A Psalm of Storms and Silence. Die Magie von Solstasia - Roseanne A. Brown - E-Book
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A Psalm of Storms and Silence. Die Magie von Solstasia E-Book

Roseanne A. Brown

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Beschreibung

Hochwertig veredelte Schmuckausgabe mit exklusivem farbigen Buchschnitt: Die Fortsetzung von »A Song Of Wraiths And Ruin« von Fantasy-Bestseller-Autorin Roseanne A. Brown! »Die Geschichte ist noch nicht vorbei. Wir werden uns wiedersehen.« Karina hat alles verloren, nachdem ein gewaltsamer Staatsstreich sie ohne ihr Königreich und ihren Thron zurückließ. Jetzt ist sie die meistgesuchte Person in Sonande. Ihre einzige Hoffnung, das zurückzuholen, was ihr rechtmäßig zusteht, liegt in einer göttlichen Macht, verschollen in der Stadt ihrer Vorfahren. Malik findet Zuflucht im Palast Zirans und zum ersten Mal so etwas wie einen Bruder. Doch die Welt versinkt im Chaos, und nur Karina kann das Gleichgewicht wiederherstellen. Als die Magie, die das Reich Sonande zusammenhält, zu zerreißen droht, stehen sich Malik und Karina erneut gegenüber. Aber wie kann man das Vertrauen von jemandem zurückgewinnen, den man einst töten wollte?  Der Abschlussband der spannenden, von westafrikanischer Mythologie inspirierten Fantasy-Dilogie, in der eine geflohene Prinzessin und ein verlorener Magier wieder Vertrauen finden und ihre Magie beherrschen müssen, um das Reich Sonande zu retten. Perfekt für Fans von Tomi Adeyemi, Renée Ahdieh und Sabaa Tahir! »Eine übernatürliche Liebesgeschichte, inspiriert von westafrikanischen Mythen, voller Intrigen und moderner Parallelen.« BookPage zu »A Song Of Wraiths And Ruin« »Eine actiongeladene Geschichte über Ungerechtigkeit, Magie und Romantik, die den Leser in eine spannende Welt eintauchen lässt, die ›Children of Blood and Bones‹ in nichts nachsteht.« Publishers Weekly, Eine antirassistische Kinder- und Jugendbuch-Leseliste zu »A Song Of Wraiths And Ruin«

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Seitenzahl: 775

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Roseanne A. Brown

A Psalm of Storms and SilenceDie Magie von Solstasia

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Diana Bürgel

Knaur eBooks

Über dieses Buch

»Die Geschichte ist noch nicht vorbei. Wir werden uns wiedersehen.«

Der zweite Band des New-York-Times-Bestsellers von der aus Ghana stammenden Autorin Roseanne A. Brown!

Karina hat alles verloren, nachdem ein gewaltsamer Staatsstreich sie ohne ihr Königreich und ihren Thron zurückließ. Jetzt ist sie die meistgesuchte Person in Sonande. Ihre einzige Hoffnung, das zurückzuholen, was ihr rechtmäßig zusteht, liegt in einer göttlichen Macht, verschollen in der Stadt ihrer Vorfahren.

Malik findet Zuflucht im Palast Zirans, und zum ersten Mal so etwas wie einen Bruder. Doch die Welt versinkt im Chaos, und nur Karina kann das Gleichgewicht wiederherstellen.

Als die Magie, die Sonande zusammenhält, zu zerreißen droht, stehen sich Malik und Karina erneut gegenüber. Aber wie kann man das Vertrauen von jemandem zurückgewinnen, den man einst töten wollte? 

Die Fortsetzung von »A Song Of Wraiths And Ruin«! Eine spannende, von westafrikanischer Folklore inspirierte Fantasy-Dilogie, in der Karina und Malik sich erneut gegenüberstehen. Perfekt für Fans von Tomi Adeyemi, Renée Ahdieh und Sabaa Tahir!

Inhaltsübersicht

Widmung

Anmerkung der Autorin

Karte

*

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

*

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

*

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

*

Danksagung

Für meine Schwestern Rachel, Emma und Mariah – für euch würde ich jedem Dämon entgegentreten.

 

Und für jene, deren Schmerz noch nicht verheilt ist und die darüber nicht sprechen können: Die Reise ist nicht leicht, aber sie ist es wert.

Anmerkung der Autorin

Dieses Buch thematisiert selbstverletzendes Verhalten, Gewaltfantasien, emotionalen und körperlichen Missbrauch, Angstzustände und Panikattacken, Grooming und Selbstmordgedanken. Ich habe mich sehr um einen sensiblen Umgang mit diesen Inhalten bemüht, möchte dich aber dennoch darum bitten, auf dich achtzugeben, wenn du diese Themen als triggernd empfindest.

*

Ihr seid also zurückgekommen, weil ihr eine weitere Geschichte über den Jungen und das Mädchen hören möchtet. Über die Prinzessin und den Geflüchteten, über die Zawenji und den Ulraji – ja, ich weiß, wie es mit ihnen weitergeht. Wir werden uns den beiden zu gegebener Zeit wieder widmen, versprochen.

Doch erlaubt mir, euch zuvor in eine Nacht mitzunehmen, die zwar nichts mit diesen beiden zu tun hat, dafür aber eine ganze Menge mit einem anderen Jungen, der seine Adoptivmutter zum ersten Mal schreien hörte …

Die erste Wehe erfasste die Sultanin von Ziran inmitten einer Ratsversammlung, und die Wesire waren so in ihre Debatte darüber vertieft, wie man das Getreide für die nahende Jahreszeit der Stürme zuteilen sollte, dass sie die Bedrängnis ihrer Herrscherin erst erkannten, als diese über dem Tisch zusammensackte und ein nasser Fleck auf ihrem hellroten Kleid erblühte und es blutrot färbte.

Als die zweite Wehe kam, hatten die Hebammen des Palasts ihre Sultanin bereits sicher in den Geburtsraum gebracht. Bei der dritten waren alle sieben Hohepriesterinnen in Ksar Alahari eingetroffen und hielten ihre heiligen Kräuter und geweihten Öle bereit, um das neueste Mitglied der königlichen Familie mit dem Segen der Gottheiten salben zu können.

Bei der vierten Wehe begannen die Schreie.

»Muss es sich so anhören, wenn man ein Baby bekommt?«, flüsterte die Tochter der Königin, als ein weiterer Klagelaut ihrer Mutter die Luft erfüllte. Da es nicht viel gab, was eine Achtjährige tun konnte, um bei der Geburt zu helfen, hatte man Prinzessin Hanane angewiesen, die Tür zu bewachen. Eine Aufgabe, die sie sehr ernst nahm und die ihr die Soldaten, die eigentlich die Tür bewachten, großzügig zuzugestehen vorgaben. Doch nun, nach mehreren Stunden, wich ihre aufgeregte Vorfreude auf ein Geschwisterchen der harschen Erkenntnis, was es tatsächlich bedeutete, ein neues Leben in die Welt zu bringen.

