999 - Wald - Leroy Berg - E-Book

999 - Wald E-Book

Leroy Berg

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Beschreibung

Ein Waldspaziergang vermag erquicklich, aber ebenso tödlich zu sein. Hüte Dich vor den Primärwäldern. In diesen unerforschten, grünen Höllen, könnten Gefahren lauern, auf die Du nicht vorbereitet bist. Ant trifft auf die Liebe seines Lebens. Es stellt sich die Frage, ob er diesmal in der Lage ist, sie effektiv zu beschützen. Nachdem er von einem einflussreichen Geheimdienst erpresst wird, macht er Bekanntschaft mit seiner Sterblichkeit und dem unvermeidlichen Tod geliebter Menschen. Ist es besser, sich den Herausforderungen zu stellen oder zu fliehen? Gelingt es ihm, die Menschheit vor dem bevorstehenden Untergang zu bewahren? Die Fortsetzung des Mystery-Thrillers 999, Teil II ...

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Zu diesem Buch

Ein Waldspaziergang vermag erquicklich, aber ebenso tödlich zu sein. Hüte Dich vor den Primärwäldern. In diesen unerforschten, grünen Höllen, könnten Gefahren lauern, auf die Du nicht vorbereitet bist.

Ant trifft auf die Liebe seines Lebens. Es stellt sich die Frage, ob er diesmal in der Lage ist, sie effektiv zu beschützen.

Nachdem er von einem einflussreichen Geheimdienst erpresst wird, macht er Bekanntschaft mit seiner eigenen Sterblichkeit und dem unvermeidlichen Tod geliebter Menschen.

Ist es besser, sich den Herausforderungen zu stellen oder zu fliehen? Gelingt es ihm, die Menschheit vor dem bevorstehenden Untergang zu bewahren?

Die Fortsetzung des Mystery-Thrillers 999, Teil II ...

Leroy Berg, geboren in München, aufgewachsen im Glasscherbenviertel Giesing, beendete nach seiner Schulzeit eine Ausbildung zum Versicherungskaufmann. 1989 zog es ihn ins nördliche Bayern, wo er bis 2017 als Schadengutachter für eine Versicherung arbeitete. Während der 28 Jahre seiner Gutachterzeit hatte er vornehmlich mit großen Sachschäden, Ermittlungsbehörden, Detektiven, vereidigten Sachverständigen, manchmal ebenso mit Anwälten und Gerichten zutun. Vor allem aber mit der Psyche der Kunden. Seit dem Ruhestand konzentriert er sich auf die Autorentätigkeit.

Mein Dank gilt allen, die mir halfen, dieses Projekt zu verwirklichen. Einzelne Namen hervorzuheben, halte ich für ungerecht. Diejenigen die es betrifft wissen wie enorm sie mich unterstützten, und können sich meines Wohlwollens gewiss sein.

Danke an alle.

Leroy Berg

Inhalt

Eine neue Art.

Die Großeltern.

Schmierentheater.

NIT und NSA.

Eine positive Entscheidung.

Feldforschungen I.

Das Erwachen II.

Amazonas.

Manaus

Rio Eneuixi

Die Akuntsu

Feldforschungen II.

Amazonas II.

Auf Leben und Tod.

Feldforschungen III.

Amazonas III.

Absturz.

Antit und andere Neuheiten

Flucht

Die einzige Konstante ist die Veränderung.

Gefangenschaft

Die Veränderung

Geburtstag

Seuche

Ende Teil II.

Nachwort

Kapitel 1: Die neue Art.

Chris Foss hatte sich für ein Thema zu seiner Doktorarbeit entschieden.

Als Biologiedozent an der Universität von Coulder, unter dem Mentor, Professor Stuart Rose, standen ihm zahlreiche Themen für die Dissertation zur Auswahl.

Er hatte sich irgendetwas Naheliegendes ausgesucht, etwas aus der näheren Umgebung, was seine Feldforschungen erheblich erleichterte.

Als Thema wählte er den Bergkiefernkäfer. Es handelte sich um einen etwa fünf Millimeter großen Borkenkäfer. Dieser schwarze bis dunkelbraune Käfer, legt seine Eier in der Borke von Kiefern ab. Die daraus entstehenden Maden fressen sich an den Bäumen fett. Zurück bleibt nur durchlöchertes, sterbendes Totholz. Dieses Insekt tauchte in den letzten Jahren vermehrt in den umliegenden National-Forests, in der Nähe von Coulder in Colorado auf.

Der Sommer 1995 hatte schon Einzug gehalten, und die Semesterferien der Studenten standen bevor. Jetzt kehrte wieder Stille an der Universität ein. Chris hatte zwar noch einige Essays zu korrigieren, das nahm aber schätzungsweise nur eine Woche seiner Zeit in Anspruch.

Der Vorschlag, die Dissertation über den Bergkiefernkäfer zu fertigen, akzeptierte Professor Rose ohne Weiteres. Es schadete nicht, wenn sich ein junger Wissenschaftler mit diesem gefährlichen Insekt befasste.

Unzweifelhaft hatte der Borkenkäfer kürzlich damit losgelegt, die Nadelhölzer der umliegenden Wälder zu vernichten. Die klimatischen Verhältnisse, insbesondere die trockenen Sommer der letzten Jahre, galten als idealer Nährboden für dieses Insekt, um auszuschwärmen und sich weiter zu verbreiten.

Immer mehr Bäume fielen dem Krabbeltier, oder besser gesagt, diesem Baumparasiten zum Opfer. Ein ökologisches und ökonomisches Desaster.

Vornehmlich verbreiteten sich die Käfer in Koniferen-Monokulturen, ergo in Wäldern, die ausschließlich aus Nadelhölzern bestanden.

Ein simpler Lösungsansatz wäre, die Natur ohne weiteres Zutun, sich selbst zu überlassen. Sämtliche Nadelhölzer ihrem Schicksal preisgeben, und somit dem Käfer die Fortpflanzungsgrundlage entziehen?

Das Insekt geriete in Schwierigkeiten, wie jeder einfältige Parasit, der hirnlos seine Lebensgrundlagen zerstört, sich quasi in Eigenregie selbst ausrottet.

Die Holzindustrie fände sicher keinen sonderlichen Gefallen an dieser Vorgehensweise. Es würde Jahrzehnte dauern, bis sich die Baumbestände wieder erholten.

Als weitere Option, um die Käferplage einzudämmen, kämen Pestizide in Frage. Das würde aber ebenfalls allen anderen, nützlichen Insekten schaden, und verursachte nicht absehbare ökologische Beeinträchtigungen.

Oder sollten natürliche Fressfeinde gefunden, gezüchtet und dann in den Wäldern ausgesetzt werden?

Sie könnten sich solange an den unliebsamen Krabbeltieren laben, bis es keine mehr gab. Nach vollbrachter Arbeit verschwänden die Prädatoren ebenfalls wieder.

Chris Foss hatte vor, all diesen Fragen im Sommer nachzugehen. Zeit hatte er genug. Den Beginn des Wintersemesters hatte man auf Anfang Oktober festgelegt.

Chris, jung und enthusiastisch, freute sich auf diesen Campingausflug in den Black River National Forest. 8000 Quadratkilometer Wald.

Ausreichend Platz ein abgelegenes, kleines, einsames Camp, zusammen mit seiner Freundin, Helen Horton, aufzuschlagen.

Helen, eine frühere Studienkollegin, die jetzt an der High-School unterrichtete, und ebenfalls lange, dreimonatige Sommerferien hatte.

Die kleine Helen begeisterte sich nicht für den Gedanken, wochen- oder gar monatelang, abseits der Zivilisation, in der Wildnis zu verbringen.

Aber sie wusste, dass Chris diesen Forschungsausflug für sein Studium brauchte. Für die anstehende Dissertation war der Trip eben erforderlich.

Deshalb hatte sie sich auf den Deal eingelassen, dieses Jahr ihre Ferien in den Bergwäldern zu verbringen, dafür nächstes Jahr einen längeren Badeurlaub auf Hawaii zu genießen. Das schien ihr fair zu sein.

Chris bereitete sich akribisch vor. Er packte alles ein, was bei einem Campingausflug nützlich war. Sogar eine Machete, die bei der Durchquerung von dichterem Unterholz erhebliche Vorteile aufwies.

