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Ein Kleid, schöner als der Nachthimmel. Ein Ball, der wahren Cinderella würdig. Und ein Kuss, der den Traum platzen lässt … Ariel weiß genau, was sie will: Keinen langweiligen Maskenball. Stattdessen würde sie sich am liebsten mit einem Buch einkuscheln, während draußen der Schnee rieselt. Aber auf den Wunsch ihrer Freundinnen hin beschließt sie, einmal etwas Mutiges zu tun. Auf dem Winterball der Schule küsst sie Prince Charming - doch der stellt sich ausgerechnet als Elijah Harris heraus. Elijah, der faszinierende Mädchenschwarm, der so perfekt ist, dass Ari ihn auf den Tod nicht ausstehen kann. Doch Prince Charming braucht ihre Hilfe: Ari soll bis Weihnachten seine Freundin spielen, dann ist sie ihn los. Ari ist wenig begeistert, willigt jedoch ein. Sie hat schließlich keinen Schuh zu verlieren - nur ihr Herz …
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Veröffentlichungsjahr: 2023
A Kiss till Midnight:
Cinderella für eine Nacht
Isabell Walery
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.dnb.de abrufbar.
© 2020 Isabell Walery, Friedrichstraße 35, 46145 Oberhausen
Lektorat: Klaudia Szabo (www.wortverzierer.de)
Korrektorat: Cara Rogaschewski (www.wortverzierer.de)
Cover und Buchsatz: Emily Bähr (www.emilybaehr.de)
Dieser Titel ist auch als Taschenbuch erschienen.
1
Naserümpfend betrachte ich den Mistelzweig, der über dem Eingang eines Geschäfts in der Mall hängt. Furchtbar, dass zur Weihnachtszeit überall dieses Zeug von der Decke baumeln muss, und von der ach so fröhlichen Musik, die aus jedem Lautsprecher dudelt, will ich gar nicht erst anfangen. Genervt verdrehe ich die Augen, als zum x-ten Mal in diesem Jahr die Klänge von Last Christmas beginnen.
Mein Blick wandert langsam tiefer und bleibt an dem Pärchen hängen, das aussieht, als würde es gleich wegen des blöden Grünzeugs übereinander herfallen. Aus seinem Kuss ist binnen kürzester Zeit Abschlecken und Fummeln geworden. Angeekelt wende ich den Blick ab, nur ist das leider nicht so leicht, wie ich mir das vorgestellt habe. Die Szene ist wie ein Unfall, ich muss hinsehen. Ich schäme mich ein wenig, derart zu glotzen, und trete unschlüssig von einem Bein auf das andere.
Zwei Hände werden über meine Lider gelegt. Aufgrund der unerwarteten Berührung zucke ich heftig zusammen.
»Rate, wer ich bin«, flötet Hariette mir mit ihrer glockenhellen Stimme ins Ohr und lässt mich los. Wenige Sekundenbruchteile später erscheint ihr rosafarbener Pixie Cut in meinem Sichtfeld. Glücklich darüber, dass endlich jemand vor mir steht und die heißhungrigen Liebenden verdeckt, schließe ich meine beste Freundin in die Arme.
»Verdammt, wo hast du gesteckt? Und was ist mit Lucinda?«, tadle ich sie und löse mich von ihr. Irritiert schaue ich an ihr vorbei, aber die Schönheit mit den mexikanischen Wurzeln ist nirgends zu sehen.
»Mom hat die Monster auf mich losgelassen.« Sie verdreht die Augen. »Und ich fürchte, dass das noch nicht alles ist. Mit Sicherheit ruft sie mich an und dann muss ich wieder auf meinen kleinen Bruder und meinen Neffen aufpassen.« Theatralisch lehnt sie sich mit dem Handrücken an der Stirn zurück und verzieht die rosafarbenen Lippen.
Seufzend lasse ich die Schultern sinken. Leider muss sie oft auf ihren Bruder aufpassen.
»Und Lucinda?«, frage ich erneut hoffnungsvoll.
»Schafft es nicht. Es ist wieder irgendetwas mit ihrer Schwester. Si hat nichts Genaues geschrieben, als ich nachgefragt habe.« Hariette zuckt mit den Schultern und legt den Kopf schief. Für einen Moment verzieht sie den Mund und eine Spur Traurigkeit ist in ihren Augen zu lesen.
»Oh Mann.« Schwer schlucke ich und mein Herz zieht sich zusammen angesichts dieser. Viel zu häufig ist Lucinda nicht mit von der Partie, wenn wir uns treffen, und ich frage mich, wie sie sich fühlen muss. Ihr Lächeln kommt mir in den Sinn, das sie immer aufsetzt und das innerhalb weniger Momente von ihrem Gesicht verschwindet, wenn sie zu Gunsten ihrer erkrankten Schwester zurückstecken muss.
»Das heißt, dass ich später komplett auf mich allein gestellt bin?«, werfe ich Hariette theatralisch an den Kopf. Gespielt genervt verschränke ich die Arme vor der Brust. »Eigentlich könnte ich jetzt zu Hause sitzen, tonnenweise Kekse in mich hineinstopfen und kuschelige Socken anhaben. Stattdessen bin ich in einer Mall und muss jeden Moment damit rechnen, dass du mich allein lässt?«
Ich hoffe, uns mit meinem Ausbruch ein wenig aufzuheitern, auch wenn unsere Gedanken bei unserer Freundin hängen. Lucinda will bestimmt nicht, dass wir Trübsal blasen. So ist sie nicht und ist es auch nie gewesen.
