A Fragile Enchantment - Allison Saft - E-Book

A Fragile Enchantment E-Book

Allison Saft

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Beschreibung

»IST DAS EIN TRAUM?«
»ICH WEISS NICHT. KÜSSEN WIR UNS BIS ZUM MORGENGRAUEN UND FINDEN ES HERAUS.«

Niamh Ó Conchobhair hat eine magische Gabe: Sie kann Erinnerungen und Emotionen in Stoffe einweben und kreiert so verzauberte Kleidung, die sogar die Aufmerksamkeit des Herrschers des Nachbarkönigreichs Avaland weckt. Sie wird eingeladen, die Garderobe für die anstehende Hochzeit des Prinzen zu gestalten. Am Hof angekommen lernt Niamh den angehenden Bräutigam Kit Carmine persönlich kennen - und gerät direkt mit dem grüblerischen und sturen jungen Mann aneinander. Doch trotz ihres holprigen Starts entwickelt sich mit der Zeit eine ganz besondere Verbindung zwischen ihnen, die auf keinen Fall sein darf und von der ausgerechnet die Klatschpresse erfährt ...

»Eine magische Geschichte vom An-sich-selbst-Glauben, die einem das Gefühl gibt, nach einer langen Reise endlich am richtigen Ort, bei den richtigen Menschen, angekommen zu sein.« ZWISCHEN.PRINZEN.UND.BADBOYS

Der neue Roman der NEW-YORK-TIMES-Bestseller-Autorin Allison Saft

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Seitenzahl: 534

Veröffentlichungsjahr: 2025

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INHALT

Titel

Zu diesem Buch

Leser:innenhinweis

Widmung

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Danksagung

Die Autorin

Die Romane von Allison Saft bei LYX

Impressum

Allison Saft

A Fragile Enchantment

Roman

Ins Deutsche übertragen von Antje Görnig

ZU DIESEM BUCH

Ihre magische Gabe befähigt Niamh Ó Conchobhair dazu, Erinnerungen und Emotionen in Stoffe einzuweben. Sie kreiert auf diese Weise einzigartige Kleidungsstücke, die beim bloßen Anblick intensive Gefühle im Betrachter auslösen und selbst das schüchternste Mauerblümchen erstrahlen lassen. Auch im Nachbarkönigreich Avaland erfährt man von ihren Kräften und macht Niamh ein Angebot, das sie nicht ausschlagen kann: Sie soll die Garderobe für die anstehende Hochzeit des Prinzen gestalten und dafür reichlich entlohnt werden. Kaum am Hof angekommen, lernt Niamh jedoch, dass die Welt des Adels alles andere als märchenhaft ist. Nicht nur die politischen Spannungen zwischen ihrem Heimatland und Avaland machen sich schnell bemerkbar, auch der Einfluss der Klatschpresse ist allgegenwärtig. Umso größer der Schock also, als genau diese mitbekommt, dass Niamh und der angehende Bräutigam Kit Carmine sich näherkommen. Denn obwohl Niamh immer wieder mit dem sturen und grüblerischen jungen Mann aneinandergerät, entwickelt sich auch etwas ganz Besonderes zwischen ihnen, etwas, das auf keinen Fall sein darf …

Liebe Leser:innen,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.

Deshalb findet ihr hier eine Triggerwarnung.

Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch!

Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.

Euer LYX-Verlag

Für alle, die jeden Tag nehmen, wie er kommt.

1

Als Niamh auf dem Schiffsdeck an die Reling trat, beschlich sie das bange Gefühl, etwas vergessen zu haben.

Sie hatte ihre besten Stücke in Seidenpapier eingeschlagen, ihre Garnspulen und die Stoffschere eingepackt und, was am wichtigsten war, die Einladung sicher in ihrer Handtasche verstaut. Das war alles. Bestimmt. Doch ganz sicher konnte sie nicht sein, denn es war noch nie ihre Stärke gewesen, zu wissen, was gerade wo war. Und so ungern sie es auch zugab (und obwohl sie insgeheim davon überzeugt war, dass sich in diesem Beutel tatsächlich ein Portal zu einem seltsamen Reich befand, in dem es nichts als abgebrochene Bleistifte und ein wenig Kleingeld gab), ließ sich die Wahrheit nicht bestreiten: Alles, was ihr lieb und teuer war, von ihrer Lieblingsschere bis hin zu kostbaren Jahren ihres Lebens, neigte dazu, ihr zu entgleiten.

Es konnte nicht schaden, noch einmal nach der Einladung zu schauen.

Niamh kramte in ihrem kleinen Beutel und seufzte erleichtert, als sie den Brief fand. Die Ränder rollten sich in der feuchten Meeresluft ein, und das Pergament wirkte alt und vergilbt, doch in Wirklichkeit hatte sie nur mehrere Male Tee darüber verschüttet. Inzwischen hatte sie ihn sich ins Gedächtnis eingeprägt, von dem unversehrten Wachssiegel der Königsfamilie, das vom vielen Anfassen schon ganz glatt war und glänzte, bis hin zu dem mit Tinte geschriebenen Inhalt.

Verehrte Niamh Ó Conchobhair,

Sie sind herzlich als Ehrengast der königlichen Familie nach Avaland eingeladen, um als königliche Schneiderin für die Hochzeit Seiner Königlichen Hoheit Prinz Christopher, Herzog von Clearwater, mit Ihrer Königlichen Hoheit Rosa de Todos los Santos de Carrillo, Infantin von Kastilien, zu dienen …

Sie konnte es immer noch nicht fassen. Sie, ein iverisches Mädchen aus einem Nest wie Caterlow, als Schneiderin für die königliche Hochzeit. Endlich machte sich ihre harte Arbeit bezahlt.

Zwei Jahre zuvor war eins der Dorfmädchen, Caoimhe Ó Flaithbertaigh, nach Avaland gereist, um eine entfernte Verwandte zu besuchen, und als sie auf einem Ball eins von Niamhs Kleidern getragen hatte – ein reizendes gelbes Seidenkleid, bestickt mit Metallfaden und verzaubert mit Frühlingserinnerungen –, hatte sie sich den begehrtesten Junggesellen der Saison geangelt, den jungen Herzog von Aspendale. Seither waren kontinuierlich Kundinnen aus Avaland zu Niamh gekommen, um eine Kostprobe von jener Magie zu erhalten, die eine einfache Iverin zur Herzogin gemacht hatte. Niamh hatte Kleider für Adlige gefertigt, die sich verzweifelt wünschten, dass ihre unscheinbaren Töchter unwiderstehlich wurden, für junge Damen, die darauf aus waren, einen Adligen zu heiraten, und für Matronen, die sich an ihre verblasste Schönheit klammerten. All deren Ambitionen hatten Niamhs Familie in den vergangenen zwei Jahren über Wasser gehalten, so gerade eben. Denn in Iverland konnten sich nur noch wenige Leute mit dem Ó-Conchobhair-Zauber belegte Kleider leisten.

Doch nun musste Niamh sich keine Sorgen mehr um ihre erblindende Mutter mit ihren geschwollenen Gelenken und um ihre Großmutter machen, die von Tag zu Tag zerbrechlicher und verbitterter wurde, und auch nicht um das Strohdach, das dringend erneuert werden musste, oder um das von dem Nachbarjungen Cillian und seiner Ziege beschädigte Fenster. Durch ein Wunder war der Prinzregent von Avaland auf ihre Arbeit aufmerksam geworden.

Als Schneiderin für die königliche Hochzeit würde sie genug Auftrieb erhalten, um ein eigenes Geschäft im Zentrum der Hauptstadt von Avaland zu eröffnen, und genug Geld, um Mutter und Großmutter den Umzug von Iverland in ein behagliches Stadthaus zu ermöglichen. Die beiden würden nie wieder arbeiten und leiden müssen. Es war eine einmalige Gelegenheit.

Niamh wünschte nur, sie würde sich nicht so furchtbar egoistisch fühlen, weil sie sie ergriffen hatte.

Als sie ihre Großmutter über ihre Abreise in Kenntnis gesetzt hatte, hatte diese sie angesehen, als wäre sie verrückt geworden. Dein Großvater ist im Kampf gegen die Avaländer gefallen, da er sicherstellen wollte, dass du ein Leben hier in Iverland hast. Dich und deine Magie wollten diese Unmenschen auslöschen. Und nun willst du deine Gabe benutzen, um Kleider für sie zu machen? Über diese Schande werde ich nicht hinwegkommen.

Schande über ihre Familie zu bringen war das Letzte, was Niamh wollte. Jeden Tag ihres Lebens war sie daran erinnert worden, wie glücklich sie sich schätzen konnte, frei auf iverischem Boden zu leben, und wie viel sie Menschen wie ihrem Großvater zu verdanken hatte. Eine brave, gehorsame Enkelin hätte die Einladung auf der Stelle zerrissen. Sie hätte sich dafür entschieden, jemanden zu heiraten, der ihr Stabilität schenken konnte – und Kinder, die möglicherweise die Magie erbten, die durch ihre Adern strömte. Glücklich würde sie auf diese Weise vielleicht nicht werden, aber zumindest würde ihre Kultur eine weitere Generation fortbestehen.

Doch in dem Moment, mit dem Brief des Prinzregenten in den Händen, konnte sich Niamh nicht mit Gehorsam zufriedengeben. Ob es der Großmutter gefiel oder nicht, ob sie damit Verrat an ihren Vorfahren beging oder nicht, sie musste sich auf die einzige ihr mögliche Weise um ihre Familie kümmern.

Sie musste zurückzahlen, was sie ihr schuldig war.

Niamh steckte den Brief weg und hielt ihr Gesicht in den salzigen Wind. Vor ihr kräuselte sich die Iverische See wie ein Streifen grauen Tuchs, und der Schaum auf der Oberfläche mutete an wie ein Spitzenbesatz. Das im frühmorgendlichen Licht glitzernde Wasser kam ihr so unendlich vor wie ihre Möglichkeiten.