Die Prinzessin erschauerte, als leises Stöhnen, gefolgt von hektischem Geflüster, durch die Tür an ihre Ohren drang. »Es hört sich an, als würde sie sterben.«

»So klingt niemand, der gerade stirbt«, antwortete der Gefährte der Prinzessin. Farid, das Mündel der Königin, folgte Hanane wie ihr zweiter Schatten überallhin, und er gab häufig solche unheilvoll klingenden Bemerkungen von sich. Er war so, seit er vor fast einem Jahr nach Ksar Alahari gekommen war, nachdem er als Einziger einen Straßenräuberangriff überlebt hatte, der seine Eltern, die Diplomaten gewesen waren, das Leben gekostet hatte. Selbst jetzt noch sprach er mit gedämpfter Stimme, in der fast keinerlei Gefühlsregungen mitschwangen, und seine Augen wirkten tiefer und dunkler, als sie es bei einem Zehnjährigen sein sollten.

Farids Blick wanderte von Hananes besorgter Miene zum Himmel jenseits des Balkons. Dicke schwarze Wolken, durch die weiße Blitze zuckten, ballten sich am Horizont zusammen, was ungewöhnlich für diese Jahreszeit war. »Ich weiß das.«

Ein weiterer Schrei zerriss die Stille, und Hananes Augen wurden groß. Nach mehreren quälend langen Minuten öffnete sich endlich die Tür. Doch nicht ihre silberhaarige Mutter mit einem kreischenden Baby erschien dort, sondern nur der König.

»Baba!« Hanane eilte zu ihrem Vater, wie immer dicht gefolgt von Farid. »Ist es geschafft? Ist mein kleiner Bruder da?«

»Noch nicht«, seufzte der König und rieb sich die rot geränderten Augen. »Außerdem wissen wir noch gar nicht, ob es ein Junge wird. Vielleicht bekommst du ja auch eine Schwester.«

»Es ist ein Junge, das weiß ich einfach«, verkündete sie, und angesichts ihrer kindlichen Prahlerei lachte der König zum ersten Mal seit Tagen. Allerdings verklang sein Lachen, als die Schreie der Sultanin wieder einsetzten. Hananes Unterlippe bebte, und ihr Blick huschte zwischen ihrem Vater und der Tür des Geburtsraums hin und her.

»E-Es ist doch alles gut mit den beiden, oder?«, fragte sie. Die Geister jener Babys, die nicht überlebt hatten, schienen zwischen ihnen in der Luft zu schweben. Wenn auch dieses nicht leben durfte, dann wären es vier Geschwister, die es nie aus dem Mutterleib geschafft hatten. Nur Farid kannte die geheimen Namen, die Hanane jedem von ihnen gegeben hatte, denn für ihre Eltern war es zu schmerzhaft, darüber zu sprechen.

»Natürlich ist es das«, antwortete der König, und er meinte es auch so, denn das, was von seinem Herzen noch übrig war, weigerte sich, etwas anderes auch nur in Betracht zu ziehen. Ein greller Blitz zerriss den Himmel, gefolgt von tiefem Donnergrollen, das wie Trommelschläge klang. Zweifellos waren die Akolythen im Tempel des Windes völlig aufgelöst und versuchten in heller Panik zu enträtseln, was Santrofie, Sohn des Windes und Schutzgottheit der Windausgerichteten, ihnen damit sagen wollte.

Der König sah zu den Gewitterwolken auf und murmelte etwas, das zu leise war, als dass die Kinder es hätten verstehen können. Dann ließ er sich auf die Knie sinken, ohne auf die verwirrten Blicke der Wachsoldaten zu achten, die nicht fassen konnten, dass er sich so erniedrigte, und öffnete die Arme. Sowohl Farid als auch Hanane schmiegten sich dankbar an ihn, obwohl sie sich einem Alter näherten, in dem sie sich für solchen Trost schon zu erwachsen fühlten. »Deine Mutter hat schon viel Schlimmeres überlebt. Sie wird auch das hier überleben, und dann habt ihr beide ein neues kleines Baby zum Spielen.«

Farid mischte sich tröstend ein. »Und auch, wenn du nicht mit dem Baby spielen kannst, wirst du immer mich haben.«

Hanane lächelte dem Jungen zu. »Das stimmt. Dich werde ich immer haben.«

Eine leise Unruhe erfasste den König, als er sah, wie sein Mündel bei diesen Worten zu strahlen begann, doch er schob dieses Gefühl fort. Als Farid nach Ksar Alahari gekommen war, hatte er mehr mit einem Gespenst gemein gehabt als mit einem Jungen. Er hatte sich so sehr in sich selbst zurückgezogen, dass man sich stundenlang mit ihm in einem Raum aufhalten konnte, ohne ihn auch nur zu bemerken. Die Tatsache, dass es Hanane gelungen war, ihn aus seinem Schneckenhaus zu locken, war ein Grund zum Feiern. Außerdem, war es nicht das, was sich alle Eltern wünschten? Dass sich ihre Kinder so nahestanden wie diese beiden?

Der König wollte etwas dazu sagen, doch die lauten Stimmen der Hebammen, die hektisch seinen Namen riefen, schnitten ihm das Wort ab. Er sprang auf und eilte in den Geburtsraum, und das Letzte, was die Prinzessin sah, bevor die Tür ins Schloss fiel, waren ein Wirbel aus Bewegung, das schweißbedeckte Gesicht ihrer Mutter und mehrere Haufen blutgetränkter Tücher. Hanane begann zu zittern, doch als Farid die Hand ausstreckte, um sie zu trösten, stieß sie ihn fort und faltete die Hände zum Gebet. Sie war eine Sonnenausgerichtete, also betete sie zu ihrer Schutzgottheit Gyata der Löwin. Sie betete darum, dass ihr neues Geschwisterchen  – vorzugsweise ein Bruder  – glücklich und gesund sein und immer mit ihr spielen wollen würde, auch wenn sie ihre Spielsachen oder Süßigkeiten nicht mit ihm teilen mochte.

Die Priesterinnen hatten ihr beigebracht, dass die Gottheiten jene belohnten, die für ihre Bitten auch Opfer zu bringen bereit waren, also fügte die Prinzessin noch an: »Ich werde alles tun, was du willst, einfach alles, wenn du das Kind nur leben lässt.«

Kaum hatte sie das letzte Wort ausgesprochen, als das bisher lauteste Donnerkrachen die Alabasterwände um sie herum erzittern ließ. Die Prinzessin riss die Augen auf, und da sah sie es: Für den Bruchteil eines Moments, kürzer, als ein Schmetterling braucht, um abzuheben, oder ein Todgeweihter, um seinen letzten Atem auszuhauchen, schwebten die Regentropfen wie Tausende kleine Perlen in der Luft. Hanane rief nach Farid, damit er es sich ansah, doch als er aufblickte, prasselten die Tropfen schon wieder zu Boden.