Obendrein nahm er zwei Kunststoffmasken, mit Präsidentengesichtern von Richard Nixon mit. Als Biologe wusste er, wie Raubtiere ticken.

Berglöwen hatten die Angewohnheit, sich leise von hinten anzuschleichen, um sich dann auf ihre Opfer zu stürzen. Trägt man aber eine Maske auf seinem Hinterkopf, denkt die Katze, beobachtet zu werden, und wird abgeschreckt.

Insbesondere vor einem derart gruseligen Richard-Nixon-Gesicht ergreift sicher jeder Puma sofort die Flucht.

Ihre Rucksäcke wogen vermutlich Tonnen. Glücklicherweise besaß Chris einen Jeep.

Der erwies sich bisher als ausgesprochen praktisch, denn er hatte ihn einige Male zuvor bei Exkursionen in das Gelände getestet und kam damit immer effektiv voran.

Als Chris und Helen losfuhren, flirrte die Luft brütend heiß über den Straßen. Je weiter sie in die Berge gelangten, desto mehr stellte sich eine angenehme Abkühlung ein. Als sie endlich an der Ranger-Station des Black River National Forest ankamen, hatte sich die größte Mittagshitze schon verzogen. Chris brauchte die Genehmigung, weiter als üblich mit dem Jeep in den Wald vorzudringen. Er führte einige Probengläser und eine kleine Feldlaborausrüstung mit sich. Ein derart beschwerlicher Transport zu Fuß, konnte ihm nicht zugemutet werden.

Der diensthabende Ranger, David Crowther, ein pensionierter Ex-Soldat, kannte den angehenden Doktor und Forscher von früheren Ausflügen, und genehmigte sein Ansinnen problemlos. Crowther, hatte sich für den Sommer über, freiwillig für den Dienst in der Rangerhütte gemeldet.

Chris und Helen gaben vorsorglich einen Aufenthalt von vier Wochen an, und vereinbarten mit Crowther, sich erst bei ihrer Abreise wieder blicken zu lassen.

Alle anderen Camper und Wanderer, waren gezwungen, ihre SUVs, Busse oder Combis auf dem Parkplatz im Bereich der Rangerhütte abzustellen, und zu Fuß weiterzugehen.

Für Chris und Helen öffnete sich aber die Schranke. Sie hatten die Erlaubnis, im Schritttempo durch die schattigen Wälder und hellen Lichtungen zu fahren. Ein genauer Lageplan wies ihnen die Route, wenn es an einer der vielen Weggabelungen einer Entscheidung bedurfte, welche Richtung sie einzuschlagen hatten.

Nach einigen Stunden erreichten sie, mitten im Wald, eine Blockhütte.

Aus dem Kamin trat Rauch aus. Sie hielten an und stiegen aus.

Ungewöhnlich, soweit draußen Jemanden anzutreffen.

Sobald das Motorengeräusch ihres Jeeps verstummte und sie ausstiegen, hörten sie Axtgeräusche hinter der Hütte. Als ob jemand im Begriff war, Holz zu hacken; das Geräusch schallte nur etwas dumpfer.

Da man nie imstande ist zu wissen, wie paranoid sich überraschte Menschen verhalten, verursachte Chris absichtlich laute Geräusche. Es bestand die Möglichkeit, dass hier ein Wilderer ohne Jagdgenehmigung, ein Schwarzbrenner oder ein sonstiger Kleinkrimineller hauste. Chris hatte nicht vor, versehentlich über den Haufen geschossen zu werden.

Er trampelte geräuschvoll um die Hütte herum und rief dabei laut:

„Hallo, ist hier jemand? Wir sind keine Ranger, nur Biologen auf Forschungstour.“

Als er um die Hütte herum kam, sah er einen blutverschmierten, bärtigen Mann, der nochmals mit der doppelschneidigen Streitaxt ausholte, um einen Kopf abzuschlagen, Sehnen, Fleisch und Wirbel zu durchtrennen.

Mit einem wuchtigen Hieb schlug er nochmals in die vorhandene Wunde hinein, bis der Kopf des Hirsches endlich zu Boden fiel.

Dann drehte sich der Mann in Richtung Chris. Dabei stützte er sich abgekämpft auf seine langstielige Streitaxt.

Chris saugte die gruselige Szenerie in sich auf, bevor er anfing zu sprechen:

„Hallo Sir, entschuldigen sie, dass ich sie bei ihrer Arbeit störe. Mein Name ist Chris Foss.

Ich bin Biologe und will die nächste Zeit zu Forschungszwecken im Wald verbringen. Sie kennen sich hier sicher gut aus, und könnten mir weiterhelfen.“

Der Mann hörte wortlos zu. Dann wischte er sich mit dem Hemdsärmel das Hirschblut aus dem Gesicht.

„Biologe? Ich kann hier niemanden gebrauchen. Verschwinden sie wieder.“

Chris hatte sich inzwischen umgesehen. Überall hingen Tierkadaver, zum Teil gehäutet.

Vermutlich hatte es der Waldschrat nicht auf das Fleisch der Tiere abgesehen, sondern eher auf die Felle, Geweihe oder ähnliche Jagdtrophäen, die er sicher, gleichgültig wo, an den Mann brachte.

„Ja, meine Begleiterin und ich wollen sie auch nicht stören. Wir werden auch sofort weiterfahren. Aber vielleicht könnten sie mir sagen, wo der Wald am gesündesten ist, wo sich dieser Borkenkäfer noch nicht durchgefressen hat.“

Der Kerl sah sich fragend um:

„Begleiterin? Welche Begleiterin?“

Chris nickte und rief nach ihr:

„Helen, kannst du mal herkommen? Ich bin hier hinter der Hütte!“

Sie dackelte ebenfalls vorsichtig um die Bretterbude herum. Als sie bei Chris ankam, die vielen Tierkadaver sah und den Geruch wahrnahm, dann dazu noch diesen ungewaschenen, blutverschmierten Kerl mit der riesigen Axt sah, musste sie sich deutlich überwinden, nicht gleich schreiend davonzulaufen.

Chris bemerkte, wie ihr die Anwesenheit an diesem Ort widerstrebte und sprach deshalb für sie:

„Das ist meine Begleiterin, Helen Horton. Sag guten Tag zu dem freundlichen Herren, Helen. Ach, wie ist doch nochmal gleich ihr Name, Sir?“

„Den hab ich dir nicht gesagt, Biologe.“

Chris, kein hasenfüßiger Typ, 1,92 Meter groß und nicht unbedingt unsportlich, hatte keinen sonderlichen Bammel, und er besaß eine große Machete, die indes im Wagen lag:

„Kein Grund unhöflich zu werden. Insbesondere in Anwesenheit einer Dame.“

Der Typ starrte die kleine Helen an. Von der Länge her, passte sie gar nicht zu Chris.

Die kurz geschnittenen, blonden Haare, umrahmten ihr mit Lachfalten gezeichnetes Gesicht.

Als sie der Kerl so durchdringend anstarrte, kamen diese Falten nicht zum Vorschein.

Dann sah der Kerl wieder zu Chris und grinste:

„In Anwesenheit einer hübschen Dame.“

Chris wurde es jetzt zu bunt:

„Hören sie, sie wollen uns offensichtlich nicht hier haben, das geht in Ordnung. Es ist mir total egal, was sie hier treiben. Weshalb sie hier allein im Wald sind. Völlig egal.

Ich frage sie jetzt noch einmal höflich, ob sie mir weiterhelfen können.

Wenn nicht, kein Problem, dann werden wir eben selbst suchen.“

Der Mann stützte sich nach wie vor auf seine Axt. Sah Chris in die Augen, dann lächelte er:

„Sorry, ich halte mich schon zu lange allein hier im Wald auf. Es ist so, Biologe. Wenn ihr mich in Ruhe lasst, dann lasse ich euch auch in Ruhe.