»Wir erreichen Sootham in zehn Minuten!«, rief ein Schiffsjunge. »Noch zehn Minuten bis Sootham!«

Sie erschrak und stieß mit der Hüfte gegen die Reling. »Aua …«

Der Schmerz verging rasch, als sie den Blick auf die Stadt richtete, die sich aus dem Meer erhob. Der Nebel, so weiß und zart wie ein Brautschleier, zog sich von der Küste zurück, und die ersten Sonnenstrahlen erhellten die gezackte Silhouette. Niamh zitterte regelrecht vor Vorfreude und umklammerte die Reling, um sich davon abzuhalten, das restliche Stück bis zum Ufer zu schwimmen.

Als das Schiff endlich anlegte und von den Hafenarbeitern am Pier festgemacht wurde, sammelte sie ihre Sachen zusammen und hielt auf die Gangway zu. Ihre Mitreisenden drängten sich schubsend und schreiend um sie. Mehr Menschen, als sie in ihrem ganzen Leben gesehen hatte, strömten auf das Deck. Leute, die ihre weinenden Babys an ihrer Brust bargen. Magere Kinder an den Röcken ihrer Mütter. Und Mädchen ihres Alters mit Dreck unter den Fingernägeln und eisernem Blick, die durch sie hindurchsahen. Sie alle rochen nach Verzweiflung und Hoffnung. Sie hatten ihre Heimat und ihre Familien hinter sich gelassen, um in Sootham Arbeit zu suchen. Zum ersten Mal befürchtete Niamh, dass ihre Großmutter recht hatte. Vielleicht hatte sie wirklich nicht gelernt, wie grausam die Welt war.

Sie bemühte sich nach Leibeskräften, nicht in dem Gedränge zwischen Schultern und Koffern unterzugehen. Irgendwann verlor sie komplett den Bodenkontakt. Der ranzige, stechende Geruch der zahllosen Körper war beinahe unerträglich, und als sie schließlich die Gangway erreichte, wankte sie, als wären sie noch weit draußen auf dem Meer.

Während sie unsicher ihren Weg fortsetzte, krallte sie ihre Finger in die feuchten, zerfransten Seile, zwischen denen sie eingepfercht waren. Trotz ihrer Verwirrung gelang es ihr, über die Ratten hinwegzusteigen, die über den Laufgang huschten, und widerstand wie durch ein Wunder dem Impuls, sich bei ihnen zu entschuldigen. Dann hatte sie endlich festen Boden unter den Füßen. Sie sah auf – und überlegte, ob sie das falsche Schiff bestiegen hatte.

Das Sootham, das sie am anderen Ende des Piers erwartete, entsprach nicht ihren Erwartungen. Wo war der Glanz? Wo waren die weitläufigen Parks und geschäftigen Straßen? Die eingefallenen Häuser hier sahen aus, als könnten sie sich kaum aufrecht halten. Der Gestank von Brack- und Abwasser umwehte sie.

Nein, es musste Sootham sein. Aber wenn sie den Weg zum Palast nicht finden konnte, wohin sollte sie dann gehen? Sie hatte nicht genug Geld für die Heimreise – nicht, dass eine Heimreise überhaupt zur Debatte stand. Sie konnte es nicht mehr mit ansehen, wie ihre Mutter nächtelang durcharbeitete und ohne Magie, aber entschlossen, im Lampenschein des Ladens nähte und wie sehr selbst der einfachste Zauber ihre Großmutter erschöpfte. Es war nun ihre Aufgabe, für den Lebensunterhalt der beiden zu sorgen. Sie war stark genug, um diese Aufgabe zu schultern.

Niamh holte tief Luft, um sich zu beruhigen, und spähte in das Grau des frühen Tages. Da! Nicht weit entfernt entdeckte sie eine Kutsche im trüben Schein einer Straßenlaterne. Sie war unauffällig, doch wunderschön, und die elegante schwarze Lackierung glänzte sogar im Dunst. An der Seite prangte das königliche Hoheitszeichen in Rubinrot und funkelndem Gold: eine Rose, deren Blütenblätter mit goldenen Tröpfchen besetzt waren. Sie kam ihr fast vor wie eine Kutsche aus dem Märchen, die, sobald sie wegsah, im grausamen Tageslicht in einen Kürbis zurückverwandelt, zu Boden sinken würde.

Als sie nähertrat, kletterte ein Diener herunter. Mit seiner ernsten Miene, unglaublich hochgewachsen und in der eleganten Livree gab er eine stattliche Erscheinung ab. Niamh erschauderte. Wie er so dort im Laternenschein vor der Kutsche stand, sah er wie ein Wesen aus dem Feenreich aus, bereit, sie in die Anderswelt zu holen. Er sah mit kalten blauen Augen auf sie herab und fragte schließlich mit allergrößter Herablassung: »Miss Niamh O’Connor?«

Offensichtlich hatte er sie sich anders vorgestellt. Niamh unterdrückte das Bedürfnis, ihr Haar zu glätten und ihre Röcke zu richten. Die vier Tage auf See hatten ihr gewiss nicht gutgetan. Sie schenkte ihm ein gewinnendes Lächeln. »Das bin ich.«

Er nahm ihr den Koffer ab und hielt ihn, als hätte er eine streunende Katze beim Schlafittchen gepackt. »Nun, dann sollten Sie wohl besser mit mir kommen.«

Der Königspalast mit seinen langen Fensterreihen und der von gewaltigen Säulen getragenen Vorhalle erstrahlte in schimmerndem Weiß. Er wirkte wie aus der alten Welt, makellos und klar umrissen und absolut beeindruckend. Sein Anblick raubte ihr den Atem. Er war prachtvoll, doch in Wahrheit schmerzte es, ihn anzusehen. Im unbarmherzigen Sonnenlicht blitzte und glänzte alles.

»Wow«, hauchte sie und presste ihr Gesicht an die kalte Fensterscheibe der Kutsche.

Wie konnte es nur so viel Reichtum in dieser Stadt geben? Sie konnte nicht fassen, dass sie die Saison über hier leben würde. Wenn sie Glück hatte, begegnete sie vielleicht jemandem, den sie von zu Hause kannte. Wie sie gehört hatte, sollte auch ihre Freundin Erin Ó Cinnéide in den Palast versetzt werden. Wie herrlich wäre es, sie nach so vielen Monaten der Trennung wiederzusehen.

Jede Adelsfamilie stellte für die Ballsaison ungeheuer viele Aushilfen ein, und die meisten von ihnen kamen aus Iverland. Wie Niamh aus den Briefen ihrer Freundinnen erfahren hatte, war es schwere Arbeit, doch wenigstens war es Arbeit. Iverland hatte zwar seine Unabhängigkeit, aber viel mehr auch nicht. Die Felder erholten sich noch von der Fäule und die Menschen von ihren Verlusten. Fast alle, mit denen Niamh aufgewachsen war, hatten Caterlow verlassen und verfolgten ihre Träume von einem besseren Leben jenseits der Iverischen See.

Die Kutsche hielt vor dem Palast an, und Niamh sah eine Frau – die Haushälterin, wie sie vermutete – mit hinter dem Rücken verschränkten Armen an der Tür stehen. Mit ihrem tristen schwarzen Kleid wirkte sie in all dem blendenden Weiß wie ein Fremdkörper.

Der Diener sprang von der Kutsche herunter und öffnete die Tür für Niamh. Ein anderer, der auf der Auffahrt gewartet hatte, nahm ihre Sachen. Er trug ihr gesamtes Gepäck davon, bevor sie ihm danken konnte. Kaum war sie aus der Kutsche gestiegen, fühlte sie sich völlig überfordert. Ohne ihren Koffer wusste sie nicht, was sie mit ihren Händen machen sollte. Trotz ihrer Verwirrung war es irgendwie das Einzige, worüber sie sich Gedanken machte. Sie ging die Treppe zum Eingang hoch und gab sich alle Mühe, nicht beim Anblick der herrlichen Gärten und der eindrucksvoll verwitterten Statuen im Hof zu verweilen. Doch als die Haushälterin sie ins Visier nahm, blieb sie ruckartig stehen.

Die Haushälterin war eine Respekt einflößende Frau, nicht älter als ihre Großmutter, aber gebaut wie ein Zugpferd. Ihr Haar war streng zurückgebunden, ihre Miene noch viel strenger. Niamh hatte das Gefühl, sie wolle sie mit Blicken erdolchen. Sie wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Erin arbeitete in einem herrschaftlichen Haus, und in ihren Briefen war zwar jede Menge über Hofklatsch und adlige Verstrickungen zu lesen, doch Niamh hatte diesen Dingen nicht viel Beachtung geschenkt. Allmählich wurde ihr klar, dass sie es besser getan hätte.

Sie machte einen Knicks. »Freut mich, Sie kennenzulernen. Ich bin Niamh Ó Conchobhair.«

Sie erhielt keine Antwort. Als sie es schließlich wagte, wieder aufzusehen, schaute die Haushälterin sie missbilligend an. »Können Sie etwas gegen Ihren scheußlichen Dialekt tun?«

Niamh war fassungslos. Ihre Großmutter hatte sie gewarnt, dass die Avaländer ebenso viele Ressentiments hatten wie die Iverer. Allerdings hatte sie nicht damit gerechnet, dass sich ihre Verachtung so deutlich zeigte. »Leider nicht, werte Dame. Verzeihung.«

»Schade.« Die Haushälterin schnalzte mit der Zunge. »Sie dürfen mich Mrs Knight nennen. Seine Königliche Hoheit, der Prinzregent, möchte Sie sehen. Er wünscht einige Dinge hinsichtlich Ihrer Beschäftigung zu besprechen.«

Niamh richtete sich kerzengerade auf. Der Prinzregent von Avaland wünschte sie zu sehen? Wegen ihrer Arbeit? Die Haushälterin konnte sie doch gewiss über alles ins Bild setzen, was ihren Aufenthalt betraf. »Mich? Sind Sie sicher?«

»Ziemlich«, entgegnete selbige unbewegt. »Seine Hoheit legt Wert darauf, in die Haushaltsführung eingebunden zu sein. Er ist ein besonderer Mann.«

Nun begriff Niamh. Mit »besonders« meinte sie, dass er sich in alles einmischte. Doch wenn er es für nötig hielt, sich mit den Angelegenheiten einer iverischen Schneiderin zu befassen, konnte sie sich nicht vorstellen, wie er ein ganzes Land regierte.

