bahnten.

Der Wunsch nach Vergeltung würde sie über die modrig riechenden Trampelpfade hinweg auf ihre Fährte führen. Diese Gewissheit trieb Merin an, der Bardur eng auf den Fersen war und ihm tiefer in den Wald hinein folgte.

* * *

»Grindelwald, was hast du getan?«, stöhnte eine, dem unansehnlichen Magier vertraute Stimme auf.

Er musste sich schleunigst etwas überlegen, etwas Brillantes, etwas Nachvollziehbares, etwas, das seinen Hals aus der überraschend entstandenen Schlinge zog. Sterben konnte er zwar nicht, denn dieser Teil des Lebens war einem Magier mit seiner Ernennung vergönnt worden, aber es gab genügend andere Strafen, die keinen Unterschied machten, ob sterblich oder nicht.

Nervosität dominierte seinen Geist, als die dunkel fleckige Spitze seiner Zunge über die trockenen Lippen fuhr. Nichts war verräterischer als das. »Denk nach! Denk nach! DENK NACH!« Weiter in den unüberwindbaren Wogen seiner Gefühle kratzte er unbewusst über die Spitze seines Fingerstumpfs. Das erste Mal in seinem Leben ließ sein windiger Verstand ihn im Stich und tauschte seinen Platz mit der Leere, die bereit war, ihn in den Wahnsinn zu treiben. Ihm war nichts gegeben, um der Übermacht der sich heranpirschenden Umhänge entgegenzuwirken.

Hagar, dessen kahles, von Fett überzogenes Haupt die Strahlen der untergehenden Sonne reflektierte, trat mit unsicheren Schritten über den sandigen Steinboden hinweg, während das lederne Knarzen seines Schuhwerks sich Schritt für Schritt in Grindelwalds Bewusstsein bohrte. Übelkeit stieg diesem auf und füllte seinen Mundraum mit bitterem Speichel.

Immer wieder hielt Hagar in seinen Bewegungen inne, bevor er sich weiter, vorsichtiger als zuvor, Grindelwald näherte. Das dunkle Augenpaar, welches im Zentrum seines nunmehr fahlen Gesichtes gebettet lag, ließ ihn mehr tot als lebendig erscheinen. »Sag mir, dass es nicht wahr ist!«

Grindelwald, der sich zwischenzeitlich seinem Gegenüber zugewandt hatte, fixierte den stark untersetzten Magier in seiner mitgenommenen nachtblauen Robe, die zu dessen Gunsten den Großteil seiner Statur verdeckt hielt. Die filigranen Goldausarbeitungen an den Säumen des schweren Stoffes wirkten, trotz zahlreich gezogener Fäden überaus prunkvoll in ihrem Detailreichtum und verrieten Grindelwald dessen nunmehr hohe Stellung.

Hagar, der in seiner Bewegung nun endgültig innehielt und zwei Armlängen vor Grindelwald zum Stehen kam, reckte seinen Hals zum Zeichen, dass die von ihm ausgesprochene Frage noch immer einer Antwort bedurfte. »Es stand nicht in meiner Macht, sie aufzuhalten«, krächzte Grindelwald, der Schuldigkeit heuchelnd, sein Haupt gesenkt hielt und den rot getränkten, schlammigen Boden unter sich zu mustern begann. Noch immer glich sein Geist einem leeren Gefäß, als er die Augen schloss und seine ganze Energie darauf verwendete, einen leidenden Gesichtsausdruck zu imitieren.

Die erhobenen, dunklen Brauen Hagars schoben sich tief herab und verschmolzen mit der Dunkelheit seiner Augen. »Grindelwald, ich mag zwar alt sein, aber kein Narr. Wie also kannst du es wagen, mit mir wie mit einem Solchen zu reden?« Geräuschvoll sog Grindelwald den Speichel, der ihm über seine Lippe hinab rann, ein, als sein linkes Auge unkontrollierbar zuckte und sich jeder Muskel in seinem Körper anspannte. »Ich habe mich nur an den Kodex gehalten und nichts ...«

»Der Kodex, Grindelwald, sieht etwas anderes vor, als Untätigkeit. Vor allem dann, wenn unser Schicksal den falschen Weg für sich wählt, denn dann ist es an uns, ihn wieder auf den richtigen zu führen.«

Grindelwald hob seinen Kopf vorsichtig an und suchte den Blick seines alten Mentors.

»Was anderes hätte ich von dem auch nicht erwartet«, spuckte Rubens in die Versammlung, als jener die zwei Magier vor ihm rüpelhaft zu Seite stieß und mit großen Schritten auf Grindelwald zustürzte. »Habe ich es nicht von Anfang an gesagt? Man brauch sich nur einmal seine Augen anzusehen, dann erkennt man doch sofort die Absichten, die er hegt. Aber niemand wollte auf mich hören«, schnauzte er, während er sich wild gestikulierend an Hagar vorbei schob und seinen wild verdrehten Zauberstab durch die Luft warf.

Hagar, der nicht die Absicht hatte, sich von seinem Bruder vorführen zu lassen, griff nach dem Holz des wutentbrannten Magiers und machte es sich zu eigen. »Nicht, Rubens! Er ist immer noch unser Bruder, auch wenn seinen Taten fragwürdige Absichten unterliegen.« Der überraschte Blick des grünäugigen Waldelfen verlangte Grindelwald alles ab, um nicht in schallendes Gelächter auszubrechen. Er hatte Rubens niemals leiden können. Schon seit ihrem ersten Zusammentreffen. »Schlammhaut!«, zischte er tonlos, darauf bedacht, dass es kein Ohrenpaar je zu hören bekam.

Nachdem Rubens seine Fassung wiedererlangt hatte, ergriff seine grobgliedrige Hand dessen graumelierten Kinnbart. Dieser knackte strohig unter den massierenden Fingern und ließ Grindelwald sich an den Ziegenbock seiner Mutter erinnern. Die tief in seinem Schädel zurückgezogenen Augen des Waldelfen musterten, die Abneigung plakatierend, seinen Bruder, bevor er sich Hagars Äußerung geschlagen gab, und einige Schritte zurück, hinter diesen trat. Als Belohnung erhielt er seinen Stab zurück und schloss seine dunklen Finger darum.