»Nö.« Stürmisch ergreift Hariette meine Hand und zieht mich mit einem Schnauben hinter sich her. Mit einem Mal ist der Kummer, den ich gerade in ihren Augen gesehen habe, verflogen. Stattdessen wirkt sie aufgedreht und als könne sie es gar nicht abwarten. »Nun komm endlich. Dein Kleid kauft sich schließlich nicht von allein.«
Ich seufze, lasse kraftlos die Schultern sinken und stehe nach einem kurzen Lauf in einer kleinen Boutique namens Glamour. Noch nie war ich hier und habe dieses Geschäft bis heute nicht einmal bemerkt. Zugegeben, ich meide die Mall so gut es geht. Shopping ist nicht meins. Zu viele Menschen auf einem Fleck und Schlangen vor den Umkleiden. Ich mag Menschen nicht. Steine und Pflanzen sind hingegen toll. Mein Blick schweift umher und ich fühle mich bereits nach wenigen Sekunden von den Mengen an Tüll und Glitzer erschlagen. Außerdem bin ich fehl am Platz, was mich nur darin bestärkt, umdrehen zu wollen.
Hariette löst sich von mir und hüpft aufgeregt zu dem erstbesten Kleiderständer, der hoch über ihrem Kopf aufragt. Ich folge ihr mit wenigen Schritten und sehe ihr über die Schulter. Mit zittrigen Fingern geht sie die Kleider durch und streicht immer wieder andächtig über die Stoffe.
Tief atme ich ein, blähe die Wangen auf und verdrehe die Augen, ehe ich ein paar Schritte näher gehe und ihr ins Gesicht sehe. Auf ihrer Suche nach dem perfekten Kleid wirkt sie versonnen. »Das kann ja heiter werden«, murmle ich, erhalte aber keine Reaktion.
Hariette zieht ein gelbes paillettenbesetztes Teil heraus, hält es abschätzend vor meinen Körper und hängt es zu meinem Glück so schnell zurück, dass mir nicht einmal der Mund vor Entsetzen aufklappen kann. Dieses Teil hätte ich auf keinen Fall für den jährlichen Winterball unserer Highschool in Betracht gezogen und ich verstehe nicht, wieso meine beste Freundin das tut. Ein Schauer läuft mir über den Rücken, als ich noch einmal einen Blick darauf werfe.
»Möglicherweise bleibe ich einfach zu Hause und lese ein Buch oder gucke eine Serie auf Netflix, wie jedes Jahr«, versuche ich es erneut hoffnungsvoll, rechne aber nicht damit, dass sie mich so schnell gehen lässt. Vor allem, wenn wir in ihrer ganz eigenen Welt sind.
Wie zu erwarten sucht sie weiter nach dem perfekten Outfit und wirft mir einen raschen Todesblick zu. »Das …« Sie deutet mit einem Finger auf mich. »… lasse ich dir jetzt noch durchgehen, Ari. Erstens kommst du nie mit, wenn ich shoppen gehen will, zweitens habe ich die letzten Jahre für dich auf den Winterball verzichtet. Und denk mal an Lucinda. Sie ist auch nie tanzen gegangen und das ist die letzte Gelegenheit, bevor alle aufs College gehen.« Sie stemmt die Hände in die Hüfte. »Und du wirst mitkommen.« Ihre Stimme klingt gereizt und sie verzieht den Mund. Obwohl sie groß und dünn ist, sieht sie einschüchternd aus, sodass ich zaghaft lächle und hoffe, ihr Ärger verraucht schnell, wenn ich genau das tue, was sie möchte.
»Schon gut«, antworte ich kleinlaut. »Du hast gewonnen. Ab jetzt sage ich nichts mehr und ziehe an, was du mir gibst, bis wir ein Kleid finden.« Ich drehe einen imaginären Schlüssel vor meinem Mund und werfe ihn weg. Damit scheint sie zumindest besänftigt, denn ihre Lippen umspielt wieder das altbekannte Lächeln.
Ein wenig schuldig fühle ich mich schon. Statt die gesellschaftlichen Events unserer kleinen Stadt zu besuchen, sind meine Freundinnen bei mir geblieben, obwohl ich ihnen versichert habe, dass ich nicht böse wäre, wenn sie ohne mich gehen. In meinem Kopf spielen sich all die Gelegenheiten ab. Neben dem Winterball gab es den jährlichen Winterkarneval mit Eisskulptur- und Skiwettbewerben. Außerdem am zweiten Wochenende nach dem Labor Day die Schafscherwettbewerbe, die an alte Zeiten erinnern sollten, verbunden mit einem Straßenfest. Und so viele andere Möglichkeiten. Nachdenklich kaue ich auf meiner Unterlippe herum.
Hariette wendet sich von mir ab und lässt ihre flinken Finger über die Roben gleiten. Statt neben ihr zu bleiben, schlendere ich durch die Boutique, verharre hier und da und ziehe das ein oder andere Kleid hervor. Allerdings gefällt mir keines, obwohl sich die Stoffe angenehm anfühlen. Sie erinnern mich an die Miss-Wahlen, zu denen mich meine Stiefmutter mit den Zwillingen geschleppt hat, und die jährlichen Weihnachtsbälle auf unserem Anwesen. Lange Designerkleider sind mir seitdem ein Graus, während sich andere Mädchen wie Prinzessinnen fühlen. Noch heute spüre ich das Zerren an meinen Haaren, die zu einer hohen Frisur aufgetürmt, und die langen falschen Wimpern, die mir an die Lider geklebt wurden. Das Einzige, was geblieben ist, ist meine Liebe zu außergewöhnlichen Lidschatten. Dennoch muss ich schmerzhaft den Rücken durchdrücken, wenn ich daran denke, wie ich die Laufstege auf- und abgelaufen bin, mit einem falschen Lächeln auf den Lippen und Schuhen, die für ein kleines Mädchen viel zu hoch waren. Es war der Traum meiner Stiefmutter, nicht meiner, trotzdem habe ich ihn ausbaden müssen.