Sie wusste wenig über die königliche Familie. Nur dass es acht Jahre zuvor mit der Gesundheit des Königs bergab gegangen war und er sich seitdem aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen hatte. Seine Frau war vor vier Jahren bei einem tragischen Unfall verstorben. Ihr ältester Sohn, Prinz Jack, war vom Parlament zum Regenten bestimmt worden, bis sich sein Vater erholte oder – was die Götter verhüten mochten – starb. Über seinen jüngeren Bruder Christopher wusste Niamh gar nichts, nur dass er in einem Monat heiraten sollte.

Doch wenn der Prinzregent ein besonderer Mann war, konnte sie ihm nicht in diesem Zustand gegenübertreten. Nach vier Tagen auf dem Schiff roch sie, gelinde gesagt, streng. Allein die Götter wussten, wie ihr Haar aussah. Es war inzwischen sicherlich mehr verknotet als geflochten. »Ich fürchte, ich bin nicht vorzeigbar …«

»Das ist offensichtlich. Allerdings gefällt es Seiner Königlichen Hoheit nicht, warten gelassen zu werden, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat. Kommen Sie mit.«

Die Haushälterin betrat, ohne auf eine Antwort zu warten, das Gebäude. Niamh folgte ihr – und blieb wie angewurzelt im Eingang stehen. Jenseits desselben lag eine völlig andere Welt, so schillernd und ungewohnt wie Domhan Síoraí, die Ewige Welt.

»Oh«, hauchte sie.

Der Palast übertraf ihre kühnsten Vorstellungen. Alles war elegant und opulent, von der mit Schnitzereien verzierten Wandvertäfelung bis zu den hellen Polstermöbeln und Gardinen. Sämtliche Einrichtungsgegenstände glänzten: hier ein Kissen mit goldenem Muster, da ein Stuhlbein mit einem Löwenkopf aus Messing. Und das Palisander-Fischgrätparkett auf dem Boden … Es verdiente eine Entschuldigung, weil es die Sohlen ihrer schmutzigen Reisestiefel aushalten musste.

»Keine Zeit zum Gaffen«, sagte die Haushälterin und marschierte einen Flur hinunter.

»Verzeihung!«

Alle Wetter, die Frau hatte ein gehöriges Tempo. Niamh hatte Mühe, mit ihr Schritt zu halten. Die Diener, an denen sie vorbeigingen, sprangen zur Seite und nahmen Haltung an. Einige von ihnen verbeugten sich sogar, als wäre Mrs Knight der Prinzregent höchstpersönlich. Andere hingegen musterten sie mit unverhohlener Feindseligkeit. Niamh stutzte und heftete den Blick auf die angespannten Schultern der Frau. Es gab wohl keine Vorgesetzten, die allseits beliebt waren.

Schließlich blieb sie vor einer Tür stehen, die doppelt so groß war wie Niamh. Darüber war die Figur eines goldenen Habichts mit ausgefahrenen Krallen angebracht. Sie fand sie ziemlich übertrieben, aber ihre Bedeutung blieb ihr nicht verborgen.

»Seine Hoheit wird Sie hier empfangen«, sagte die Haushälterin. »So reden Sie ihn auch an und anschließend mit ›gnädiger Herr‹. Haben Sie verstanden?«

Niamh nickte. Herablassung war ihr noch nie angenehm gewesen. Ihr Magen zog sich zusammen, und ihre Kehle war staubtrocken. Sie konnte nur hoffen, dass sie sich nicht auf den schönen Teppich erbrechen musste. Dann würde sie höchstwahrscheinlich nach Caterlow zurückgeschickt – oder direkt ins Schuldgefängnis.

Beruhige dich, ermahnte sie sich, genau wie ihre Großmutter es ihr tausendmal gesagt hatte. Wenn du ruhig bist, machst du weniger Fehler. Sie wippte auf den Zehen und schüttelte ihre Hände aus, um ihre Nervosität zu vertreiben. Dann betrat sie mit einem tiefen Atemzug das Gesellschaftszimmer.

Sie öffnete den Mund, um sich anzukündigen – und stolperte prompt über eine Beule im Teppich. Sie unterdrückte einen überraschten Aufschrei und konnte sich gerade noch fangen, sonst wäre sie kopfüber in eine Blumenschale gestürzt.

»Geht es Ihnen gut?«, fragte ihr Gastgeber, Seine Königliche Hoheit, der Prinzregent von Avaland, mit leiser Besorgnis.

Ihre Wangen brannten vor Scham. »Ja, Eure Hoheit. Danke.«

Als sie wieder aufzusehen wagte, hatte er sich erhoben. Sie schätzte ihn auf höchstens dreißig, doch mit seinem harten, mürrischen Habitus wirkte er zwanzig Jahre älter. Sein dunkelbraunes Haar war penibel glatt gekämmt. Keine einzige Strähne tanzte aus der Reihe. Sein Frack war schlicht und schwarz, in perfekten geraden Linien geschnitten. Nicht einmal sein Trauring, ein einfacher Goldreif, zeigte Abnutzungsspuren. Alles an ihm – von den hochgezogenen Augenbrauen bis zu den scharf geschnittenen Wangenknochen – schrie förmlich Ordnung. Er wirkte wie ein aus Marmor gemeißelter Mann, der sich in einem Palast aus längst vergangenen Zeiten ganz und gar wohlfühlte.

Es war jedoch der junge Mann neben ihm, der Niamhs Aufmerksamkeit auf sich zog. Er war in ihrem Alter, nicht älter als achtzehn. Im Morgenlicht glomm in seinen goldenen Augen eine gewisse Feindseligkeit auf. Und als sich ihre Blicke kreuzten, dachte sie, ihr bliebe das Herz stehen, und sie musste sich auf die Rückenlehne eines Sessels stützen.

Seine Gesichtszüge waren so scharf und stählern wie eine Klinge, geradezu … Nun, sie würde ihn gefährlich nennen, doch in Wahrheit war er spindeldürr. Sie könnte ihn entzweibrechen, wenn sie wollte. Er trug einen schwarzen Frack mit sonderbar gekerbtem Revers, eine dunkelgraue Seidenweste und ein schlicht geknotetes Halstuch. Sie hatte nicht viel für eine monochrome Farbpalette übrig – was Tageskleidung betraf, war sie ziemlich unmodern, um nicht zu sagen langweilig –, aber seine Kleidung war so perfekt geschnitten, dass sie es halb so schlimm fand. Sein Haar, so schwarz wie feuchte Erde, war in seinem Nacken zu einem Knoten gebunden.

Er war der schönste Mann, den sie jemals gesehen hatte.

Doch als er den Mund öffnete, war ihre Faszination schlagartig dahin.

»Wer sind Sie?«, fragte er mit eisigem Hochmut.

2

Niamh dachte, sie hätte sich verhört.

Oder hatte er einen Scherz gemacht? Ja, so musste es sein. Niemand, schon gar kein Adliger, konnte so dermaßen unhöflich sein. Doch als sie sich zu einem Lächeln zwang, wurde es nicht besser. Der junge Mann stand mit verschränkten Armen da und musterte sie kritisch. In seinen Augen lag ein herausforderndes, provokantes Funkeln – eine offensichtliche Falle.

Nur ein Dummkopf würde hineintappen.

»Niamh Ó Conchobhair.« Sie machte einen tiefen Knicks und hoffte, dass sie sich richtig verhielt. Warum hatte sie nicht zugehört, als Erin von den Feinheiten der gehobenen Kreise Avalands und ihren absurden Förmlichkeiten erzählt hatte? »Es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen.«

Doch damit war seine Frage offenbar nicht beantwortet. Sofern es überhaupt etwas bewirkte, steigerte es seine Missbilligung noch. »Bestimmt«, sagte er säuerlich und wandte sich wieder dem Prinzregenten zu. »Warum bin ich hier?«

»Das«, sagte der Prinzregent mit kaum verhohlener Verärgerung, »ist deine Schneiderin, Kit.«

Deine Schneiderin. Ihr wich die Farbe aus dem Gesicht, als ihr bewusst wurde, wen sie vor sich hatte. Dieser entsetzliche, ungehobelte Mann war der Bruder des Prinzregenten. Der zweite Sohn des Königs von Avaland. Prinz Christopher, der Herzog von Clearwater. Der Bräutigam.

Er würdigte sie keines Blickes. »Ah. Dies ist also ein Hinterhalt.«

»Mir war nicht klar, dass es eine solche Zumutung für dich sein würde, wenn ich sie dir vorstelle.« Der Prinzregent senkte die Stimme. »Du musst mir verzeihen, dass ich dachte, du würdest gern mit ihr sprechen, bevor ich sie bei dir Maß nehmen lasse.«

»Warum solltest du auch etwas anderes denken?«, entgegnete Kit geradezu rebellisch. Aus jeder Silbe sprach Unmut. »Ich unterstehe deinem Befehl.«

In diesem Moment hörte Niamh Keramik reißen – und ein trockenes Splittern, als Scherben auf dem Boden aufschlugen. Sie drehte sich um und erschrak zu Tode. Die Stechpalme in der Ecke hatte angefangen zu glimmen, die Blattadern leuchteten golden vor Magie. Die Wurzeln bohrten sich durch die Sprünge in dem Kübel. Neue Triebe brachen hervor und bildeten perfekte geometrische Formen. Der Zorn des Prinzregenten war anscheinend so geordnet und penibel wie der Rest von ihm.

