A Midsummer's Nightmare - Noah Stoffers - E-Book + Hörbuch

A Midsummer's Nightmare Hörbuch

Noah Stoffers

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Beschreibung

Dark Academia – Schottland – Shakespeare! In dem diversen Urban Fantasy Roman »A Midsummer's Nightmare« geht es um ein Elite-College auf einer schottischen Insel, ein Shakespeare-Stück und vier junge Erwachsene, die einer uralten Macht trotzen müssen. Der schottischen Insel Hilma steht ein Sommer wie kein anderer bevor: Die Studierenden der altehrwürdigen Elite-Universität proben wie jedes Jahr die Aufführung eines Stücks von Shakespeare. Doch währenddessen entdecken vier Mitglieder der Theatergruppe ihre übernatürlichen Fähigkeiten – und den rachsüchtigen Geist eines Mädchens, gefangen im Gemäuer der Universität. Rivalitäten, romantische Gefühle und Leistungsdruck verblassen endgültig, als die vier herausfinden, dass nichts ist wie es scheint. Nur wenn es ihnen gelingt, sich ihren inneren Dämonen zu stellen, werden sie sich retten können … Own-voice-Autor*in Noah Stoffers hat mit »A Midsummer's Nightmare« einen wunderbar atmosphärischen, queeren Urban Fantasy Roman mit reichlich Dark-Academia-Flair geschrieben: perfekt für Fans von Ayla Dades »The Witches of Silent Creek«, Olivie Blakes »The Atlas Six« oder Leigh Bardugos »Das neunte Haus«.

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Zeit:14 Std. 32 min

Veröffentlichungsjahr: 2024

Sprecher:Magnus Rook

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Noah Stoffers

A Midsummer's Nightmare

Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.

Über dieses Buch

Dark Academia – Schottland – Shakespeare!

In dem diversen Urban Fantasy Roman »A Midsummer's Nightmare« geht es um ein Elite-College auf einer schottischen Insel, ein Shakespeare-Stück und vier junge Erwachsene, die einer uralten Macht trotzen müssen.

Der schottischen Insel Hilma steht ein Sommer wie kein anderer bevor:

Die Studierenden der altehrwürdigen Elite-Universität proben wie jedes Jahr die Aufführung eines Stücks von Shakespeare. Doch währenddessen entdecken vier Mitglieder der Theatergruppe ihre übernatürlichen Fähigkeiten – und den rachsüchtigen Geist eines Mädchens, gefangen im Gemäuer der Universität.

Rivalitäten, romantische Gefühle und Leistungsdruck verblassen endgültig, als die vier herausfinden, dass nichts ist wie es scheint. Nur wenn es ihnen gelingt, sich ihren inneren Dämonen zu stellen, werden sie sich retten können …

Own-voice-Autor*in Noah Stoffers hat mit »A Midsummer's Nightmare« einen wunderbar atmosphärischen, queeren Urban Fantasy Roman mit reichlich Dark-Academia-Flair geschrieben: perfekt für Fans von Ayla Dades »The Witches of Silent Creek«, Olivie Blakes »The Atlas Six« oder Leigh Bardugos »Das neunte Haus«.

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Triggerwarnung

Heimkehr

Theater

Traditionen

Wortduelle

Maskerade

Irrwege

Geisterstunde

Insellegenden

Wegkreuzung

Feenkreis

Spiegelfechten

Flanellhemd

Gastfreundschaft

Zuflucht

Spielkarten

Flammenspiel

Desinfektionsmittel

Asche

Das Haupt der Königin

Treibgut

Just One Bed

Die Botschaft der Karten

Staubgespenster

Tod eines Historikers

Vermächtnis eines Historikers

The Fair Youth

Treffen mit Instagram-Girl

Masken

Im Labyrinth

Blut für die See

Das verschollene Monster

London is Calling

Prüfungen

Ein Sommernachtsalbtraum

Schattenmeute

Zuhause

Nachwort & Dank

Pucks Worte zum Geleit

 

»Gebt acht, Reisende zwischen den Welten, denn auf dem Weg, der vor euch liegt, lauern Gefahren unterschiedlichster Art. Manche in alltäglichem Gewand und altvertraut, andere blutig und gewaltvoll.

Diese Zeilen sind eine Einladung, euch zu wappnen. Ihr könnt sie überblättern und geradewegs in die Geschichte eintauchen.

Oder die Warnung eines freundlichen Geistes annehmen.

Zwischen den Zeilen angedeutet oder erwähnt werden: Rassismus, Drogenmissbrauch, Emesis, Misgendering und Gewalt gegen Tiere.

Als Handlung treten auf: Transfeindlichkeit im Alltag, Gewalt, Tod, Leichen, Körperhorror, Spinnen, Mobbing, Blut und Sex.

Nun schnürt eure Turnschuhe fester, schultert euer Gepäck und geht an Bord, denn die Fähre nach Saint Hilma legt bereits ab.«

Heimkehr

Der Schiffsmotor knatterte gegen die Brandung der Nordsee an, Welle um Welle, den Klippen entgegen, die sich vor dem Bug erhoben. Scharfkantige Felsen, bereit, jeden Neuankömmling noch im eisigen Wasser in Stücke zu reißen. Die Langboote der Wikinger genauso wie sechshundert Jahre später die Flotte der englischen Königin. Es lagen unzählige Wracks vor der Küste, blanke Knochen in der See. Mehr Schauergeschichten, als Großeltern auf der Insel lebten, um sie zu erzählen.

Ich blinzelte in den morgendlichen Sprühregen und betrachtete den schroffen Stein mit mehr Zärtlichkeit, als er vermutlich verdiente. Doch mir gefiel der Gedanke, dass in Wahrheit nie jemand einen Fuß an Land hätte setzen sollen. Die Selkies hätten den Legenden entsteigen und sich ungestört neben den Robben am Strand sonnen können, ohne jemals mehr als das Kreischen der Möwen zu hören. Oder die Schreie der ertrinkenden Seeleute vor Saint Hilma im Meer.

Doch irgendwann musste jemand die Fahrrinne zur Bucht gefunden haben, denn noch höher als die Klippen ragten die verfallenen Zinnen der Burg darüber auf. Obwohl ihre rostrote Fahne vor Regennässe schwer sein musste, griff der Wind hinein und ließ sie zum Willkommen flattern. Die Mitglieder einer durchfrorenen Reisegruppe reckten ihre Handys in die Höhe, um Fotos zu machen. Begeisterte Ausrufe in unterschiedlichen Sprachen vermengten sich miteinander. Ich erkannte Fetzen von Holländisch und ein paar Brocken Spanisch.

Wie jedes Mal hatte ich den Collegehoodie in meinem verschrammten Koffer gelassen und das Gepäckstück so hingestellt, dass der Aufkleber des Murrays nicht auf den ersten Blick zu sehen war. Sie würden mich also nicht um gemeinsame Selfies und am Ende unweigerlich um ein Gruppenfoto bitten. Trotzdem zog ich die Kapuze noch tiefer ins Gesicht, die Schultern höher. Ich hätte in der muffigen Kabine warten sollen, wo es zumindest trocken war und ein Automat bittere Heißgetränke in Plastikbecher spie.

Doch wie alle anderen auch, konnte ich mich dem Anblick nicht entziehen. Egal wie oft ich nach Saint Hilma zurückkehrte, egal wie früh es war, jedes Mal zog es mich auf der letzten Seemeile aus meinem Plastiksitz, die eisernen Stufen hinauf an Deck. Es war eine Sehnsucht, von der ich nicht gewusst hatte, dass sie in mir lauerte, bis ich vor drei Jahren von dem Auswahlkomitee des Murray Colleges zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen worden war.

Genau wie damals klebte mein Blick jetzt an den Klippen, auf die der Kapitän geradewegs zusteuerte. Die Handys verschwanden wieder in den Jackentaschen, die Begeisterung der Reisegruppe wich besorgten Blicken und flauen Scherzen, das Lachen klang ein wenig aufgesetzt. Ich hatte bei meiner ersten Ankunft auch für einen Moment entgegen aller Wahrscheinlichkeit befürchtet, dass wir einfach an der gewaltigen Felswand zerschellen würden. Aber gerade als wir zwischen zwei Gesteinsbrocken hindurchmanövrierten, öffnete sich vor uns eine kleine Bucht. Häuser aus grobem, grauem Stein und mit windschiefen Dächern wuchsen dahinter den grünen Hang hinauf. Heute schienen sie sich noch mehr als sonst vor dem böigen Wind an die Insel zu ducken. Obwohl es die erste Fähre des Tages war und etwa sieben Uhr, leuchteten die Fenster des Teesalons bereits hell in den grauen Morgen. Es war ein Versprechen auf Wärme, duftende Scones und selbst gekochte Marmelade von Mrs Brodys, die vermutlich gerade die Tische für die erste Fuhre des Tages eindeckte.

Wie aufs Stichwort hob eine schmächtige Gestalt in pinkfarbener Regenjacke einen Schirm in die Höhe und begann, in ein Mikro zu sprechen. Synchron rückten alle Reisenden die Kopfhörer unter ihren Kapuzen und Hüten zurecht. Das war auch für mich das Signal zum Aufbruch, denn während alle anderen etwas über die verschiedenen Wellen der Besiedelung von Saint Hilma hörten, kam ich gerade zu spät.