Jahre später würde dieser Abend nur zu einer weiteren verschwommenen Erinnerung an die Kindheitstage der jungen Prinzessin werden. Doch in diesem Moment wusste sie mit einer Gewissheit, die so stark war wie ein Berg und so weit wie das Meer, dass sie mit den Gottheiten gesprochen hatte und dass diese ihr geantwortet hatten – denn nicht einmal eine Minute später erfüllte das unverwechselbare Schreien eines Neugeborenen den Palast, und alle Gedanken an Versprechungen und an Gottheiten, die sich irgendwann holen würden, was ihnen zustand, waren vergessen, als Hanane losrannte, um ihre Schwester kennenzulernen.

1

Malik

Es war einmal, inmitten eines schimmernden Palasts aus Alabaster und Silber, auf einem hohen Hügel im Herzen einer goldenen Wüste, ein Junge. Und inmitten dieses Jungen, da war ein Baum.

Von allen Bäumen im Hain war dieser der schönste. Seine Blätter reichten am weitesten hinauf, und die Zitronen an seinen Zweigen strahlten im schönsten Gelb. Weder der Baum noch der Hain, in dem er stand, waren echt, doch das kümmerte Malik nicht. Jahrelang war er davon überzeugt gewesen, dass sein Verstand ein zerstörter, ausgedörrter Ort war, an dem es nichts gab außer den Narben seiner Kindheit. Wenn er dazu fähig war, etwas so Warmes und Lebensstrotzendes zu erschaffen wie diesen Baum, dann bestand vielleicht die Chance, dass er doch nicht so zerrüttet war, wie man ihn hatte glauben lassen.

Ja, der Zitronenhain war perfekt. Oder er wäre es gewesen, wenn es da nicht die Schlange gegeben hätte.

»Dummer, törichter Junge«, brüllte der Gesichtslose König, und seine Stimme war aus zerrissenen Himmeln und donnernden Wellen gemacht, aus dunkler Magie und noch dunklerer Besessenheit. Er warf sich gegen die Fesseln, die ihn an den Baum im Herzen des Hains banden. »Du kannst mich nicht für immer hier festhalten.«

Malik erschauerte, als der geballte Zorn des Obosoms durch die Verbindung zwischen ihnen strahlte. Vor langer Zeit hatte man ihn in der gesamten Wüste Odjubai als Ɔwɔ gekannt, als Verkörperung des einst mächtigen Gonyama-Flusses. Auf der Höhe seiner Macht hatte er die Stärke besessen, ganze Imperien zu überfluten und neue Königreiche zu erschaffen.

Nun war er hier, gefangen im Kopf eines einfachen Menschenjungen, der kaum verstand, was Magie war, geschweige denn, wie man sie gebrauchte. Die Unwürdigkeit seiner Lage schien den Geist mehr zu erzürnen als alles andere.

Wieder warf sich der Gesichtslose König gegen seine Fesseln, und der Teil von Maliks Verstand, den der Geist vereinnahmte, krachte gegen sein Bewusstsein. Es fühlte sich an, als würde er von innen heraus in zwei Teile gerissen, und Malik fiel auf Hände und Knie, während er einen Schrei zu unterdrücken versuchte. Dies hier war nicht echt. Sobald er aufwachte, würde es vorbei sein.

Doch Maliks Kontrolle über seinen Verstand war am schwächsten, wenn er schlief, weshalb der Gesichtslose König genau diesen Zeitpunkt gewählt hatte, um einen Ausbruch zu versuchen. Eine weitere Schmerzwelle erschütterte Malik bis ins Mark, und er musste sich in Erinnerung rufen, was er alles verlieren würde, wenn sich der Obosom befreite. Der Flussgeist, der auch bekannt war als Idir, der Geliebte der vorzeitlichen Königin Bahia Alahari, hegte einen Hass gegen Ziran, den nur vollkommene Zerstörung würde stillen können. Wenn auch nur ein Funke seiner Macht den Fesseln entkam, würde er die gesamte Stadt in Schutt und Asche legen und, ohne zu zögern, jeden töten, den Malik liebte.

Vor über tausend Jahren hatte all der Zorn im Namen eines Unrechts seinen Ursprung genommen. Ein Unrecht, das infolge der Tyrannei von Maliks Vorfahren, den mächtigen Ulraji Tel-Ra, begangen worden war.

Malik bereute nicht, dass er den Geist in seinem Verstand gefangen gesetzt hatte  – aber, möge die Große Mutter ihm helfen, es tat weh.

»Du wagst es, dich mit den Ulraji aus den alten Zeiten zu vergleichen?«, fragte Idir, und obwohl Malik seinen Kopf nun schon seit fünf Tagen mit dem Flussgeist teilte, schreckte er immer noch vor der Erkenntnis zurück, dass Idir seine Gedanken lesen konnte. »Du besitzt nicht einmal einen Bruchteil ihrer Macht, und selbst auf der Höhe ihrer Kraft hätten sie mich nicht lange gefangen halten können.«

Wieder drückte der Gesichtslose König gegen Maliks Schädel, ein scharfer Schmerz wie von einem glühenden Eisen. Was doch sicher ausreichen sollte, um ihn aufzuwecken. Doch Malik blieb gefangen in seinem Kampf, ohne um Hilfe rufen zu können. Falls ihn gerade jemand ansah, würde er dann Zeuge werden, wie sich Maliks Körper unter den Anstrengungen zusammenkrümmte, oder würde er nur in sein schlafendes Gesicht blicken? Falls Idir ihn umbrachte und seinen Körper übernahm, würde es dann überhaupt jemand merken?

»Mich hier gefangen zu setzen war klug, aber eines hast du dabei nicht bedacht«, zischte Idir. »Genauso wie mein ganzes Selbst dir offenbart wurde, so wurde auch dein ganzes Selbst vor mir entblößt  – ich kenne jede Windung und Drehung deiner Gedanken sowie jene dunklen Winkel deines Verstands, denen du dich nicht einmal selbst stellen kannst.« Obwohl Malik den Obosom in seiner ausgemergelten menschlichen Form eingefangen hatte, waren seine Augen noch die seiner wahren Gestalt, und diese Schlangenaugen starrten Malik nun an. In ihnen lauerte der tausendjährige Hass. »Und genau deshalb weiß ich, dass du nicht stark genug bist, um mich für immer hier festzuhalten.«

Die vertrauten Tentakel der Panik wanden sich durch Maliks Eingeweide. Was, wenn Idir recht hatte? Was war Maliks dürftiges Verständnis von der Ulraji-Magie gegen einen Flussgeist, der wie ein Gott verehrt worden war? Trotz seiner Gabe des Geschichtenwebens – was war er schon außer einem schmerzlich erbärmlichen Menschen? Er konnte das nicht, er hätte es niemals versuchen dürfen, er zögerte damit nur das Unausweichliche hinaus, er war …

Nein. Nein.