Während Niamh sich von dem Schreck erholte, betete sie, dass sie nicht mit offenem Mund dagestanden hatte. Mit jeder neuen Generation verschwand die Magie etwas mehr aus der Welt, und auf eine so mächtige Magie traf man derzeit nur noch selten.

Sie war mit Horrorgeschichten über die Macht der avlischen Königsfamilie aufgewachsen. Wie sie durch Auslaugung des Bodens die Fäule verursacht hatte. Wie während des Iverischen Unabhängigkeitskrieges Gestrüpp aus der Erde geschossen war, dessen Dornen, lebendigen Bajonetten gleich, die Soldaten erstochen hatten. Niamh hatte diese Erzählungen immer für übertrieben gehalten. Nun war sie sich nicht mehr so sicher, wozu die Carmines imstande waren.

Wie hatte der Vater des Prinzregenten eine solche Kraft so grausam einsetzen können? Hätte er es nicht getan, wäre ihre Familie vielleicht nicht derart in Not geraten. Vielleicht wären weniger Angehörige ihres Volks dazu verdammt gewesen, wie sie dieses Schiff zu besteigen. Vielleicht hätte sie nicht alles hinter sich lassen müssen, um für ihre Liebsten zu sorgen. In ihr stieg plötzlich eine solche Wut auf, dass sie selbst ganz erschrocken war.

Doch der Prinzregent schien viel zu sehr mit seinem Bruder beschäftigt, um ihr Beachtung zu schenken. Seufzend ließ er die Luft zwischen den Zähnen entweichen. Die goldenen Funken in seinen Augen verschwanden, und er war wieder die Gelassenheit in Person. Wie durch Zauberkraft heraufbeschworen, löste sich ein Diener aus den Schatten und zog eine Schere aus seiner Brusttasche. Er machte sich daran, die Stechpalme auf eine überschaubare Größe zu stutzen. Das stetige Schnippschnapp zerriss die Stille. Ein weiterer Diener erschien, um die Scherben des Kübels aufzufegen, und verschwand binnen Sekunden wieder.

»Wir werden dieses Gespräch in Kürze beenden. Unter vier Augen.« Der Prinzregent, der offenbar noch nicht mit Kit fertig war, wandte sich Niamh zu. Seine Miene war unerträglich ernst, als würde er mit einer in ihrer Ehre verletzten Dame von edler Abkunft sprechen und nicht mit einem iverischen Mädchen. Nachdem ihre Gedanken gerade eben eine so finstere Wendung genommen hatten und sie schon so herablassend von seiner Haushälterin behandelt worden war, brachte es sie aus der Fassung. »Es tut mir furchtbar leid, Miss O’Connor. Mein Bruder hat sich vergessen.«

Kit gab ein Geräusch von sich, das kein richtiges Lachen war. »Was immer du mir zu sagen hast, kannst du hier und jetzt sagen.«

Empörung wallte in ihr auf. Sie war ein Mensch, kein Möbelstück und keine Schachfigur in seinem lächerlichen Stellvertreterkrieg. Er sollte sich hüten, seinen Bruder – den faktischen Herrscher des Königreichs – vor einer Fremden mit einer derart unverfrorenen Respektlosigkeit zu behandeln. Bevor sie es sich anders überlegen konnte, sagte sie: »Dann sind Sie also nicht an Mode interessiert?«

Die Luft vibrierte vor Spannung. Beide Prinzen sahen sie überrascht an, und sie tat ihr Bestes, um nicht unter ihren Blicken zu vergehen.

Oh Götter. Was hatte sie getan?

Kit setzte abermals eine abweisende Miene auf. »Nein, das halte ich für Zeitverschwendung.«

Seine knappe Zurückweisung verblüffte sie. Er bemühte sich nicht einmal der Form halber um Höflichkeit und würdigte ihre Lebensaufgabe herab. So heiter, wie es ihr möglich war, entgegnete sie: »Ich für meinen Teil habe eine rechte Leidenschaft dafür.«

»Tatsächlich?« Er klang erstaunlich neugierig, und sie war so erfreut, dass sie über ihre Antwort nachdachte.

Es gab viel zu viele mögliche Erklärungen. Weil Nähen das Einzige war, was sie konnte. Weil sie die Einzige in zwei Generationen war, die noch über einen Rest der schwindenden Gabe ihrer Familie verfügte, und es ihre Aufgabe war, sie zu bewahren. Weil es trotz des Zeitdrucks, der Überstunden und der Tränen nur wenig auf der Welt gab, was sie glücklicher machte, als andere glücklich zu machen. Letztlich entschied sie sich für etwas Unbedenkliches, aber Wahres. »Ich liebe schöne Dinge, und ich stelle gern Sachen her, in denen Menschen sich schön fühlen.«

»Was für ein Unsinn.« Er fuhr so heftig auf, als hätte sie auf einen blauen Fleck gedrückt. »Schönheit ist nichts, was man sich zur Lebensaufgabe macht. Dafür interessieren sich nur pfauenhafte Narren und eitle Fatzken.«

Niamh schreckte zurück. Er war nicht nur unhöflich, er war gehässig. Und das völlig ungerechtfertigt. Er wollte schließlich heiraten. Er trug Schuhe, die mehr kosteten, als sie in einem Monat verdiente. Er stand da in seiner Seidenweste, die förmlich darum bettelte, in einem Modemagazin abgebildet zu werden. Seide! Noch dazu im Sommer. Hoffentlich würde er sie durchschwitzen. Hoffentlich würde er …

»Erweise unserem Gast die gebührende Achtung, Christopher«, sagte der Prinzregent mit schneidender Stimme. »Sie ist eine Gemeine, aber dennoch von göttlichem Geblüt.«

Niamh hatte die Bezeichnung »von göttlichem Geblüt« noch nie gehört, aber es war klar, was er meinte: Sie besaß die Gabe der Magie. Wenn die Avaländer glaubten, auch ihre Magie stamme von den Göttern, dann waren die avlischen und die iverischen Mythen womöglich gar nicht so unterschiedlich, wie man sie hatte glauben machen.

Vor langer Zeit, so besagten die Geschichten, waren Hunderte Götter nach Iverland gesegelt und hatten es zu ihrem Zuhause gemacht. Bevor sie sich hinter dem Vorhang zur Domhan Síoraí verborgen hatten, hatten einige von ihnen sterbliche Geliebte und gaben ihre Magie an die Kinder weiter. Jeder, der die Gabe besaß, behauptete, von einem Gott abzustammen. Da waren Luchta, der Schwerter und Schilde schmiedete, die bei einer Schlacht das Blatt wenden konnten; Dian Cecht, dessen Heilmittel jede Verletzung kurierten; Goibnu, dessen Schlemmereien den Hunger eines Mannes für ein Jahrzehnt stillen konnten; Bres, der mit seiner Redegewandtheit jeden Streit schlichtete; Delbaeth, der Feuer speien konnte wie ein Drache; und natürlich ihre Namenspatronin Niamh. Sie empfand es als Ironie, dass sie nach der Königin des Landes der Ewigen Jugend und Schönheit benannt worden war.

»Wie du wünschst, Jack.« Kit wandte sich ihr erneut zu. »Dann lassen Sie mal sehen.«

Sie verstand seine unausgesprochene Drohung: GibmireinenGrund,dichnichtaufdasSchiffzurückzuschicken. Er hielt sich nicht für höherstehend als sie; er wusste, dass er es war. Schon in dem Moment, als sie die Einladung des Prinzregenten erhalten hatte, war Niamh klar gewesen, dass es sich nicht um eine Belohnung für bisher Erreichtes handelte, sondern um den Beginn einer neuerlichen Prüfung. Als Gemeine, als Iverin, musste sie in Avaland doppelt so schwer arbeiten, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Doch schließlich wurden ihre Ängste von Entschlossenheit verdrängt, und sie brannte darauf, sich zu beweisen – und auch Kit zu beweisen, dass er sich täuschte.

»Gerne«, stieß sie hervor, und es klang viel hitziger und giftiger, als sie beabsichtigt hatte. »Aber dazu muss man mir meine Sachen bringen.«

Der Prinzregent rührte kaum den Zeigefinger, und schon verließ ein Diener den Raum. »Sofort. Bitte nehmen Sie Platz. Machen Sie es sich bequem.«

Sie ließ sich vorsichtig auf der Kante eines Sessels nieder. »Danke, Eure Hoheit.«

Binnen Kurzem kehrte der Diener mit Niamhs Koffer zurück. In dem schmerzlichen Bewusstsein, wie gewöhnlich ihnen ihr Leben erscheinen musste, kramte sie in ihren wenigen weltlichen Besitztümern und holte ihren Stickrahmen, eine Schere, eine Garnspule und ein Nadelkissen hervor. Sie schnitt ein Stück Faden ab, und als sie aufzusehen wagte, starrte Kit sie mit einer solchen Eindringlichkeit an, dass sie beinahe den Mut verlor.

Nein, ermahnte sie sich. Ich werde es ihm zeigen.