Auf den Eisenstufen glich ich routiniert den Wellengang aus, sammelte meinen Rucksack von dem orangen Plastiksitz und meinen Rollkoffer in der Gepäcknische ein. Neben dem Rotkehlchensticker von Murray Hall prangte eine Hummel in den Farben der nicht-binären Flagge, das Star Wars-Rebels-Symbol und ein Schriftzug mit schwarzem Filzmarker: Cinnamon Rolls, Not Gender Roles. Außerdem hatte meine Mutter es sich nicht nehmen lassen, den Gepäckanhänger zu erneuern. In ihrer fein säuberlichen Schrift standen dort die Adresse des Colleges, [email protected] und Ari Campbell (dey/denen). Ich wusste, dass es sie Überwindung gekostet haben musste, nicht meinen Geburtsnamen zu schreiben. Und obwohl ich ihr dankbar war, versetzte mir alles daran einen kleinen Stich. Der Schmerz, den es ihr bereitete, dass ich überhaupt dankbar sein musste, und die Erleichterung, dass sie doch meinen richtigen Namen, samt der neuen Pronomen, benutzt hatte.

Ich zerrte den Koffer etwas fester als nötig zwischen den Sitzreihen hindurch. Ein Ruck ging durch die Fähre, als sie mit einem dumpfen Klong am Kai anlegte. Plötzlich ertrug ich den Mief und die Enge nicht mehr, nicht das fröhliche Lachen der Gruppe an Deck oder die Ansage des Kapitäns mit dem warmen schottischen Dialekt. Ich wartete nicht, bis die Rampe herangeschleppt wurde, sondern wuchtete meinen Koffer über die breite Kante an Land und sprang hinterher.

 

Als meine Füße den Boden berührten, legte ich erleichtert den Kopf in den Nacken. Der Wind blies mir den feinen Regen ins Gesicht. Ich sog die salzige Luft tief ein. Der Kai lag verlassen da, eine Straßenlaterne ging gerade flackernd aus. Der Bürgermeister löschte sie immer noch per Hand, jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit oder sonntags vor der Kirche. Es gab genau einen Netzanbieter, der zumindest auf der halben Insel Empfang anbot, und auch sonst war Saint Hilma ein wenig aus der Zeit gefallen. Das Kopfsteinpflaster wand sich in engen Gassen vor mir den Hang hinauf. Die krummen Häuser wurden gelegentlich als Filmkulissen an die Produktionsfirmen von Regency-Serien vermietet, doch heute rührte sich zwischen den bunt lackierten Türen nichts. Nur eine dicke Katze floh vor dem Poltern meines Rollkoffers eine Kellertreppe hinab. Inzwischen rannte ich. Mein Herz schlug zu schnell, mein Atem ging keuchend. Der Koffer wurde mit jedem verdammten Schritt schwerer. Eine Straße hinauf, und dann noch eine. Ich hetzte im Bogen um die klobige, mittelalterliche Kirche und fischte im Laufen mein Handy heraus. Wischte ein Rudel Mitteilungen vom Display. Warf einen kurzen Blick auf die weißen Ziffern. 07:14.

Fuck.

Meine Seiten stachen, aber ich rannte noch schneller. An der Leuchtreklame des einzigen Supermarkts vorbei. Ich ignorierte auch den Bones-Coffeeshop mit dem grinsenden Schädel, obwohl mein leerer Magen nach Frühstück lechzte. Mein T-Shirt klebte mir am Rücken, als endlich der ehrwürdige Torbogen am Ende der Straße auftauchte. Heller Sandstein mit jeder Menge Vorsprüngen, Schnörkeln und Zierleisten. Ich stützte mich erschöpft an dem eisernen Gittertor ab, um wieder zu Atem zu kommen. Über mir prangte das überdimensionale Wappen von Murray Hall: rot-weiße Streifen und zwei stilisierte Rotkehlchen auf schwarzen Zweigen.

Andere Colleges kriegen Greifen! Oder zumindest ein paar Löwen, hatte Jamie sich bei der Einführung im ersten Trimester beschwert, aber ich hatte das Murray schon damals einschüchternd genug gefunden. Gerade, als ich mich wieder aufrichtete, entdeckte ich sie. Eine zierliche Gestalt stand in dem Torbogen vor mir und blickte auf den Hof. Mit dem langen Rock, dem kastanienbraunen Pullover und den Pumps hätte sie perfekt in einen nostalgischen Instagram-Feed gepasst.

Saint Hilma war ein beliebtes Motiv für Bloggende und ich sah mich instinktiv nach ihrer Begleitung mit der üblichen Kameraausrüstung um. Doch der Innenhof lag verlassen da, nur die imposante Statue von Sir Henry ragte wie gewohnt vor der Bibliothek auf. Dann schlug die Uhr über dem Portal halb acht, was hieß, dass ich im großen Stil zu spät kam. Gerade als ich an der Gestalt vorbeihetzen wollte, drehte sie sich zu mir herum. Sie wirkte etwas jünger als ich, vielleicht erst siebzehn oder achtzehn. Ihr braunes Haar war auf eine altmodische Art in perfekte Wellen gelegt, die sich von ihrem kreidebleichen Gesicht abhoben. Unsere Blicke kreuzten sich. In ihren Augen flackerte Erstaunen auf, dann Erkennen.

»Es ist wieder so weit!«, erklärte sie mir ernst. »Du darfst dich nicht dagegen wehren.«

Ich hechelte Zustimmung, nickte einen Gruß und rannte zum Portal. Riss den Koffer in die Höhe. Nahm immer zwei Stufen auf einmal. Stemmte mich gegen die Flügeltür. Die Eingangshalle war leer gefegt. Durch das Rosettenfenster aus buntem Glas fiel nur wenig Licht, die alten Porträts lagen im Schatten. Ganz in der Nähe war gedämpft eine getragene Stimme zu hören.

FuckFuckFuck.

Ich schob mein Gepäck unter eine der Sitzbänke, die sich an den Wänden entlangzogen, und stopfte meine Lederjacke dazu. Es gefiel mir nicht, meinen Laptop hier zurückzulassen, nicht einmal für eine halbe Stunde, aber es war definitiv zu spät, um erst aufs Zimmer zu rennen. Also wischte ich mir nur mit dem Ärmel den Schweiß aus dem Gesicht und fuhr mir mit den Fingern durch das kurze Haar. Nicht dass davon irgendwas besser wurde. Ich atmete noch einmal tief durch, straffte die Schultern und trat auf die hohe Tür zu. Die eiserne Klinke lag kühl in meiner Hand. Jetzt erkannte ich einzelne Worte.

»… Prüfungsphase kurz bevor … großes Vertrauen!«

Professor Kiani hatte eine warme Stimme, tief und melodiös. Man wollte ihm gerne Glauben schenken. Und ihn möglichst nicht unterbrechen.

Trotzdem drückte ich jetzt die Klinke hinab, so behutsam wie möglich, aber es gab einfach keinen Weg, dieses schwere Ungetüm lautlos zu öffnen. Das Holz schabte über die glatt gelaufenen Steinplatten. Die Angeln quietschten leise. Ich versuchte, flach zu atmen, obwohl das jetzt keinen Unterschied mehr machen würde. Dann schlüpfte ich durch den Spalt.

An der Stirnseite der Kapelle stand ein untersetzter Mann in einem Dreiteiler und sprach zu dem versammelten Trimester. Seine Stimme füllte den Raum, seine konzentrierte Präsenz reichte bis zu den steinernen Rosenknospen unter der Decke. Trotzdem wandten sich mir auf den langen Holzbänken mehrere Köpfe neugierig zu. Professor Kiani hob den Blick gerade weit genug, um mich über sein Publikum hinweg strafend anzusehen.

»In diesem letzten Trimester werden keine Vorlesungen stattfinden, sodass Sie sich ganz auf Ihre Prüfungsvorbereitungen konzentrieren können. Verschwenden Sie Ihre Zeit in diesen Wochen nicht, sondern setzen Sie Prioritäten«, fuhr er, ohne zu stocken, an alle gewandt fort. »Zögern Sie nicht, um Hilfe zu bitten. Jeder hier möchte Ihnen zum Erfolg verhelfen! Denn dies ist Ihre Chance, einen Weg in die Zukunft zu pflastern. Und Sie alle müssen entscheiden, wie diese Zukunft aussehen soll.«

Normalerweise war ich gut darin, unsichtbar zu werden, aber jetzt versagte diese Fähigkeit vollständig. Für alle unübersehbar quetschte ich mich neben Ren auf die vorletzte Bank. Er grinste mir aufmunternd zu. Der kurze Stoppelschnitt seiner dunklen Haare war neu, genau wie das schwarze Jackett mit den aufgekrempelten Ärmeln. Der größte Teil unseres Trimesters hätte dazu ein mehr oder weniger ordentliches Hemd gewählt, aber Ren trug ein Måneskin-Fan-Shirt und schwarzen Nagellack.

»Ich dachte, du magst ihre Songs nicht«, raunte ich ihm zu.

»Es geht um die Vibes«, belehrte er mich mit einem leicht vorwurfsvollen Blick. »Ihre Aussage, den Stil!«

Dann zauberte er eine Papiertüte unter der jahrhundertealten Bank hervor. Das Schädellogo des Coffeeshops sagte mir alles, was mein knurrender Magen wissen musste.

»Du bist meine Rettung!«, flüsterte ich ihm zu.

»Immer.«

Das Papier knisterte, als ich danach griff. Jetzt drehte sich ein Mädchen zu uns um. Ihre langen, dunklen Haare flossen ihr offen über die Schultern und waren im Verlauf rot gefärbt. Der Ausdruck in Raynas braunen Augen hätte furchtlosere Menschen in die Flucht geschlagen und ich fühlte mich nicht besonders mutig. Sie hob eine einzelne Augenbraue.

Sorry,formte ich lautlos mit den Lippen.

»… Sie daran erinnern, dass Ihnen die Sprechstunde am Dienstagnachmittag auch ohne Termin offensteht. Außerdem bietet Professor Thorburn am Freitagnachmittag einen Einführungskurs in progressive Muskelentspannung und Atemübungen an, Sie finden alle nötigen Informationen am Trello-Board. Der Vorverkauf für die Theatervorführung und den June Ball beginnt dieses Wochenende.«

Jetzt musterte Rayna mit verschlossenem Gesicht die Papiertüte in meiner Hand. Ich wagte es nicht, auch nur einen einzelnen Finger zu rühren. Dabei konnte ich den Zucker praktisch schon schmecken. Endlich wandte sie sich wieder ab und ich atmete unwillkürlich aus.