Malik wusste, wenn er dieser Spirale der Angst folgte, dann würde er am Ende wie ein Feigling vor Idir um Gnade winseln. Das war es, was sein altes Ich getan hätte.

Doch sein altes Ich war in dem Moment gestorben, in dem er sich am letzten Tag von Solstasia einen Dolch ins eigene Herz gestoßen hatte. Der neue Malik mochte nie ein Gott gewesen sein, doch er war alles andere als machtlos.

»Ich muss nicht stark sein«, sagte Malik, und obwohl sein ganzer Körper protestierend aufzuschreien schien, zwang er sich dazu aufzustehen. Das Mantra, das ihm seine Großmutter früher einmal beigebracht hatte, um sich zu erden, erfüllte seine Gedanken und drängte den aufbrandenden Schmerz und die Ungewissheit zurück.

Atme. Bleib im Jetzt. Bleib hier.

Malik hob den Kopf, um sich dem herausfordernden Blick des Gesichtslosen Königs zu stellen.

»Ich muss nur stärker sein als du.«

Der Flussgeist mochte schon zuvor zornig gewesen sein, doch das war nichts im Vergleich zu der Flut aus schierer Wut, die Maliks Worte hervorriefen. Der Zorn des Gesichtslosen Königs ließ den ganzen Zitronenhain erbeben, und als sich Malik an einem der Bäume abstützen wollte, verbrannte er sich die Hand so heftig daran, dass seine Haut Blasen schlug. Der Boden unter seinen Füßen wurde zu Asche, dann stürzte Malik in einen tiefen Abgrund seines Bewusstseins, aus dem es kein Entkommen geben würde. Er stieß sich mit allem, was er hatte, von der immer weiter wachsenden Leere unter sich ab, doch er konnte seinen Körper nicht dazu bringen aufzuwachen.

Dann brach ein goldenes Licht durch das wirbelnde Chaos  – ein einzelner Faden Nkra, das grundlegende Element, aus dem alle Magie floss. Obwohl er nicht wissen konnte, wohin ihn dies führen würde, griff Malik danach, denn etwas anderes hatte er nicht. Der warme Duft von Erde nach einem Frühlingsregen erfüllte seine Sinne.

Karinas Duft.

Kaum war ihm dieser Gedanke durch den Kopf gegangen, da fiel er schon wieder, fort vom Zitronenhain und dem Gesichtslosen König, in einen Winkel seines Bewusstseins, der von allen anderen abgetrennt war.

Das Gefühl verging. Langsam öffnete Malik die Augen, und vor ihm lag … eine grüne Welt.

Seine Umgebung war verschwommen, so wie es an Traumorten oft der Fall war, doch die üppige Vegetation um ihn herum war trotzdem deutlich zu erkennen. So etwas gab es in der Odjubai nicht. Die kehligen Rufe von Turakos und anderen Vögeln mischten sich mit Kinderlachen und schallten laut durch die Luft. Die wenigen, geduckten Lehmziegelhütten, die Malik erkennen konnte, waren mit wirbelnden geometrischen Mustern bemalt, deren kulturellen Ursprung Malik nicht kannte. Hier war er noch nie gewesen, und doch war da etwas in ihm, das diesen Ort kannte. Ein Teil im Zentrum von allem, was Malik über sich wusste.

Dann begriff er auch, woher das Kinderlachen kam, als zwei Mädchen an ihm vorbeirannten, die Gesichter verschwommen, als würden die Farben auf der Palette eines Künstlers ineinanderlaufen.

»Schneller, Khenu! Die Ältesten werden uns zum Feuerholzhacken verdonnern, wenn wir schon wieder zu spät kommen!«, rief das größere der beiden Mädchen, das an Malik vorbeirannte, ohne ihn zur Kenntnis zu nehmen.

»Ich komme ja schon!«, antwortete das kleinere Mädchen  – vermutlich Khenu  –, und ihre schnellen, vogelhaften Bewegungen erinnerten Malik an seine kleine Schwester Nadia. Nachdem Khenu die Hälfte des Wegs zu ihrer Freundin zurückgelegt hatte, stolperte sie über eine Baumwurzel und fiel bäuchlings in den Schlamm. Sofort brach sie in Tränen aus, woraufhin das ältere Mädchen kehrtmachte und ihr mit einem übertriebenen Seufzen wieder aufhalf.

»Was bist du denn für eine Ulraji, wenn du immer gleich anfängst zu heulen?«, neckte das größere Mädchen und nahm ihre kleine Freundin huckepack. Maliks Augen wurden groß  – diese Kleine war eine Ulraji? Dann musste dies hier eine Erinnerung an die Vergangenheit sein, denn nur in uralten Zeiten hatte man so etwas so ungeniert aussprechen können. Doch wessen Erinnerungen waren es? Die des Gesichtslosen Königs?

Malik machte einen Schritt nach vorn, dann erstarrte er, als ihm wieder der Regenduft in die Nase stieg. Das Summen einer Energie, die nichts mit seiner Magie zu tun hatte, rauschte durch seine Adern, und als er über die Schulter zurückblickte, stand Karina neben ihm.

Ihr Blick war auf die beiden Mädchen gerichtet, die nun in den Dschungel liefen, was es Malik gestattete, sie einfach zu betrachten. Sie schien ihre verzweifelte, sturmbefeuerte Flucht aus Ziran vor ein paar Tagen unbeschadet überstanden zu haben. Ihre Bernsteinaugen strahlten hell und aufmerksam, ihre Silberlocken blieben unter einem grünen Tuch verborgen, das sie sich um den Kopf geschlungen hatte. Erst als die Mädchen fort waren, sah die Prinzessin in seine Richtung, und obwohl dies hier nur ein Traum war, schwoll das Summen der Energie in Malik weiter an, während sie den Blick über sein Gesicht schweifen ließ und einen Moment zu lange bei seinen Lippen verharrte, wodurch sie die Erinnerung an ihre letzte Begegnung wieder an die Oberfläche zwang.

Fünf Tage waren vergangen, seit sie auf dem Dach des Sonnentempels gestanden und sich geküsst hatten. Ein Kuss, in dem sich Malik vollkommen verloren hatte.

Fünf Tage, seit er versucht hatte, sie umzubringen, um seine kleine Schwester zu retten.

Fünf Tage, seit Karina in einem Strudel aus Wind und Blitzen aus Ziran verschwunden und ihre ältere Schwester vom Totenbett auferstanden war.

Eine so kurze Zeit, und doch hatte sich die Welt, die sie kannten, seither grundlegend verändert. Es gab so vieles, was Malik sagen wollte, Erklärungen und Entschuldigungen drängten sich auf seiner Zunge. Er ging einen Schritt auf die Prinzessin zu, dann, als sie nicht zurückwich, noch einen.