An eurer Stelle würde ich ab hier wieder umkehren. Es gibt hier überall diesen verfluchten Käfer.“

Er zeigte in Richtung Norden:

„Nur dort hinten, den Hügel ganz nach oben, und dann circa 3 Meilen hinunter ins Tal. Dort gibt es keine Käfer. Dort gibt es außer den Bäumen gar nichts mehr.“

Chris, erstaunt ob der plötzlichen Redseligkeit, hakte nach:

„Wie ..., gar nichts mehr. Dort muß es doch noch Waldtiere geben.“

Der Mann richtete sich auf und schulterte seine blutverschmierte Axt:

„Nein, nicht das Geringste. Ich hab mich dort mal kurz umgesehen. Der Wald dort machte sogar mir Angst. Nur über diesen Weg hier gelangt man in das Tal. Ich bin nicht sicher, ob ihr den Weg durchgängig mit dem Fahrzeug zurücklegen könnt. Aber egal, kehrt besser jetzt gleich um. Kehrt um, solange es noch möglich ist.“

Dann drehte sich der Mann um, und zerrte den nächsten Hirsch auf den Hackstock.

Chris schüttelte nur den Kopf. Er beendete die Konversation, indem er ihm zurief:

„Danke für die Auskunft, Sir!“

Dann nahm er die schocksteife Helen an der Hand, und marschierte mit ihr zurück zum Auto. Sie griff sich mit der flachen Hand an die Brust, und schnaufte tief durch:

„Ich dachte schon, dieser Typ greift uns an. Wie der mich angeglotzt hat. Wer weiß, wie lange der schon keine Frau mehr gesehen hat. Wir kehren doch um? Wie er es gesagt hat. Wir fahren doch zurück, oder?“

Chris umarmte sie, um sie zu beruhigen:

„Ach, denk nicht weiter an diesen Waldschrat. Der ist harmlos. Und wenn nicht, habe ich immer noch meine Machete.

Ich denke wir sollten weiter fahren.“

„Weiterfahren? Hast du nicht gehört, was er gesagt hat?“

„Natürlich habe ich das wahrgenommen. Ich habe sogar genau zugehört. Wenn er sagt, dass es dort keine Käfer gibt, muss das eine Ursache haben.

Dem Grund dafür, muss ich nachgehen. Deshalb sind wir doch hier.

Vielleicht finde ich hier ein Heilmittel gegen diese Waldseuche.“

„Nein, er hat nicht geäußert, dass es dort keine Käfer gibt, er hat gesagt, dass es dort gar nichts mehr gibt. Was ist, wenn uns dort ein giftiges Gas um die Nase weht? Oder wenn es dort Strahlung gibt?

Radioaktivität?“

„Hey, dafür hab ich doch mein halbes Labor dabei. Ich habe ein Schnüffelgerät für Gas und einen Geigerzähler. Wir werden vorsichtig sein. Und wenn uns trotzdem einer dieser Käfer ankrabbelt, habe ich auch noch Insektenspray dabei. Also was ist?“

„Ja, du und das Viecherzeug. Hauptsache du hast deinen Spaß. Ich wollte hier nur einen schönen, zweisamen Campingausflug mit dir machen. Keinen Gruseltrip.“

„Ach, hab dich nicht so. Falls wir dort erfolgreich eine nützliche Anomalie finden, können wir die Feldforschungen verkürzen, und doch noch einen Badeurlaub anhängen. Ich hab so ein Gefühl, dass mir mein Doktortitel sicher ist, wenn ich in dieses Tal fahre. Bitte, laß uns das Tal aufsuchen, mir zuliebe.“

Helen hatte sich schon wieder beruhigt. Als Chris sie mit seinem treuen Hundeblick ansah, hörte sie auf, weiter zu insistieren, und stimmte zu.

Sie stiegen ein und Chris startete den Motor. Da auf diesem Waldweg nur Schritttempo angesagt war, würde es sicher zwei bis drei Stunden dauern, bis sie im Tal ankamen.

Chris legte soeben den ersten Gang ein, als der bärtige Mann mit seiner Axt um die Blockhütte herumkam. Er rief ihnen hinterher: „Kehrt um, laßt es gut sein, es ist besser für euch, dort stimmt etwas nicht!“

Bei Chris stellte sich zwar ein mulmiges Gefühl ein, er gab aber Gas und fuhr weiter diesen ominösen Weg entlang.

Der holprige Weg erforderte eine aufmerksame Fahrweise. Nach einer Weile hatten Chris und Helen den Axt-Typen aus ihren Gedanken verdrängt, und frönten den malerischen Eindrücken, die der Wald ihnen bot.

Als sie die Anhöhe passierten, bot sich, mit dem Ausblick über das grüne Hochtal, eine optische Augenweide für die Beiden. Der Weg führte von dort an, über eine baumlose Felsenlandschaft, nur noch bergab und wurde schmaler.

Überhaupt handelte es sich weniger um ein Hochtal, sondern um einen großen Talkessel.

Die steilen Felshänge der umliegenden Berge, grenzten den Kessel scharf von der übrigen Landschaft ab.

Nur über den einen Weg, den sie genommen hatten, vermutlich ein Wildpfad, war es möglich, in diesen Kessel zu gelangen.

Ein alter Steinschlag, oder besser gesagt ein Felssturz, hatte den Weg großflächig verschüttet, und verlangte dem Jeep alles ab.

Den 50 Meter breiten Geröllhaufen zu überwinden, gestaltete sich als enorme Herausforderung. Nur im Schneckentempo, und mit Hilfe der Seilwinde waren sie in der Lage, den Felssturz zu überwinden. Direkt nach diesem Geröllfeld fing dann die Flora an zu sprießen, in Form eines fast undurchdringlichen Waldes.

Der Waldweg mündete in einen Pfad, der sich an einem dicht bewaldeten Abhang entlang, hinunter in den Kessel schlängelte. Unten angelangt, war Schluss für den Jeep. Der Pfad endete an einem kleinen See. Ab hier war es nur möglich, zu Fuß, am Ufer entlang, weiter in den Forst vorzudringen.

Da sich der Nachmittag schon seinem Ende zuneigte, und die Sonne sich hinter den umliegenden Berggipfeln verabschiedete, entschieden Chris und Helen, ihr Camp am See aufzuschlagen.

Im Schatten der Berge hatten sie lange genug Licht zur Verfügung, um ihr Camp aufzubauen.

Die famos ausgeprägte und unberührte Flora an diesem See, begeisterte Chris und sogar Helen sofort.

Eine Fauna fanden sie aber paradoxerweise nicht vor. Es herrschte merkwürdige Stille. Kein Summen, kein Pfeifen oder Zwitschern, kein Röhren, nicht einmal das nervige Surren der Stechmücken.

Nur das Wasser des Sees, dass in kleinen Wellen platschend an das Ufer trieb, und vereinzeltes Rascheln und Knacken in den Bäumen, hörten sie.

Dieser Tag war fast gelaufen, zu spät, um Chris Forscherdrang freien Lauf zu lassen:

„Ist das nicht ein paradiesisches, stilles Örtchen hier?“

Helen zuckte nur mit den Schultern:

„Stilles Örtchen ist gut. Wo sollen wir denn unsere Kackgrube platzieren? Mich drückt es schon seit einer Stunde.“

Chris lachte:

„Egal ..., am besten so, dass der Wind deine Gase vom Lager wegträgt.“

„Apropos Gase. Kannst du in der Zwischenzeit mit dem Schnüffelgerät und deinem Geigerzähler die Umgebung checken? Ich könnte dann ruhiger schlafen.“

Chris gefiel es nicht, dass wiedermal sämtliche Arbeit an ihm hängen blieb.

„Was denn noch alles? Zelt aufbauen, Feuerholz sammeln, auspacken, schnüffeln und Geigers zählen. Steck mir doch noch einen Besen in den Arsch, dann kann ich auch noch gleich zusammenkehren.“

Helen grinste nur. Sie nahm ihren Mittelfinger in den Mund und befeuchtete ihn. Dann hielt sie Chris den ausgestreckten Finger entgegen:

„Der Wind kommt vom See her. Ok, dann spaziere ich jetzt ein Stückchen in den Wald zurück, und grabe dort unser Plumpsklo. Bis dann.“

Sie nahm sich den Spaten aus dem Jeep und verschwand in Richtung Wald.

Zuerst holte Chris das Schnüffelgerät. Faulgase, Schwefelwasserstoff oder Methan, hätten sie sicher schon mit den Nasen bemerkt.

Diese Gase vermochte er offenriechbar auszuschließen.

Schwefeldioxid und andere ätzende Gase hätten sie ebenfalls schon längst wahrgenommen. Die reizen sofort die Schleimhäute oder Schlimmeres.