Ich schüttle den Kopf, um diese trüben Gedanken loszuwerden, und lasse meinen Blick schweifen. Er bleibt an der Verkäuferin hängen, deren Haare bereits ergraut sind und die in meiner Nähe hinter einem Tresen steht. Mit ihrem aufmunternden Lächeln und den Fältchen um Mund und Augen erinnert sie mich an eine typische Großmutter aus Filmen. Ich kann mir vorstellen, dass sie zu Hause mit einem Teller Kekse auf den Besuch ihrer Enkel wartet. Das Leuchten ihrer funkelnden blauen Iriden hinterlässt eine Gänsehaut auf meinen Armen.
»Ari?« Ich höre Hariettes Stimme hinter mir und drehe mich zu ihr um. Zu meiner Erleichterung hat sie kein Stoffungetüm auf den Armen und für einen Moment steigt in mir die Hoffnung auf, dass sie aufgegeben hat und es für mich kein Kleid gibt.
»Geh schon mal in die Umkleide und zieh dich aus. Ich habe ein paar tolle Stücke entdeckt. Je schneller du bist, desto schneller sind wir draußen.« Mit einer Handbewegung scheucht sie mich weg, aber bevor ich ihre Anweisungen befolge, salutiere ich vor ihr und rufe mit einem Grinsen: »Aye, aye, Captain!«
Vor der Umkleide betrachte ich den Vorhang mit einem grellem Achtziger-Jahre-Blümchenmuster, das gleichermaßen in den Augen wehtut und mich dennoch fesselt.
»Jetzt mach schon«, höre ich meine beste Freundin weiter entfernt. Ich drehe mich um, entdecke sie aber nicht mehr. Schulterzuckend begebe ich mich in die Umkleide. Ich schlinge die Arme um meinen Körper. Gänsehaut bildet sich wegen des kalten Luftzugs der Klimaanlage darauf.
Als Hariette den Stoff zur Seite zieht, zucke ich zusammen, entspanne mich aber, kaum dass sie ihren Kopf hereinsteckt. Ihr Gesicht ziert ein begeistertes Grinsen und ihre grasgrünen Augen leuchten.
»Bist du bereit?«
»War ich nicht, bin ich nicht und werde ich auch nie sein«, grummle ich.
»Jetzt hör endlich auf, so ein Grinch zu sein. Du bist selbst schuld, dass wir hier stehen und Zeitdruck haben. Schließlich ist der Ball schon morgen, also müssen wir etwas für dich finden. Wenn du dem Thema nicht so lange ausgewichen wärst, hätten wir vor Monaten nach Kleidern suchen können und hätten …« Sie macht eine Pause, als müsse sie nachdenken. »… mehrere Monate und nicht nur einen einzigen Tag gehabt, um ein Outfit zu finden. Du hast mich hängen lassen, also hör auf zu meckern.«
Wow, ich habe sie selten so forsch und schuldzuweisend erlebt. Ich sehe sie mit großen Augen an und nicke dann. »Sorry, du hast recht. Schließlich wollte ich nichts mehr sagen, also gib mir bitte das erste Kleid.«
Hariette hält mir ein bordeauxfarbenes Ungetüm hin, das ich widerwillig entgegennehme. In dem Moment, in dem es meine Haut berührt, nehme ich sofort zurück, was ich vorhin über Stoffe gedacht habe. Dieser ist nämlich alles andere als angenehm. In meiner Hand fühlt er sich kratzig an und ist so schwer, dass ich das Kleid nicht einmal mit einem Arm hochhalten kann, um es mir genau anzusehen. Zugegeben, meine Arme bestehen mehr aus Pudding als aus Muskeln, dennoch behaupte ich, dass es sauschwer ist.
Trotzdem nehme ich es von dem Bügel, der aussieht, als gäbe er bald unter dem Gewicht nach, und ziehe es an. Selbst mit schiefgelegtem Kopf sieht der leere Bügel verbogen aus.
Ich bekomme keine Luft. Der Schnitt wirkt viel zu eng an meinem Körper, obwohl ich den Reißverschluss ohne Mühe zubekommen habe. Das Gewicht lastet auf meiner Brust, erschwert mir das Atmen. In diesem Ungetüm halte ich es keine zehn Minuten aus. Der Schnitt entspricht dem Meerjungfrauenstil und ist damit genau das, was ich nie ausgesucht hätte. Hariette hat wirklich ein Händchen dafür. Mit einer Garantie von neunundneunzig Prozent fischt sie ein Kleid heraus, das nicht nur Tonnen wiegt, sondern auch noch schlimmer juckt als tausend Mückenstiche. Es schmiegt sich so eng an meine Haut, dass ich unmöglich auch nur einen Schritt gehen kann.
Nachdem ich eben noch gefroren habe, ist mir nun viel zu warm. Mir steigt die Röte in die Wangen und ich fächle mir automatisch mit einer Hand Luft zu. Meine Arme stecken in ebenso rotem Spitzenstoff und ich würde ihn am liebsten von mir zerren. Allerdings reiße ich mich zusammen, auch wenn meine Haut die Farbe des Kleides annimmt. Nur bis meine beste Freundin das Teil sieht und hoffentlich zu demselben Schluss kommt wie ich:
Es ist grauenhaft.
Mit Schwung ziehe ich den Vorhang beiseite und watschle wie ein Pinguin aus der Umkleide. Dabei schleift das viel zu lange Kleid über das Linoleum und ich muss aufpassen, dass ich nicht auf den Saum trete und zu Boden gehe. Suchend blicke ich mich in dem kleinen Laden um, entdecke meine Begleitung aber nicht.
»Hariette?«, rufe ich etwas lauter als geplant und warte ab. Nach einigen Sekunden sehe ich zuerst ihren rosafarbenen Haarschopf zwischen zwei Kleiderständern, bevor der Rest von ihr sichtbar wird. Ihre grünen Augen beginnen zu funkeln, als sie mich erblickt, gleich danach lacht sie schallend. Sie versucht nicht einmal, es mit einem Husten zu tarnen, und hält sich die Arme vor den schlanken Bauch, während sie sich vorbeugt. Ihr sonst so porzellanfarbener Teint wechselt zu einem Feuerrot und einzelne Strähnen fallen ihr in die Stirn.