Ihre Magie war nicht besonders außergewöhnlich. Einst, in längst vergangener Zeit, hatte ein von einer Ó Conchobhair gefertigter Mantel vielleicht ganze Armeen gefügig gemacht. Doch Niamh hatte nie die Welt verändern wollen. Ihre Kunden schätzten sie wegen ihrer Modeentwürfe und ihrer Gabe. Alles, was sie nähte, verfügte über eine geheimnisvolle Kraft. Niemand konnte es richtig beschreiben; es war einfach so, dass es bestimmte Gefühle weckte, jemanden in einem Teil von Niamh Ó Conchobhair zu sehen. Beispielsweise hatte sie eine junge Witwe zum Inbegriff der Trauer gemacht. Sie hatte Mauerblümchen in den Nischen eines Ballsaals verschwinden lassen. Und vor zwei Jahren hatte sie Caoimhe Ó Flaithbertaigh zur Herzogin gemacht.

Sie atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Sie konnte es schaffen.

Ein halb fertiggestelltes Taschentuch war in ihren Stickrahmen gespannt. Sie hatte auf der langen Reise nach Avaland daran gearbeitet. In mühevoller Kleinarbeit hatte sie es mit Wildblumen bestickt, die beinahe echt wirkten, wie gepresst und in einem Stück Seide vergessen. Immerhin hatte sie Garne in dreißig verschiedenen Farben verwendet. Der Anblick erfüllte sie mit einer Sehnsucht nach Dingen, die sie besessen und verloren hatte. Als die Magie in ihr anschwoll, dachte sie an den Sommer. Es war die schönste Jahreszeit in Caterlow. Die Kinder liefen barfuß über die Felder, und die Meeresbrise kühlte den Schweiß auf der Stirn. Diese Tage waren ihr immer endlos vorgekommen und voller Möglichkeiten, voll unerschöpflicher Freude. Alle diese Erinnerungen hatte sie in das Taschentuch gestickt; Erinnerungen, durch die sie die Reise auf den schwarzen Wellen der Iverischen See überstanden hatte.

Sie war bereit.

Sie verspürte ein kurzes Ziehen in ihrer Brust, nicht schmerzhafter als ein Nadelstich, und die Magie strömte aus ihr heraus. Das Stickgarn schimmerte, als hielte sie einen zarten Sonnenstrahl zwischen den Fingern. Es tauchte den Raum in einen sanften Schein, der über die goldenen Bilderrahmen und sämtliche glänzende Messingknöpfe an den Sofas tanzte.

Kit fluchte, jedoch so leise, dass es ihr fast entgangen wäre.

Alles ringsum verschwand. Es gab nur noch sie beide und den zarten Schmerz der Sehnsucht, eingefädelt in das Nadelöhr. Seine Lippen öffneten sich, und das Licht ihrer Magie ließ seine Augen leuchten. Ihr wurde warm im Nacken, und ihr Magen flatterte ganz sonderbar. Hätte sie es nicht besser gewusst, hätte sie gesagt, seine Miene sei voller Staunen.

Nein, sie bildete es sich bestimmt nur ein. Sie riss den Blick von ihm los und begann, kleine Verzierungen mit dem goldenen Faden in das Taschentuch einzuarbeiten. Als sie fertig war, wirkten die Blüten wie von Sonnenlicht durchflutet, und auf den Blättern saßen winzige Tautropfen. Sie schnitt vorsichtig den Faden ab und löste das Tuch aus dem Stickrahmen.

»Es ist nicht viel, aber ich möchte Sie nicht den ganzen Tag aufhalten.« Sie hielt Kit das Taschentuch hin. »Ich hoffe, es vermittelt Ihnen einen Eindruck von meinem Können.«

Als er es ihr abnahm, sah er sofort fünf Jahre jünger aus. Erinnerungen trübten seinen Blick, die ihn an einen weit entfernten Ort führten. Doch die Wirkung war da und fast schneller wieder verschwunden, als sie blinzeln konnte. Er ließ das Taschentuch fallen, als hätte er sich die Finger verbrannt. Niamhs Herz zog sich zusammen, als sie es zerknüllt auf dem Boden liegen sah. Er starrte es einen Moment lang an, während sich sein Hals rötete.

»Das«, sagte er erbost, »ist ein Trick.«

Wenigstens ersparte Jack ihr die Demütigung, sich verteidigen zu müssen.

»Ich will kein Wort mehr von dir hören. Niamh O’Connor ist die beste Schneiderin, die ich finden konnte, und du bekommst nur das Beste.«

Kit sprang mit der geballten Aggression eines in die Enge getriebenen Tieres von seinem Platz auf. Er war einen Kopf kleiner als sein Bruder, doch sein Zorn war raumgreifend. »Ich würde lieber nackt zu meiner Hochzeit erscheinen als etwas tragen, was sie auch nur angeschaut hat.«

Sie kochte vor Entrüstung und Bestürzung, und sie bemühte sich so sehr, ihre Empfindungen in Schach zu halten, dass sie zu zittern begann. Ihr kamen die Tränen. Ein Trick? Sie hatte an der Seite ihrer Großmutter Nähen gelernt, bevor sie laufen konnte. Sie hatte ihr ganzes Leben darauf verwendet, ihre Gabe zu beherrschen. Sie war das Reinste und Wahrste, was sie kannte. Sie hatte einen Teil ihrer Seele in dieses Taschentuch gestickt, und er hatte reagiert, als hätte sie ihm auf die Stiefel gespuckt. Am meisten schmerzte sie jedoch, dass er nicht einmal den Anstand besaß, sie direkt anzusprechen. Er sah sie nicht einmal an.

»Genug davon!«, fuhr Jack ihn an. »Mein Entschluss steht fest. Der Hof ist begeistert von ihrer Arbeit, und der König von Kastilien trifft mit Infantin Rosa in zwei Tagen ein. Du warst zu lange weg von hier, Bruder. Ich gehe davon aus, dass du einen guten Eindruck machen willst.«

Kit reagierte mit verschlossener Miene. Zu Niamhs Überraschung sagte er keinen Ton.

Von hier weg? Es war nicht ungewöhnlich, dass junge Adlige auf Kavaliersreise gingen, aber so, wie Jack es gesagt hatte, klang es eher nach einer Strafmaßnahme.

»Und Sie, Miss O’Connor«, fuhr Jack ermattet fort, »sagen dem Personal, was Sie brauchen, und ich werde es Ihnen bringen lassen. Das heißt, natürlich nur, wenn Sie es sich nicht anders überlegt haben.«

»Das habe ich keineswegs, gnädiger Herr. Vielen Dank!«, rief sie, bremste sich jedoch sogleich und machte artig einen Knicks. »Die Gelegenheit lasse ich mir nicht entgehen.«

In diesem Moment klopfte jemand zögerlich an die Tür. Sie öffnete sich einen Spaltbreit, und eine gedämpfte Stimme sagte: »Eine Nachricht für Sie, Eure Hoheit.«

»Verharren Sie nicht da wie ein Geist. Kommen Sie herein.« Jack schloss die Augen, als suchte er in seinem Inneren nach Geduld. »Worum geht es?«

Ein Page kam zum Vorschein und blieb mit gesenktem Blick und einem Brief in der Hand auf der Schwelle stehen. »Ein weiterer Brief von Helen Carlile, gnädiger Herr.«

»Um Himmels willen …« Jack schritt auf ihn zu und schnappte ihm den Brief aus der Hand. So viel zu höfischem Anstand, dachte Niamh. »Schon wieder? Sie stören mich wegen eines weiteren Briefs von Helen Carlile?«

Der Page zuckte zusammen. »Es tut mir leid! Es ist der dritte innerhalb von drei Tagen, und ich dachte, es sei dringlich.«

»Da haben Sie sich gründlich geirrt.« Jack riss den Brief säuberlich in der Mitte durch. »Ich habe heute keine Zeit für ihre selbstgerechten Tiraden – und auch an keinem anderen Tag. Sollte Ihnen noch einer unterkommen, schicken Sie ihn zurück. Oder am besten verbrennen Sie ihn. Ich will den Namen Helen Carlile – und übrigens auch Lovelace – nie wieder in diesen Hallen hören. Haben Sie verstanden?«

»Ja, gnädiger Herr.« Der Page zog sich nicht sofort zurück. Er schaute zu Kit und Niamh, als hätte er Angst, zu viel zu sagen. »Da ist noch etwas. Ihr Kammerdiener … Ich dachte, Sie möchten es angesichts der Umstände vielleicht schnellstmöglich erfahren.«

Jack murmelte etwas vor sich hin. Einen Augenblick lang wirkte er sehr erschöpft, doch gleich darauf trug er wieder seine stoische Miene zur Schau. »Also gut, schicken Sie gleich nach der Haushälterin. Ich werde in meinem Arbeitszimmer mit ihr sprechen.«

»Ja, gnädiger Herr.«

»Gut. Sie können gehen.« Als die Tür hinter dem Pagen ins Schloss fiel, stieß Jack den längsten Seufzer aus, den Niamh je gehört hatte. »Wenn Sie mich entschuldigen.«

Sie fragte sich, wie ein Page und irgendeine Frau einen Prinzregenten derart verdrießen konnten. Und wer war Lovelace?

Sie sah Kit an, als könnte er darüber Aufschluss geben. Doch sein Blick war wie das Gewehr eines Schützen auf seinen Bruder gerichtet, der gerade den Raum verließ, und er war voller Hass. Ihr stockte der Atem. Es war nicht der harmlose Hass, den Kinder ihren gestrengen älteren Geschwistern entgegenbrachten. Er war vielmehr kalt wie eine Winternacht – und sehr alt und tief verwurzelt.

Kit hegte diesen Groll schon lange.

Als er ihren Blick bemerkte, runzelte er die Stirn. »Warum starren Sie mich so an?«

»Ich …« Sie verstummte. Eines Tages würde sie ihn noch aus reiner Gehässigkeit mit einer Nadel stechen. Denn er war schließlich derjenige, der sie anstarrte. »Das tue ich nicht!«

»Gut.« Damit stand er auf und stolzierte aus dem Raum.