Er checkte deshalb die Umgebung auf weniger spürbare und geruchslose Gase, wie das gefährliche Kohlenmonoxid. Die Luft war aber rein. Er stellte keinerlei ungewöhnliche Gaskonzentrationen fest.

Auch mit dem Geigerzähler maß er keine übermäßige Strahlung. Es gab nur kleine Ausschläge, die auf natürliche, radioaktive Zerfallsprodukte hinwiesen. Nichts Gesundheitsschädliches.

Chris packte die Geräte beruhigt und zufrieden wieder weg.

Wenn es hier etwas gab, dass gegen den Borkenkäferbefall wirkte, fand er bisher keine Erklärung dafür. Für diese Arbeit hatte er aber später noch genug Zeit, kamen sie doch eben erst an.

Er sammelte zunächst ein paar größere Steine vom Ufer, und umrahmte damit den Feuerplatz.

Abgebrochene Äste und Zweige lagen genügend herum. Beim Holzsammeln hörte er Helen, wie sie begleitet von Furzgeräuschen anscheinend eine riesige, harte Wurst herauspresste. Mit einem Packen Feuerholz auf dem Arm griente er ihn ihre Richtung:

„Na, Herzchen, soll ich mal mit dem Schnüffelgerät nachsehen, ob bei dir irgendwelche tödlichen Gase herumfleuchen?“

Helen rief nur mit gepreßter Stimme: „Verschwinde!“

Chris lachte und schlenderte zurück zum See. Er liebte sein Zwergerl oder Herzchen, insbesondere ihre direkte Art.

Damit konnte er umgehen, sie immer wieder necken, das bereitete ihm einen Heidenspaß. Aus dem Wald hörte er ein Fluchen:

„Verdammt, jetzt hab ich das Klopapier vergessen, Scheiße! Hey Großer, kannst du mir etwas zum Abwischen bringen?“

Chris schüttelte nur grinsend den Kopf, antwortete nicht und schlichtete weiter das Feuerholz auf:

„Hey, Erde an Chris! Kannst du mich hören? Wenn ich mit meinem verkackten Hintern und heruntergelassenen Hosen zu dir laufen muss, werde ich mich als allererstes auf deinen Schoß setzen und dort meinen Hintern sauberreiben! Hörst du?“

„Ja, ja, ist ja schon gut. Laß mich zuerst noch den Besen aus meinem Arsch ziehen, dann bringe ich dir auch noch dein Klopapier!“

Als er ihr das Hygieneprodukt brachte, grinste er weiterhin, blieb aber sicherheitshalber in einiger Entfernung stehen. Er wusste nicht, ob sein Zwergerl wie ein Gorilla im Zoo reagierte, und etwa mit Exkrementen nach ihm würfe.

Sie hatte ein aufbrausendes Temperament.

Bei ihren Schülern hatte ihr das, in Anlehnung an die alten Bugs Bunny Cartoons, den Spitznamen `Tasmanischer Teufel´ eingebracht. Er warf ihr lieber die Klopapierrolle zu, und verschwand dann wieder ins Lager, um das Zelt aufzubauen.

Als Helen zurück ins Camp kam, flachste Chris sie an:

„Na, hattest du eine schwere Geburt? Wie viel wiegt denn unser Nachwuchs?“

Helen drohte spaßeshalber mit dem Spaten:

„Du willst doch jetzt nicht über die Größe von Kackwürsten sprechen, oder? Ich spring jetzt erstmal in den See und schwimme eine Runde, kommst du mit?“

Sie zog sich während des Laufens aus, und stakste ins Wasser. Der eisig kühle See verzögerte ihren Drang, in die Fluten zu springen, und sie zog ihren nackten Körper etwas zusammen. Dann stürzte sie sich schnaubend ins kalte Nass.

Chris ließ sich nicht lange bitten, zog sich ebenfalls aus und sprang unbeeindruckt von der Abkühlung hinterher. Dann tauchte er unter und schwamm Unterwasser weiter in ihre Richtung.

Sie sah sich um, entdeckte ihn aber nirgends. Plötzlich packte etwas ihren Fuß, und zog sie unter die Oberfläche. Fast hätte sie sich verschluckt. Sie strampelte sich los und tauchte prustend wieder auf.

Als Chris ebenfalls auftauchte und lachte, spritzte sie ihm mit ihren Handflächen Wasser ins Gesicht, und schwamm mehrere Meter davon.

Sie tollten noch einige Minuten im See herum, wie Kinder im öffentlichen Schwimmbad.

Dann trafen sich ihre Körper, sie umarmten und küssten sich im Wasser, bis es Chris zu kühl wurde:

„Können wir wieder ans Ufer zurück? Bei dieser Kälte steht er mir sonst noch nach innen.“

Sie griff unvermittelt zwischen seine Beine und lächelte:

„So kalt scheint es auch wieder nicht zu sein.“

Er küsste sie ein weiteres Mal und schwamm ans Ufer. Dort angelangt rief er ihr zu:

„Jetzt hast du noch die Gelegenheit. Entweder du folgst mir, oder du wechselst ans andere Ufer! Wenn du zu mir kommst, hab ich hier etwas für dich!“

Sie strich sich die nassen Haare nach hinten, lächelte verheißungsvoll und schüttelte leicht den Kopf:

„Ja, ja, ich kann mir schon denken, was du für mich hast.“

Dann schwamm sie ebenfalls zurück.

Das letzte Licht der Dämmerung verschwand vom Nachthimmel, als Chris das Lagerfeuer entfachte, und sich abtrocknete.

Helen erreichte durchgefroren, mit Gänsehaut und abstehenden Nippeln das Ufer. Zitternd tapste sie zu Chris, der schon mit einem frischen Handtuch auf sie wartete, und sie damit einhüllte.

Er rieb ihren Körper ab, um sie trocken zu bekommen und zu wärmen.

Aber Helen fackelte nicht lange. Sie griff an seinen Penis und fing an ihn zu massieren. Chris hörte auf, sie abzureiben, war drauf und dran etwas zu sagen, kam aber, wegen der Lustgefühle, die ihn überkamen, ins Stocken:

„Helen …, Helen …, ich wollte dir doch noch …“, dann gab er nach. Sie schubste ihn neben dem flackernden Feuer um, riss sich ihr Handtuch vom Leib, und ritt Chris wie eine Rodeoreiterin, die einen wilden Mustang bändigt. Im fahlen Licht des Mondscheins und des lodernden Lagerfeuers, liebten sie sich heiß und innig. Sie kamen nicht gleichzeitig, aber Helen fuhr fort, bis Chris endlich fertig war. Dann ließ sie sich auf seine Brust sinken.

Beide verschnauften kurzatmig. Als Chris Atemfrequenz sich wieder ein wenig beruhigt hatte, vollendete er den zuvor angefangenen Satz:

„Ich wollte dir doch noch etwas geben, weißt du noch?“

Helen blieb auf Chris liegen:

„Was? Nochmal? Ok, aber laß mich erst ein bisschen ausruhen.“

Chris lachte:

„Nein, nicht das. Ich hab hier noch etwas, was ich dir geben wollte.“

Im Liegen wühlte er, mit der ausgestreckten Hand, unter seinem am Boden liegenden Handtuch herum. Er tastete umher, bis er fand, was er gesucht hatte.

Helen lag nach wie vor auf seinem Bauch und beobachtete interessiert das Treiben. Als sie erkannte, was er da unter dem Handtuch hervorgeholt hatte, blieb ihr der Mund offen stehen.

Der Brillant blitzte und blinkte im Feuerschein, als Chris ihre Hand nahm und ihr den Ring überstreifte. Den Umständen geschuldet, fing er, eine Idee verlegen, an zu sprechen:

„Äh, ich weiß, dass man so etwas normalerweise …, wenn überhaupt …, dann sollte man das vor dem Sex anbringen. Aber nun sind wir einmal hier …, und das Lagerfeuer prasselt …, und die Sterne funkeln über uns, genauso wie dieser Ring.

Und ich wollte dich fragen …, Helen Horton, willst du mich …“ Weiter kam er nicht. Sie unterbrach ihn:

„Ja …, ja, natürlich du großer Tölpel!“ Mit leuchtenden Augen betrachtete sie den Einkaräter, der auf ihrem linken Ringfinger thronte.