»Karina«, setzte er an, doch mehr brachte er nicht heraus, weil ihn in diesem Moment ihre Faust am Kinn traf.

 

»Malik? Malik!«

Malik riss die Augen auf, als der Schmerz explodierte, und jemand berührte ihn an der Schulter. Auf einmal setzten die Instinkte ein, die sich während der Jahre in ihm entwickelt hatten, in denen er seinen Vater hatte überleben müssen. Die tintenschwarze Geistertätowierung, die normalerweise um seinen Oberarm kreiste, huschte hinab in seine Handfläche, wo sie sich in einen Dolch mit schwarzer Klinge und goldenem Griff verwandelte. Malik packte seinen Angreifer am Hemd und drückte ihm den Dolch an die Kehle. Sein Gegenüber wehrte sich, konnte sich jedoch nicht befreien.

»Malik, ich bin’s nur! Nimm die Geisterklinge weg!« Da begriff Malik, dass es seine große Schwester Leila war, die sich in seinem Griff wand, und im selben Moment erkannte er, dass da noch eine zweite Klinge war, die sich gegen die weiche Haut seines eigenen Halses drückte.

»Lass sie los«, knurrte der Sentinel, und das Einzige, was Malik über das ohrenbetäubende Dröhnen seines Herzens noch wahrnehmen konnte, war das schrille Kreischen in seinen Ohren, das er immer hörte, wenn einer dieser Elitesoldaten in der Nähe war. Sofort ließ er Leila los, und der Dolch tauchte zurück in seine Haut, als er den Kopf in die Hände sinken ließ und nach Atem rang. Wo war er? Was passierte hier?

Atme. Bleib im Jetzt. Bleib hier.

Er befand sich nicht in seinem eigenen Kopf und kämpfte mit Idir um die Herrschaft über seinen Körper, er war auch nicht in einem Traum mit Karina in der Vergangenheit. Er war kein Kind, das sich in einer Ecke versteckte und zu den Gottheiten betete, dass sein Vater ihn nicht finden würde, nicht dieses Mal.

Er lag in einem Krankenzimmer in Ksar Alahari, wo er sich seit dem Ende von Solstasia befand. Seine Schwestern waren sicher. Er war sicher. Nun, jedenfalls würde er es wieder sein, sobald der Sentinel seine Waffe sinken ließ.

Leila erfasste mit einem Blick, dass Malik zu zittern begonnen hatte, und fauchte den Sentinel mit dem Speer an. »Nehmt dieses Ding aus seinem Gesicht, Ihr macht ihm Angst!«

In ihrem Heimatdorf in Oboure wäre ein Eshran, der in einem solchen Ton mit einem Mitglied der ziranischen Eliteeinsatzkräfte sprach, bestenfalls mit einer Prügelstrafe davongekommen. Im schlimmsten Fall hätte er es nicht überlebt. Dass der Sentinel Malik nur musterte, dann einmal nickte und sich auf seinen Posten in der Zimmerecke zurückzog, war ein Beweis dafür, wie drastisch sich ihr Status verändert hatte. Leila schnalzte mit der Zunge und murmelte etwas vor sich hin, doch Malik entging nicht, dass sie die Hände noch immer abwehrend erhoben hatte.

»Es tut mir so leid«, brachte er heraus.

»Hör auf, dich zu entschuldigen, immerhin war ich es, die dich so erschreckt hat.« Sie ließ die Hände sinken und schlang die Arme um sich selbst. »Ist schon gut. Ich bin nicht verletzt.«

Aber er hätte sie verletzen können. Genau deshalb war der Sentinel hier  – nicht um Malik vor der Welt zu beschützen, sondern um die Welt vor Malik zu beschützen. Er konnte Farid und dem Rat nicht einmal einen Vorwurf machen, weil sie Vorkehrungen trafen für den Fall, dass Idir entkam, was jedoch nicht bedeutete, dass es ihm sonderlich gefiel, sich unablässig unter Beobachtung zu befinden.

»War es der Gesichtslose König?«, fragte Leila. »Macht er dir Probleme?« Der Griff des Sentinels um den Schaft seines Speers verstärkte sich  – das einzige Anzeichen dafür, dass er ihrer Unterhaltung lauschte. Malik fiel die rot-silberne Schärpe auf, die der Mann über der Brust trug. Ob das wohl eine Art Rangabzeichen war?

»Ein bisschen  – aber jetzt habe ich ihn im Griff!«, fügte Malik rasch hinzu, als er die erschrockene Miene seiner Schwester sah. Nur um sicherzugehen, ging er tief in sich und drückte gegen die Sperre, die ihn von Idir trennte. Sie hielt stand. Die Schmerzen aus seinem Traum waren verschwunden.

Im Gegensatz zu Malik war Leila keine Ulraji, weshalb sie nicht ganz verstand, was geschehen war, als Malik den Geist in seinen Körper gelassen hatte. In den Tagen seit dem Ende von Solstasia hatte er sie oft dabei ertappt, wie sie ihn ansah, als würde sie nur darauf warten, dass ein Dämon durch seine Haut brach und sie alle tötete.

Was, in Anbetracht dessen, was gerade geschehen war, nicht so unwahrscheinlich war, wie es Malik gern gehabt hätte.

Doch sie würden sich nicht mehr lange Sorgen darum machen müssen, dass der Geist ausbrechen könnte, denn dies war der Tag, an dem Maliks offizielle Ausbildung bei Farid im Umgang mit der Ulraji-Magie begann. Unter der Anleitung des ehemaligen Palastaufsehers würde er lernen, wie er seine Kräfte kontrollieren und seinen Verstand so weit stärken konnte, dass der Gesichtslose König niemals würde entkommen können.

Maliks Blick fiel auf Nadia, die friedlich im Bett neben ihm schlief, vollkommen ungerührt von dem, was gerade geschehen war. Gut  – dies war die erste Nacht, seit sie aus ihrer Gefangenschaft in der Geisterwelt zurückgekehrt war, in der sie überhaupt schlafen konnte. Er zog ihr die Decke bis unter das Kinn hoch, woraufhin sie leise ausatmete.

Alles, was Malik getan hatte, alles, was er geopfert hatte, war für diesen Atemzug geschehen. Alle Schmerzen, die er hatte erleiden müssen, war dies wert gewesen.

»Er wird uns nicht mehr wehtun können«, schwor Malik, und ein Beben erfasste sein Bewusstsein.

Glaub das nur, kleiner Ulraji, zischte Idir. Auch die dickste Mauer hat ihre Schwachstellen.

Ein überwältigender Drang, sich die Fingernägel in das Fleisch seiner Arme zu graben, erfasste Malik. Eine alte Angewohnheit, geboren in jenen Jahren, in denen er nicht gewusst hatte, wie er die Magie, die in ihm brannte, entfesseln konnte.