»Was nun?«, wandte sich Hagar an die verbleibenden Brüder. »Wir sollten es beenden! Hier und jetzt!«, donnerte es aus den hinteren Reihen. »Nein, er ist unser Bruder. Wir müssen eine andere Lösung finden!«, stellte sich eine schiefe Stimme vom anderen Ende der Versammlung, der Hinteren in den Weg. »Ach, so etwas verdient keine andere Lösung! Er verdient das, was das Gesetz vorsieht!«

»Eine wundervolle Lösung Rubens. Kannst du mir auch sagen, wie du das anstellen willst? Wir können nicht sterben und das weißt du auch.«

Der Angesprochene zog geräuschvoll die Nase hoch, bevor er seinen Stab losließ, welcher folgend der Magie geleitet, an dessen Seite schwebte. Rubens wandte sich Nathan zu. Kurz darauf bahnte sich der emotionsgeladene Magier bereits seinen Weg in Richtung des schief grinsenden Alben, der sich seine Bestätigung durch die zahlreich nickenden Brüder holte. »Du hast gut reden. Schlag du doch etwas vor! Mach dich einmal im Leben nützlich und sag uns, was wir tun sollen!«

Bei jeden seiner sauer aufgestoßenen Worte schubste Rubens den eingefallenen Magier in seiner grauen, grob gewebten Robe durch die Versammlung. Dieser riss erschrocken seine Augen auf. Ein Stöhnen drang aus seiner Kehle. »Dachte ich es mir doch. Große Worte und nichts dahinter. Was sollte man auch mehr von einem verweichlichten Alben erwarten?«

»RUBENS!«, donnerte Hager, der sich seinen Weg durch die Masse aufeinander einredender und beschimpfender Magier bahnte. »Nun ist aber genug!«

»Genug, Hagar? Nein, noch lange nicht! War es nicht das Gelbauge Merin gewesen, der uns in den Rücken gefallen ist und sich mit Lilith davon gemacht hat? Wie kannst du das Geschehene leugnen? Wir alle haben es mit eigenen Augen gesehen.«

Hagar schwieg und verharrte regungslos ob des unbestreitbaren Vorwurfs, während Rubens sein neu gewonnenes Oberwasser auskostete und sich den Umstehenden zuwandte. Sein Blick glitt über die Anwesenden hinweg, als er an Hagar vorbei, auf Grindelwald zuschritt und mit der rechten Hand erneut seinen Stab umschloss. »Und ich wette um alles, was ich besitze, dass er mit diesem Monstrum unter einer Decke steckt!«

Bei diesen Worten streckte er seine freie Hand in Richtung Grindelwald aus, der unter der plötzlich aufgekommenen Aufmerksamkeit zusammenzuckte und seinen Blick erneut auf den Boden lenkte.

»Rubens, ich warne dich ein letztes Mal! Strapaziere nicht meine Geduld!« Grindelwald gefiel es in keiner Weise, in welche Richtung sich diese Unterhaltung entwickelte und zwang sich zu klaren Gedanken. »Willst du mir den Mund verbieten, Hagar? Nur zu, dann sehen es wenigstens alle! Du bist schon lange nicht mehr unparteiisch, Bruder. Vielleicht wäre jemand anderes für deinen Platz besser geeignet. Jemand, der nicht so blauäugig diesem Etwas da Vertrauen schenkt«, gab Rubens von sich, während er sich provozierend auf seine Fußspitzen stellte und sein behaartes Kinn Hagar entgegenstreckte. Zähflüssig zogen sich die Sekunden über die Szenerie, untermalt der Ausgelassenheit unter ihnen.

Nur langsam hoben sich Hagars Brauen an und die Müdigkeit ergriff sein Gesicht. Er war den ewigen Kampf leid, den Zwist, der hinter ihm lag und immer vor ihm liegen würde. »Was willst du, Rubens?«, presste er tonlos zwischen seinen schmalen Lippen hervor und drehte seinen Kopf in Richtung Grindelwald, der am Rande des Plateaus stand und ihm hilfesuchend entgegensah. Er könnte nie verzeihen, welchen Verrat sein einstiger Schüler begangen hatte, dennoch empfand er einen Anflug von Mitleid ob seiner gestraften Person. In einem Teil seines Ichs keimte jene väterliche Liebe, welche dessen Vertrauensbruch umso schwerer für ihn wiegen ließ.

Hagar legte seine faltige Hand auf das Gesicht und wischte über seine brennenden Augen, während Rubens stolz seine Brust anschwellen ließ und sich zwischen Grindelwald und den Magiern aufbaute. »Verbannung, sage ich! Ein Bruder, der nicht für unser Land ist, ist gegen unser Land! Fort mit ihm, hinter die westliche Grenze! Dort kann er meinetwegen sein Leben lang, bis zum Ende der Zeit hin, Ratten fressen und darüber nachdenken, was er getan hat.«

Hagar, der mit beiden Händen seinen Stab umfasst hatte, seufzte schwer unter den gesprochenen Worten. »Wer für Rubens Vorschlag ist, hebe nun die Hand.«

Ohne hinzusehen, wusste Hagar, dass Rubens Bestrafung bei jedem seiner Brüder auf Zustimmung gestoßen war. Grindelwalds Gesichtsausdruck, in dem das Entsetzen geschrieben stand, bestätigte seine Vermutung, dennoch wandte er sich von jenem ab und zählte laut die erhobenen Hände, welche sich entschlossen gegen den Himmel streckten. »Sechs ... Sieben«, seufzte er »und eine sich enthaltende Stimme.« Damit meinte er sich selbst.

Hagar, der die umliegenden Augenpaare seiner Brüder brennend auf seinem Körper spürte, richtete sich kerzengerade auf. »So soll es sein. Grindelwald, die Bruderschaft hat sich entschlossen. Sie verhängt ob deines schwerwiegenden Verrates an unserem Land und der Magie selbst deine Verbannung. Niemals wieder ist es dir gestattet, das Land der zehn Königreiche zu betreten. Du wirst von jetzt an bis in alle Ewigkeit dein Leben hinter der westlichen Grenze verbringen.« Während der gesprochenen Worte drang Galle seinen Hals hinauf und erfüllte bitter schmeckend den Mund.

Stille legte sich über die Magier, die ihre Augen schlossen und die Spitze ihrer Stäbe den Boden unter ihnen berühren ließen. Grindelwald taumelte zurück, weg von jenem sich ihm entgegen fließenden, dunkelblau leuchtenden Wasser, in das sich die Erde vor ihm verwandelt hatte. Am Abgrund angekommen, blickte er ein letztes Mal in die traurigen Augen Hagars, bevor die Welt um ihn herum ins Wanken geriet. Kühles Nass hangelte sich unter dem Mantel seiner stark behaarten Waden hinauf und überzog weitere Teile seiner Haut, bis es sich letztlich über sein Gesicht ergoss und schmerzvoll in die Höhlen seiner Nase, Mund und Augen eindrang. Die Welt wurde schwarz, als Grindelwald nach Luft ringend kurz davor stand, zu ersticken und schwerfällig um sich schlug.