Niamh schlug die Hände vors Gesicht. Dies war die Chance ihres Lebens, aber sie hatte den griesgrämigsten, abweisendsten Kunden der Welt bekommen. Vielleicht war diese Einladung in Wahrheit nur eine Täuschung wie in einem Märchen, gerade so, wie die Großmutter sie gewarnt hatte. Eine Finte wie ein vergifteter Apfel.

Nichts lief so, wie sie es sich erträumt hatte.

3

Kurz nachdem Kit gegangen war, kam ein Dienstmädchen namens Abigail und führte Niamh in ihre Schlafkammer. Sie war derart mit ihren bangen Gedanken beschäftigt, dass sie gegen den Türrahmen stieß – so fest, dass Abigail stehen blieb und sie fragte, ob alles in Ordnung sei. Doch beim Anblick des prächtigen Gemachs brachte Niamh keine vernünftige Antwort zustande.

Die Strahlen der Morgensonne drangen gedämpft durch die schweren Vorhänge, überzogen den Teppich mit regenbogenfarbenen Sprenkeln und brachten die Glasperlen des Kronleuchters zum Glitzern. Niamh hätte sich am liebsten gleich auf das Bett geworfen, doch auf dem makellosen Leinen auch nur den kleinsten Fleck zu hinterlassen kam ihr wie eine Todsünde vor. Sie erkannte auf den ersten Blick, wie fein es gewoben war. Noch dazu prangte auf dem Bezug die mit strahlend weißem Faden gestickte Wappenrose des Adelsgeschlechts Carmine.

»Soll ich nach einer Badewanne schicken?«, fragte Abigail taktvoll.

»Bitte. Das wäre wunderbar.«

Binnen Minuten hatten mehrere Diener eine krallenfüßige Wanne hereingeschleppt und neben dem Kamin abgestellt. Abigail rollte einen kleinen Wagen voll eleganter Glasflaschen herbei und zog den Paravent auseinander.

»Rufen Sie mich, wenn Sie etwas brauchen«, sagte sie. Und dann war Niamh allein.

Ihr schnürte sich augenblicklich die Kehle zu, und ihre Augen brannten. Nichtweinen, sagte sie sich. Oh, wie sehr sie es hasste, dass sie immer zu weinen begann, wenn sie überlastet oder wütend war. Doch wenn sie einmal angefangen hatte, konnte sie nicht wieder aufhören. Tränen liefen ihr über die Wangen, und sie machte sich nicht die Mühe, sie wegzuwischen. Sie konnte an nichts anderes denken als an die bernsteinfarbenen Augen von Kit Carmine, mit denen er sie angesehen hatte, als wäre sie eine Ratte, die sich im Weinkeller eingeschlichen hatte. Und die tödliche Verachtung in seiner Stimme hallte ihr noch in den Ohren.

Pfauenhafte Narren. Eitle Fatzken.

Er wusste gar nichts über sie.

Als sie Caterlow drei Tage zuvor verlassen hatte, hatte ihre Mutter ihr Gesicht zwischen die Hände genommen und gesagt: Die Ballsaison ist gefährlich für Mädchen wie dich. Wenn du fahren willst, mein Schatz, werde ich dich nicht daran hindern. Du sollst nur wissen, dass du keine Verantwortung für unser Wohlergehen trägst.

Sie hatte ihre Finger an ihrem Kinn gespürt, die Schwielen an den Kuppen und die geschwollenen Gelenke, die vom jahrzehntelangen Nähen herrührten. Sie hatte ihrer Mutter in die Augen gesehen, die ebenso blau waren wie ihre, und die vorzeitigen Falten in den Augenwinkeln wahrgenommen. In diesem Moment war ihr zum ersten Mal bewusst geworden, dass ihre Mutter keine junge Frau mehr war.

Natürlich war sie für das Wohlergehen ihrer Familie verantwortlich. Vor allem jetzt, da sie in Avaland war, in der Heimat genau der Familie, die sie alle hatte auslöschen wollen. Sie wurde erneut von Schuldgefühlen überwältigt.

Die Iverer hatten sehr unter der siebenhundertjährigen avlischen Herrschaft zu leiden gehabt. Laut den frühen avlischen Eroberern war Iverland ein reiches, fruchtbares Land mit unerschöpflichen Reserven. Es sei zwar nach der langen Zeit verwildert, in der die Einheimischen sich selbst überlassen waren, sagten sie, doch mit der richtigen Pflege würde es sicherlich gedeihen und erblühen. Doch im Lauf der Jahrhunderte wurden die Avaländer gieriger. Sie brachten alles, was dort wuchs, in ihre Heimat und ließen den Menschen, die die Felder bestellten, nichts übrig. Sie saugten das Land aus, bis es nichts mehr geben konnte. Die Fäule war der letzte Dolchstoß gewesen.

Die Avaländer bezeichneten es als ein schreckliches Unglück. Die Iverer nannten es Völkermord.

Die Magie der Carminer mache das Brachen unnötig, hatten die Avaländer behauptet und dem Boden alles abgerungen, bis er nichts mehr hervorbrachte und die Feldfrüchte eingingen. Auch im nächsten Jahr und im übernächsten.

Obwohl das göttliche Blut seiner Familie den Boden vergiftet hatte, hatte der Vater von Kit und Jack nichts unternommen. Er hatte zugesehen, wie eine Million Menschen hungers starben und eine weitere Million die Insel verließ. Der darauf folgende Aufstand war blutig und schnell. Und nun war Iverland seit fünfundzwanzig Jahren unabhängig. Doch keiner der Überlebenden hatte vergessen oder verziehen.

Niamh war mit diesen Geistern aufgewachsen. Ihr Leben lang hatte sie danach getrachtet, die Bürde ihrer Familie zu verringern und die Vergangenheit zu verjagen, die sie verfolgte. Sie entschied sich dafür, jeden Tag zufrieden zu sein, weil sie genau wusste, wie viel schlimmer es hätte kommen können. Sie lächelte, weil sie es nicht ertragen konnte, ihre Angehörigen glauben zu lassen, sie hätten sie auch nur einen Augenblick lang enttäuscht. Nach allem, was sie durchgemacht hatten, war es natürlich Niamhs Aufgabe, für sie zu sorgen. Es war nur eine geringe Mühe, es zu versuchen und ihnen Annehmlichkeiten zu verschaffen, die sie als Kinder nicht hatten.

Es war keine große Leistung, gut zu sein.

Als sie sich ausgeweint hatte, wischte Niamh die Tränen weg, schnürte ihr Kleid und ihr Mieder auf und stieg vorsichtig in die Wanne. Das fast zu heiße Wasser schwappte um ihre Waden. Der Dampf, der sie einhüllte, duftete nach Lavendel und Rosmarin. Sie ließ sich langsam bis zum Kinn ins Wasser sinken – und wünschte um ihres Gewissens willen, sie würde es nicht so genießen. Es war ein Luxus, wie sie ihn noch nie erlebt hatte. In Caterlow hatte sie zum Baden nur eine Kanne und einen Bottich gehabt, was vielleicht auch praktischer war. Der Schmutz löste sich in Wolken von ihrem Körper, und mit ihm fiel auch ein Teil ihrer Anspannung von ihr ab. Am besten sah sie sich das Wasser nicht zu genau an.

Sie nahm einen Kamm von dem Wagen und begann, ihr verknotetes Haar auszukämmen, das pechschwarz auf dem trüben Wasser schwamm. Mit wachsendem Grauen betrachtete sie die silberne Strähne, die es durchzog. Noch gab es keine Veränderung, aber schon bald …

Nein, es lohnte sich nicht, sich darüber Sorgen zu machen.

Du bist erst krank, wenn du krank bist.

Sie kämmte seufzend ihr Haar nach hinten, damit sie es aus den Augen hatte. Sie breitete die Arme auf dem Rand der Kupferwanne aus und legte die Wange an ihre Schulter. Das Metall fühlte sich kühl an, doch das knisternde Feuer im Kamin wärmte sie.

In ein paar Wochen würde die ganze Sache vorbei sein. Mit dem Geld, das sie mit diesem Auftrag verdiente, konnte sie ihre Familie zu sich nach Sootham holen. Die Großmutter würde sich vielleicht anfangs wehren, doch sie würde schnell einsehen, dass sie hier ein besseres, angenehmeres Leben erwartete. Sie würde die vielen hübschen, albernen Dinge schätzen lernen.

Vorausgesetzt natürlich, dass Niamh etwas ganz und gar Unglaubliches zustande brachte, das sogar einen Zyniker wie Kit Carmine bezauberte.

Später am Nachmittag öffnete Niamh ihre Zimmertür. Am Ende des Gangs schien die Sonne zum Fenster herein und färbte den Flur wässrig rot wie eine Wunde.

Sie wusste nicht, wo sich die Küche befand, aber so schwer wäre sie wohl nicht zu finden. Wenn ihre Freundin Erin irgendwo in der Nähe war, dann dort. Die Familie Ó Cinnéide war vor langer Zeit für ihre Heilkünste bekannt gewesen. Ihre Mitglieder brauten ein Elixier, das einen Sterbenden gesund machen konnte, und stellten Wickel her, mit denen man abgetrennte Körperglieder wieder anfügen konnte. Das Beeindruckendste indes, was Erin jemals zustande gebracht hatte, war ein Tee, der die Entzündung in Niamhs Gelenken für ein paar Stunden linderte. Ansonsten buk sie die köstlichsten Kuchen.

Als Niamh zur Treppe ging, schallte von unten ein ungeheurer Lärm zu ihr herauf – eine Art Gebrüll, wenn sie es hätte beschreiben müssen.

Und dann brach Chaos aus.