Stattdessen ließ er das elastische Armband gegen sein Handgelenk schnappen. Sein Freund Tunde hatte es ihm im Laufe von Solstasia geschenkt.

Dies war immer noch sein Kopf. Er war immer noch der Stärkste hier.

Seine Sorgen mussten ihm anzusehen gewesen sein, denn Leila griff nach seiner Hand und strich über den Bluterguss, der sich gerade an seinem Kinn bildete. »Woher kommt das denn?«

Eine sehr gute Frage. Malik wusste nicht, wie er ihr von dem bizarren Traum von Karina erzählen sollte, ohne ihr zu verraten, wie dicht der Gesichtslose König an seine Freiheit herangekommen war.

Außerdem hatte er kein Recht dazu, von Karina zu träumen. Als sie das letzte Mal allein miteinander gewesen waren, hatte er ihr immerhin einen Dolch ins Herz gestoßen. Er bereute zwar nicht, was er getan hatte, denn es war um Nadias Leben gegangen – oder zumindest hatte er das geglaubt –, doch die Schuldgefühle setzten ihm eindeutig mehr zu, als er erkannt hatte, wenn er sie in Träumen verarbeiten musste, in denen ihn die Prinzessin schlug.

Karinas Gegenwart hatte sich so echt angefühlt, als hätte er einfach die Hand ausstrecken und sie berühren können. War es denn möglich, dass … Nein, was dachte er denn da? Seine Magie konnte Illusionen erschaffen, doch keine Illusion der Welt konnte Träume wahr werden lassen.

»Ich habe mir auf die Lippe gebissen, als ich den Albtraum hatte«, sagte er. Das musste es sein. Er hatte sich versehentlich im Schlaf selbst verletzt, und sein müder Verstand hatte daraus einen Faustschlag von Karina gemacht. Das war alles. Weiter nichts.

Je mehr Malik über Karina, das kleine Ulraji-Mädchen und den seltsam vertrauten Ort nachdachte, den er gesehen hatte, desto mehr verhedderten sich seine Gedanken. Obwohl er wusste, dass er so ausgeruht wie nur möglich sein sollte, bevor Farid ihn holen kam, saß er einfach nur da, Leilas Hand noch immer in seiner, nachdem sie schon längst wieder eingeschlafen war. Die Gegenwart des Gesichtslosen Königs war leichter zu ertragen, wenn er wach war, und Malik konzentrierte sich auf den Atem seiner Schwestern, auf den scharfen Geruch der Heilkräuter, die man im Krankenzimmer aufgehängt hatte, um das unheimliche Volk fernzuhalten, das Prickeln des Zeichens, das ihm über den Rücken huschte – auf einfach alles, außer darauf, was sein erster Tag in der Ausbildung für ihn bereithalten könnte.

Genau so fand Farid ihn vor, als er das Krankenzimmer kurz nach Sonnenaufgang betrat.

»Ich habe nicht erwartet, dass du schon wach bist«, sagte Maliks neuer Mentor. Der Mann war so tadellos gekleidet wie immer. Sein dunkles Haar war ordentlich zur Seite gekämmt, und jede Faser seines blauen Kaftans saß an der richtigen Stelle. Trotz des Aufruhrs, in dem sich ganz Ziran seit dem Ende von Solstasia befand, war ihm keine Erschöpfung anzumerken. Farid sah nicht einmal zu dem Sentinel hinüber, während er zu Maliks Bett kam, und Malik fragte sich, wie es wohl sein musste, ohne die permanente Angst vor diesen Kriegern aufzuwachsen. »Hast du gut geschlafen?«

»Ja«, log er. Leila fuhr hoch, und an die Stelle der leichten, schlaftrunkenen Verwirrung trat eine harte Aufmerksamkeit, als sie Farid erkannte.

»Ist heute der Tag, an dem Ihr endlich damit aufhört, ihn wie einen Gefangenen zu behandeln?«, verlangte sie zu wissen, und Maliks Gesicht wurde heiß. Er liebte seine Schwester von ganzem Herzen, aber er wünschte, sie würde jemanden, der sie so großzügig behandelte, nicht so scharf anfahren.

»Dieser Mann hat ein Mädchen von den Toten auferweckt und am selben Tag einen Staatsstreich geplant«, hatte sie gezischt, als Malik ihr von seinem Vorhaben, Farids Schüler zu werden, erzählt hatte. »Wir wissen nicht, wozu er fähig ist.«

Allerdings wussten sie auch nicht, wozu Malik fähig war, und genau deshalb brauchte er Farid.

Der ältere Ulraji begegnete Leilas feindseligem Blick mit einem sanften Lächeln. »Das ist er tatsächlich. Ich habe schon angeordnet, dass neue Gemächer für euch drei zurechtgemacht werden, und ich bin sicher, dass sie euch lieber sind als das Krankenzimmer. Wenn heute alles gut geht, könnt ihr noch am Abend umziehen.«

Malik konnte es kaum glauben. Seine Schwestern und er würden hier im Palast ihre eigene Unterkunft bekommen. Das war mehr, als er sich je hätte vorstellen können  – aber Moment.

»Was soll das heißen, ›wenn alles gut geht‹?« Malik zwang sich dazu, sich von seinen Schwestern zu lösen. Vor seinem neuen Lehrer wollte er stark und selbstbewusst wirken.

»Das erkläre ich dir schon noch. Komm mit  – nur du fürs Erste. Deine Schwestern können später dazukommen«, wies Farid ihn an, woraufhin Leilas Miene nur noch finsterer wurde. Rasch tat Malik, wie ihm geheißen worden war. Der Schlafmangel machte sich bemerkbar, aber er rang Nervosität und Erschöpfung nieder und beeilte sich, um mit dem schnellen Gang seines Lehrers Schritt zu halten. »Aber eins nach dem andern. Erst musst du dich umziehen, denn die Prinzessin will dich sehen.«

2

Karina

Warum musste Karina unter all den verräterischen, doppelzüngigen, von der Großen Mutter verdammten Jungen ausgerechnet von ihm träumen?

»Sieh mal einer an, die Prinzessin ist endlich erwacht«, neckte Dedele, als Karina am nächsten Morgen über die Sandbarke stürmte. Die Sonne ging gerade erst auf und sandte ihr leuchtend rosa und blaues Strahlen über den Horizont, was bedeutete, dass Karina nicht einmal sonderlich lang geschlafen hatte, doch ihre Gefährtinnen erweckten mit der Zielstrebigkeit, mit der sie sich über das Schiff bewegten, den Eindruck, als wären sie schon seit Stunden wach. Dedele, die bei Solstasia als Feuerchampion angetreten war, befand sich im Unterdeck, wo sie ihre Vorräte überprüfte und die Knoten festzog, mit denen sie die Kalebassen gesichert hatte. Sie nickte in Richtung von Karinas linker Hand, auf der sich dunkelblaue Blutergüsse gebildet hatten.