Dann war plötzlich alles vorbei. Eisige Luft drang in seine Lungen, die er gierig in sich auf sog. Auch ohne seine Augen zu öffnen, wusste er, dass er sich fortan nicht mehr auf dem Plateau befand, sondern weit ab der Grenze des Landes, das er so viele Jahre seine Heimat genannt hatte.

»Narren!«, stieß er heißer hervor, während sich auf seine Lippen ein schiefes Lächeln legte. »Es ist noch lange nicht vorbei«, stöhnte er, als er sich an einem der Grenzsteine hinauf zog, auf dem von Eis überzogenen Boden aufrichtete und widerlich grinsend in die Ferne sah.

Kapitel II

28.02.1987 | 19:32 Uhr – Kreißsaal

»Margarethe, hörst du mich?« Übersteuert drang eine Stimme an ihr Ohr, doch es dauerte, bis sie die Worte verstand. »Wolfgang?«, wisperte sie tonlos. Sie fühlte den kalten Schweiß auf ihrer Stirn, während sich die Nässe bereits zwischen den schmerzenden Brüsten sammelte. »Was ist ...?«

»Ruhig, mein Herz. Du warst kurz ohnmächtig.«

Müde und noch immer benommen drehte sie ihren Kopf zur Seite, als unzählige, verschwommene Gestalten murmelnd an ihr vorüber zogen. Sie fühlte, dass etwas nicht in Ordnung war.

»Kalt«, hauchte sie.

»Was?«

»Es ist kalt.« Sie fror bis auf die Knochen. »Es ist alles gut, Frau Heyn«, drang eine weitere, jedoch fremde Stimme durch den pastellfarbenen Sud, der vor ihren Augen lag.

Margarethe versuchte, den Blick zu klären und ließ jenen über ihren, noch immer prallen Bauch, hinab zur Quelle gleiten. Immer wieder verschwamm dabei die Welt vor ihren Augen, bis sie der Müdigkeit nichts mehr entgegenzusetzen hatte und sich kraftlos nach hinten fallen ließ. Dann plötzlich brannte ihr Körper und Schweißperlen legten sich erneut, einer Krone gleich, auf ihrer Stirn ab. »Pressen Sie, jetzt!«

»Ich kann nicht mehr!« Entgegen ihrer Aussage allerdings krümmte sie sich und presste so gut sie konnte.

»Ich kann nicht mehr.« Jene raue Hand, die in ihrer lag, drückte schmerzvoll die aufgedunsenen Finger. »Wolfgang«, stöhnte Margarethe zwischen zusammen gepressten Zähnen.

Sie erinnerte sich plötzlich an ihre erste Begegnung im Stadtpark. Sein Lächeln damals war einfach atemberaubend gewesen. Bilder ihrer Hochzeit flogen sekundenschnell vorbei. Die Schmerzen jedoch nahmen weiter zu, dass es bald darauf kein Platz mehr dafür gab. Etwas stimmte nicht, das konnte sie mit Bestimmtheit sagen. »Der mütterliche Instinkt trügt nie«, dachte sie.

»Pressen, Frau Heyn! Fester!« Sie konnte nicht mehr und fühlte nunmehr auch den letzten Rest ihrer Kraft dahinschwinden, bevor sie erneut drohte, das Bewusstsein zu verlieren.

Aufgeregte Stimmen drangen an ihr Ohr und verwoben sich zu einer undurchdringlichen Wand aus ungreifbaren Worten, während die Welt begann, sich schneller zu drehen. »Wir haben keine Zeit mehr!«, hörte sie die Stimme des Arztes, der mehr zu sich selbst, als zu den bereitstehenden Helfern sprach. Der gellende Schmerz, gepaart eines reißenden Geräusches, ließ Margarethe just aufschreien. Ihr wurde sofort schlecht. »Was habe ich Schlimmes getan, dass ich das verdiene?«

Erbrochenes stieg ihren Hals hinauf »Nein!« Entschlossen, sich nicht die Blöße zu geben, drängte sie die aufkommende Übelkeit zurück und versuchte das Geschehen neu zu erfassen. Die unregelmäßigen Töne der Geräte, welche zahlreich um sie herum standen, drangen ihr dabei ins Bewusstsein. »Oh Gott, bitte.« Sie presste weiter, bis ein erneuter heller Schmerz ihren Geist ergriff. Wieder dieses Geräusch. »Reißender Stoff«, schoss es ihr schonungslos durch den Kopf. Sie war es, die gerissen war, dann ging alles ganz schnell. Der Druck in ihrem Unterleib verschwand und nahm den Schmerz mit sich. Es war vorbei, endlich hatte die Qual ihr Ende gefunden. Mit diesem Gedanken ließ sich Margarethe erleichtert nach hinten fallen und atmete tief durch. »Etwas stimmt nicht«, schoss es ihr abermals durch den Kopf.

Leises Gemurmel erfüllte den Kreißsaal. Margarethe jedoch vermisste etwas. Nur langsam setzte sich ihr Verstand in Bewegung. Etwas fehlte, davon war sie überzeugt, aber was war es nur?

Margarethe öffnete die Augen und sah ihren Mann an, der stramm neben ihr stand und das Gesicht dabei abgewendet hielt. Sie folgte seinem Blick. Einen kurzen Moment konnte sie ihre gemeinsame Tochter, eingewickelt in ein rosafarbenes Handtuch erkennen, bevor ihr eine Schwester die Sicht auf das Baby stahl. Dann brach die Realität über ihr zusammen. Sie wusste mit einem Mal, was an dieser Situation schon die ganze Zeit störte. Es fehlte das Geschrei, der erste Laut ihrer neugeborenen Tochter.

Panik hielt Einzug, als sie auch schon versuchte, sich mit immer noch gespreizten Beinen hochzustemmen, um noch einmal einen Blick auf ihr Kind zu erhaschen. »Margarethe?«, stöhnte ihr Mann. Das Gesprochene ließ je die Köpfe der Anwesenden zu ihr herum drehen »Frau Heyn, legen Sie sich bitte wieder zurück. Das ...«

»Was ist los? Was ist mit meinem Baby? Was ...?« Der Blick in die trüben Augen des Arztes verschaffte ihr Gewissheit. »Nein!«, stöhnte sie ungläubig. »Das kann nicht sein. Wolfgang?! Sag mir, dass alles in Ordnung ist.« Der angesprochene Mann drückte ihre Hand, mit der sie dessen Unterarm schraubstockartig umgriffen hielt. »Nein«, keuchte sie. »Das ist nicht wahr! Das darf nicht sein, Wolfgang! Ich habe doch nichts Böses getan. Warum wir?«

Ein leiser, zittriger Schrei erfüllte den Raum und ließ die Anwesenden je in ihrer Handlung innehalten. Ihrer aller Blicke legten sich auf das bewegende Handtuch in den Armen der tragenden Hebamme, welche etwas abseits gestanden war.