Dann küsste sie Chris auf den Mund. Mit der rechten Hand fasste sie sich an den Unterleib:

„Oh, ich glaube, ich muß mich erst einmal frisch machen.“

Sie sprang auf, und hüpfte zum Ufer wie ein junges Reh. Dort wusch sie sich erstmal. Chris hielt das für eine erstklassige Idee und tat es ihr gleich. Nach dem Abtrocknen bekleideten sich beide wieder. Nachts kühlte es in dieser Höhe empfindlich ab, nur am Lagerfeuer blieb es weiterhin ansatzweise gemütlich.

Chris öffnete eine extra für diesen Moment gedachte Champagnerflasche, und beide tranken den Schampus, nicht ganz stilsicher, aus Pappbechern.

Sie quasselten über dieses und jenes, über ihre Zukunft und Hochzeitspläne, bis sie beide die Müdigkeit überkam, und sie sich glücklich im Zelt zur Nachtruhe legten.

Sie waren den Alkohol nicht gewöhnt, und fühlten sich vom Champagner etwas angetrunken. So schliefen sie den Schlaf der Gerechten, in himmlischer Ruhe. Außer dem Knacken der Bäume hörten sie nichts. Nicht einmal eine Mücke störte ihre Nachtruhe.

Morgens wachte Chris mit dem ersten Tageslicht auf. Er vernahm, wie Regentropfen auf das Zelt platschten.

Nur ganz vereinzelt, kein richtiger Landregen, nur Getröpfel. Draußen vor dem Zelt, leuchtete aber strahlendes Tageslicht. Regenwolken hätten das Sonnenlicht um etliches mehr abgedunkelt.

Wissbegierig öffnete Chris den Reißverschluss des Zelteingangs und lugte hinaus. Keine Wolke am Himmel, weit und breit blaues Firmament. Die Tropfen platschten weiter. Chris hielt die Hand aus dem Zelt. Ein Spritzer traf ihn. Erst jetzt sah er, dass der Regen rot war, rot wie Blut. Er zog sich wieder ins Zelt zurück, und betrachtete den roten Tropfen auf seinem Handrücken. Da er im Moment keinen geeigneten Probenträger oder ein Probenglas zur Hand hatte, und draußen genug weitere Proben herunterfielen, untersuchte er den Tropfen, auf einfachste Art.

Zunächst roch er daran. Dabei nahm er einen leicht modrigen Geruch wahr. Dann tippte er mit dem Zeigefinger auf den Tropfen, bis etwas davon auf der Fingerspitze haften blieb.

Er verrieb die Probe zwischen Zeigefinger und Daumen. Zähflüssig, trocknet nicht gleich an, hat eine klebrig, samtige Konsistenz, dachte er.

Als Nächstes tippte er mit seiner Zungenspitze auf die Probe. Es schmeckte ebenfalls modrig, wie ein Schimmelpilz. Er spülte sofort seinen Mundraum mit Wasser, und spuckte vor dem Zelt aus.

Es konnte sich nicht um Blut handeln, zumal es keinerlei Erklärung gab, wie es hierher kam. Dem ersten Anschein nach, handelte es sich um schleimige Absonderungen eines Pilzes. Aufgrund der lautstarken Aktivitäten wachte Helen langsam auf.

Chris verließ voller Entdeckerfreude das Zelt, um sich umzusehen.

Als er nach oben kuckte, erkannte er, dass die Kiefern rote Zapfen aufwiesen. Aus diesen Kiefernzapfen tropften die schleimigen Absonderungen.

Er erinnerte sich nicht, jemals zuvor etwas Vergleichbares gesehen zu haben. Obwohl er sich akribisch vorbereitete, sich mit der in diesen Breitengraden vorherrschenden Flora befasste, wusste er nicht, um was es sich handelte. Von einer Blutkiefer hatte er definitiv nie zuvor gelesen oder gehört.

Er wusste ebenfalls nicht, weshalb das Getröpfel genau jetzt einsetzte, welchen Auslöser es dafür gab. Dieser Tag unterschied sich nicht von dem vorherigen.

Es gab nur eine einzige Abweichung, dass sich er und Helen jetzt hier aufhielten. Hatten etwa sie, ihr Erscheinen, etwas damit zutun? Wie funktionierte das? Aus den Augenwinkeln nahm er eine Bewegung wahr. Er sah sofort in diese Richtung, erkannte aber weit und breit keine Veränderung. Dann, auf der anderen Seite, ein Knacken, eine Bewegung, aber als er hinsah, wieder nichts.

Chris spürte, wie langsam Nervosität in ihm aufkam. Hektisch schnappte er sich die Machete, die neben dem erloschenen Lagerfeuer in einem dicken Ast spickte:

„Ist da Jemand? Sind sie das, der Kerl mit der Axt? Kommen sie heraus, ich habe sie gesehen!“

Ein Bluff, er hatte nichts erkannt. Einen Versuch war es wert. Aber es kam keine Antwort.

Helen schaute mit verschlafenen Augen aus dem Zelt:

„Was ist denn los, Großer? Gibt es Probleme? Ihh, was ist denn das für ein stinkender, roter Schleim hier?“

Chris sah sich weiterhin nervös um. Die Machete hielt er dabei mit beiden Händen, wie ein Schwertkämpfer, vor seinen Körper. Hinter ihm knackte wieder etwas im Holz.

Er drehte sich um, rief nochmal:

„Hier ist doch Jemand!? Kommen sie heraus, ich weiß, dass sie sich da irgendwo herumtreiben!“

Helen öffnete jetzt ihre verschlafenen Augen weiter, und erspähte etwas:

„Da …, da, dieser Ast dort hat sich bewegt! Direkt hinter dir, paß auf Chris!“

Er reagierte schnell, im Umdrehen hieb er mit der Machete, ohne zu wissen, wonach er schlug. Dabei traf er einen dünnen Ast, der zunächst unbemerkt, hinter ihm aufgetaucht war, und trennte ihn ab.

Dieser rote, modrige Saft spritzte heraus, als ob eine Schlagader den Ast durchzogen hätte. Als der Zeltboden anfing, sich zu wölben, sprang Helen kreischend aus dem Biwak.

Eine riesige Wurzel riss das Zelt aus der Verankerung, und zerriss es in der Luft. Der See färbte sich rot und fing an zu blubbern, als ob er kochte oder Millionen von Fischen an der Oberfläche zappelten. Eine weitere Wurzel trat durch den Waldboden und schoß auf Chris zu. Mit einem Schlag gelang es ihm, sie abzutrennen.

Das abgeschlagene Holz, hüpfte danach weich und flexibel auf dem Waldboden herum, bis es ausblutete und still liegenblieb. Völlig durchzogen von diesem roten Pilzzeug, bewegten sich überall Schlingen und Speere aus Zweigen und Ästen, um Chris und Helen anzugreifen.

Die Angriffe verliefen zwar etwas ungezielt und unbeholfen, aber es bewegten sich immer mehr dieser Baumwaffen auf sie zu.

Chris schlug mit der Machete um sich, trennte ein Teil nach dem anderen ab, bis das Baumblut in Massen spritzte:

„Zum Jeep, Helen, schnell, zum Jeep“, schrie er, seine wie angewurzelt dastehende Verlobte an.

Das riss Helen gerade noch rechtzeitig aus ihrer Schockstarre. Als sie loslief, schoß ein armdicker, spitzer Ast ins Leere. Sie sprintete zum Jeep, sprang über die geöffnete Rückseite in den Wagen und knallte die Heckklappe von innen zu. Aus dem See zappelten Wurzeln und Schlingpflanzen ans Ufer, und Chris rannte ebenfalls los.

Vor ihm explodierte förmlich ein dicker Wurzelstrang aus dem Erdreich, er wich aus und hieb mit der Machete zu.

Durch diesen allzu machtvollen Gegner drang das Buschmesser nicht völlig durch und blieb stecken. Chris ließ es los und rannte weiter zum Jeep. Er riss die Tür auf, sprang auf den Fahrersitz und schlug die Fahrertür zu. Helen schrie ihn von der Ladefläche aus an:

„Fahr los, weg hier, fahr los, fahr doch endlich!“

Chris war vollgepumpt mit Adrenalin, das nervöse Geschrei von Helen verbesserte seinen Zustand ebenso nicht weiter. Er klopfte verzweifelt alle Taschen ab, fand aber den Zündschlüssel nicht.