Mein Blick gleitet zu dem Standspiegel in meiner Nähe und ich verstehe, warum sie mich auslacht. Statt mich darüber zu ärgern, falle ich mit ein. Dad sagt immer: Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu zahlen.
Die Person im Spiegel ertrinkt im bordeauxroten Stoff. Zwischen all den Lagen ist nichts mehr zu erkennen, außer der dicken schwarzen Brille und meiner Beanie, die ich selten abnehme. Das Ungetüm von Kleid ist viel zu lang und wirft ab dem Becken entsetzliche Falten.
Nach dem Lachanfall fällt mir das Atmen schwerer und in meinen Augenwinkeln haben sich Tränen gebildet, die ich mit meinem Handrücken wegwische. Hariettes Gesicht hat mittlerweile die Farbe des Kleides angenommen und Tränen wandern ungehindert über ihre Wangen. Die wenigen Kunden, die sich in den Laden verirrt haben, beäugen uns kritisch. Als hätten wir nicht mehr alle Tassen im Schrank. Peinlich berührt drehe ich mich um, um mir endlich dieses kratzende Etwas vom Körper zu schälen.
»Okay, Hariette«, rufe ich aus der Umkleide. »Ich bin bereit für das nächste Kleid. Reich es mir einfach rein. Falls du eins findest.« Den letzten Satz betone ich. »Aber bitte nicht so einen Reinfall. Am besten lässt du deinen Geschmack ein wenig außen vor.«
Statt einer bissigen Erwiderung reicht sie mir wortlos ein Kleid. Ich bemerke die faltigen, länglichen Finger, die unmöglich Hariettes sein können, doch als ich den Kopf durch einen schmalen Spalt zwischen Vorhang und Wand stecke, ist niemand zu sehen. Somit kann ich das Missverständnis nicht aufklären. Ich ziehe mich zurück, weil ich nicht in Unterwäsche rauslaufen will.
Dieses Kleid fühlt sich viel leichter an. Das weiche Oberteil ist übersäht mit silbernem Glitzer und lässt nicht erahnen, welche Farbe der Stoff darunter hat. Nicht eine Stelle bleibt frei. Zur Taille hin nimmt der Glitter ab, sodass nachtblauer Samt zum Vorschein kommt und sich tief am Becken in weite Lagen öffnet. Der verbliebene Glitzer wirkt wie der funkelnde Sternenhimmel in einer wolkenlosen Nacht. Selbst wenn ich den Irrtum aufklären könnte, will ich das nicht mehr. Es ist seltsam, dass ein Kleid ein Gefühl auslösen kann. Schließlich ist es nur ein Ding, dennoch kann ich es nicht erwarten, dieses Stück Stoff zu tragen. Mit zitternden Fingern öffne ich atemlos den Reißverschluss an der Seite. Er hakt ein wenig, aber mit Fingerspitzengefühl löse ich ihn und ziehe mir das Kleid vorsichtig über den Kopf. Sanft gleitet es an meiner Haut entlang nach unten, beinahe wie eine Liebkosung oder die zarte Berührung einer Feder.
Ich verfolge mit den Händen den Stoff, der mich bis zum Becken wie eine zweite Haut umgibt. Die Stoffbahnen des Rocks wirken noch ein wenig zu lang und ergießen sich auf den Boden, aber mit den richtigen Schuhen passt es mit Sicherheit wie angegossen.
Das Kleid wirkt, als sei es für meinen Körper maßgeschneidert, und fühlt sich angenehm kühl und wärmend zugleich an. Ich bin wirklich froh, allein in einer Kabine zu sein, denn es muss schon ein komischer Anblick sein, wie ich auf und ab springe und das Kleid auf seinen Tragekomfort teste. Letztlich fahre ich langsam über den Stoff und genieße den Samt unter meinen Fingern.
»Bitte, lass es gut an mir aussehen«, sende ich ein Stoßgebet gen Himmel und hoffe, dass mich jemand hört. Ich bin mir nicht sicher, ob ich es ertrage, wenn es nicht so sitzt, wie ich es mir vorstelle. Schwer schlucke ich bei diesem Gedanken, zwinge mich, tief ein- und auszuatmen, bevor ich den Vorhang öffne und einen Schritt aus der Umkleide mache. Mein Herz klopft hart gegen meine Brust und ich höre das Blut in meinen Ohren rauschen. Nervosität macht sich in mir breit, die ich eilig loszuwerden versuche. Es ist nur ein Kleid, wiederhole ich wie ein Mantra. Nur ein Kleid. Aber die Wahrheit ist, dass ich das erste Mal in meinem Leben enttäuscht wäre, wenn es nicht passt. Verrückt!
»Hariette?«, rufe ich in den Verkaufsraum und stelle mich, in der Hoffnung, dass ich ihren rosafarbenen Schopf erspähe, auf die Zehenspitzen. Allerdings habe ich kein Glück. Ich ziehe eine Schnute und beschließe, so lange durch die Boutique zu laufen, bis ich sie finde. Behutsam hebe ich den Rock mit beiden Händen hoch, damit ich nicht auf den Saum trete. Ich spitze meine Ohren, bis ich ein Geräusch wahrnehme, das nur von meiner Freundin kommen kann. Ich folge dem bekannten Kichern, bis ich die hochgewachsene, schlanke Gestalt meiner Freundin finde.