Ungläubigkeit verdrängte das Mitleid aus den Gesichtern der Ärzte und Schwestern. Margarethe umschloss Wolfangs Arm fester, während dieser seine Augen weitete und den Hals weiter als nötig reckte. Erneut erklang der Schrei des Säuglings.

»Puls?«

»Ja, Herr Doktor ...« Wieder vermengten sich die wild durcheinander sprechenden Stimmen für Magarethe zu einer wogenden Masse, als sie sich zurückfallen und den Moment, Moment sein ließ. Es war alles wieder in Ordnung.

»Sie hat bestimmt deine Augen.« Wolfgang, der sich bereits neben sie auf den bereit gestellten Hocker gesetzt hatte und ihre Hand umklammert hielt, nickte zustimmend. »Bestimmt, aber sie wird mit Sicherheit deinen Dickkopf haben.« Margarethe lachte tonlos und schloss die Augen. »Wenn du so sicher bist.« Wolfgang stimmte in das Lachen seiner Frau ein.

»Elisabeth, so soll sie heißen.« Wolfgang nickte und strich seiner Frau abwechselnd liebevoll über die noch immer geröteten Wangen. »Es ist ein Wunder.« Margarethe lächelte. »Ja, sie ist ein Geschenk des Himmels.«

Kapitel III

11. Des Ankh 534 (279 Jahre später) | Festung Nimro – abseits der Grenze

Die zahllosen Stimmen, welche durch die verlassen gelegenen Gänge hallten, verwoben sich zu einer monotonen Bracke. Wie sich brechende Wellen trieben diese unerbittlich gegen die moosbewachsenen, schroffen Felswände der Festung. Zwischen den spärlich gesäten Lücken des saftigen Grüns hangelte sich in dünnen Rinnsalen die Feuchtigkeit herab. Das Geräusch der tropfenden Nässe untermalte das Grollen der Männerstimmen. Jene drangen weiter aus den tieferen Hallen herauf.

Die sieben Gestalten im Zentrum der großen Halle formten einen unsteten Kreis am Rande, einer, auf dem Boden von Runen und Linien durchzogenen, gemalten Kreidezeichnung. Ihre durchweg erdig gefärbten Umhänge ließen dabei den benötigten Kontrast vermissen, welcher sie vom Hintergrund der Szenerie abgehoben hätte. So verschmolzen ihre Leiber nahtlos mit den dahinter gelegenen Felswänden.

Kühl zog die Luft ihre Bahnen durch jene schmalen Korridore, die von der großen Halle ab gingen, und spielte dabei mit den Säumen der grob gewebten Stoffe. Der Kälte trotzend bewegte keiner der Anwesenden auch nur einen Muskel. Zu wichtig war der Moment, um sich auch nur einer Unachtsamkeit zu ergeben. Stumm ertrugen sie daher die Schmerzen, welche sich die nackten Füße der Beteiligten hinauf schlängelten und sich dabei tief in die Glieder hinein fraßen.

Der stetige Sprechgesang, welcher aus ihren Kehlen drang, erklomm die steinerne Kuppel und presste sich durch das schmale Auge am Ende jener in die Freiheit hinaus. Zeitgleich des Entkommens, zwängte sich der Mondschein an diesem vorbei und legte sich sanft leuchtend auf den äußeren Teil der Kreidezeichnung. Dabei ließ er das berührte Weiß hell erstrahlen. Nur noch wenige Augenblicke trennten das Leuchten von einer Berührung der filigran gezeichneten Mitte.

Jener Moment war es, als sich eine weitere Gestalt aus dem umliegenden Schatten löste und humpelnd auf das Geschehen zutrieb. Dessen Fingerknöchel zeichneten sich weiß unter seiner grauen Haut ab, als er die Hand fester um das Horn des Ziegenbockes schloss, welchen er erbarmungslos hinter sich her zog. Eine Woge der Euphorie durchzog die Braunmäntel beim Anblick ihres Führers, doch jeder der Anwesenden wusste, dass es nicht der rechte Zeitpunkt war, seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen, jedenfalls noch nicht.

Ungeachtet der Lautstärke trieb die gebeugte Gestalt den Stab in seiner Rechten feste gegen die grauen Steinplatten unter ihm. Der so entstandene ohrenbetäubende Donner bildete mit dem kurz darauf folgenden, schleifenden Geräusch seines erlahmten rechten Fußes einen berauschenden Rhythmus.

Der Ziegenbock schien dabei sein nahendes Ende bereits zu erahnen und begann sich mit all seiner Kraft zu wehren. Seine silbernen Augen traten ihm bereits aus den Augenhöhlen und wirkten grotesk im Gesamtbild, das sich den Beteiligten bot. Er sprang, riss seinen Kopf ruckartig in jede nur erdenkliche Richtung, um sich dem festen Griff des Peinigers zu entziehen.

Die Gestalt, deren burgunderfarbener Umhang sich von den Anwesenden unterschied, beugte sich, im Zentrum der Zeichnung angekommen, hinab. Dabei fiel ihm die ausladende Kapuze tiefer in sein Gesicht, so dass nur Dunkelheit darin zu erkennen war. Er konnte die Angst des Bockes riechen, sie herb auf seiner Zunge schmecken, welche sich wild im Mund hin und her wog. Eine Gänsehaut überzog die unstetig behaarten Arme, während ein Schauer der Vorfreude sich über seinen buckligen Rücken ergoss.

Fixiert auf die glänzenden Augen des Bockes, ließ er seinen Stab los und umfasste mit der freien Hand das zweite, an der Spitze abgebrochene Horn des Tieres. Der nunmehr freie Stab zog hörig am Rande der Szenerie seine Bahnen, als dessen Herr den bereits schwitzenden Bock zu Boden riss und auf die Seite drängte. Mit letzter Kraft versuchte das Tier sich erneut aufzurichten, doch war sein Bemühen vergebens. Die Schwere des fremden, in rotem Samt gehüllten Körpers presste die Luft aus dessen Lungen ohne jegliche Anstrengung.