»Warum seht Ihr aus, als hättet Ihr im Schlaf einen Gorilla verprügelt?«

»Schlecht geträumt«, brummte Karina. Das allein wäre nicht ungewöhnlich gewesen, denn seit sie Ziran verlassen hatte, träumte sie nur noch schlecht. Sobald sie die Augen schloss, stand sie wieder auf dieser Plattform, und beißender Rauch füllte ihre Lunge, während sie zusah, wie sich Farid – der für sie ein Teil ihrer Familie gewesen war – gegen sie wandte und sich über die Alten Gesetze hinwegsetzte, um ihre Schwester aus dem Grab zurückzuholen. Dann sah sie der falschen Hanane in die Augen und wachte mit in der Kehle brennenden Schreien auf. Was auch der Grund dafür war, dass sie in den vergangenen fünf Nächten zusammengenommen kaum mehr als ein paar Stunden Schlaf abbekommen hatte.

Doch der Traum in der vergangenen Nacht war … anders gewesen. Realer. Wie eine vergessene Erinnerung, von der sie nichts gewusst hatte, obwohl sie diese Mädchen in dem Dorf nicht erkannt hatte. Sie hatte dort nur eine Person wiedererkannt, und allein die Vorstellung seines Gesichtsausdrucks, als er sie hatte berühren wollen, genügte, um in ihr den Wunsch wachzurufen, es wäre nicht bei diesem einen Faustschlag geblieben.

»Ich habe Malik gesehen«, platzte sie heraus, um sich umgehend selbst dafür zu verfluchen, dass sie ihn erwähnt hatte. Das konnte als Zeichen dafür verstanden werden, dass er ihr etwas bedeutete – was ganz sicher nicht der Fall war. Nicht, nachdem er sie dem Tod überlassen hatte. Sogar sein Name fühlte sich falsch auf ihrer Zunge an, da er sich während der Feierlichkeiten zu Solstasia als Adil ausgegeben hatte. Wer konnte schon sagen, ob Malik sein richtiger Name war?

Allerdings schienen Karinas Gefährtinnen nicht sonderlich interessiert an ihrem Traum zu sein. Dedele stieß nur einen leisen Pfiff aus und warf Karina ein Kauhölzchen zu. »Seid Ihr sicher, dass es die Art von Traum war, über die man vor einem Kind sprechen sollte?«, fragte sie und nickte zu dem dritten Mitglied ihrer kleinen Reisegruppe hinüber. Afua saß im Schneidersitz auf dem Oberdeck und gab ein abfälliges Schnauben von sich. Violettes Licht floss von ihren Handflächen in das abgenutzte Holz der Barke.

»Ich bin kein Kind!«, protestierte sie, wobei ihre helle Stimme ihre Behauptung prompt widerlegte. »Ich weiß alles übers Küssen und so!«

»So ein Traum war es nicht!«, fauchte Karina. Dann wandte sie sich mit mehr Enthusiasmus als nötig der Zahnpflege mit ihrem Kauhölzchen zu, damit sie darauf nicht weiter eingehen musste.

Normalerweise kam sie mit gutmütigem Spott bestens zurecht  – tatsächlich war sie meistens diejenige, die damit anfing  –, aber normalerweise wachte sie ja auch in einem Palast auf, mit einer ganzen Dienstbotenarmee zu ihrer Verfügung, nicht auf einer Plane, die roch wie das Ergebnis der Paarung zwischen einem Schweinekadaver und einer Lache aus Erbrochenem. Normalerweise war sie nicht die meistgesuchte Person in Sonande, und sie musste nicht ständig über die Schulter spähen, um sich zu vergewissern, dass keine der zahllosen Gefahren der Odjubai sie endlich doch eingeholt hatte.

Malik war einer der Menschen, denen sie für diese neue Normalität zu danken hatte. Er, Farid und all die anderen Hochverräter, die sie aus ihrer Stadt – aus ihrem Zuhause – vertrieben hatten wie einen Hund mit zwischen die Beine geklemmtem Schwanz.

Geistesabwesend strich sie über die schmale Narbe über ihrem Herzen. Obwohl die Wunde, die Malik ihr beigebracht hatte, nie körperlich schmerzhaft gewesen war, erfasste sie jedes Mal lodernder Zorn bei dem Gedanken daran, wie er sie mit einem Trugbild ihrer toten Schwester auf das Dach des Sonnentempels gelockt, sie in einem Moment geküsst und im nächsten erstochen hatte.

Und Farid. Ihr Beschützer, ihr Bruder in allem außer im Blut, der ihren Tod gewollt hatte, als Rache für einen Mord, an den sie sich nicht einmal hatte erinnern können. Selbst jetzt noch spürte sie den Biss der Ketten, die er um ihre Handgelenke geschlossen hatte. Die sengende Hitze der Flammen, mit deren Hilfe er jenes Ungeheuer erschaffen hatte, das nun das Gesicht ihrer Schwester trug. Karina zog sich die Brust zusammen, als sie an den Augenblick dachte, in dem alles, was sie über die Welt zu wissen geglaubt hatte, auf den Kopf gestellt worden war. Der Augenblick, in dem ihre tote Schwester wieder zu atmen begonnen hatte.

Auf einmal traf ein heftiger Windstoß die Barke und warf sie fast um. Die drei Mädchen wurden über das Deck geschleudert.

»Karina!«, schnauzte Dedele, während Afua die Hände tief ins Holz grub und das Schiff mithilfe ihrer Magie davor bewahrte, zu kentern.

»Tut mir leid, war ein Versehen!«, rief Karina zurück. Sie biss die Zähne zusammen und griff tief in sich hinein nach dem Faden aus Nkra, der sie mit der Luft verband. Sie zwang den Wind dazu, sich zu beruhigen. Er pfiff noch ein paarmal heulend um die Barke, legte sich dann jedoch. Dedele murmelte ein Dankgebet an ihren Schutzgott Ɔsebɔ den Leoparden, bevor sie zu Karina herumfuhr.

»Wenn Ihr Eure Kräfte nicht in den Griff bekommt, dann werdet Ihr noch jeden Sentinel im Umkreis von hundert Meilen auf uns aufmerksam machen«, warnte sie. »Für Sandstürme ist es zu früh im Jahr, und jede Wetteranomalie wird auf Euch zurückgeführt werden. Ihr solltet Eure Magie überhaupt nicht gebrauchen, bevor wir in Arkwasi sind.«

»Das weiß ich«, grummelte Karina. Dedele hatte leicht reden, sie war ja auch nicht diejenige, die irgendwie versuchen musste, einen Sturm unter ihrer Haut zu zähmen. Ein falscher Gedanke, eine unbedachte Gefühlsregung, und schon könnte Karina sie versehentlich erfrieren oder von einem Gewitterblitz verbrennen lassen, so wie sie es vor all den Jahren mit ihrem eigenen Vater und ihrer Schwester getan hatte.