»Hariette, ich …«, versuche ich es noch einmal, aber mir bleibt der Satz mitten im Hals stecken. Vor ihr steht ein Junge mit haselnussbraunen Haaren, der mir bekannt vorkommt. Seufzend lasse ich die Schultern sinken. Meine Freundin zieht Typen an wie das Licht Mücken. Kaum lässt man sie ein paar Minuten allein, nutzt ein Junge die Chance. Aber wie kann ich es ihnen verdenken? Mit den vollen Lippen, grasgrünen Augen und ihrer hochgewachsenen Gestalt wirkt sie wie ein Topmodel. Mit Sicherheit würde ich mich auf der Stelle in sie verlieben, wäre ich ein Kerl.
Erst als ich ein paar Schritte näher gehe, erkenne ich Jason aus unserer Stufe. Mit ihm habe ich wenige Kurse und absolut nichts zu tun. Wahrscheinlich haben wir ungefähr zehn Worte miteinander gewechselt und ich wusste nicht, dass Hariette und er sich kennen. Neugierig mache ich noch ein paar Schritte und sehe ihr ins Gesicht.
Meine beste Freundin lächelt, ihre Iriden funkeln und auf ihrem porzellanfarbenen Teint liegt ein rötlicher Schimmer, der sie wirklich süß wirken lässt. Gedankenverloren fährt sie sich durch ihre Haare und legt Jason eine Hand auf den Arm. Ich fühle mich wie ein Störfaktor, als sei die Szene nicht für meine Augen bestimmt, sodass ich mich zurückziehe und allein einen Blick in einen Standspiegel in meiner Nähe werfe.
2
Für einen Moment stockt mir der Atem. Ich starre in den Spiegel und kann kaum glauben, dass die Schönheit darin ich sein soll. Doch die Mütze und die Brille belehren mich eines Besseren.
Hinter mir taucht die grauhaarige Verkäuferin auf. Auf ihren Lippen liegt ein gutmütiges Lächeln, das die kleinen Grübchen in ihren Wangen enthüllt. Ich werde das Gefühl nicht los, dass sie ihre Augen überall hat.
»Wie gefällt es dir, Liebes?«, fragt sie sanft und mit einer unerwarteten Wärme in der Stimme. Ich kann nicht anders, als ihr Lächeln zu erwidern. »Schau dich an«, fordert sie mich auf und zeigt an mir vorbei auf den Spiegel. Ich folge ihrem Blick und bin fasziniert von diesem Kleid. Es ist magisch. Im Schein der Neonröhre funkelt es mit all den anderen um die Wette. Es ist mir nicht möglich, den Blick abzuwenden, während ich mich hin- und herdrehe und begeistert das Spiel des Lichts auf dem Stoff verfolge.
»Es ist atemberaubend«, hauche ich. »Haben Sie das ausgesucht?«
Sie nickt. »Ich dachte, dass es dir stehen würde, und damit habe ich rechtbehalten.«
Mit zitternden Händen fahre ich über den Carmen-Ausschnitt. »Sie haben wirklich einen Blick dafür. Wahrscheinlich hätte ich es mir nicht selbst ausgesucht. Haben Sie vielen Dank.«
»Das ist mein Beruf, Liebes. Dafür bin ich hier.« Die Verkäuferin reibt ihre Hände und ihr Lächeln wird eine Spur breiter.
»Ich habe noch nie etwas Schöneres getragen«, erwidere ich wahrheitsgemäß und muss an die vielen Male denken, als meine Stiefmutter mich in irgendwelche Fetzen gesteckt hat, die ihrer Meinung nach elegant waren.
»Oh mein Gott.« Die Stimme meiner besten Freundin klingt einige Oktaven zu hoch und reißt mich aus meinen Gedanken. Mit Schwung drehe ich mich zu ihr um. Hariettes Augen leuchten begeistert und ihr ganzes Gesicht strahlt. »Ari, du siehst bezaubernd aus. Du hast nie besser ausgesehen!«
»Findest du?« Meine Mundwinkel heben sich automatisch.
»Auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole, sage ich es gern noch einmal – du hast nie hübscher ausgesehen. Wenn du deine Mütze absetzt, wirkt es bestimmt noch schöner.«
»Vielen Dank. Aber meine Beanie gehört zu mir, wie du weißt.«
Mir steigt die Röte in die Wangen und ich drehe mich zur Verkäuferin um, doch sie ist genauso schnell verschwunden, wie sie gekommen ist. Ich riskiere einen weiteren Blick in den Spiegel. Meine grauen Augen leuchten wie die Steine auf dem Kleid.
»Ehrlich, Ari. Du könntest das Teil …« Sie deutet mit einem Finger auf meine Mütze. »… wirklich mal absetzen. Du hast so schöne glänzende Haare.«
»So fühle ich mich einfach wohler.«
»Weiß ich.« Sie seufzt. »Du brauchst ein bisschen mehr Selbstbewusstsein.«
»Ah, hör auf damit«, winke ich ab. Nicht zum ersten Mal führen wir dieses Gespräch und es wird nicht das letzte Mal sein. Die Wahrheit ist, dass ich nicht gesehen werden will, dass ich gern unscheinbar bin und nicht wie Hariette alle Typen magisch anziehe.
Hariette legt ihren Kopf auf meine Schulter. Das lässt mich schwanken, aber ich finde schnell mein Gleichgewicht wieder.
»Du hast den Sternenhimmel auf dem Rock. Kauf es.« Ihre Stimme ist nicht mehr als ein Flüstern und trotzdem wirkt sie wie das imaginäre Teufelchen, das oft auf meiner Schulter sitzt und mich zu Dingen bewegt, die ich früher oder später bereue.
»Aber ich weiß gar nicht, wie viel es kostet«, entgegne ich genauso leise. »Bestimmt ein halbes Vermögen, und wenn das der Fall ist, bemerkt meine Stiefmutter das fehlende Geld mit Sicherheit auf ihrer Karte.« Ich verziehe den Mund und runzle die Stirn. In meinem ganzen Leben habe ich nie um Geld gefragt. Ich konnte und wollte einfach nicht.