»Schhhh«, säuselte die übertrieben süße Stimme aus dem Inneren des Stoffes, bevor sich die Klinge eines Dolches in den fellüberzogenen Hals bohrte und an Stelle eines angsterfüllten Meckerns, zähes Gurgeln trat. Die Läufe des kämpfenden Bockes zuckten unkontrolliert im anhaltenden Todeskampf. Erneut versuchte sich das verstörte, blutende Tier aufzurichten, doch auch dieser Versuch scheiterte kläglich. Sekunden verstrichen, bis auch das Rucken seines windenden Körpers nach und nach erstarb und sich schmieriges Blut über die Kreidezeichnung ergoss. Die Festung vibrierte, als das darauf folgende Erdbeben durch die Gänge trieb und auf die kleine Gruppe hin rollte. Schmerzerfüllte Schreie drangen polyphon aus den unnatürlich weit aufgerissenen Mündern der Braunmäntel, während ihre Augen, nach oben gerollt, blind ihrer Weiße in die Welt stachen.

Untermalt von jenem unablässigen Schreigesang hob die rotgewandete Gestalt seinen nunmehr mit Blut gefüllten Kelch an die Lippen. Euphorisch sog er den metallischen Geruch, der aus dem silbergrauen Gefäß in seine Nase stieg, ein. Speichel zwängte sich hin in seinen Mundraum, bevor das kühle Metall seine Lippen auch nur berührte. Er konnte es kaum noch erwarten.

Sanft liebkoste er das harte Gefäß, bevor er es mit einem gierigen Zug zu Gänze leerte. Warm war die Flüssigkeit gewesen, die unter seine Zunge floss und mit der er spielte. Seine Augen schlossen sich, während in ihren Winkeln die aufgekommenen Tränen verheißungsvoll schimmerten. Als er jedoch nach einigen wenigen Momenten des penetranten Eigengeschmacks überdrüssig war, würgte er das Blut, gepaart eines Anfluges von Ekel, herab. Sein Gesicht verzog sich dabei zu einer undefinierbaren Grimasse. Dann war es so weit. Er konnte es plötzlich fühlen.

Genüsslich lehnte er sich nach hinten und atmete tief ein. Seine Adern pulsierten, brannten förmlich. Er wurde von der aufkeimenden Magie erfasst, welche seine Haut zum Bersten spannte und ihn innerlich zu zerreißen drohte. Es war ein großartiges Gefühl.

Zeitgleich der unweigerlichen Euphorie, sank sein Gefolge auf die Knie, beugte sich nach vorn über und berührte den Boden mit der Stirn. Ihre Stimmen waren bereits verklungen, wie auch ihre Echos. Die Stille hielt nunmehr jenen Ort überschwemmt, während die Körper sorgfältig ausgerichteter Statuen glichen.

Als die Anspannung endlich seine Klauen zurückzog und vom Raum, der die Anwesenden umgab, abließ, erhoben sich die Kreiszeichner synchron und lautlos in ihrer Bewegung. Die Gestalt inmitten dieser jedoch, blieb knien und kraulte das leblose Tier väterlich zwischen den Hörnern. Noch immer traten dessen Augen weit aufgerissen heraus, jedoch blieb das Leben, welches sich einst in ihnen gespiegelt hatte, aus.

Die rote Kapuze der knienden Gestalt rutsche ein gutes Stück nach hinten, als jene den Kopf anhob und die schmale Öffnung im Zentrum der Kuppel verträumt betrachtete. Ein breites Grinsen entblößte die blutüberzogenen, schiefen Zähne und thronte erbarmungslos auf seinem Gesicht. Er aalte sich in dem aufkommenden Gefühl des Erfolges, stand er doch kurz vor der Vollendung.

»Dieser Abend ist von Erfolg gekrönt, meine Freunde. Ich konnte es mit solcher Intensität fühlen, es riechen ...« Er stöhnte vor Erregung auf, bevor er fortfuhr. »Ja, sogar schmecken. ... Bald ist es geschafft und ihr alle werdet für eure Bemühungen reich entlohnt werden. Dessen seid euch sicher!«, drang es rauchig aus seiner Kehle. Ein freudiges Raunen keimte unter den braunen Kreiszeichnern auf und verdichtete sich zu Jubelschreien, welche die Katakomben der Festung erfüllten.

Die rote Gestalt erhob den rechten Arm. Auf jenes Zeichen hin trieb der Stab zurück in die geöffnete Hand. Hart schlug dieser auf der getroffenen Fläche auf, bevor der Gewandete das abgenutzte Holz schnaufend umfasste und sich augenblicklich daran hinauf zog.

Nur langsam trugen ihn seine wackligen Beine auf das gegenüber liegende Podest hin. Dort angekommen lüftete er die Kapuze und legte seine, darunter verborgen gelegene, deformierte Fratze frei. Das Linke seiner beiden Augen lag nach hinten versetzt und schielte blind auf die Welt vor sich. Das Zweite, Gesunde, in dem der Wahnsinn wütete, fixierte seine Anhänger. Ein Lächeln lag auf seinen Lippen, während der Speichel in seinen Mundwinkeln das Licht der vereinzelten Kerzen reflektierte. »Ich bin stolz auf Euch, meine Getreuen. Stolz auf das, was wir schon erreicht haben und auf jenes, was wir in naher Zukunft noch erreichen werden!«

Bei diesen Worten verdrehte sich sein linkes Auge unnatürlich weit, während ein tief grollendes Lachen sich durch seine Kehle zwang, in das die anderen Gestalten mit einstimmten. »Unsere Zeit ist nah!«, schrie er euphorisch in die Versammlung. Johlen ergoss sich als Antwort über sein Gefolge und durchflutete die schmalen Gänge.

Einmal mehr thronte ein Lächeln auf seinen Lippen, als er sich von der feiernden Masse abwandte. »Bald sehen wir uns wieder«, dachte er und wischte sich den bereits am Kinn herab geflossenen Speichel flüchtig mit dem Saum seines Ärmels ab.

Es bedurfte einiger Zeit, bis die gebeugte Gestalt endlich vor der schweren Eichentür stand, die ihn als letzte Hürde von seinem Gemach trennte. Seufzend entließ er den Stock seiner Hand und begann den schmerzenden Körper gegen das dunkle Holz zu pressen. Nur langsam gab jenes nach und schwang widerwillig auf.

Haltsuchend, fasste er hektisch nach dem großen, handgeschmiedeten Eisenring, der an der modrig riechenden Tür angebracht war. Dabei schob er sich durch den schmalen Spalt, hinein in das abgedunkelte, wenig einladende Zimmer. Einen Augenblick lang spielte er mit dem Gedanken, die Türe hinter sich zu schließen, aber ließ es sein. Dafür fehlte ihm in jenem Moment einfach die Kraft. Zudem hatte er nichts zu befürchten hinter den monumentalen Mauern, welche sein Gefängnis seit jeher formten.

Er gestand sich eine kurze Rast ein, in der er, Sicherheit suchend, seinen Stab zu sich rief und mit den Fingern umschloss. Nachdem er einige Atemzüge gemacht hatte, wandte er sich um und setzte den Weg auf den alten, abgenutzten Sessel in der Ecke des Raumes fort.