Helen kreischte ihn weiter an, er suchte, durchwühlte alles, bis er endlich bemerkte, dass er den Zündschlüssel, über Nacht, steckenließ.

Vor lauter Ablenkung hatte er vergessen, ihn abzuziehen und einzustecken.

In dem Moment, als er den Motor startete, drang ein Ast durch das Heckfenster, verfehlte Helen nur knapp und bog sich dann nach unten, als ob er vorhatte, den Jeep festzuhalten. Chris gab Vollgas, die durchdrehenden Reifen wirbelten den Waldboden auf, der Staub nebelte das Szenario ein, bis der Ast endlich abriß, und der Jeep mit einem Ruck befreit losbrauste.

Sie kamen aber nicht weit. Der gesamte Wald schien sich gegen sie verschworen zu haben.

Direkt vor ihnen krachte eine weitere große Wurzel durch die Oberfläche, der Jeep knallte dagegen und blieb lädiert liegen.

Beim Aufprall schleuderte es Chris und Helen nach vorn. Sie erlitten Prellungen und Platzwunden, verloren aber glücklicherweise nicht das Bewusstsein. Es schien aussichtslos, wie sollten sie entkommen?

Völlig umzingelt von zappelnden Ästen und Wurzeln, saßen sie blutend im Jeep, und umarmten sich wie Äffchen im Tierversuchslabor.

Weinend und zitternd harrten sie der Dinge. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis die Äste die Scheiben einschlugen und in das Fahrzeug drangen. Plötzlich hörten sie ein Motorgeräusch.

Erst weiter entfernt, dann immer näher kommend, aufbrausend, hochdrehend, wie von einem Geländemotorrad. Es entpuppte sich als das Geräusch einer Motorsäge.

Die Pflanzenfortsätze ließen merklich vom Wagen ab, und konzentrierten sich jetzt mehr auf diese Schwingungsquelle.

Draußen flogen die Fetzen, bis die Fahrertür aufgerissen wurde. Völlig von rotem Glibber überströmt, stand der Waldschrat vor ihnen:

„Los, raus hier, wir müssen weg, den Hang hinauf, erst in den Felsen sind wir sicher, schnell, bewegt euch!“

Der fremde Blockhüttenbesitzer besaß Bärenkräfte, die Motorsäge wurde langsam schwer, aber er kämpfte weiter, wirbelte und sprang umher, stutzte einen angreifenden Baum nach dem anderen zurecht.

Während des Kampfes schrie er wieder in den Wagen hinein:

„Lauft endlich los, haut ab hier, immer den Hang hinauf zur Felswand.

Sie können euch nicht sehen, sie spüren aber die Erschütterungen im Boden, los, lauft!“

Helen und Chris sprangen aus dem zerstörten Jeep, und liefen, was das Zeug hielt. Der Kerl hinter ihnen richtete ein regelrechtes Kettensägenmassaker an.

Äste reckten sich nach Helen und Chris, im Sprint wichen sie aus, so gut es eben gelang. Sie entfernten sich immer weiter von dem Kerl, der hinter ihnen weiterkämpfte, bis der Sprit der Motorsäge zur Neige ging.

Er ließ die Säge fallen, zog seine Machete aus der Scheide, als ihn unvermittelt ein Ast von hinten durchbohrte.

Er ließ die Machete sinken, spuckte Blut aus seinem zerfetzten Lungenflügel. Schockiert sahen Helen und Chris zu wie der Kerl, der zunächst Unbehagen in ihnen hervorrief, der sie jetzt aus dem Jeep rettete, leblos von dem Ast in Richtung Baum gezerrt wurde.

Die Wurzeln der Blutkiefer öffneten sich, gaben eine Höhle frei, in die ein Wurzelfortsatz den toten Körper des Mannes hineinzog.

Was innerhalb der Pflanze geschah, verbarg sich vor den Augen von Chris und Helen. Von ihren eigenen Schreien aufgeschreckt, rannten sie weiter bergan.

Die Adrenalinkonzentration in ihrem Blut stieg so dermaßen an, dass ihre Herzen rasten wie bei einem Kaninchen auf der Flucht.

Sie ermüdeten nicht, rannten immer weiter. Ihre Muskeln brannten, wurden blau, aber das spürten sie gar nicht.

Unterdessen hatte sich die Wurzelhöhle um den Leichnam des hilfsbereiten Kerles geschlossen. Faserwurzeln drangen in seinen Körper ein, und fingen an Blut zu saugen. Mehrere ausgeprägte Pfahlwurzeln rissen seinen Kopf vom Torso.

Ein Podest öffnete sich glibberig und schmatzend wie ein Alien-Ei, rote Pilzfasern züngelten heraus. Die Wurzeln setzten das tote Haupt auf dieses Horrorpodest.

Pilzfasern drangen ein, die Augen öffneten sich kurz, mit geistlosem Ausdruck, um sich dann für immer zu schließen.

Der Baum fand keine Verwendung für den Kopf, stieß ihn ab, und er kullerte auf einen bereits vorhandenen Haufen von Tierschädeln.

Das Gehirn des Mannes, war nicht kompatibel. Unbrauchbar. Die Bäume brauchten einen weiteren Symbionten, ein Denkorgan.

Pflanze und Pilz zusammen stellten einen unempfindlichen, nachwachsenden Körper zur Verfügung, sie benötigten aber außerdem Intelligenz für ihre Komplettierung. Auf der Suche danach verzehrten sie alles, was ihnen bei Tageslicht zwischen die Zweige kam.

Schutzlos rannte das Liebespaar weiter bergauf.

Sie drehten sich nicht mehr um, versuchten, nur zu fliehen. Chris war zwar größer und wesentlich kräftiger als Helen, sie wog dagegen nur die Hälfte, hatte es deshalb beim Bergauflaufen leichter, und rannte vornweg.

Trotz Adrenalinschock fielen die Schritte immer schwerer, und als sich eine Wurzel aus dem Boden erhob, stolperte Chris und stürzte. Helen bekam das in ihrer Panik nicht sofort mit und lief, ohne sich umzusehen, bis Chris ihr hinterherrief:

„Helen, lauf weiter, ich komme gleich nach, schnell Helen lauf!“

Sie stapfte langsamer, drehte sich besorgt um und sah, wie Chris versuchte aufzustehen. Doch mehrere Ranken fassten seine Beine und zogen ihn weg.

Er strampelte, versuchte, sich mit den Händen im Boden festzukrallen, hatte aber keine Chance.

Sie schrie ihm verzweifelt nach: „Chris, nein ..., Chris!“ Mehr brachte sie nicht heraus.

Zuerst kam ihr der Gedanke, ihm hinterherzulaufen. Sie tappte ein paar erste Schritte zurück in seine Richtung, als an der Stelle, an der sie vorher gestanden hatte, eine Wurzel aus dem Boden hervorbrach. Sie sprang zur Seite und rannte wieder bergauf davon. Es konnte nicht mehr weit sein, bis sie die Felsen erreichte.

Sie hatte bei ihrer Flucht nicht den langen, befahrbaren Waldweg genommen, sondern rannte direkt den Hang hinauf in Richtung Felswand. Immer wieder schnalzten Zweige und Äste wie Peitschen um sie herum, erwischten sie aber nicht.

Völlig ausgepumpt erreichte sie die steile Felswand, und kletterte Zug um Zug höher. Dabei steckte Helen ihre komplette, übrige Kraft in ihre Kletteranstrengungen. Unterdies kam sie schnell weiter hinauf, immer höher. Ihr geringes Körpergewicht, machte sich dabei wiederum bezahlt. Äste probierten nach ihr zu greifen, erreichten sie aber nicht mehr. Als sie mehr als vierzig Meter Felswand hinter sich gelassen hatte, brach unvermittelt der Halt unter ihrem Fuß weg, und sie stürzte schreiend hinab, zurück in den Gruselwald. Sie schlug mit ihrem Rücken und dem Kopf auf, und verstarb sofort, noch an Ort und Stelle.

Langsam schlängelten sich Schlingen aus Wurzeln zu ihrem Leichnam, bekamen ihn zu fassen, und zerrten den toten Körper ebenfalls weg.

Vom namenlosen Waldschrat, wie sich später herausstellte, Neil Swan, von Helen Horton und von Chris Foss, fand niemals jemand eine Spur.