Und seine Frau. Ich denke an ihren kühlen, strengen Blick, die aufgespritzten Lippen und die harten Züge, die ihr Gesicht umspielen. Ein Schauer jagt mir über den Rücken. Ihre Kreditkarte hat sie mir kurz vor ihrer Abreise in die Hand gedrückt, als Dad schon nicht mehr zu Hause gewesen ist. Mit ihren kalten grünen Augen hat sie mich angestarrt und mir das Versprechen abgenommen, dass ich keine Dummheiten veranstalten und nur Geld abheben dürfe, wenn es wirklich wichtig ist. Näher definiert hat sie das aber nicht. Ihre Reaktion, wenn ich um Geld bitten würde, kann ich mir nur allzu gut ausmalen. Sie würde lachen, mich aber nicht shoppen gehen lassen, sondern mich in ein grausiges Designerkleid stecken, das sie ausgesucht hätte. Und ich?
Ich besitze nicht den Mut, ihr meine Meinung zu geigen. In mir kämpfen bereits Verstand und Herz um die Oberhand.
»Sie hat aber auch gesagt, dass die Kreditkarte für Notfälle ist. Das hier …« Hariette deutet auf mich. »… ist mit absoluter Garantie ein Notfall. Schließlich hast du kein Kleid für den Winterball, der schon morgen ist.«
Mein Herz gewinnt. Und damit auch das Mädchen mit den Hörnern und dem Dreizack.
»Soll ich nachsehen, wie viel es kostet?«
Zaghaft nicke ich, obwohl ich unsicher bin, ob ich das wissen möchte. Meine beste Freundin macht sich sogleich an meinen Rücken zu schaffen und fingert das Schild heraus.
»O Gott. O Gott«, entfährt es ihr keuchend.
»Was?«, frage ich besorgt und viel lauter als geplant. Als ich keine Antwort erhalte, drehe ich mich hektisch um mich selbst. Ein verräterisches Ratsch lässt mich zusammenfahren. Kein Wort kommt über meine Lippen und meine Freundin sieht mindestens genauso geschockt aus. Mein Herz klopft hart in meiner Brust. Langsam, beinahe in Zeitlupe – zumindest fühlt es sich so an – sehe ich zu der Verkäuferin, die in diesem Moment bei uns zum Stehen kommt. Ich möchte am liebsten in einem Loch im Boden versinken. Merkwürdigerweise ist in ihrem Ausdruck nichts von ihrer Güte verschwunden. Das verwirrt mich. Immerhin habe ich ihre Ware zerstört.
»Es …«, versuche ich zu erklären, aber mir versagt die Stimme. Sogleich beginne ich erneut. »Es tut mir wirklich leid. Natürlich komme ich für den Schaden auf. Ich wollte es sowieso kaufen«, sprudeln die Worte aus mir heraus und meine Stimme überschlägt sich beinahe. Mit großen Augen starre ich die näher kommende Frau an.
»Wir bringen das schon in Ordnung, Liebes.«
Meine Handflächen sind feucht und ich atme stoßweise. Ich kann nicht ausdrücken, was ich gerade empfinde, und der Schock sitzt tief. Das Blut rauscht in meinen Ohren und beinahe hätte ich das »Darf ich?« der Verkäuferin nicht vernommen.
Vorsichtig nicke ich und probiere mich an einem Lächeln, das auf meinen Lippen versteinert und wie eine verzerrte Fratze wirken muss. Konzentriert macht sich die Verkäuferin an einer Stelle an meinem Rücken zu schaffen.
»Es tut mir so unendlich leid. Sie müssen mir glauben«, brabble ich los und hoffe gleichzeitig, dass mir endlich jemand den Mund zuhält, aber natürlich tut mir keiner den Gefallen. Ich fürchte, dass ich es nicht besser mache, wenn weitere Worte hervorsprudeln.
Bei meinem Versuch, mich umzudrehen, hält mich die alte Dame blitzschnell an den Schultern fest. Ich habe ihr solche raschen Bewegungen nicht zugetraut und zucke überrascht zusammen. Ihre Finger auf meiner Haut fühlen sich warm und tröstlich an und beruhigen mich ein wenig.
»Bleib bitte ruhig stehen. Wie ich gesagt habe, wir bekommen das hin. Hab nur ein bisschen Geduld mit einer alten Frau wie mir.«
Sie lässt ihre Hände sinken, als sie sicher ist, dass ich mich nicht erneut bewege. »Gestatte mir nur schnell etwas holen«, ergänzt sie und verschwindet flink hinter mir. Nur ein kühler Luftzug streicht leicht über meine Haut.
»Wie schlimm ist es wirklich?«, frage ich Hariette und riskiere einen Blick über die Schulter.
Sie hat bisher kein Wort gesagt. Nun tritt sie ein paar Schritte näher, beäugt den Schaden und umrundet mich, bis sie vor mir steht. Auf ihrem Gesicht liegt ein Ausdruck, den ich nicht deuten kann und der mir Furcht einflößt.
Schließlich seufzt sie.
»Was?«, frage ich nervös und meine Hände beginnen zu zittern. Wie es aussieht, habe ich es wirklich verbockt.
»Es ist an der Naht ein kleines Stück eingerissen. Du kannst dich also beruhigen.«
Erleichtert lasse ich die Schultern sinken und mir entfährt ein Stoßseufzer. Gleichzeitig balle ich die Hände zu Fäusten und verziehe den Mund. Der Sturm in meinem Inneren legt sich langsam und mein Herzschlag nimmt ein normales Tempo an. »Also ist es rein gar nichts und du hast mich völlig umsonst panisch werden lassen?«
»Ich würde es nicht so ausdrücken, aber im Grunde hast du den Kern getroffen«, erwidert meine beste Freundin und zuckt mit den Schultern.
»Das ist ein Witz, oder?« Ich stemme die Hände in die Hüfte und sehe sie fragend an.
»Nö.« Hariette fährt sich durch die kurzen Haare.