»Was macht sie überhaupt hier?«, wisperte ich. »Sollte sie nicht in der ersten Reihe sitzen?«

Bei den anderen Strebern.

»Sei lieb«, rügte Ren leise in den einsetzenden Applaus zum Ende der Rede.

Vermutlich hätte ich das sein sollen, aber alles, woran ich bei Raynas geraden Schultern denken konnte, war, wie sie in jeder Klausur die Liste der Besten anführte und damit eine ständige Herausforderung an uns alle war. Denn die höchste Punktezahl bestimmte darüber, wie die Einzelnen abschnitten und wer am Ende welche Note erhielt. Nicht dass Ren sich darüber Sorgen machen musste. Seine Leistungen waren glänzend!

Unter dem Kreuzrippengewölbe setzte das übliche Scharren und Getuschel ein, als die Studierenden aufstanden und in kleinen Grüppchen aufbrachen. Ein paar nickten mir zu, weit mehr klopften Ren im Vorbeigehen auf die Schulter. Ein Mädchen aus dem Ruderteam lächelte ihn besonders strahlend an, aber er begrüßte sie nur freundschaftlich und wandte sich wieder mir zu.

»Du hast es geschafft, die ganze Motivationsrede zum Auftakt des Prüfungstrimesters zu verpassen«, stellte er so gut gelaunt fest, als wäre das eine besondere Leistung. »Es war wirklich rührend. Kiani ist entschlossen, uns alle gemeinsam zum Erfolg zu bringen.«

»Danke fürs Frühstück, aber ich muss mein Zeug holen.« Ich wollte mich nur schnell vor den anderen herausdrängeln, meinen Laptop sichern und dann irgendeine süße Backware in mich hineinstopfen.

»Zu spät.« Ren summte leise und nach ein paar Takten erkannte ich We are all in this together. Aus High School Musical. Ich sah ihn fragend an, Ren grinste nur schadenfroh zur Antwort und schob seine Brille zurecht. Oh, fuck. Ich schloss ergeben die Augen, während die anderen Studierenden an mir vorbei aus der Kapelle strömten.

»Ari Campbell, auf ein Wort«, hörte ich Professor Kianis selbstbewusste Stimme hinter mir. Das war keine Frage. Trotzdem machte ich nur widerstrebend kehrt.

»Das ist gerade …« Ich bemerkte, was ich sagte, schluckte mehrere Worte hinunter und ergänzte endlich: »Mein Gepäck steht noch in der Eingangshalle.«

Der strenge Ausdruck in seinem hellbraunen Gesicht wurde eine Idee weicher. Oder vielleicht bildete ich mir das auch nur ein, denn Kiani schien stets ein Stück über den uralten Steinplatten zu schweben, zu beschäftigt, zu genial und zu lebenserfahren für den Rest des Colleges. Obwohl er höchstens Ende vierzig sein durfte, wenn es nach den feinen Falten, dem ergrauten Bart und seinen Geheimratsecken ging. Es gab jede Menge Gerüchte darüber, wie er es in dem Alter geschafft hatte, schon eine Koryphäe der Archäologie zu sein.

»Gehen wir ein paar Schritte«, schlug er in einem Tonfall vor, der keine Einladung war.

Ich folgte ihm ergeben hinaus. Er steuerte zielstrebig durch das Gedränge, das sich vor ihm teilte. In der Eingangshalle blieb er stehen und sah sich suchend um. Doch ich war schon mit ein paar schnellen Schritten bei der Bank unter dem Buntglasfenster. Ich ging in die Hocke, streckte den Arm aus und tastete nach meinen Sachen. Meine Fingerkuppen fassten erst ins Leere, streiften dann Kunstleder und regenfeuchten Stoff. Erleichterung durchflutete mich. Der Rucksack war noch da! Und dort auch der kantige Koffer. Ich zog beides heraus.

Kiani war neben mich getreten. Irgendwie musste die Sonne es durch die Wolken geschafft haben, denn sie fiel in diesem Moment durch das runde Fenster und tauchte uns beide in buntes Licht. Fast so, als stünden wir noch immer in einer Kirche, obwohl das Murray schon lange kein christliches College mehr war.

»Alles noch da?«, fragte er.

Ich nickte und war dankbar, dass er nicht extra betonte, dass niemand im Murray klaute. Vielleicht konnte er sich vorstellen, was es für jemanden ohne Stipendium oder reiche Familie bedeutet hätte, wenn der Ehrenkodex dieser altehrwürdigen Einrichtung dieses Mal versagt hätte.

»Sie sind erst mit der Fähre heute Morgen zurückgekommen?«

»Etwas spät, ja.« Ich richtete mich auf und schulterte meinen Rucksack. Unterdrückte den Impuls, ihm zu sagen, dass meine Familie in einem Kaff bei Glasgow wohnte und ich ein paar Dinge hatte klären müssen. Natürlich wusste er das. Alle Studierenden durchliefen ein penibles Aufnahmeverfahren in mehreren Runden. Es war mir immer noch schleierhaft, wie ausgerechnet ich das geschafft hatte, aber hier stand ich, in den Gängen, die Adams gesehen hatten, Doktor Johnson und die Pennyville-Geschwister. Auch wenn ihre Porträts jetzt knochenblass und gleichgültig auf mich herabblickten, tat mein Tutor das nicht.

»Sie haben mit hervorragenden Noten begonnen, Campbell«, sagte er. Dabei ersparte er uns beiden zu meiner Erleichterung jede Anrede, die auf das Geschlecht hingedeutet hätte, das mir bei meiner Geburt zugewiesen worden war. »Ehrgeizige, clevere Aufsätze«, fuhr er fort. »Und immer eine Idee mehr Arbeit, als nötig gewesen wäre. Aber in den letzten Monaten haben Sie nachgelassen.«

In seiner Stimme klangen all die Punkte mit, die er nicht aussprach. Mein Outing etwa, gefolgt von mehreren schlampig recherchierten Essays oder die Tatsache, dass sich meine Familie die horrenden Studiengebühren eigentlich nicht leisten konnte. Erst recht nicht für ein Studium in Archäologie.

»Der Stress war ein bisschen zu viel«, behauptete ich, ohne eine Miene zu verziehen. »Ich musste Lesestoff aufholen und dann das Summer Camp, dieses Extraprojekt für die Exkursion in Edinburgh, das Lauftraining, die Theatergruppe … Ich habe mich übernommen.«

»Die Prüfungen sind für alle anstrengend, niemand würde es Ihnen übel nehmen, wenn Sie Ihre Rolle abgeben«, sagte er in einem schrecklich vernünftigen Tonfall. »Bestimmt gibt es eine Zweitbesetzung?«

»Ich werde darüber nachdenken«, log ich.

Seine Augen bohrten sich prüfend in meine und ich war wirklich stolz darauf, dass ich nicht zurückzuckte. Obwohl ich nichts Nennenswertes angestellt hatte, fühlte ich mich bis aufs Mark durchschaut und hätte ihm am liebsten jedwede Verfehlung gebeichtet, die ich jemals begangen hatte. Angefangen bei diesem Diebstahl von Brausekugeln an der Tankstelle an der Ecke, als ich acht gewesen war.

»Es ist ein außerordentliches Privileg, auf Murray Hall studieren zu dürfen«, erinnerte er mich. »Ihr Bachelor am Murray wird Ihnen Möglichkeiten eröffnen, die anderen auf ewig verschlossen bleiben. Nehmen Sie das nicht auf die leichte Schulter, Campbell.«

»Natürlich nicht«, sagte ich schnell und meinte es so. Ich wusste, wie viel meine Eltern opferten, um mich herzuschicken. Statt mich einfach einen Kredit aufnehmen zu lassen, den ich jahrelang abbezahlen würde. Das Schuldbewusstsein stach tief. Jetzt senkte ich doch den Blick.

»Sie können jederzeit zu mir kommen, wenn Sie Hilfe brauchen«, versprach Kiani in einem seltsam ernsten Tonfall. Also noch ernster als sonst. »Dieser Ort ist eine Verpflichtung und …«

Im Hof wurden Stimmen laut. Johlen, das lauter war als die üblichen Rufe auf dem Campus. Durchsetzt von Gelächter, das zwischen den uralten Mauern widerhallte. Jemand rief etwas, das ich nicht verstand. Auch Kiani sah alarmiert auf. Gemeinsam traten wir durch die offene Flügeltür hinaus.

 

Der weitläufige Innenhof des Campus lag nach dem Regen wie frisch gewaschen vor uns. Die Rasenflächen waren sauber gestutzt, von Buchsbäumen und alten Rosen umkränzt. Wasserspeier beugten sich von den Dächern zu uns hinab und begafften die lachende und plappernde Menge.

Alle strömten der Bibliothek entgegen, die auf der Westseite lag. Ihre hohen Fensterbögen hätten besser zu einer Kathedrale gepasst, die Säulen neben dem Portal zu einem Gerichtsgebäude. Der hohe Steinsockel vor der Bibliothek hätte nicht so leer sein dürfen. Selbst aus der Entfernung konnte ich das Nichts sehen, das nun dort klaffte, wo eigentlich Sir Henry stehen sollte. Ich war unzählige Male morgens an ihm vorbeigehastet, viele berührten aus Gewohnheit seinen Schuh oder die Falten seines Gewandes. Angeblich brachte das vor Prüfungen Glück.

Normalerweise kackten Tauben auf Sir Henrys fliehende Stirn oder saßen gurrend auf seinen breiten Schultern. Er war ein sicherer Treffpunkt für Verabredungen auf dem wuseligen Campus und ein beliebtes Fotomotiv für Reisegruppen. Doch jetzt stand sein Sockel verlassen da. Ein mutiger Frischling kletterte gerade an der Plakette hinauf, die verkündete, dass die höchst ehrenwerte Familie Boyle das Murray mitgegründet und zum Dank den Steinernen Henry erhalten hatte.