Alle Pläne mit dem Jagdtrophäenhandel, mit der Hochzeit, mit dem Doktortitel, alles ausgelöscht, in wenigen Minuten.

Als sich nach einem Monat niemand der drei Waldbesucher beim Ranger, David Crowther, abgemeldet hatte, begab er sich auf die Suche.

Er fand aber keinen von ihnen auf. In den Hochtalkessel ist er zu seinem Glück niemals vorgedrungen. Spätere Erkundungen, per Hubschrauber mit Wärmebildkameras, blieben ebenfalls erfolglos. Das Verschüttgehen dieser Leute, verschwand zunächst als mysteriöser, ungeklärter Fall in den Akten der Ermittlungsbehörden.

Selbst der Jeep, die Campingausrüstung oder Spuren von einer Feuerstelle, blieben vom Winde verweht. Der Black River National Forest hatte alles, imwahrsten Sinne des Wortes, verschlungen.

Bei der Wildererhütte von Neil Swan endeten sämtliche Fährten.

Die seit 1995 vermissten Urlauber, wurden nach einigen Jahren amtlich für tot erklärt. ...

Kapitel 2: Die Großeltern.

Zu Port Ryan hatte Ant keinerlei Bezug mehr. Freunde, Fehlanzeige.

Zach Bloom hatte sich nie zu einem Besuch im Krankenhaus sehen lassen. Vermutlich erschien Ant ihm zu unheimlich, und in letzter Zeit zu abgehoben, oder er war einfach nur eifersüchtig.

Das kam Ant gelegen, er hatte sich eine ganze Weile vorher ein wenig von Zach distanziert. Zach hatte zunächst neidisch auf Ants phänomenalen Fähigkeiten mit der Steinschleuder reagiert, danach dann wegen seiner entzückenden Freundin Andrea.

Ebenso hängten ihm Zachs blöde Witze, die er immer wieder mit Gewalt in jegliche Konversation zwängte, zum Hals heraus. Wenn jemand einen Furz fliegen ließ, fing Zach sofort an:

„Fürze steigen normalerweise nach oben. Aber du hast sicher schon welche gelassen, die schwerer waren als Luft.“

Ha, ha. Ein echter Schenkelklopfer. Oder über Krampfadern:

„Wie kann deine Mutter Krampfadern haben? Ich hab doch auch keine, obwohl ich sicher schon mehr Babys herausquetschte als sie. Bestimmt Milliarden.“

Ha, ha. Oder an Andrea gerichtet:

„Wenn du es ihm heute kannst besorgen, verschiebe es nicht auf Morgen. Denn willst du es ihm heute nicht besorgen, wird er es sich woanders borgen.“

Ha, ha. Auch noch ein Dichter, aber trotzdem nicht ganz dicht.

Ant hatte genug von Zachs dumpfbackigem Verhalten. Während er sich weiterentwickelte, einen riesigen Sprung nach vorn realisierte, geistig und körperlich, legte Zach zur Zeit den Rückwärtsgang ein, weil er es nicht besser wusste.

Die einzigen Verwandten, seine Großeltern, Maria und Claus Antonin, holten Ant, Ende Mai, direkt aus der Psychiatrie ab. Das beschädigte Elternhaus wies Erdbebenrisse auf, und einige Fenster lagen in Scherben.

Ansonsten blieb es unversehrt. Nichts was großen Reparaturaufwand erfordert hätte. Abschreckend wirkte nur der Umstand, dass einem nach wie vor die Umrisszeichnung des verstorbenen Detektives, auf dem Flurboden, ins Auge stach.

Seine Großeltern boten es zu einem günstigen Preis auf dem überfüllten Immobilienmarkt an und verkauften es schnell. Sie nahmen sich vor, den Erlös in Ants Ausbildung zu investieren.

Ant verabschiedete sich von Dara Halic, seiner Therapeutin. Bei ihr handelte es sich um die einzige Person, der er sich, über die letzten Monate hinweg anvertraute, soweit es ihm möglich war.

Er hatte fast ein schlechtes Gewissen, dass er ihr nicht alles erzählte.

Der Abschied von ihr fiel im schwer.

Seine Therapeutin trug es mit professioneller Gelassenheit. Ant hatte aber das Gefühl, dass es ihr ebenfalls nicht sonderlich leicht fiel.

Seine Großeltern freuten sich darauf, ihn wiederzusehen. Sie hatten ihr distanziertes Verhalten, ihm gegenüber, schon vor längerer Zeit aufgegeben, als sie ihr Sohn darüber informierte, dass Josef eben doch sein leibliches Kind sei.

Spätestens bei der Beerdigung hatten sie ihn in ihr Herz geschlossen.

Als sie gemeinsam das Krankenhaus verließen, schien ihnen die Sonne warm ins Gesicht. Die klare Seeluft umschmeichelte Ants Nase, und die jetzt wieder grün belaubten Bäume, standen zum Teil weiterhin in ihrer Blütenpracht. Ant fiel ein Sperlingmännchen auf, dass mit Inbrunst und Vehemenz nach einem Weibchen zur Fortpflanzung zwitscherte.

Er lächelte still in sich hinein, als er mit seinen Großeltern in den Leihwagen stieg. Wenn es doch bei den Menschen ebenso leicht wäre.

Bloß hinausstellen, auf die Straße, solange laut „ich will bumsen“ schreien bis die Mädchen angelaufen kommen. Das vereinfachte Vieles.

Sie hatten einen langen Weg vor sich. Zunächst fuhren sie in Richtung Boston. Die Strecke kannte Ant schon. Er dachte an Chong Xu und dessen Yacht, ließ diese Gedanken für eine kleine Weile zu, und schob sie dann weg in seine Vergangenheitskiste. Er hatte vor nur noch im Hier und Jetzt zu leben, nicht mehr in die Vergangenheit, sondern höchstens in die Zukunft zu schauen.

Sie fuhren zum Flugplatz. Dort gaben sie den Leihwagen zurück, und begaben sich zum Flugschalter im Terminal. Die Abfertigung lief zügig ab, da sie nur Handgepäck mitführten.

Ant besaß kaum Eigentum, das er mitnahm. Außer etwas Kleidung gab es da nichts mehr. Sein erster Flug stand bevor. Logischerweise wusste er, wie alles funktionierte.

Die Technik, die physikalische Seite mit der Geschwindigkeit und dem Auftrieb, das war ihm alles klar. Trotzdem regte er sich ein wenig auf, bei dem Gedanken es selbst zu erleben, nicht nur in Fernsehdokumentationen zu sehen.

Insbesondere der Start, mit den tosenden Triebwerken und der enormen Beschleunigung, gefiel ihm.

Der Flug selbst langweilte ihn eher. Die rund 2.800 Kilometer, umgerechnet circa 1.750 Meilen, von Boston nach Denver legte die Maschine in viereinhalb Stunden zurück.

Eine lange Zeit, um sich zu langweilen. Er holte sich eine Zeitung, den CU Independent.

Es gab diverse Zeitschriften und Käseblätter vom Zielort, aber er interessierte sich mehr dafür, was die Studenten der Colorado University zu berichten hatten.

Ein Artikel betraf einen Streit um die Nutzungsrechte im Black River National Forest. Die gebildete Elite vertrat die Meinung, es handele sich um ein unantastbares Naturschutzgebiet. Dieser Auffassung schlossen sich einige Politiker an. Andere Volksvertreter, oder Volkstreter, die man vermutlich mit Geld überredet hatte, vertraten eher die Meinung, dass der sowieso schon durch den Käferbefall geschwächte Wald, einer zügigen Abholzung bedurfte, solange es nutzbare Bäume gab.

Das übliche Prozedere beinhaltete Unterlassungsklagen und Gegenklagen, das vermochte sich ewig hinzuziehen.

Lesen verkürzte die gefühlte Flugzeit erheblich. Außerdem lenkte es Ant von dem Kerl ab, der direkt neben ihm saß. Obwohl sie in der Business-Class gebucht hatten, waren die Sitze nicht sonderlich breit.

Neben Ant saß ein junger Mann, um die 20 Jahre alt, mit ordentlicher Kleidung und langem Haar. Gleich als sich der Typ gesetzt hatte, fiel Ant auf, dass die Hose des jungen Mannes seltsame Streifen aufwies.