»Toll«, murmle ich sarkastisch. »Dann kann man das Kleid also flicken?«
»Ich bin kein Fachmann, aber ich schätze schon.«
»Danke.« Immerhin kann es repariert werden. Mittlerweile kann ich nicht mehr erwarten, meine Kleidung anzuhaben.
»Immerhin hast du ein Kleid für den Ball.« Belustigt zieht sie die Augenbrauen hoch und auf ihren Lippen liegt der Anflug eines verschmitzten Lächelns.
Spielerisch boxe ich sie gegen die Schulter. »Hör auf zu lachen, blöde Kuh.«
»Blöde Kuh?«, echot sie. »Mit dieser Beleidigung hast du mich hart getroffen.« Ihre Worte triefen nur so vor Ironie.
»Genau«, entgegne ich und strecke ihr die Zunge raus.
»Fräulein Winters, das gehört sich aber nicht«, tadelt sie mich und hebt dabei ihren Finger. Doch statt eines strengen Ausdrucks wird ihr Grinsen eine Spur breiter. Dieses Duell hat sie gewonnen und bringt damit auch mich zum Schmunzeln. Für diesen Moment fühle ich mich leicht und die kaputte Naht ist fast vergessen. Mit einem Lächeln schüttle ich den Kopf.
»Liebes?« Die Stimme der Verkäuferin reißt mich aus meinen Gedanken. »Dreh dich bitte noch einmal zum Spiegel.«
Ich nicke und tue wie geheißen. Warme Finger streifen meine Haut, als sie mit Stecknadeln in Ordnung bringt, was ich durch meine unbedachte Bewegung zerstört habe.
»So, meine Liebe.« Die alte Dame sieht mich über die Schulter hinweg an. »Zieh bitte das Kleid vorsichtig aus. Achte darauf, dass keine Nadel herausfällt. Ich habe es noch ein wenig enger für dich gemacht. Nun sitzt es wirklich wie an deinen Körper geschneidert. Sobald du so weit bist, bring es mir bitte an die Theke und pass auf, dass du dich nicht verletzt.«
Kurz zögere ich, erstarre in der Bewegung. Eine Entschuldigung liegt mir erneut auf der Zunge und ich brauche sie nur noch auszusprechen. Dennoch schaffe ich es nicht. Am besten halte ich den Mund und tue, was sie sagt. So kann ich auch keinen weiteren Schaden anrichten.
Also nicke ich und trete den Rückzug zur Umkleide an, schlüpfe hinter den Vorhang und schäle mich mit größter Vorsicht aus dem eleganten Stoff.
Glücklich darüber, nichts mehr zerstören zu können, ziehe ich meine schwarze Jeans und den übergroßen grünen Pullover an. Dabei rutscht die Beanie herunter und entblößt meine langen blauschwarzen Haare, die ich eilig mitsamt des geraden Ponys unter die Mütze stecke.
Das Kleid klaube ich vom Boden auf und bringe es zu der Theke, an der Hariette lehnt und sich angeregt mit der Verkäuferin unterhält.
Ich räuspere mich, als ich näher komme, und lege das Kleid behutsam ab. »Entschuldigung noch mal«, rutschen die Worte nun doch über meine Lippen. Obwohl man das Kleid retten kann, habe ich das Gefühl, dass sie nicht genug sind. Demütig senke ich den Kopf und hoffe, dass die Verkäuferin mir glaubt.
»Das kann doch jedem passieren.« Sie nimmt es mir ab und bringt es in einen kleinen Raum hinter der Theke. Viel erkenne ich nicht, denn der Vorhang, der dem der Umkleide gleicht, fällt direkt wieder zu. »Ich bemühe mich, schnell zu arbeiten, und schätze, dass du es in ein, zwei Stunden abholen kannst.«
»Könnte ich es vielleicht vorher bezahlen?«, frage ich und krame bereits in meinem braunen Lederrucksack mit einem Sugar-Skull-Muster nach meinem Portemonnaie.
»Das machen wir später, Liebes«, unterbricht sie mich.
»Nein«, widerspreche ich schnell und klinge harscher, als ich möchte. »Ich meine, dass ich es gern bezahlen würde. Sie kennen mich schließlich nicht und können nicht wissen, dass ich zurückkomme. Damit würde ich mich wohler fühlen.
»Na gut.«
»Könnten Sie mir vorher noch mitteilen, was es kostet?« Ich lächle sie an und zücke die Kreditkarte meiner Stiefmutter.
»Zweihundert Dollar«, antwortet mein Gegenüber. Ich habe mit mehr gerechnet. Viel mehr. Erleichterung durchströmt mich und der Gedanke an die Frau meines Vaters macht sich wieder in meinem Kopf breit.
Es kann funktionieren.
Sie wird es nicht merken, hoffe ich zumindest.
»Was? Nur zweihundert Dollar?«, echot meine beste Freundin und stützt sich auf dem Tresen ab. »Für dieses Kleid?« Mit einem Finger deutet sie auf den hinteren Raum und springt mich im nächsten Moment aufgeregt von der Seite an. »Du. Musst. Es. Unbedingt. Kaufen.« Hariette betont jedes Wort einzeln und brüllt dabei, als sei ich taub. Ich reibe mir das schmerzende Ohr nach ihrer Attacke auf mein Trommelfell. »Nimm es. Es schreit nach dir.«
Ich schiebe sie von mir und verziehe den Mund. »Wenn du so weitermachst, kann ich den Schrei des Kleides nicht hören. Im Moment übertönst du es«, erwidere ich. »Gib endlich Ruhe. Ich habe längst gesagt, dass ich es kaufe, und wenn du nicht wie ein aufgeregtes Hündchen an mir auf und ab springen würdest, hätte ich es auch schon bezahlt.«
»Dein Tanzpartner wird große Augen machen, wenn er dich sieht.« Die Verkäuferin nimmt mir die Kreditkarte ab.