»Mr Pembroke, runter von diesem Sockel!«, befahl Kiani, als wir gemeinsam den Platz vor der Bibliothek betraten.

Vor den Stufen hatten sich Studierende versammelt. Einige hielten Kaffeebecher mit dem Schädellogo in der Hand, andere setzten gerade ihre Kopfhörer ab oder hielten Ordner und Laptoptaschen fest. Alle sahen sich nach Sir Henry um. Ich kam endlich dazu, die Zimtschnecke aus der Papiertüte zu fischen, und hielt eher Ausschau nach einem freien Sitzplatz. Und dabei entdeckte ich ihn.

Auf dem von Efeu überwucherten Seitenflügel, in dem die Müllcontainer und Technikräume untergebracht waren, stand der Steinerne Henry. Jemand hatte ihm eine Baseballkappe verkehrt herum aufgesetzt und weiße Bahnen klebten überall auf den Falten seiner Robe.

»Ist das Toilettenpapier?« Ren schloss zu uns auf.

»Und eine Donald-Trump-Maske.« Ich hatte mein Handy herausgeholt und zoomte die Statue mit der Kamera heran.

»Skandalös«, sagte Ren lächelnd. »Dabei war der alte Henry doch strikt gegen die Unabhängigkeit der amerikanischen Kolonien.«

»Wie um alles in der Welt hat er das hingekriegt?«, fragte ich ungläubig.

Ren fragte nicht, wen ich meinte, und auch sonst schien es wenig Zweifel daran zu geben, wer für diese Aktion verantwortlich war. Zumindest wenn ich nach dem stechenden Blick ging, mit dem sich Professor Kiani an uns wandte.

»Sollten Sie Mr Boyle vor mir begegnen«, sagte er mit einer Selbstbeherrschung, die mir Hochachtung abrang, »dann schicken Sie ihn bitte unverzüglich in mein Büro.«

Damit wandte er sich zum Gehen und ich bot Ren ein Stück von seiner Zimtschnecke an. Kauend schritten wir auf den Seitenflügel zu. Ren nahm mir unterwegs meinen Rucksack ab, sodass ich nur noch meinen Koffer ziehen musste. Um uns herum machten die Leute Handyfotos und teilten sie. Ein paar Schritte weiter wurde ein TikTok improvisiert. Binnen einer Stunde würde die ganze Insel von Sir Henrys Umzug erfahren haben.

»Ich mag die Kombi von dem UK-Cap und der Trump-Maske«, sagte Ren.

»Es zeigt auf jeden Fall mehr Einfallsreichtum, als ich Jamie zugetraut hätte«, räumte ich ein.

»Ich glaube, du tust ihm unrecht. Nur weil er das Privileg dieses Studiums absolut nicht zu schätzen weiß, ist er noch lange nicht völlig gedankenlos.« Ren tippte im Gehen mit dem Daumen auf sein Handy. Als ich ihm über die Schulter schaute, erkannte ich einen Chat mit James Boyle.

»Was schreibst du ihm?«

»Dass Kiani ihn sehen will.«

Vermutlich wartete James bereits vor dem Büro unseres Tutors. Diese Art Dreistigkeit war genauso sein Stil wie die Sache mit der Statue seines berühmten Vorfahren. Inzwischen standen wir vor dem Seitenflügel. Überall auf dem Boden verstreut lagen abgerissene Efeublätter, Klopapierfetzen und Bröckchen, die wie Borke aussahen. Rayna stand direkt vor der massiven Mauer. Sie hatte ein Efeublatt aufgehoben und musterte es wütend.

»Dazu hatte er einfach kein Recht, verdammt!« Sie schloss ihre Faust um das Blatt.

»Hast du nicht monatelang dafür gekämpft, die Statue loszuwerden?«, fragte ich mit dem Gefühl, etwas Entscheidendes verpasst zu haben. Rayna hatte zusammen mit einigen anderen angeprangert, dass Sir Henry einen guten Teil seines Vermögens der Kolonialherrschaft verdankte. Es hatte Unterschriftensammlungen und Proteste vor der Statue gegeben.

»Eben!«, fauchte Rayna. »Das war unser Kampf, nicht seiner. Und diese verdammte Aktion wird unsere Chancen nicht gerade steigern.«

»James hat das nicht mit euch abgesprochen«, stellte Ren verblüfft fest.

Das zornige Funkeln in ihren Augen war Antwort genug.

»Verdammt«, fluchte er leise. »Hör zu, ich rede mit ihm.«

»Danke, aber das mache ich lieber selbst.« Sie schleuderte das Blatt weg und stapfte davon.

Ren sah ihr nach und seufzte tief. »Dieses Mal ist er wirklich übers Ziel hinausgeschossen, egal wie gut er es gemeint hat.«

»Ganz zu schweigen davon, dass sie ihn dafür rauswerfen werden, sogar mit einem so berühmten Vorfahren wie Sir Henry.« Ich sah zu der Statue hoch, die mit demselben leicht missbilligenden Gesichtsausdruck auf uns herabsah, der auch sein Porträt im dritten Stock kennzeichnete.

»Wie um alles in der Welt hat er das Ding da hochgekriegt?« Ren schüttelte ungläubig den Kopf.

»Ganz ehrlich? Keine Ahnung.«

Als ich den Blick von Sir Henry abwandte, entdeckte ich in der Menge eine vertraute Gestalt. Da waren der lange Rock, der braune Pullover und die Wellenfrisur. Sie schien mich noch nicht bemerkt zu haben, so sehr war sie in ihren eigenen Gedanken versunken. Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, was an diesem Anblick nicht stimmte. Der Nostalgiefan betrachtete nicht, wie alle anderen, den Steinernen Henry auf dem Dach, sondern Ren und mich.

Unwillkürlich blickte ich über die Schulter zurück, nur um ganz sicherzugehen, dass es hier nichts anderes zu sehen gab. Jede Menge Efeublätter, dahinter eine Mauer voller knorriger Ranken und davor wir zwei. Das machte keinen Sinn, oder? Als ich mich wieder nach ihr umsah, war die Gestalt in der Menge verschwunden.

Theater

Am Vormittag war die Bibliothek voller Geflüster und das Netz voller Fotos vom Umzug des Steinernen Henrys. Überall flirrten Mutmaßungen und Gerüchte. Angeblich war James von der Schule geflogen. Oder sein Vater hatte eine neue Sporthalle gestiftet, um das zu verhindern. Beim Mittagessen wurden an den Tischen der großen Halle Theorien über die Machbarkeit des Umzugs diskutiert. Jemand wollte einen Privatjet gesehen haben. Oder eine Hebebühne. Fast war es eine Erleichterung, endlich in dem Vorbereitungskurs für die Prüfungen zu sitzen.

»Was können Sie mir über die Symbolkraft von Abu Simbel erzählen?«, eröffnete Professor Kiani mit seiner üblichen Gelassenheit. Sein Laptop projizierte ein Foto des Felsentempels an die Wand hinter ihm. Er hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben, sein Blick glitt über unsere Gesichter. »Und bevor Sie fragen: Nein, ich lasse Assassin’s Creed nicht als Beitrag zu einer akademischen Debatte gelten.«

Es gab etwas pflichtschuldiges Gelächter, aber während die ersten Hände in die Höhe gingen, breitete sich in den hölzernen Rängen des kleinen Hörsaals eine knisternde Vorfreude aus. Die Argumente wurden wieder fachlich und die verbalen Spitzen trafen allesamt Herrscher, die längst zu Staub verfallen waren.

Als ich am späten Nachmittag wieder auf den Vorplatz trat, stand tatsächlich ein Hebekran vor der Bibliothek und Henry wieder an seinem angestammten Platz. Ich glaubte, einen Hauch von Missbilligung in den steinernen Zügen zu lesen, aber vermutlich war das nur sein üblicher Gesichtsausdruck.

Ich wusste, dass ich meine To-do-App hätte öffnen sollen, um zumindest noch ein paar Punkte abzuarbeiten. Ein Kapitel zu lesen etwa, oder meine Notizen durchzugehen. Aber statt mir einen ungestörten Platz zu suchen, lief ich eine enge Gasse hinab, ganz ohne Wasserspeier oder Denkmäler. Die klobigen Steine glänzten dunkel vor Nässe. Vor der Tür der alten Fechthalle standen noch ein paar Studierende mit Sporttaschen und Smartphones zusammen. Ich schlüpfte durch die Tür, atmete die Mischung aus Reinigungsmittel, Schweiß und Leim. Die muffigen Samtvorhänge waren zurückgezogen worden, um blasses Tageslicht hereinzulassen. An einer Wand standen Stühle gestapelt. Auf der Bühne an der Stirnseite saß Ren und ließ die Beine baumeln. Er hatte Kopfhörer aufgesetzt, sein Fuß wippte im Takt. Ann saß am Flügel und bewegte die Lippen, als sie lautlos ihren Text wiederholte. Sie begrüßte mich mit einem Nicken, ohne ihren Monolog zu unterbrechen. Hinter der Bühne waren gedämpfte Stimmen zu hören. Neben mir drängte Rayna herein, eine Windböe auf den Fersen und in den Augen ein loderndes Feuer. Wahrscheinlich war sie auf dem Weg hierher auch an der Bibliothek vorbeigekommen.

»Schlimm treffen wir uns bei Mondlicht, o stolze Titania«, rezitierte der Theseus meine ersten Zeilen.

Rayna machte eine unhöfliche Geste mit der Hand. »Wo ist der Mistkerl?«, fragte sie.