Eilige Schritte donnerten über den Parkettboden, und aufgeregtes Geschnatter hallte durch das Gebäude. Niamh hielt sich am Geländer fest und schaute in die Tiefe. Dort flitzten Diener mit Tellern, Tabletts und blitzblank poliertem Silberbesteck durch die Flure. Sie wunderte sich darüber, wie hektisch das Ganze ablief. Es wäre sehr viel einfacher gewesen, wenn einer von ihnen die Gabe besessen hätte. Es gab Leute in Caterlow, die einen Gegenstand quer durch den Raum zu sich rufen konnten, und andere konnten das dreifache Gewicht eines Durchschnittsmannes tragen. Wie sie gehört hatte, besaßen auch einige avlische Bürgerliche die Gabe, aber viele waren es nicht. Wie dumm, dass Leute, die praktische Arbeiten verrichteten, keine magische Unterstützung hatten.

Einen Augenblick später fiel ihr auf, dass keine iverischen Diener dabei waren, die die Gabe besaßen, was ihr komisch vorkam.

»Was stehen Sie hier herum?«

Niamh drehte sich erschrocken um. Eine junge Frau mit einem Wäschekorb unter dem Arm sah sie grimmig an. »Wer, ich?«, fragte Niamh intelligenterweise.

Die Frau schien ihr jedoch nicht zuzuhören. »Der Prinzregent hat üble Laune, wissen Sie. Wollen Sie untätig von ihm erwischt werden? Wie Sie vor sich hinträumen, wo wir bereits unterbesetzt sind?«

Die Frau hielt sie wohl irrtümlich für eine Dienerin. Niamh machte einen Knicks und wandte die Augen ab. »Nein, natürlich nicht. Entschuldigung.«

»Dann arbeiten Sie weiter. Und legen Sie einen Zahn zu.«

Niamh wollte schon gehen, aber vielleicht konnte sie erfragen, ob Erin bereits versetzt worden war. »Verzeihen Sie, aber gibt es hier ein Mädchen namens Erin Ó Cinnéide?«

»Erin«, wiederholte die Frau und schürzte nachdenklich die Lippen. Doch kaum war ihr die Erkenntnis gekommen, verfinsterte sich ihre Miene. »Ja. Sie war hier, aber sie ist vor zwei Tagen gegangen.«

Erin war schon wieder gegangen? Das konnte nicht stimmen. »Wirklich? Warum?«

»Sagen Sie es mir«, entgegnete die Frau patzig und drängte sich an ihr vorbei, während sie etwas über »faule Iverer« vor sich hinmurmelte.

Nach der Erfahrung mit Kit Carmine fehlte Niamh die Energie, es sich zu Herzen zu nehmen, zumal sie sehr durcheinander war. Sie hatte immer gedacht, Erin wäre in Sootham zufrieden. Ihre Briefe sprühten nur so vor subtilem Humor und heiterer Weisheit und waren obendrein mehrere Seiten lang. Sie hätte es sicherlich erwähnt, wenn sie den Wunsch gehabt hätte, nach Caterlow zurückzukehren, oder wenn sie hier unglücklich gewesen wäre. Doch so langsam, wie die Post war, hatte ihr Brief Niamh wahrscheinlich nicht mehr vor ihrer Abreise erreicht. Sie musste ihr sofort schreiben, um der Sache auf den Grund zu gehen.

Ihr Magen knurrte deutlich hörbar. Also vorher noch ein sehr spätes Frühstück.

Je weiter Niamh sich vorwagte, desto ärger wurde das Chaos. Diener rannten in alle Richtungen, bepackt mit Blumengestecken und Fackeln und sogar einer Eisskulptur. Andere balancierten auf Leitern und stellten Kerzen auf sämtlichen nutzbaren Flächen auf. Dienstmädchen polierten die Spiegel eifrig auf Hochglanz. Geblendet von der Reflexion eines Sonnenstrahls, stieß Niamh mit jemandem zusammen.

»Tut mir leid!«, rief sie, und gleichzeitig sagte ein Mann: »Na, wenn das nicht Niamh O’Connor ist!«

Niamh trat einen Schritt zurück, um ihn anzusehen. Der junge Mann, der vor ihr stand, kannte sich offensichtlich mit geschmackvoller Kleidung aus. Er trug einen puderblauen Frack mit langen Manschetten, die im gallischen Stil über seine Handknöchel reichten, und eine Weste mit hohem Kragen und gelbem Karomuster. Dazu hatte er schicke türkise Handschuhe und ein fesch gebundenes Halstuch in derselben Farbe gewählt. Sogar sein blondes Haar war modern frisiert, romantisch und wild und von einer erschreckenden Menge Pomade in Form gehalten. Ein Adliger, ganz ohne Zweifel, bei seiner gekünstelten Lässigkeit und dem verräterischen Akzent.

»Sie kennen mich?« Sie bemühte sich, nicht überrascht zu klingen.

»Selbstverständlich. Ich bewundere Ihre Arbeiten, seit selbige in der vorletzten Ballsaison die vornehme Gesellschaft beeindruckt haben. Ich hätte selbst gern etwas von Ihnen.«

»Oh!« Plötzlich war sie sehr verlegen. »Vielen Dank. Ich würde Ihnen mit Vergnügen etwas schneidern, wenn ich Zeit habe.«

»Verpflichten Sie sich lieber nicht zu früh.« Er lächelte verschmitzt. »Ich bin nämlich gerade von einem Ausritt mit Kit zurückgekehrt und habe die faszinierendsten Dinge über Sie gehört.«

Die bloße Erwähnung des Prinzen raubte ihr die Sprache und allen Verstand. Sie dachte, sie hätte sich ausgeweint, aber die Wut flammte wieder in ihr auf. Es war offenbar von ihrem Gesicht abzulesen, denn er sagte: »Er hat einen guten Eindruck auf Sie gemacht, wie ich sehe.«

Oh je. Jetzt musste sie lügen. Laut der Märchen, die sie gelesen hatte, waren Prinzen galant und romantisch. Die zwei echten Prinzen hingegen, die sie kennengelernt hatte, waren beide Exzentriker. »Allerdings! Er war sehr charmant.«

Daraufhin verlor ihr Gegenüber die Fassung. Er stieß ein höchst unvornehmes Gelächter aus.

»Wenn Sie das wirklich glauben, müssen Sie eine Heilige sein.« Er zog ein Taschentuch – ebenso hübsch gemustert wie seine Weste – aus der Brusttasche und betupfte seine Augen. »Danke. Das habe ich gebraucht.«

»Keine Ursache«, entgegnete sie geknickt.

»Ach, wo sind meine Manieren? In der Nähe schöner Frauen vergesse ich mich.« Er reichte ihr die Hand und lächelte ironisch, als wollte er ihr zu verstehen geben, dass er sich verstellte. »Gabriel Sinclair.«

Sie legte ihre Hand in seine und versuchte, nicht zu erröten, als er einen Kuss darauf hauchte. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Herr Sinclair.«

»Sinclair genügt.« Sein Lächeln verblasste. »Sie wirken ein bisschen verloren. Ich kann Sie herumführen, wenn Sie möchten.«

Wenigstens einer in diesem Palast wollte ihr helfen. »Wissen Sie, wo die Küche ist?«

»Die Küche?« Er sah sie verwundert an. »Soll ich nicht lieber nach Tee schicken?«

»Nein, nein, ist schon in Ordnung. Ich will mich Ihnen nicht aufdrängen.«

»Ich bestehe darauf. Jeder braucht einen Freund bei Hofe.« Er zwinkerte ihr zu. »Vor allem als Außenseiter.«

Sinclair ging mit ihr einen anderen Flur hinunter. Er musste tatsächlich gut mit den Carmines befreundet sein, denn er kannte den Palast wie seine Westentasche. Unterwegs erteilte er dem Personal forsch Befehle. Ab und zu sah Niamh jedoch im Vorbeigehen, wie jemand kicherte oder einem anderen etwas zuflüsterte. Sinclair reagierte nicht darauf, sofern er es überhaupt bemerkte. Niamh brannte vor Neugier. Wenn die Diener sich trauten zu feixen, zählte er womöglich selbst zu den Außenseitern.

Nachdem sie sich in einem Wintergarten niedergelassen hatten, brachte ein gehetzt wirkendes Mädchen innerhalb von Minuten den Tee. Es stellte eine Platte, auf der sich Plätzchen türmten, auf den Tisch und eine Teekanne, aus der aromatischer Dampf entwich, bevor es wieder verschwand.

Während Sinclair ihnen einschenkte, steckte sich Niamh ein Plätzchen in den Mund. »Sie haben mir das Leben gerettet. Danke.«

»Ich weiß«, sagte Sinclair. »Bitte kauen Sie. Sie machen mich nervös.«

Niamh gehorchte. Nachdem sie sich einen Moment Zeit gelassen hatte, das Gebäck richtig zu kosten, fand sie Gefallen an dem leicht blumigen und buttrigen Geschmack. Sie trank einen Schluck Tee – und bereute es sofort, denn sie verbrannte sich die Zunge, doch immerhin hinterließ er eine angenehme Karamellnote. Sinclair wirkte sichtlich beeindruckt.