Verblüfft starre ich sie an. »Mein Tanzpartner?«, frage ich und sehe von ihr zu meiner besten Freundin. Vielleicht hat Hariette eine Ahnung.
»Natürlich«, erwidert sie fröhlich. »So ein hübsches Mädchen wird doch bestimmt von allen in der Schule angehimmelt.«
Statt einer Antwort kommt aus meinem Mund nur ein »Ähm«, was sie scheinbar als Einladung nimmt, weiterzusprechen.
»Ihr geht doch sicherlich auf den Winterball der Stowe Highschool und deine Freundin hat diesen netten Jungen als Date, der vorhin hier war.« Sie zwinkert mir zu, als sei sie wirklich überzeugt davon.
Fragend ziehe ich die Augenbrauen hoch und sehe zu Hariette, die meinen Blick meidet, lächelt und den Kopf einzieht. Verlegen reibt sie sich den Nacken.
Die Verkäuferin behält also recht. Hariette hat ein Date und damit sind Lucinda und ich allein.
»Verräterin«, flüstere ich und boxe sie spielerisch gegen die Schulter. Meine Lippen ziert ein verschmitztes Lächeln.
Im Gehen drehe ich mich noch einmal zu der Verkäuferin um und winke ihr zu. »Bis nachher«, verabschiede ich mich. Sie lächelt und winkt mir ebenfalls.
Beim Verlassen des Ladens fühle ich etwas, das ich nicht genau benennen kann. Die Verkäuferin hat etwas Magisches an sich und ist in dem Moment aufgetaucht, als ich sie brauchte. Sie ist freundlich und herzlich wie eine gute Fee.
Ich verwerfe den albernen Gedanken. Magie ist nicht real und sie ein Mensch, keine Fee. Außerhalb der Boutique platzt es aus mir heraus. »Du hast also jemanden, der mit dir zum Ball geht?« Meine Worte klingen schroffer, als ich will, und Hariette zuckt kurz zusammen. Sofort bereue ich, sie so angefahren zu haben, dabei fand ich ihre Reaktion in der Boutique noch lustig. »Sorry«, rudere ich zurück. »Es ist nur, dass uns immer wieder Kerle dazwischenfunken. Lucinda gefällt das bestimmt auch nicht. Wir waren uns sicher, dass es dieses Mal nur wir drei sind. Genau genommen habt ihr mich zu diesem Abend gedrängt und nun erfahre ich, dass du ein Date hast.« Meine Stimme bebt bei diesen Worten.
Ich wollte nicht so vorwurfsvoll klingen, doch in meinem Hals macht sich ein Kloß breit, gegen den ich nur schwer ankomme.
»Oh, Mäuschen.« Hariette hält mich an einer Hand zurück und schließt mich in eine feste Umarmung. Ich lasse es zu und habe das Gefühl, dass ich sie wachrütteln konnte. Ich schlinge meine Arme um sie und bette meinen Kopf an ihre Schulter. Sie ist so groß, dass er gemütlich Platz in der kleinen Kuhle findet und ich die Augen schließe.
»Es tut mir so leid.« Beruhigend tätschelt sie mir den Kopf. »Ich fürchte, er hat mich kalt erwischt. Er muss gesehen haben, wie wir den Laden betreten haben, und ist uns gefolgt. Er sah so süß aus, als er mich gefragt hat. Da habe ich mich, glaube ich, ein wenig in ihn verguckt«, schwärmt sie.
Seufzend löse ich mich von ihr. »Ist schon okay«, erwidere ich zerknirscht. »Allerdings musst du es Lucinda sagen und ich hoffe, dass sie es gut aufnimmt. Du weißt, wie sehr sie sich auf den Abend gefreut hat.«
Ich könnte Hariette niemals böse sein, aber unsere Freundin ist sehr emotional. Damit dürfte das Gespräch schwierig werden.
»Stimmt. Das wird nicht leicht.« Hariette sieht entmutigt aus. Um unseren Nachmittag noch ein wenig zu genießen, schiebe ich das Thema beiseite.
»Lass uns die Mall unsicher machen«, schlage ich wenig überzeugend vor und drehe mich mit zu viel Schwung um. Dabei knalle ich gegen etwas Hartes, pralle zurück und lande auf dem Boden.
3
Verdammter Mist«, fluche ich und verziehe genervt den Mund, als ich einen Blick nach oben riskiere, um herauszufinden, gegen was ich gelaufen bin. In diesem Fall leider, gegen wen. Meine Mütze ist ein Stück nach hinten gerutscht, sodass sie meinen Haaransatz freigibt. Eilig ziehe ich sie vor. Die Brille schiebe ich ein ganzes Stück zurück auf meine Nase.
»Pass doch auf, Winters«, herrscht mich ausgerechnet Elijah Harris an.
Ich verziehe die Lippen zu einer harten Linie und verenge die Augen zu Schlitzen. Er gehört zu den Menschen, die ich auf keinen Fall außerhalb der Schule sehen will. Am besten auch nicht in der Highschool, aber da wir gemeinsam Unterricht haben, kann ich ihm nicht aus dem Weg gehen.
Augenblicklich beginnen meine Schläfen zu pochen und bei sich anbahnenden Kopfschmerzen bin ich nicht die Stärkste im Kontern.
»Pass du doch auf«, entgegne ich daher lahm und lasse mir von meiner besten Freundin aufhelfen Meine schmerzenden Gelenke knacken, während ich mich strecke. Meine Kehrseite tut ganz schön weh. Missmutig hebe ich meinen Rucksack auf und streiche mir eine verirrte Strähne unter die Mütze. Finster starre ich ihn an und wünsche mir, dass er sich auflösen oder in einem tiefen Loch verschwinden möge. Nur leider tut er mir den Gefallen nicht und ich bin damit seinem Anblick ausgesetzt.
Fragend hebt er eine Augenbraue.