»Ihr kennt Euren Text nicht, Titania.«

Hinter der Kulisse einer Burgruine aus Pappmaschee trat eine hagere Gestalt hervor und plötzlich war das Regengrau des Tages lichter. Ann sah von ihrem Skript auf, Ren nahm die Kopfhörer ab. Rayna ballte die Hände zu Fäusten. Ich fragte mich einmal mehr, wie ein so gewöhnliches Gesicht einen solchen Eindruck hinterlassen konnte. Es war spitz und mager, umrahmt von mausbraunem Haar, aber da war ein Funkeln in den grünen Augen, wie über einen Scherz, den nur James selbst kannte. In den wenigen Schritten lag ein federnder Elan und in seiner Haltung eine Selbstsicherheit, als würde jeder Grashalm auf der Insel seinem Wort gehorchen.

Ich hatte früh beschlossen, Jamie Boyle, den Jüngeren, nicht zu mögen, aber selbst ich starrte ein bisschen.

Neben mir hatte Rayna die Arme vor der Brust verschränkt und reckte das Kinn. »Solltest du nicht packen?«, fragte sie. »Die letzte Fähre legt in einer Stunde ab.«

»Nur keine falschen Hoffnungen«, antwortete Jamie grinsend. »Der Jet heute Vormittag war nicht unserer.«

Der Blick, den Rayna auf ihn abschoss, machte ihren Pfeilen Konkurrenz. »Du hattest kein Recht dazu, James Boyle. Du am allerwenigsten!«

Das schien ihn zu verunsichern. »Ich dachte, das würde dich freuen?«

»Vielleicht hätte es das getan, wenn du uns einbezogen hättest. Wenn es unsere Aktion gewesen wäre und nicht allein deine. Weißt du was? Fast wünschte ich, sie würden dich dafür vom College schmeißen.«

Rayna stapfte an der Bühne vorbei und verschwand in dem engen Gang dahinter. Das Schweigen hallte hinter ihr in der Halle und für eine Weile wagte niemand, es zu brechen. Jamie stand mit hängenden Schultern da, von seiner üblichen Selbstgefälligkeit war nichts mehr übrig. Am Ende seufzte Ren leise.

»Was hat Kiani gesagt?«, wollte er wissen und klang ein bisschen besorgt.

»Dass niemand seine moralischen Verpflichtungen derart missachten sollte«, murmelte James kleinlaut.

»Wie um alles in der Welt hast du das gemacht?«, fragte Ann, bevor ich es tun konnte.

»Ja, das war sein nächster Satz!«

Ich stöhnte gequält und marschierte zur Bühne, um nicht weiter im Zug zu stehen.

»Wie hast du es gemacht?«, fragte ich auf dem Weg, etwas schärfer als beabsichtigt. Mein Rucksack landete mit einem Plumps neben Ren. Jamie streckte mir eine Hand entgegen, aber ich ignorierte sie und stemmte mich allein auf die alten Holzplanken der Bühne.

»Ich habe keine Ahnung«, erklärte Jamie. Fünf Paar Augen sahen ihn ungläubig an. Er zuckte verlegen die Schultern. »Wirklich nicht.«

»Aber du warst es?«, fragte Ren argwöhnisch. Eigentlich zweifelte niemand daran. Die ganze Aktion trug Jamies Handschrift. Die Respektlosigkeit. Der völlige Mangel an Vorsicht. Die Tatsache, dass Henry sein Vorfahr war. Bis auf die Kleinigkeit, dass die Statue fast eine Tonne wog. Keiner von uns hätte das Ding allein bewegen können, schon gar nicht ohne gesehen zu werden.

»Ja, also, nein.« Jamie zuckte wieder mit den Schultern. »Ich weiß es nicht.«

»Und damit bist du durchgekommen?«, fragte ich verblüfft.

»Ich habe dieses gewinnende Naturell. Und meine Mum stiftet regelmäßig unerhörte Summen.«

Ein genervtes Schnauben ging reihum. Ann steckte ihr Skript weg. Hinter dem Vorhang erschienen zwei Köpfe, einer mit pinkem Schopf und rosigen Wangen, der andere mit einer grauen Wollmütze, die sein tiefbraunes Gesicht umrahmte. »Seid ihr langsam fertig? Wir sollten heute wenigstens den ersten Akt schaffen.« Albert, also die Wollmütze, die sich um Regie und Licht kümmerte, übersah Jamie demonstrativ und funkelte den Rest von uns streng an. »Es sind nur noch zwei Monate bis zur Aufführung.«

»Ganz zu schweigen von den Prüfungen in der Woche davor.« Rayna trat hinter den Kulissen heraus. Sie hatte ihr Handy gezückt. »Dir ist klar, dass wir da nicht proben können?«

Alberts Blick sagte etwas anderes und statt mit den ersten Zeilen nach Athen aufzubrechen, begannen die beiden eine Diskussion über den Probenplan, die Notwendigkeit von Prüfungen im Allgemeinen und Abschlüssen im Besonderen.

»Ich werde mein Lernpensum nicht über den Haufen werfen, damit du deine künstlerischen Ambitionen verwirklichen kannst!«, sagte Rayna grimmig.

»Das hättest du dir vielleicht überlegen sollen, bevor wir …« Albert brach ab, als der Bühnenscheinwerfer ansprang und uns alle in blassgrünes Licht tauchte. Aus den Boxen war das Zwitschern von Vögeln zu hören. Dann ein Rascheln im Unterholz und plötzlich lag der Duft von feuchter Erde in der Luft.

»Damit fängt es an.« Absätze klackerten auf dem Boden der Halle und Vorhänge ratschten, als jemand im Halbdunkel von Fenster zu Fenster ging und den Tag aussperrte. »Eine Lichtung im Wald, die Dämmerung zieht auf.«

Die Stimme war rau und heiser, als hätte sie irgendwann zu lange und zu laut geschrien und sich nie davon erholt. In den Schritten lag Gewicht, in den Worten Leichtigkeit. Aus den Lautsprechern drang jetzt der Ruf eines Kuckucks und goldene Lichtpunkte glommen auf, wie Glühwürmchen.

»Zweiter Akt, erste Szene. Etwas regt sich im Unterholz, Auftritt eines Elfengeschöpfs.«

Jetzt war auch der Wind in den Baumwipfeln zu hören, und bildete ich mir das ein oder ging ein Lufthauch durch die Halle? Neben mir atmete Rayna schwer aus und ich unterdrückte den Impuls, nach ihrer Hand zu greifen. Irgendwann während ihrer Diskussion mit Albert war der Rest der Theatertruppe zur Bühne gekommen und so sahen wir gemeinsam der Frau entgegen, die bedächtig auf uns zuschritt. Ihr weißes Haar glich einer Wolke aus Federflaum. Ein langes Paar silberner Ohrringe blitzte darunter hervor. Ich musste das verschmitzte Lächeln im Halbdunkel nicht sehen, um zu wissen, dass es da war.

Professor Thorburn klatschte in die Hände. »Auf eure Plätze, ihr Rastlosen«, befahl sie, das leise Glucksen eines Lachens in der Kehle. »Wir müssen ein paar Sterbliche verzaubern!«

Und so einfach war das.

 

Plötzlich hatten wir alle etwas zu tun. Albert gab die Bühne frei, Rayna hatte ihren Text herausgeholt und Kates pinker Haarschopf verschwand im Technikraum. Ein Mädchen, dessen Namen ich ständig vergaß, hatte sich eine Blumenkrone aufgesetzt und pirschte hinter dem Vorhang hervor. Jamie lauerte ihr mit einem spitzbübischen Lächeln auf.

»He, Geist, wo geht die Reise hin?«, fragte er und stahl die Kunstblumen von ihrem Haupt, um sie sich selbst aufzusetzen.

»Über Täler und Höhen, durch Dornen und Steine, über Gräben und Zäune, durch Flammen und Seen«, lautete die Antwort. »Wandl’ ich, schlüpf ich überall. Schneller als des Monds Ball, ich diene der Feenkönigin.«

Albert gab dem Technikraum ein Zeichen und hinter uns ging eine Mondsichel auf. Ann schob eine Weide aus Holz und Pappmaschee herein. Ein Wort folgte auf das andere. Ich bewegte stumm die Lippen, fühlte das nervöse Kribbeln unter meiner Haut. Dann hörte ich mein Stichwort. »Mach Platz nun, Elfchen, hier kommt Oberon.«

»Und hier meine Königin – Oh, mach er sich davon.«

Es war wie jedes Mal. Mein Magen katapultierte sich in Richtung Kniekehlen. Die Panik biss mir ins Genick und ich trat trotzdem vor. So sicher, als würde mir der Grund gehören, auf dem ich in meinen ausgelatschten Chucks wandelte. Ich drehte mich eine Idee langsamer herum als nötig, wie um der Welt meinen eigenen Rhythmus aufzuzwingen, und sah endlich Rayna an. »Schlimm treffen wir uns bei Mondlicht, du stolze Titania.«

»Wie? Oberon ist hier?« Rayna war mit jedem Zoll eine Königin. Sie trug die Lederjacke wie einen Umhang aus Laub und Blüten und funkelte mich, nein, Oberon gebieterisch an. »Der Eifersüchtige? Elfen, schlüpft von hinnen.«

Mein Herz pumpte mit jedem Schlag Begeisterung durch meine Adern, eine Art belebende Trunkenheit, nun, da ich meine Unsichtbarkeit abgestreift hatte und mir Silbe für Silbe das Rampenlicht eroberte. Oberon stritt mit seiner Gemahlin um ein Kind, das nicht ihres war, und plante dann eine perfide Rache.

Selbst als ich längst wieder am Rand der Bühne auf einer Kiste saß und den anderen mit Stichworten aushalf, ließ der Rausch nicht nach.

»Sie wachsen, wenn Sie er sind«, sagte eine raue Stimme neben mir leise, um die Proben nicht zu stören.