»Heute scheint es hier ziemlich hektisch zu sein«, sagte Niamh. »Wissen Sie, was da vor sich geht?«

»Jack hat schlechte Laune, also hat sein Personal auch schlechte Laune.« Er verzog das Gesicht. »Zur Ballsaison ist The Tattler zurück.«

»The Tattler?«

»Es ist eine Zeitung für Gerüchte«, erwiderte er. »Obwohl ich sagen muss, dass die Person, die die Artikel verfasst, eine merkwürdige Einstellung hat.«

»Was meinen Sie?«

»Die Kolumne berichtet selbstverständlich über die klassischen Klatschgeschichten der Saison, aber die werden immer mit dem Politischen verbunden. Lovelace setzt sich angeblich für die Unterdrückten ein, aber das ist alles nur prätentiöser Unsinn. Entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise.« Sinclair lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Ich habe natürlich nichts gegen die Botschaft, aber die Person, die die Zeitung verfasst, verfolgt nun schon fast drei Jahre lang eigene politische Ziele, ohne dass etwas dabei herausgekommen ist. Was ich jedoch bewundern muss, ist, dass Lovelace Jack richtig hasst. Seit der ersten Ausgabe wird unaufhörlich gegen ihn gestichelt.«

»Wirklich?«, wisperte Niamh. Zwar kannte sie Jack kaum, doch konnte sie sich nicht vorstellen, dass er es auch nur drei Minuten lang hinnahm, verspottet zu werden, ganz zu schweigen von drei Jahren. Dazu wirkte er viel zu stolz. »Warum wurde dem noch kein Einhalt geboten?«

»Wenn Jack Lovelace ergreifen könnte, käme die Person allermindestens ins Gefängnis, da bin ich sicher. Nicht einmal der Herausgeber der Zeitung weiß, wer Lovelace ist, aber Lovelace wiederum weiß irgendwie alles über jeden.« Sinclair zerkrümelte gedankenverloren ein Plätzchen. »Wer in der Klatschspalte erwähnt wird, bekommt einen Tag vor der Veröffentlichung ein Exemplar, damit er die Möglichkeit hat, Lovelace Schweigegeld zu zahlen. Fragen Sie mich nicht, woher ich das weiß.«

»Über Sie wurde auch schon geschrieben?«

»Ja, einige Male. Allerdings hat es mein Vater, der Herzog von Pelinor, schlechter aufgenommen als ich. Ich finde, es hat fast etwas Befreiendes, wenn das Schlimmste, was über einen gesagt werden kann, bereits enthüllt ist.« Trotz seiner blasierten Sprechweise hörte sie die Verärgerung aus seiner Stimme heraus, die Lüge. Obwohl sie sich eben erst kennengelernt hatten, war es schmerzlich anzusehen, wie er etwas schönfärbte, was ihm offensichtlich noch heute zusetzte. »Die Kolumne ist ein Ärgernis, aber ab und zu kann sie auch interessant sein. Möchten Sie sie gern sehen?«

Niamh zögerte. Es war gewiss falsch, sich mit Klatsch über ihren Brotherrn zu beschäftigen, aber hin und wieder wusste sie einen kleinen Skandal durchaus zu schätzen. »Sehr gern.«

Er klingelte nach einem Diener und ließ ihn The Daily Chronicle bringen. Als er die Zeitung bekommen hatte, fragte er freundlich: »Können Sie lesen?«

Die Frage war berechtigt; nur wenige gewöhnliche Mädchen konnten es. Ihre Mutter hatte sie es gelehrt, aber abgesehen von Überschriften in Modemagazinen las sie nicht viel. »Gut genug, hoffe ich.«

Er gab ihr die Zeitung. Sie war zerknittert und eingerissen, vermutlich, weil die Leute sie sich gegenseitig aus den Händen gerissen hatten. Niamh faltete sie ungeschickt auseinander und versuchte, sich nicht wie ein Landei vorzukommen.

Ein solches Druckwerk hatte sie noch nie gesehen. Täglich neue Nachrichten zu erhalten war ein unvorstellbares Wunder für sie, viel außergewöhnlicher als Magie. In Caterlow trafen Informationen nur verzögert ein. Nachrichten vom Festland brauchten mitunter einen Monat, um in iverischen Städten anzukommen, aus Avaland zwei Wochen, und aus Übersee dauerte es manchmal sogar ein halbes Jahr. Dazu kam noch eine Woche, bis sie Dörfer wie Caterlow erreichten, wo einer der wenigen Schriftkundigen vor Ort die Zeitung in der Kneipe vorlas. Bedarf an Klatschspalten hatten sie allerdings ohnehin nicht. Jeder wusste sowieso über jeden Bescheid. Wenn man ein Geheimnis laut aussprach, trug es der Wind in jedes Haus im Dorf, bevor der Tag zu Ende ging.

The Daily Chronicle erwies sich zu ihrem Missfallen als schwer zu lesen. Die Schrift war so klein, als hätte der Setzer sich bemüht, sämtliche Geschichten auf der ersten Seite unterzubringen. Niamh kniff die Augen zusammen und wünschte, sie hätte ein Vergrößerungsglas. Sie blätterte zur letzten Seite, und dort, zwischen Annoncen für Kutschen und Petticoats, fand sie die besagte Klatschspalte: The Tattler.

Lovelace verschlüsselte offenbar die Namen aller erwähnten Personen, doch die näheren Informationen schienen so verräterisch zu sein, dass jeder, der gute Verbindungen hatte, die wahre Identität erraten konnte, und manche waren, wie Niamh fand, so gut wie gar nicht unkenntlich gemacht.

Kürzlich erfuhr ich von einem katastrophalen Vormittagsbüffet im Hause eines gewissen Herrn W., an den Sie sich vielleicht wegen seiner Beteiligung an einem gewissen Vorfall vor ein paar Monaten erinnern. Offenbar erschienen keine Diener, als der Wein serviert werden sollte, und die Schar der Gäste löste sich bereits nach einer Stunde wieder auf. Es war eine ungeheure Peinlichkeit. Das erzähle ich Ihnen nicht, um mich mit müßigem Geschwätz zu befassen, sondern um Sie zu beruhigen – oder auch zu warnen.

Sie werden womöglich feststellen, dass Ihre Veranstaltungskalender in dieser Saison leerer sind. Seien Sie versichert, dass Ihre Freunde Sie (höchstwahrscheinlich) nicht hassen. In der ganzen Stadt verweigern iverische Arbeitskräfte die Erfüllung ihrer Pflichten – aus Protest gegen die schlechte Behandlung und um auf Betreiben einer gewissen H. C. Entschädigungen für die Fäule zu fordern. Was H. C. angeht, muss ich dem albernen Gerücht ein Ende machen, sie und ich wären ein und dieselbe Person. Wir haben zwar das gleiche Anliegen, und ich bewundere sie für ihr Organisationstalent. Aber haben Sie sie einmal reden gehört? Die Frau ist furchtbar ernst – und ich war noch nie ernst. Doch ich schweife ab. Ein gewisser Jemand weigert sich entschlossen, sich mit ihr zu treffen, obwohl seine Diener in Scharen den Dienst quittieren.

Dieser Jemand besitzt zwar nicht das Ansehen seines illustren Vaters – ihm fehlt dessen ausgeprägtes Selbstbewusstsein, um nicht zu sagen: sein garstiges Naturell –, doch wie es scheint, hegen beide eine Abneigung gegen unsere iverischen Nachbarn. Vielleicht ist er aber auch zu beschäftigt damit, den missratenen Sohn an der kurzen Leine zu halten, der nach vier langen Jahren endlich zu uns zurückgekehrt ist. Es bleibt abzuwarten, ob sich dessen Manieren gebessert haben, seit wir ihn zuletzt gesehen haben, aber ich für meinen Teil bezweifle es.

Sicher bin ich mir nur in einem: In dieser Ballsaison wird sich Unzufriedenheit ausbreiten, sowohl unter den Iverern als auch bei Hofe. Ich ersuche den gewissen Jemand, um seiner selbst willen und aus dem Glauben an die Menschenwürde heraus den Forderungen der Schwächsten der avlischen Gesellschaft nachzukommen. Wie Sie gesehen haben – und weiterhin erleben werden –, sind Ihre Freuden und Vergnügungen abhängig von deren Arbeit und Magie.

Niamh legte die Zeitung beklommen zur Seite. Selbst nach all den Jahren wurden es die Avaländer anscheinend nicht müde, auf ihrem Volk herumzutrampeln. Aber konnte es wahr sein, dass sogar Jack seine iverische Dienerschaft schlecht behandelte? Bislang war er ihr gegenüber freundlich gewesen, doch vielleicht war auf ihre Einschätzung kein Verlass. Sie war schon immer zu gutgläubig gewesen – zu sehr geneigt, in jedem das Beste zu sehen. Nun fragte sie sich, ob die Länge von Erins Briefen weniger ihre Begeisterung widerspiegelte als vielmehr ihre Einsamkeit.

Wie hatte sie das nicht erkennen können?

The Tattler war in der Tat eine ungewöhnliche Klatschspalte. Zu behaupten, der Prinzregent sei ein schlechter Herrscher, und die Forderung nach Entschädigung öffentlich zu unterstützen … Sie hoffte jedenfalls, dass Lovelace Vorkehrungen dagegen getroffen hatte, entlarvt zu werden. Selbst in Caterlow hatte sie gehört, was vor etwa dreißig Jahren in Gallien passiert war. Das gemeine Volk war der magischen Elite überdrüssig geworden, und eines Tages waren die Mitglieder der königlichen Familie bei lebendigem Leibe verbrannt worden. Seitdem hatte jeder Monarch auf dem Festland Abweichler ungeheuer schnell zum Schweigen gebracht.

Allerdings handelte es sich um die Meinung eines Einzelnen – der obendrein wahrscheinlich nicht einmal einer von Jacks Untertanen war. Lovelace musste aus Iverland kommen. Welche Person aus Avaland würde Nichtadlige eines anderen Landes derart unterstützen? »Mir scheint, dass jemand, der so beschäftigt ist wie der Prinzregent, Wichtigeres zu tun hat, als sich Sorgen wegen eines Kolumnisten zu machen.«

»Nun, Jack hat die üble Angewohnheit, sich in sämtliche Angelegenheiten einzumischen.« Nach Sinclairs mürrischer Miene zu urteilen, hatte sie an eine alte Wunde gerührt. »Wie auch immer. Er steht unter großem Druck. Der Hof kann ziemlich gereizt reagieren, wenn es um sein soziales Engagement geht. Und wie Lovelace schrieb, Jack verfügt nicht gerade über das Ansehen, das sein Vater genoss.«

»Er ist unbeliebt?«