Ant schenkte dieser Auffälligkeit zunächst keine weitere Aufmerksamkeit.

Während des gesamten Fluges lief diesem Kerl dann der Rotz aus der Nase. Ob es an der Luftdruckveränderung binnen der Luftreise lag, oder ob er einfach nur unter einer ausgeprägten Erkältung litt, vermochte niemand zu sagen. Für eine derart extreme Schnupfennase, bleiben normalerweise nur zwei Möglichkeiten.

Entweder der Rotz wird durch die Nase hochgezogen, oder er wird in ein entsprechendes Tuch geschnäuzt. Dieser Kerl konzipierte aber eine dritte Möglichkeit. Er lies die Schleimabsonderungen trivial nach unten, auf die Lippe laufen. Dann wischte er sich den Rotz mit der Hand weg, und rieb dann die Hand an seiner Kleidung trocken. Dieses Verhalten zelebrierte er den ganzen, langen Flug.

Als er keine freie Stelle mehr auf seiner Kleidung fand, schwenkte er um, und wischte er sich den Rotz in die langen Haare. Widerlich.

Sämtliche Streifen auf diesem Kerl bestanden aus getrockneten Körperabsonderungen.

Ant bog seinen Oberkörper, soweit er auf dem Sitz überhaupt die Möglichkeit fand, von dem Kerl weg. Stundenlang.

Folgerichtig bekam er durch diese verkrampfte Haltung Verspannungsschmerzen im Kreuz.

Die Landung empfand Ant wieder als etwas Besonderes. Beim Landeanflug musste sich das Flugzeug zunächst einreihen. Dazu flog der Pilot einige Bögen. In abwechselnder Schräglage erkannte er einzelne Häuser und Fahrzeuge, dann wieder die Berge im Hintergrund.

Ein leichtes Achterbahngefühl stellte sich ein. Dabei passte Ant immer auf, dass ihm sein Sitznachbar nicht zu nahe kam.

Dann setzte die Maschine butterweich auf, und der Pilot aktivierte den tosenden Gegenschub. Alles sehr aufregend für den Flugneuling. Als der gestreifte Sitznachbar ihm dann die Hand zum Abschiedsgruß entgegenstreckte, sprang Ant auf und verließ das Flugzeug auf schnellstem Weg.

Maria und Claus hatten ihren Wagen, bei der Hinreise, am Flughafen von Denver geparkt. Es handelte sich um eine alte Jaguar-Limousine.

Damit fuhren sie dann weiter Richtung Heimat, nach Coulder. Als sie ankamen, stellte Opa den betagten Schlitten in der Einfahrt ab.

Das Einfamilienhaus, nicht mehr das jüngste, aber anständig gepflegt, verbreitete einen manierlichen Eindruck.

Es lag in South-Coulder, in einem Ortsteil mit einem seltsamen Namen.

Satans-Toe-Rolling-Hill. Eine reine Wohngegend. Der Straßenname bezog sich dagegen auf die nahen Berge, die Wildcreek Street.

Da die Sommerferien kurz bevorstanden, hatten seine Großeltern ihn für das nächste Schuljahr, sein Abschlussjahr, in der Mountainview-High-School, in der Bluebriar Road, direkt in der näheren Umgebung, angemeldet.

Coulder, eine malerische, überschaubare Stadt, hatte sogar eine Universität aufzubieten. Auf den Straßen traf man viele junge Leute, in Ants Alter, an. Sperling müsste man sein. Aus bekannten Gründen hatte er aber vor, sich besser aus etwaigen Kontakten herauszuhalten.

Das großräumige Haus hatte eine kleine Diele, in der sich die Garderobe befand. Hier konnte man ablegen, bevor sich vor einem das große Wohnzimmer ausbreitete. Als Blickfang fiel, gleich nach dem Betreten, ein offener Kamin auf, über dem ein Hirschgeweih thronte.

Fast wie in einer Jagdhütte. Unter dem Geweih lag ein Jagdgewehr lose in einer Halterung. Opa Claus frönte offensichtlich dem Hobby der Jagd. Ant fragte nach:

„Dieses Geweih dort über dem Kamin. Hast du den Hirsch selbst erlegt, Opa?“

Opa Claus strahlte mit stolzgeschwellter Brust:

„Natürlich mein Junge. Ich habe früher oft gejagt. Aber seit meine Jagdkumpel entweder tot oder zu krank sind, habe ich dieses Hobby aufgegeben. Eines schönen Tages könnten doch wir einmal zusammen auf die Jagd gehen? Wälder gibt es hier genug in der Gegend.“

„Ja, eines schönen Tages vielleicht, Opa. Aber jetzt müßte ich zuerst einmal eine Toilette aufsuchen.“

„Gleich da vorn, rechts neben der Diele, ist unser Gästeklo. Du hast aber auch ein eigenes Badezimmer, in deinem Zimmer, oben im ersten Stock.

Soll ich es dir zeigen?“

„Nein, nein, Opa, ich werde es schon finden, so viel Zeit habe ich schon noch.“

Ant strebte die Treppe nach oben. Das Wohnzimmer stand zum ersten Stock hin offen.

Sobald er oben ankam, erreichte er dort eine umlaufende Galerie mit einer Balustrade, die zu den Schlafzimmern führte. Seine Großeltern waren vom Wohnzimmer aus in der Lage, ihn zu beobachten und anzuzeigen, wann er vor der richtigen Tür, seinem neuen Zimmer, ankam. Er winkte freundlich über die Brüstung nach unten und öffnete die Tür.

Sein Zimmer, mehr als 20 qm groß, um einiges geräumiger als sein bisheriges Kinderzimmer in Port Ryan, verfügte über einen begehbaren Schrank. Gegenüber lag die Tür zu seinem eigenen Badezimmer. Die gehobene Ausstattung beinhaltete einen Waschtisch, eine bodengleiche Dusche und ein WC. Die Wand gegenüber der Tür war komplett verglast, und bot einen famosen Panoramablick Richtung Norden, auf die nahen Berge.

Ein kleiner, vor die Fensterfront gesetzter Balkon, rundete den ansprechenden Eindruck ab. Die Fensterseite konnte mittels Innenrollos abgedunkelt werden. Praktisch, falls Ant einmal vor hatte, länger zu schlafen. Zunächst bog er aber in sein Bad ab, um sich der aufgestauten Flüssigkeiten zu entledigen. Danach wusch er sich die Hände, das Wasser perlte weich aus dem Hahn, alles funktionierte einwandfrei. Einfach perfekt, wie für ihn gebaut.

Als er strahlend aus dem Zimmer ans Geländer trat, standen seine Großeltern nach wie vor zusammen, Arm in Arm, im Wohnzimmer und lächelten nach oben. Oma Maria fragte nach:

„Na, wie gefällt dir dein neues Zuhause? Glaubst du, du kannst es hier bei uns aushalten?“

Ant grinste und nickte:

„Vielleicht muß ich noch ein bisschen umdekorieren, aber es ist wirklich sehr schön.“

„Freut mich“, erwiderte Oma.

„Wir haben uns überlegt, du hast doch noch drei Monate Zeit, bis du in der neuen Schule anfängst. Wir können dir also in Ruhe die Stadt, deinen Schulweg, die Umgebung, alles zeigen. Aber jetzt komm erstmal herunter, wir müssen dir noch etwas geben.“

„Was denn, Oma?“

„Das wirst du schon sehen, komm erst einmal herunter.“

Ant lief die Treppe hinunter. Seine Großeltern standen weiterhin Arm in Arm zusammen und lächelten ihn an. Opa brach das ominöse Schweigen:

„Oh, Mann, jung müßte man noch sein. Wie lange ist das her, dass ich die Treppe herunter hüpfte wie du? Also, komm mal mit, dort durch diese Seiteneingangstür.“

Er zeigte Richtung Küche. Ant schritt interessiert voran, die Großeltern folgten ihm.

Von der Küche aus führte eine Tür, über einen kleinen Flur, in Richtung Garage.

So war es möglich, die Lebensmitteleinkäufe bei miesem Wetter, direkt in der trockenen Garage auszuladen und in die Küche zu bringen. Jetzt drängelte sich Opa vor, öffnete die Tür und bedeutete Ant mitzukommen. Er drückte auf den Toröffnerknopf, und das helle Tageslicht flutete die Garage.