Ich sah auf und in Professor Thorburns Raubvogelaugen. Sie lehnte an einer Säule, doch statt dem Liebespaar auf der Bühne zuzuschauen, blickte sie mich an. »Als hätten Sie vorher die Schultern eingezogen und den Kopf gesenkt.«

»Ich hatte schon immer eine schlechte Haltung«, scherzte ich halbherzig. In Wahrheit fühlte ich mich ertappt. Als würde ich mir etwas anmaßen, das mir nicht zustand. Eigentlich hätte Ren die Rolle des Elfenfürsten übernehmen sollen, oder vielleicht dieser blonde Kerl mit den breiten Schultern und dem hübschen Gesicht, der jetzt Zettel spielte. Und dann, bevor ich sie herunterschlucken konnte, kam die geflüsterte Frage heraus: »Warum haben Sie mir den Oberon gegeben?«

»Weil Sie ihn wollten«, erklärte Thorburn mit der größten Selbstverständlichkeit. »Und weil Sie auf der Bühne viel mehr Haltung zeigen als den ganzen Rest der Zeit.« Sie legte den schlohweißen Kopf schräg und sah nun endgültig aus wie ein zu groß geratener Vogel. »Das war gut, gerade eben. Sie haben ihn in sich, den Elfenzauber und den Oberon auch.«

Unwillkürlich setzte ich mich etwas aufrechter hin und hätte schwören können, dass ein Schmunzeln über ihr faltiges Gesicht huschte.

»Die meiste Zeit fühle ich mich nicht besonders magisch. Oder fürstlich«, gab ich mit gesenkter Stimme zu. Auf der Bühne flehte Hermia gerade den Fürsten an, doch wir beide standen in den Schatten und das half mir dabei, die Wahrheit auszusprechen.

»Vielleicht weil Sie sich nur als Oberon erlauben, beides zu sein?«, fragte Thorburn in demselben leisen Tonfall zurück. Inzwischen war ich mir ziemlich sicher, dass wir nicht mehr nur über meine Schüchternheit oder die Rolle redeten.

Ich atmete unwillkürlich tief durch, war wieder ganz Ari und kein bisschen Elfenfürst. Auf meiner Zunge drängelten sich die ungesagten Worte. Gefühle, die wie Statisten hinter der Bühne standen und vor Ungeduld mit den Füßen scharrten.

»Ich wollte immer schon Oberon sein«, gab ich schließlich zu. »Seit ich als Kind die Verfilmung mit Michelle Pfeiffer gesehen habe.«

»Nie die Titania?«, fragte Thorburn. Jetzt sahen wir endlich gemeinsam den Wirrungen der beiden Liebespaare auf der Bühne zu. »Oder die jungen Leute aus Athen?«

»Nein, nie.« Ich drängelte die anderen Geständnisse auf meiner Zunge zurück, die Kehle hinab.

»Vielleicht gestehen Sie ihn sich dann endlich zu.« Thorburn kramte in ihren Manteltaschen nach einer Packung Zigaretten, obwohl fast überall im College das Rauchen verboten war.

Ich kam um eine Antwort herum, weil Albert uns alle an der Bühne zusammenrief. Er klatschte in die Hände.

»Das war ganz anständig«, rief er in die Runde. »Ausbaufähig, aber immerhin eine Grundlage.«

Ren trug ein Cape über seinem Jackett und einen Degen zur Jeans. »Das war mehr als anständig, Albert. Der Text sitzt und wir sind flüssig durch den ersten Akt gekommen.« Er sah uns nacheinander an. »Feedbackrunde, was denkt ihr?«

»Hey, ich führe Regie!«

»Eine Feedbackrunde wäre schön«, fand Ann und fügte hinzu: »Dein Oberon war großartig, Ari.«

Trotz des warmen Gefühls in meinem Bauch senkte ich den Blick. Noch mehr Lob flitzte hin und her, diese Szene wurde hervorgehoben oder jene. Dann kamen die ersten Verbesserungsvorschläge. Konnte Hermia noch etwas verzweifelter sein? Und Lysander inbrünstiger?

»Ich finde, wir alle sollten mutiger sein. Noch mehr Drama reinlegen. Es ist Shakespeare, verdammt«, sagte der Zettel gerade.

Ich sah wieder auf und mein Blick kreuzte den von Thorburn. Sie hielt die Zigarette zwischen den rot geschminkten Lippen, ihre Augen funkelten schelmisch.

»Okay, was haltet ihr davon: Wir machen eine nächtliche Runde Proben, oben bei der Burg? Nur für uns, für die Stimmung und das Drama. Nächstes Wochenende?«, schlug Ren vor.

»Geht nicht, da habe ich Lerngruppe.« Rayna hatte schon ihren Kalender gezückt.

»Das ganze Wochenende?«

»Am Samstag ist auch das letzte Schachturnier der Saison«, gab Albert zu. »Saint Hilma gegen Edinburgh.«

»Ernsthaft, Leute, ihr killt das Drama gerade.«

»Ich werde für heute gehen, damit Sie in Ruhe einen Einbruch in ein Weltkulturerbe planen können«, sagte Thorburns raue Stimme aus dem Hintergrund. Mehrere Köpfe drehten sich ertappt zu ihr herum. »Lassen Sie sich nicht erwischen, so kurz vor den Prüfungen.« Sie hob die qualmende Zigarette zum Gruß und das Klappern der Absätze begleitete sie hinaus.

»Wir werden definitiv nicht auf der Burg einbrechen«, erklärte Rayna kategorisch, als die Tür hinter Thorburn ins Schloss fiel.

»Ach komm schon, wir alle haben das schon mal getan!«, sagte Jamie gedehnt.

»Sprich für dich selbst«, antwortete Ann trocken, aber ein paar der anderen tauschten wissende Blicke aus. Die Burg wurde tagsüber von Reisegruppen heimgesucht, aber wenn am Abend die Kasse schloss und das große Tor verriegelt wurde, lag sie verlassen da. Auf einer Insel mit mehreren Colleges war das praktisch eine Einladung.

»Wir sollten auf jeden Fall noch einen Probentermin vor dem nächsten offiziellen Treffen einschieben. Es müssten ja gar nicht alle da sein, aber was, wenn wir in kleinen Gruppen üben?« Albert sah uns nacheinander an. »Ich mach ein Doodle auf und stell es in die Chatgruppe.«

Während James noch darüber stritt, ob Puck mit nichts als goldener Farbe und falschem Efeu bedeckt auf die Bühne durfte (»Nein! Es werden Eltern im Publikum sitzen!«), und Ann ein paar Fragen zu den Kulissen hatte, schlüpfte ich hinaus.

 

Der Himmel war nur noch etwas heller als das Schiefergrau der Dächer. Vereinzelt leuchteten schon goldene Vierecke aus den Fenstern in den hereinbrechenden Abend.

Hinter mir ging die Tür auf und Rayna trat aus der alten Fechthalle. Als sie mich entdeckte, zögerte sie kurz und kam dann auf mich zu. »Das war gut, Ari. Also, wirklich gut.«

»Danke.« Ich wusste nie, wie ich auf Lob reagieren sollte. Es schien nicht zu mir und meiner Unsichtbarkeit zu passen.

Hinter uns drängte Jamie in einem Pulk von Leuten in den Abend. Sein Lachen war jungenhaft und ansteckend, er schien die bewundernden Blicke zu trinken. Rayna schaute ihn finster an.

»Er ist nicht so schlimm«, sagte ich leise und fragte mich im selben Moment, seit wann ich Jamie Boyle verteidigte.

»Nein, er ist gedankenlos«, presste sie hervor. »Und manchmal finde ich das schlimmer.«

»Die Gedankenlosigkeit in Person«, gab ich zu und sah der Gruppe nach.

Einige trugen Schals im Rot-Weiß von Murray Hall. Ann hatte sich einen Collegehoodie angezogen, der ihr mindestens zwei Nummern zu groß war und vermutlich ihrem Freund gehörte. Sie waren schon ein paar Schritte die Gasse hinuntergegangen und gerade brandete zwischen den krummen, alten Häusern wieder ihr Gelächter auf. Ich verspürte den Impuls, ein Foto zu machen, um diesen Augenblick festzuhalten. Die Sorglosigkeit, die von der Gruppe ausging, war ansteckend. Am liebsten wollte ich ihnen hinterherlaufen, mich bei jemandem einhaken und ein Teil von etwas sein.

Während dieser Gedanke vorüberzog, traten Ren und Albert als Letzte aus der Halle. Hinter den Fenstern brannte kein Licht mehr. Ich hörte das Klacken des altmodischen Drehschalters, dann erlosch auch die Laterne vor der Halle und wir standen in blaugraue Schatten getaucht. Schlüssel klapperten, als Albert abschloss.

»Kommt ihr mit zum Strand?«, fragte Ren und hakte sich bei mir ein, fast so, als hätte er meine schwermütigen Gedanken aus der Luft gepflückt. »Die Feuer müssten schon brennen und Jamie wollte noch Proviant besorgen.«

»Du meinst Alkohol«, korrigierte Albert ihn trocken. Er schüttelte den Kopf. »Zu kalt, zu laut und zu nass.«

»Spielverderber«, schalt Ren ihn gutmütig. Er sah Rayna an und fügte hinzu: »Wage es nicht! Du kommst mit.«

»Aber ich muss wirklich …«

»Wir alle sollten lernen«, ergriff ich ihre Partei. »Es sind nur noch sechs Wochen bis zu den Prüfungen.« Sobald ich darüber nachdachte, kam mir das schrecklich kurz vor. Vielleicht sollte ich den Wecker auf fünf Uhr stellen und endlich eine produktive Morgenroutine entwickeln, um das Pensum noch zu schaffen?

»Gerade deshalb sollten wir gehen«, erklärte Ren. »Wir werden in den nächsten Wochen nicht mehr zum Feiern kommen. Das ist die letzte Gelegenheit! Und Tradition!« Er guckte übertrieben bedeutungsschwer.