Zitternd umfasste er dessen abgegriffene Lehne und ließ sich langsam herabsinken. Entgegen seiner Anstrengung verließ ihn auf den letzten verbleibenden Zentimetern der Rest seiner verbliebenen Kräfte.

Das entstellte Gesicht verzog sich zu einer finsteren Grimasse, als er endlich sitzend, den Stab zur Seite feuerte, um seinem Ärger Luft zu machen. Wie sehr hasste er seinen Körper. War dieser doch jeher der Nährboden des Spotts gewesen, dem er immerfort ausgesetzt war. Stumm musste er die tagtäglichen Verletzungen ertragen, nur weil seine Mutter ihren Lastern nichts entgegnen konnte und ihn mit ihrem eigenen Bruder gezeugt hatte. »Hure!«, entfuhr es ihm, von Hass bestärkt. In ihm gärte es und Galle stieg seinen Hals hinauf. Sie alleine trug Schuld an seinem abstoßenden Äußeren, den täglichen Hänseleien seiner bloßen Existenz. Selbst seine mit zehn Jahren erlangte Fähigkeit Magie zu nutzen, änderte nichts an der Position am Rande der Gesellschaft. Selbst für Hagar, der sich damals freiwillig meldete, nachdem kein anderer seiner Brüder sich dazu durchringen konnte ihn zu unterrichten, hatte er nur eine verabscheuungswürdige Kreatur geboten. Noch immer begleiteten Grindelwald die angeekelten Blicke seines glatzköpfigen Mentors in den spärlich gesäten Träumen.

Schwer unter seinen Erinnerungen wiegend, sank der Körper im Polster des Stuhls ein, als er seine Ellenbogen auf die hölzernen Lehnen stemmte und die Hände vor seiner Stirn faltete. Müde lehnte er seinen Kopf nach vorne über, so dass seine Stirn die Finger berührte. Er atmete schwer.

Kälte kroch die Beine hinauf und hüllte seinen Körper langsam ein. Dabei trieb er in einen Zustand zwischen Schlaf und Wachsein. Das plötzliche, leise Scharren jedoch, welches aus der Ecke auf ihn zu drang, erlangte seine Aufmerksamkeit. Er öffnete die Augen.

»Die Mitglieder warten auf ein Wort. Sie fragen, wann es wieder so weit sei zusammenzutreffen.« Noch immer im Sessel sitzend, winkte Grindelwald die blonde Gestalt zu sich heran, welche seiner Geste folgend zu ihm trat, um sich vor ihm zu verbeugen. »Sag ihnen, dass sie sich in zehn Tagen erneut hier einfinden sollen, Merin. Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren, sind wir ihrer Rückkehr doch schon so nahe.« Merins goldene Augen funkelten von Vorfreude übermannt, als er sich erneut, jedoch tiefer als nötig verbeugte. »Sag ihnen auch, dass wieder ein Opfer benötigt wird ... und dieses Mal sollte es kein daher gelaufener Ziegenbock sein.« Merin zuckte schuldig zusammen »Ja, ich habe verstanden. Vergib mir. Ich werde das nächste Opfer sorgsamer auswählen.«

»Das hoffe ich für dich, Merin. Das hoffe ich wirklich. Enttäusche mich nicht noch einmal.« Grollendes Lachen ergoss sich durch das handgeschlagene Fenster ins Rauminnere und ließ den blonden Gestaltwandler just zusammenfahren. Er erkannte die Stimme sofort und spannte seinen Unterkiefer an. »Was bildete sich der Hühne ein?«, dachte er wutschnaubend.

»Das wäre dann alles, Merin«, zischte Grindelwald erbost, während sein gesundes Auge aus dem Fenster starrte. Er mochte es nicht belauscht zu werden, egal von wem.

Merin, der seine Aufmerksamkeit wieder auf den Magier vor sich gelenkt hielt, folgte dem unausgesprochenen Befehl und glitt lautlos zurück in den Schatten, aus dem er gekommen war.

»Du bist und bleibst ein Risikofaktor, aber auch der Schlüssel zum Ganzen«, raunte der Magier vor sich hin, während seine Finger liebevoll das Holz des Stabes hinauf und herabfuhren. Etwas musste er jedoch zugeben. Ohne die schnelle Auffassungsgabe des Gestaltwandlers an jenem Tag hätten sie keine weitere Chance bekommen. Dennoch stieg Wut in Grindelwald auf, als er sich an das damalige Ereignis erinnert fühlte und die rechte Hand vor sein gesundes Auge hob. Sein Blick glitt dabei über den schlecht verheilten Stumpf, an dessen Stelle sich sein Zeigefinger hätte befinden sollen. Er erinnerte sich, als wäre es erst gestern gewesen, an das Hochgefühl, welches ihn damals übermannt hatte, bevor die Situation ihm aus den Händen geglitten war.

Merin war schnell gewesen, er jedoch auch. Seine geistesgegenwärtige Handlung, den verwesenden Finger Liliths Geist hinterherzuwerfen, hatte ihm so eine Hintertür geschaffen, durch die er sich nun bereit sah zu treten, um seine Ziele endgültig erreichen zu können.

Ein schiefes Grinsen legte sich auf seine aufgeplatzten Lippen. »Meine liebste Lilith, schon bald wirst wieder an meiner Seite sein. Ich kann es kaum noch erwarten«, säuselte seine unheilschwangere Stimme, bevor sich ein wahnsinniges Lachen durch die Festung ergoss, sie ausfüllte und den berittenen Auszug der Getreuen in die Morgendämmerung übertönte.

Merin folgte den donnernden Hufen mit seinen Augen, bevor auch er die Zügel seines braunen, durchtrainierten Hengstes ergriff und über den Hof schritt. Sein Weg führte ihn hierbei an den Rand des Vorplatzes, direkt vor den tiefschwarzen, schattigen Durchgang, der seine Reise etwas verkürzen würde. So lange er sich hinter den Grenzsteinen aufhielt, welche das unwirkliche Land vom Reich der zehn Königreiche trennten, war es ihm möglich, seine Reisen durch die Schatten anzutreten. Hinter jenen allerdings war ihm dieses Privileg nicht mehr vergönnt. Zwar besaß er immer noch die Fähigkeit dazu, aber eine Ausführung würde die Aufmerksamkeit seiner Brüder mit sich bringen und jenes war etwas, das er sich nicht hatte leisten können, unter keinen Umständen.

Merin blinzelte gegen den Himmel und verweilte einen Augenblick, bevor er beherzt die Zügel enger umfasste und mit seinem Tier in den Schatten trat.