Albert, Rayna und ich tauschten einen kurzen Blick aus, widerwillig belustigt. Ren musste spüren, wie die Stimmung zu seinen Gunsten kippelte, denn jetzt rückte er demonstrativ seine Brille zurecht und hob das Kinn.

»Hier in Murray Hall achten wir unsere dreihundertjährige Geschichte«, imitierte er den Tonfall der Kanzlerin. »Das ist eine Verantwortung, die wir gegenüber vergangenen und zukünftigen Generationen haben. Eine Frage des Respekts und der Aufrichtigkeit.«

»Du bist unmöglich.« Raynas Lächeln blitzte auf.

»Und so überzeugend«, fügte Ren lachend hinzu. »Kommt schon! Morgen treffen wir uns zum Lernen in der Bib, aber heute Abend ehren wir die Tradition!«

Ich gab ein belustigtes Schnauben von mir, ließ mich aber mitziehen.

»Ich schicke euch morgen früh eine Erinnerung!«, drohte Rayna, doch auch sie folgte Ren die Gasse hinab.

»Ich werde das hier bereuen«, ergänzte Albert trocken, als er seine Schritte unseren anpasste.

 

Auf dem Weg durch die regenfeuchten Gassen fielen wir beim Supermarkt ein und zogen mit Chipstüten, schweren Flaschen und Schokoriegeln weiter. Rayna teilte sich ein abgepacktes Sandwich mit mir, Ren und Albert diskutierten darüber, ob Shakespeare die Vorbilder des Stücks tatsächlich recherchiert haben konnte.

»Ich meine, Hippolyta wurde praktisch entführt. Wie sehr wird sie sich schon auf die Hochzeit gefreut haben?«, fragte Ren gerade.

»Die griechische Mythologie rückt natürlich den Helden in den Mittelpunkt und das dürften Shakespeares Quellen gewesen sein.« Albert hatte eine der Chipstüten geöffnet.

»Er hat sich bestenfalls lose inspirieren lassen«, behauptete Rayna kauend. »Und dieser Liebeszauber? Das ist übergriffig.«

»Wie eine Droge in einem Getränk?«, fragte ich nachdenklich.

»Kritisierst du Shakespeares unsterbliche Verse?«, scherzte Albert.

»Das Stück hat nicht viel mit Consent zu tun«, fand Ren. »Eher mit verworrener, fieberhafter Liebe und toxischer Eifersucht.«

»Höre ich da das Echo dieses Shakespeare-Podcasts?«, zog ich ihn auf und Ren verneigte sich spöttisch.

Vor uns ragten jetzt die Zinnen der Burg auf. Sie hoben sich schwarz und mächtig von dem Abendgrau des Himmels ab. Die Fahne hing schlaff herunter. In der Luft lag eine Spur von Rauch.

»Da, was habe ich gesagt?« Ren deutete mit der Colaflasche auf den glühenden Punkt eines Lagerfeuers auf den Klippen. »Am Strand müssten auch welche sein.«

Das war tatsächlich Tradition. Zum Beginn des Trimesters trafen sich die Studierenden unseres Colleges am Meer, um Lagerfeuer anzuzünden, Gruselgeschichten zu erzählen und zu trinken. Manchmal endete das in albernen kleinen Mutproben, aber meistens nur mit Kopfschmerzen und einer Erkältung.

»Ich hätte meinen Wintermantel mitbringen sollen«, sagte Rayna und rieb fröstelnd die Hände aneinander.

»Es ist wirklich arschkalt«, fand ich. Trotzdem zogen mich die Lichtpunkte am Strand vor uns magisch an.

Gelächter vermengte sich mit dem Schwappen der Wellen. Irgendjemand hatte Musik und tragbare Boxen mitgebracht. Als wir auf den feuchten Sand hinaustraten, zählte ich drei Feuer. Zwischen den Felsen und am Wasser standen Grüppchen beisammen. Flaschen kreisten. Lodernde Fackeln steckten im Boden. Mehrere Leute hatten sich Decken und Isomatten mitgebracht. In einiger Entfernung stand Jamie auf einem Felsen und hielt eine Ansprache, von der ich zum Glück nichts verstand. Ein Johlen aus der Menge feuerte ihn an.

Ren zog eine karierte Picknickdecke aus seinem Rucksack und breitete sie für uns im Sand aus.

»Woher hast du das Ungetüm?«, fragte ich ehrlich interessiert.

»Von Mrs Hugh«, erklärte er. »Sie vertraut mir!«

»Ganz klar ein Fehler.« Albert nahm dennoch auf der Decke Platz.

Ich hockte mich neben Ren und hielt die eisigen Füße etwas näher ans Lagerfeuer. Es tauchte unsere Gesichter in ein flackerndes, goldenes Licht. Funken stoben himmelwärts. Irgendjemand schenkte heißen Kakao in Pappbechern aus, zusammen mit einem gehörigen Schuss von Was-auch-immer. Ich verbrannte mir fast die Finger daran und stellte meinen Becher trotzdem nicht neben mich in den Sand.

»Es war natürlich eine schreckliche Tragödie«, sagte ein Junge auf der Isomatte neben uns gerade. Sein Tonfall heischte um Aufmerksamkeit. »Der Strand war wochenlang abgesperrt, die Polizei ermittelte. Es gab eine große Trauerfeier.«

»Hört, hört!«, rief jemand von der anderen Seite des Feuers spöttisch.

»Es stand überall in den Zeitungen … Zeitungen waren damals noch ein Ding!« Er warf einen bedeutungsschweren Blick in die Runde, seine Mundwinkel zuckten.

»Und du warst damals noch nicht mal geboren«, rief eine jüngere Studentin mutig. »Was erzählst du?«

»Das ist eine alte Legende.« Die Worte waren mir über die Lippen geschlüpft, bevor ich michs versah. Vielleicht lag es am flackernden Feuer, dem heißen Kakao oder daran, dass Oberon mir noch in den Knochen steckte, doch ich nahm den Faden auf. »Der Tod mehrerer junger Leute in einer verhängnisvollen Aprilnacht.«

Traditionen

Obwohl die meisten die Geschichte wenigstens einmal gehört haben mussten, blickten mir aus dem Halbdunkel der Dämmerung mehrere Gesichter erwartungsvoll entgegen. Lächelnde Münder und strahlende Augen. Chipstüten und Marshmallows am Stock wurden weitergereicht. Zwei Studentinnen hatten sich unter einer Decke aneinandergekuschelt. Ich sah Kate, eingemummelt in einen Wollpullover, und immer wieder die Wappenfarben auf Mützen und Schals.

»Es geschah hier, an diesem Strand, und sie gingen auf unser College, Murray Hall.« Die Worte schmeckten satt und voll. »Einigen sagen, es war der 30. April, also Walpurgisnacht oder Beltane, doch fest steht nur, dass das Trimester gerade angebrochen war. Drei Studierende schlichen sich damals nachts in die Burgruine …«

»Ich habe gehört, sie haben nur die Abkürzung über die Klippen genommen«, warf jemand auf der anderen Seite des Feuers ein.

»Nein«, widersprach eine helle Stimme. »Sie sind mitten in der Nacht schwimmen gegangen.«

»Ende April in der Nordsee, nee, ist klar!«

»Sie schlichen sich damals nachts in die Burgruine«, wiederholte ich etwas lauter. »So, wie Hunderte vor und nach ihnen. Sie liefen den Trampelpfad hinauf, mit Taschenlampen und Bierflaschen in den Händen. Das große Tor war längst verschlossen, aber sie kannten die Bresche in der Mauer. Alle drei kletterten hindurch, sie balancierten auf dem Sims entlang und sprangen in den Hof.«

Jetzt hörten alle zu, sogar diejenigen, die diesen unsicheren Weg schon einmal selbst genommen hatten. Bierflaschen und Kakao wurden an Münder gehoben. Das Schwappen der Wellen und die Musik vom nächsten Feuer untermalten die Geschichte.

»Dabei ging eine der Flaschen zu Bruch«, flüsterte jemand in meine dramaturgische Pause.

»Dabei ging eine der Flaschen zu Bruch«, wiederholte ich in bester Tradition. »Sie johlten und lachten. Angeblich war ein Liebespaar dabei, es soll Küsse in der Dunkelheit gegeben haben. Der Vollmond schien auf die Burgruine und sie hätten die Strahlen ihrer Taschenlampen gar nicht gebraucht. Aber sie wollten auf die Wehrmauer klettern.«

»Warum haben sie das gemacht?«, raunte jemand.

»Wegen der Aussicht!«, kam die scherzende Antwort.

»Nein, als Mutprobe. Sie wollten in irgend so einen geheimen Verein«, widersprach Ann entschieden.

»Es gibt eine Geheimgesellschaft in Murray Hall?«, fragte die jüngere Studentin.

»Mehr als nur eine!«, warf Albert ein. »Und die älteste ist Blood and Salt.«

»Alles Quatsch, ich habe gehört, die Gruppe hat ein magisches Ritual durchgeführt.«

»Verschiedene Versionen derselben Geschichte«, rief Ren in die Runde und prostete mir mit dem Pappbecher zu. »Und alle sind wahr!«

»Heute kann niemand mehr genau sagen, was sie tatsächlich in der Ruine wollten«, bestätigte ich. »Einige behaupten sogar, sie wären stattdessen auf den Klippen gewesen oder Ende April schwimmen gegangen.«

Gelächter brandete auf.

»Aber fest steht, dass in dieser Nacht wie aus dem Nichts ein Sturm aufzog. Wir kennen natürlich alle die Stürme der Nordsee. Die Fähren werden eingestellt und die Holzläden geschlossen. Das Meer drängt in die Bucht hinein, manchmal überschwemmt es die Straßen am Hafen. Und in jener Nacht fiel sogar der Strom aus.«

Ich legte eine Pause ein, alle schwiegen andächtig. Im Feuer zerbarst ein Stück Treibgut und fiel krachend auf ein paar alte Holzpaletten. Funken stoben auf.