Kapitel IV

21.03.2017 | 03:03 Uhr – Eschenweg 5, 2.OG

Ein schneidender Schrei weckte Elisabeth, welche nunmehr mit weit aufgerissenen, grauen Augen die Decke ihres Schlafzimmers fixierte. Das schwere Blau der immer noch währenden Nacht verwischte sich konturlos mit jenem Grau der sonst pastellfarbenen Tapete.

Es dauerte eine geraume Zeit, bis ihr Geist in Bewegung kam und sie merkte, dass der helle Schrei ihrer eigenen Kehle entsprang. Nun jedoch gewann die Stille ihr Reich zurück, als auch der letzte Ton in dem spärlich eingerichteten Zimmer verklang.

Ihr Mund war trocken, im starken Kontrast zur Feuchtigkeit, die keinen Zentimeter ihrer Haut aus ließ und in feinen Tropfen, Diamanten gleich im spärlichen Licht der von draußen hereinscheinenden Straßenlaterne funkelte. Ihr Shirt klebte von Schweiß getränkt am Körper und ließ keinen Makel unentdeckt. Dabei dramatisierte der dünne Stoff die zaghaften Wölbungen in jeder erdenklich unvorteilhaften Weise.

Noch immer klangen die Bilder des vergangenen Alptraumes wie ein grausames Echo in Elisabeths Erinnerungen wider, während die aufgekommene Übelkeit siegte und sie in kurzen Schüben zu würgen begann. Schützend legte sie beide Hände vor ihren Mund und strampelte sich aus der noch immer nachtschweren Decke. Diese jedoch war nicht gewillt ihr Opfer gehen zu lassen und legte immer wieder einen festen Griff um ihre Beine. In letzter Sekunde jedoch eröffnete sich ihr jene sehnlichst herbei gewünschte Chance der feucht-warmen Umarmung zu entkommen.

Diese nutzend, schwang sich Elisabeth aus dem Bett heraus und rannte barfuß den schmalen Flur ihrer kleinen Wohnung hinab. Das Klatschen blanker Fußsohlen, welche auf den kühlen Laminatboden schlugen, hallte dabei gespenstisch spitz von den kahlen Wänden wider. Bei ihrem damaligen Einzug hatte sie sich fest vorgenommen, den Flur mit allerhand Bildern zu schmücken, doch schon kurze Zeit darauf war ihr anfänglicher Wunsch unwichtig geworden.

Die Kühle der rosa Kacheln des sanierungsbedürftigen Badezimmers stand im starken Kontrast zur lauen Wärme des Holzbodens. Augenblicklich zog sie ihre Zehen an und verlagerte das Gewicht auf die weniger empfindlichen Fersen. So, am Waschbecken angekommen, senkte sie ihren Kopf hinab und ließ ihrem Unwohlsein freien Lauf. Ihre Finger zitterten vor Anstrengung, hielten dabei jedoch den Rand des gesprungenen Beckens fest umklammert.

Elisabeth stemmte, ohne einen Moment darüber nachgedacht zu haben, das gesamte Gewicht nach vorne. Hierbei knackte das Porzellan unter der Handfläche bedrohlich laut.

Ihr Gesicht fühlte sich geschwollen an, als der Druck, der ihre Schläfen befiel, mit jedem weiteren krampfhaften Würgen zunahm. Die Äderchen um ihre Augen platzten bereits und sprenkelten ihre kalkweiße Haut lila. Immer wieder zog sich ihr Magen krampfhaft unter den nächtlichen Bildern, die sie erneut befielen, zusammen. Das Becken, immer lauter werdend der wellenartigen Belastung, drohte auseinanderzubrechen. Da jedoch ebbte die Flut, so schnell sie gekommen war, ab.

Elisabeth war dankbar und hob ihren Kopf an, um einen Blick in den Spiegel des Hängeschrankes zu werfen. Das blutunterlaufene Augenpaar, welches ihr daraus entgegen starrte, wirkte fremdartig in ihrem fahlen Gesicht, das langgezogen, dem eines Geistes glich. Ein weiterer Würgereiz streckte sich just nach ihr aus und zwang erneut den Körper in die Knie, doch diesmal blieb die Erleichterung aus.

Einige Minuten waren vergangen, als Elisabeth aus ihrer Starre erwachte und fahrig das Wasser anstellte und dabei die verräterischen Spuren vom Weiß des Porzellans wusch. Sie war schwach, fühlte sich benommen vom Gefühl der Übelkeit und der Schwermut in ihrem Inneren. So seufzte sie, bevor sie auf dem Rand der Badewanne Platz nahm und in sich zusammen sank. »Warum immer diese Alpträume?«

Nunmehr stumm saß sie auf der schmalen Kante, während ihr Kopf pulsierte, ihre Schläfen wie Feuer brannten. Noch immer lag ihr der Geschmack von Erbrochenem auf der Zunge und bedeckte pelzig ihre Zähne. »Wie viel Uhr haben wir wohl?«, fragte sie sich, nachdem sich ihr Blick durch das verschmutzte, schmale Fenster auf die noch schlafende, im Nachtmantel gehüllte Stadt legte. In kurzweiligen und unsteten Intervallen erkämpfte sich der Mond eine Lücke im sonst von Wolken beherrschten Himmel und legte dickköpfig seinen Schein auf die menschenleeren Straßen weit unter ihm. Es war ein idyllisches Bild, das sich Elisabeths Blick darbot, wäre da nicht ihre stetige Unruhe, welche diesen sonst so perfekten Moment zunichtemachte. Nichts konnte ihrem Gefühl Linderung verschaffen. Nicht einmal das Fernsehen hatte sie erlösen können von jenem ewigen Zug, der sie fortwährend drängte. Doch wo hin zog es sie? Selbst ein Orts- und Berufswechsel hatte nichts an dem Gemütszustand ändern können, ganz im Gegenteil. Sie fühlte sich damals, schon am ersten Tag, an welchem sie die letzten Umzugskisten in ihre neue Umgebung getragen hatte, unwohl. Es war eine ihr fremde Stadt, die sie durch das dünne Glas des Fensters erfasste. Oder war es sie, die immerwährend fremd war?

Nachdem Elisabeth beschlossen hatte, die Nacht sein zu lassen und ihre Wohnung hell erleuchtete, um auch den letzten dunklen Gedanken zu verbannen, setzte sie sich mit einer Tasse Kaffee auf ihr gemachtes Bett. Sie hatte nicht vor, ihren Gedanken eine Möglichkeit zu bieten, das sonst so gewohnte Eigenleben zu führen. Um dieser Entscheidung Nachdruck zu verleihen, nickte sie bestätigend, während ihr Griff sich um die schmale Fernbedienung legte und sie den Röhrenfernseher anschaltete.

Sie lehnte mit dem Rücken an der kühlen Wand und blickte auf den noch dunklen Bildschirm. Doch dauerte es einen kurzen Moment, bis das Bild darauf erschien, dann drangen wohltuend wild wechselnde Bildfolgen auf sie ein. Diese nahmen von ihren Schultern das, was sie bis dahin düster beschäftigt hatte. Ein zeitgleicher, großer Schluck aus dem Becher wärmte sie und hauchte ihr kurzweilig neues Leben ein. Der Seitenblick auf ihren Wecker, welcher einsam auf dem schlichten Buchenholznachttisch sein Dasein fristete, verriet ihr, dass sie noch genügend Zeit hatte, bis sie das Haus verlassen müsse.

Entspannung suchend, drehte sie ihr Gesicht zurück Richtung Fernseher. Weitere Bildfetzen fielen auf sie ein, als die zahlreichen Stimmen sich zu einer wabernden Masse formten, welche eine hypnotisierende Wirkung auf Elisabeth hatte. Ihre Augen begannen allmählich zu brennen, doch sah sie sich nicht im Stande, jenem Drang des Schlafes nachzugeben. Zu viel Angst hatte sie davor. Für jene Nacht hatte sie genug Alpträume erlitten.

Als die ersten Sonnenstrahlen durch ihr Schlafzimmerfenster drangen, stand Elisabeth bereits geduscht und angezogen vor ihrem Bett, auf dessen Oberfläche ihr Rucksack ruhte. Sie betrachtete ihre hochgezogenen Schultern im Spiegel, der an der Außenseite ihres Kleiderschrankes angebracht war und zwang sich diese herunter zu drücken. Sie wusste allerdings, dass jenes nicht von Dauer sein würde. Spätestens bei der dritten Querstraße, auf ihrem Arbeitsweg, würden sie wieder am Ausgangspunkt angekommen sein.

Ihr Kopf dröhnte unter jeder Bewegung. »Der Tag beginnt schon wunderbar«, dachte sie sich und musterte ihre schmalen Lippen, die sie zu einem Strich geformt hielt. Noch immer brannten ihren Augen unablässig, als sie nach ihrer Brille griff und jene ungeschickt auf zog. Nachdem sie einen weiteren, prüfenden Blick in den Spiegel tat und das Gesehene wie sonst als ungenügend empfand, griff sie seufzend nach ihrem Rucksack. Sie würde einen weiteren Versuch starten, abzunehmen. War der Letzte doch kläglich an der Tafel Schokolade gescheitert, die sie im hintersten Eck ihres Hochschrankes bei der wöchentlichen Haushaltsreinigung gefunden hatte. Nicht nur ihrer Gesundheit würde es einen Gewinn bringen, auch ihrer allmorgendlichen Kleiderwahl. Waren doch die meisten ihrer Hosen im Laufe der letzten Monate zu eng geworden. Dies frustrierte sie mehr, als die mittlerweile von Staub überzogenen Waage, welche sie seit einer Woche hingebungsvoll mit Missachtung strafte.

Wie alles bisher, beschlich Elisabeth das Gefühl, entglitt ihr auch dies, dennoch fühlte sie sich unfähig etwas daran zu ändern. War es doch um so Vieles einfacher, sich gehen zu lassen, es einfach hinzunehmen, als sich aufzustellen und die Stirn zu bieten.

Elisabeth seufzte und massierte den Übergang von Stirn zur Nase mit sanftem Druck. Sie fühlte sich abgeschlagen und überfordert. Einige wenige Minuten gestand sie sich dieses Gefühl ein, um darauf folgend pflichtbewusst ihren Rucksack zu schultern. »Auf ein Neues!«, sprach sie mit einer gespielt übertriebenen Stimme, als sie die Wohnungstür auch schon ins Schloss zog.

Wie immer, war sie viel zu früh dran und ein Blick auf ihre Uhr bestätigte diese Vermutung. Zwar kam der Sommer mit großen Schritten, dennoch war der Morgen immer noch frisch.

Elisabeth zog daher den Saum ihrer Jacke enger um den Körper und vergrub ihre Finger tief in dessen Taschen. Um nicht weiter zu frieren, wippte sie auf ihren Füßen auf und ab, vor und zurück.

Die Straße erwachte nur langsam aus ihrem Schlaf. Müde rieb sie sich den Sand aus den Rollos und öffnete schläfrig ihre Lider, hinter welchen goldgelbes, strahlendes Licht lag. Noch immer leuchteten die Laternen, aber nicht mehr lange. Der Morgen war längst angebrochen, durchzog in rosa Fäden das stetig heller werdende Blau des Himmels. Es würde ein sonniger Tag werden, dachte sie, als ein Lächeln ihr das erste Mal seit Stunden über das Gesicht huschte. Der Gedanke an die bevorstehenden Sonnenstrahlen ergoss sich wohlig warm in ihrem Körper.

Zäh summierten sich die gleichen morgendlichen Gesichter, während diese sich am Haltestellenschild sammelten und auf die nächste Mitfahrgelegenheit warteten. Dabei wischten sie unnahbar über die Smartphones in ihren Händen.

Elisabeth musterte die Masse verstohlen aus dem Augenwinkel, während sie selbst am Rande des Bordsteins Position bezog und mit der Sohle ihres rechten Schuhs über die abgerundete Kante fuhr. Jene war an manchen Stellen abgeplatzt. Ihre Mitreisenden wirkten desinteressiert am Geschehen, das sie umgab. Waren es doch so viele Dinge, die ihre Aufmerksamkeit suchten, schmollend an den Säumen ihrer Filzmäntel zogen. Sie schienen für Elisabeth, gekleidet in ihren schwarzen Anzuguniformen und emotionslosen Gesichtern, austauschbar. Nicht auch nur einer hatte ein Auge für das, was um sie herum passierte.

Elisabeth seufzte tonlos. Als sie jedoch müde im Begriff war, sich der Straße vor ihr zuzuwenden, fiel ihr Blick auf eine, in einem taubenblauen Kostüm gekleidete, ältere Dame, welche in der hinteren Reihe der schwarzen Masse deplatziert in ihrer Farbenfrohe wirkte. Ihr weißes, von sanften grauen Strähnen durchzogenes Haar hatte sie akkurat nach oben gebunden, während ihre Hände in schwarzen Wildlederhandschuhen ruhten. Ihr Gesicht, das sie zweifelsohne pflegte, lag in tiefen Falten. Jene verdichteten sich ausdrucksstark um die Augen. »Sie ist bestimmt ein fröhlicher Mensch.«