»Der Sturm peitschte den Regen über die Klippen. Das Meer warf sich gegen den Fels. Einige sagen, in solchen Nächten gehen die Geister der Seeleute um, deren Schiffe vor Saint Hilma auf Grund gelaufen sind. Und trotzdem, obwohl das schlimmste Unwetter seit Jahren wütete, kletterten die drei auf den Wehrgang der Burg. Sie duckten sich hinter die Zinnen und blickten auf die tosende See hinaus.«

Ich hielt inne, um einen Schluck zu trinken, und der Oberon in mir kostete den Moment bis zur Neige aus.

»Als der Sturm sich am nächsten Morgen verzogen hatte, stand der alte Wehrturm nicht mehr. Er war zusammen mit einem Teil der Klippen und der Wehr in die Tiefe gestürzt, nach über fünfhundert Jahren auf der Wacht. Als die Menschen aus dem Dorf an den Strand kamen, fanden sie zwischen den Steinen einen abgerissenen Arm von einem der drei Studierenden und niemals mehr, obwohl sie lange nach ihnen suchten.«

Wie auf ein Zeichen hin spähten wir alle zu den mächtigen Felsbrocken am Rande des Strandes hinüber. Einige waren natürlich entstanden, aber dazwischen ragten Steinquader aus dem Sand wie die Bauklötze eines Riesen, die von den Klippen gekullert waren. Die Flut spülte bereits über die vordersten hinweg. Mehrere Feiernde waren auf die größten Brocken geklettert. Jamie stand in ihrer Mitte und schwenkte eine Fackel über dem Kopf, als würde er einem Schiff winken.

»Würde irgendjemand den adeligen Mistkerl vor sich selbst retten?«, fragte Rayna niemand Bestimmten.

Die junge Studentin schickte hinterher: »Das stimmt doch nicht, oder? Also diese Geschichte? Warum hätten sie bei dem Sturm auf den Wehrgang klettern sollen?«

»Die Geister der toten Seeleute haben sie hinausgelockt«, behauptete Ren mit Grabesstimme.

Einige lachten, aber genauso viele warfen unbehaglich einen Blick über die Schulter.

»Wenn die Wehrmauer heruntergestürzt ist, dann konnte man dazwischen bestimmt überhaupt nichts mehr finden«, widersprach Kate.

»Es ist einfach nur eine Legende«, stimmte Albert freundlich zu. »Die Insel ist voll davon. Da sind die Gräber der namenlosen Seeleute, deren Leichname nach Stürmen angeschwemmt wurden. Der Geist im Kreuzweg des ehemaligen Klosters. Und eben die drei verschollenen Studierenden.« Er hatte für jede Legende einen Finger erhoben und schloss sie jetzt wieder zur Faust. »Diese Geschichten haben eine lange Tradition auf Saint Hilma. Und sie sind eine prima Gelegenheit, Neuzugänge vor dem Einbruch auf der Burg zu warnen.«

Rund um das Feuer wurden jetzt Zweifel an der Legende laut. Andere Versionen wurden eingestreut und dann andere Gruselgeschichten. Ich lehnte mich gegen Rens Schulter. Wir stießen mit unseren Pappbechern an, bevor wir den letzten Rest Kakao exten. Der Alkohol brannte durch die Süße der Schokolade und jetzt spürte ich die feuchte Kälte wieder. Ich schlang einen Arm um meine Knie, als könnte ich mich wie ein Einsiedlerkrebs in mein Haus zurückziehen.

»Das war gut«, sagte Ren leise und rieb mir mit der Hand über den Rücken. »Solltest du öfter machen.«

Ich brummte etwas Neutrales. Er drängte mich nicht weiter, und obwohl sie nur ins Feuer starrte, wusste ich, dass Rayna auf meiner anderen Seite aufmerksam lauschte.

»Ich habe nie verstanden, warum du den Oberon bekommen hast, aber das war gar nicht schlecht«, sagte Kate neben uns plötzlich.

Mein Magen wurde trotz des heißen Kakaos eiskalt. Ich starrte entschlossen in die Flammen und Kate schlug unser hallendes Schweigen entgegen.

»Ich meine, du bist schon etwas weicher als die Jungs. Und es ist durchaus ungewöhnlich, dass Oberon nicht …« Sie verstummte und schaute ertappt.

»Was wolltest du sagen?«, erkundigte Ren sich mit kühler Höflichkeit.

»Gar nichts, wirklich! Ich meine ja nur.« Kate hob abwehrend die Hände. Sie erwähnte nicht, dass im Theater immer schon Rollen unabhängig vom Geschlecht besetzt worden waren. Und dass ich nicht in die sauber getrennten Schubladen von männlich und weiblich passte. »Es ist halt eine sehr beliebte Figur«, fügte sie in einem Tonfall freundlicher Endgültigkeit hinzu.

»Und?«, fauchte Rayna.

Ich atmete innerlich tief durch und sah auf. »Welche Form von Männlichkeit hättest du dir für die Rolle gewünscht?«, fragte ich neutral, ganz so, als würde meine maskuline Seite nicht ständig unsichtbar gemacht werden.

»So habe ich das doch gar nicht gemeint.« Abwehr und Scham sprangen mir aus Kates Gesicht entgegen. »Du verdrehst mir die Worte im Mund.«

Sie schien aufstehen zu wollen, aber ich war schneller. Mit einem Satz kam ich federnd auf die Füße und warf meinen leeren Becher ins Feuer. »Weißt du was? Es ist mir ziemlich egal, wie du es gemeint hast.«

Inzwischen sahen ein paar der anderen Feiernden neugierig auf, aber ich winkte ab. »Vorsicht vor den Geistern.«

Bevor mich jemand aufhalten konnte, drehte ich mich auf dem Absatz um und stiefelte ans Meer, und von dort aus den Wellensaum entlang der Burg entgegen.

 

Ich hörte knirschende Schritte hinter mir im Sand, dann schloss Ren auf.

»Du bist die beste Besetzung für die Rolle«, sagte er entschieden.

Obwohl ich wütend war, schnitt die Unsicherheit tief. »Nicht du oder Jamie?«, fragte ich neckend, doch meine Stimme war etwas zittrig vor Aufregung und deshalb zu hell. »Oder … wie heißt er noch? Der Typ, der Zettel spielt?«

»Charlie aus dem Ruderteam. Nein, der ist zwar hübsch, aber zu hölzern.« Ren vergrub die Hände in den Taschen seiner Jeans. »Jamie ist der geborene Puck und ich der geborene Liebhaber.« Er grinste.

Ich legte den Kopf zurück und war froh, dass er Kate nicht verteidigte. Natürlich war es reine Gedankenlosigkeit von ihr gewesen. Sie hatte drauflosgeplappert und nicht darüber nachgedacht, warum sie sich überhaupt an mir als Oberon gestört hatte.

»Ich weiß ja, dass es keine Absicht war«, platzte es nun doch aus mir heraus, als müsste ich mich verteidigen oder sie. »Aber es zeigt so deutlich …« Ich gestikulierte mit der Hand in der Luft herum. »… Ich weiß ja, was sie alle denken, wenn sie mich sehen. Sie erinnern mich mit hundert Kleinigkeiten daran. Jeden Tag und …«

Ren trat mir einen Schritt entgegen und legte mir federleicht die Hände auf die Schultern. Suchte meinen Blick. »Du musst es mir nicht erklären, außer wenn du willst. Aber ich kenne das. Die achtlosen Worte, die unsicheren Blicke, immer wieder und meistens ohne Vorwarnung.«

Ich atmete tief durch, blinzelte alberne Tränen weg. Die auslaufenden Wellen leckten immer wieder kurz an unseren Schuhsohlen und fernab der Feuer war es noch kälter.

»Ich bin es so leid!«, sagte ich endlich mit geschlossenen Augen. »Es war hart erkämpft, zu sagen, wer ich bin: Ari, nicht-binär, transmaskulin. Und jedes Mal, wenn eine falsche Anrede kommt oder eine unverschämt persönliche Frage, eine beiläufige Bemerkung, dann …«

»Kratzt es ein wenig an dir. An deinem Mut und an deiner Unsicherheit. Bis du ganz zerkratzt und wund bist.«

Ich nickte, denn natürlich kannte Ren das noch aus seiner eigenen Transition. Deshalb war es so viel leichter mit ihm als mit Kate, Albert oder meiner Familie. Als würden Ren und ich dieselbe Sprache sprechen, selbst dann, wenn wir einmal nicht einer Meinung waren. Einen zerbrechlichen Moment lang wollte ich mich gegen ihn lehnen. Und obwohl ich das schon so oft getan hatte, angetrunken beim Feiern oder verschlafen am frühen Morgen in einer Vorlesung, zögerte ich plötzlich und der Moment verstrich.

»Scheiße«, murmelte ich, um den Absprung zu schaffen. »Es ist wirklich kalt. Und du hast nur einen Blazer an. Ich erfriere vom Zuschauen.«

»Du hast die Augen geschlossen.«

»Ich sehe das Bild deutlich vor mir, okay? Und die letzte Welle ist mir über die Schuhe geschwappt.«

Hinter uns an den Feuern wurde Gejohle laut und ich sah endlich auf. Ein paar Leute tanzten, vielleicht, um sich aufzuwärmen? Funken flogen hoch über ihren Köpfen in die Nacht. Rayna war aufgestanden, eine Decke über den Schultern, und hatte die erhobenen Hände zu Klauen geformt. Wahrscheinlich erzählte sie gerade eine Geschichte. Ein Teil von mir wollte zurück an die Feuer, aber der Sog nach Murray Hall, in mein warmes, trockenes Bett war stärker. Oder vielleicht auch nur der Gedanke an eine heiße Dusche.