»Ihr solltet wirklich die Atemübungen machen, die ich Euch beigebracht habe«, schlug Afua vor, und ein kaum wahrnehmbares Beben in ihrer Stimme verriet ihre Erschöpfung, nachdem sie so schnell so viel Magie hatte aufwenden müssen. »Der Grundstein aller Zawenji-Magie ist emotionale Kontrolle, und die beginnt beim Atem.«

Während ihrer jahrelangen musikalischen Ausbildung hatte Karina gelernt zu atmen, ziemlich gut sogar, doch sie war nicht in der Position, Afua zu widersprechen, besonders weil das lebensausgerichtete Mädchen der einzige Grund dafür war, dass sie alle noch lebten. Pflichtschuldig ging Karina auf die gegenüberliegende Seite des Schiffs, weit genug fort von den anderen, damit sie nicht von einer plötzlichen Böe umgeworfen wurden, falls Karina einmal die Konzentration verlor, dann ließ sie sich in meditativer Haltung mit überkreuzten Beinen und im Schoß gefalteten Händen an Deck nieder. Wenn Afua meditierte, begann sie immer mit einem Gebet an ihre Schutzgöttin, also versuchte Karina dies nun auch.

»Gepriesen seist du, Santrofie, Sohn des Windes, Gott der Himmel und aller unter deinem Schutz Geborenen. Gepriesen seist du für die Luft in meinen Lungen und für den Wind, der verlorene Segler nach Hause bringt. Möge ich mich mit der Schnelligkeit eines Frühlingssturms durch die Welt bewegen, und möge mich deine Weisheit über alle Pfade des Lebens leiten, von meinem ersten Atemzug bis zu meinem letzten.«

Dies war der Moment, in dem sie Glaube und Vertrauen überfluten sollten, in dem sie sich mit ihrer Magie und dem Gott, der sie ihr angeblich verliehen hatte, im Einklang befinden und endlich verstehen sollte, warum die Menschen so sehr an die Schutzgottheiten glaubten, dass sie ihnen Leib und Leben widmeten.

Doch dies geschah nie. Als sie die Augen wieder aufschlug, verspürte sie nichts außer dem altvertrauten Stich der Enttäuschung, dort, wo eigentlich ihre Verbindung mit dem Göttlichen hätte sein sollen.

Die Golddünen der Odjubai rollten an ihr vorbei, endlos wie die Wellen des Meeres – nun ja, jedenfalls so endlos, wie sich Karina das Meer vorstellte. Genau wie alle anderen Mitglieder der Familie Alahari seit Bahia selbst hatte sie das Meer nie mit eigenen Augen gesehen. Die Zerstörung der Barriere war vielleicht das einzig Gute an der ganzen Sache. Während der vergangenen tausend Jahre hatte sich niemand in ihrer Familie, nicht einmal ihre berühmte Mutter, so weit von der Stadt entfernt wie Karina jetzt.

Leider war es schwer, sich an der Freiheit zu erfreuen, wenn man seine Zeit damit verbringen musste, um sein Leben zu rennen.

Mit dem Daumen zeichnete Karina in der Luft jene dünne Linie zwischen Himmel und Erde nach. Alle Gedanken an ihre Meditation waren vergessen. War irgendwo jenseits dieser Linie Farid damit beschäftigt, weitere Soldaten auszusenden, die sie schreiend und um sich tretend zurück nach Ziran schleifen sollten? Oder hatten die Soldaten Befehl, sie sofort zu töten, wo auch immer sie Karina fanden? Schmiedete Farid seine Pläne nun Seite an Seite mit dem Ungeheuer, das er aus Hananes Leichnam erschaffen hatte?

Wieder regte sich der Wind, und rasch versuchte Karina, ihre Erinnerung an die Geburt jener Kreatur zu verdrängen. Die Toten waren die Toten waren die Toten, genau wie es in den Alten Gesetzen hieß. Die wahre Hanane war vor zehn Jahren gestorben, ganz gleich, was Farid dachte. Was da aus dem Feuer gekrochen war  – dieses Ding  –, war genauso wenig ihre Schwester, wie Malik ihr Verbündeter war.

Sie brauchte eine Armee, eine, die stark genug war, um sich mit den Kräften zu messen, über die Farid nun verfügte. Und das einzige Land in Sonande, das es mit Ziran aufnehmen konnte, war Arkwasi. Das war es, was diesen grässlichen Tagen und höllischen Nächten ihrer Reise einen Sinn gab: das Versprechen, dass sie am Ende ihrer Flucht Hilfe vom höchsten Herrscher in Osodae, der Hauptstadt Arkwasis, bekommen würde. Und von den »Bewahrern«, einer Geheimgesellschaft der Zawenji, die Afua alles gelehrt hatten, was sie wusste.

Sobald sie die gesamte Macht des arkwasischen Reichs hinter sich wusste, würde Karina viel näher daran sein, sich das zurückholen zu können, was rechtmäßig ihr gehörte.

Doch es hatte keinen Sinn, darüber zu fantasieren, wie sie ihre Armee einsetzen würde, wenn sie vorher auf dieser Barke von einem Sandsturm begraben wurde, also widmete sich Karina mit frisch erwachter Entschlossenheit wieder ihren Atemübungen. Nachdem allerdings auch ihr dritter Versuch fehlgeschlagen war, gab sie es schließlich auf und betrachtete stattdessen die vorüberziehende Wüste. So weit nördlich von Ziran gab es nichts zu sehen als Sand, Felsen, Erde, mehr Sand, eine Leiche, Sand … Moment.

Karina rieb sich die Augen. Doch der Umriss des menschlichen Körpers war noch immer da. Kein Schillern umgab ihn, wie es bei einer Luftspiegelung der Fall gewesen wäre.

»Dedele! Afua!«, rief sie, und ihr Herz schlug schneller. »Ich glaube, ich sehe da jemanden!«

Nur Sekunden später standen beide Mädchen an ihrer Seite. Dedele zog das Fernglas von ihrem Gürtel und spähte hindurch. »Bei Ɔsebɔs Punkten, ist das eine Leiche?«

Karina schnappte ihr das Fernglas weg und sah selbst hindurch. Sie waren zu weit entfernt, um Details erkennen zu können, aber die Art, wie sich der Körper auf dem Sand krümmte, war unverkennbar. »Die Person lebt noch! Wir müssen etwas tun!«

Mit finsterem Blick holte sich Dedele ihr Fernglas zurück. »Es könnte eine Falle sein. Ein Bandit, der so tut, als wäre er verletzt, um ahnungslose Reisende anzulocken und dann auszurauben.«

Das wusste Karina selbst, und doch … die Erinnerung daran, wie ihre Mutter zu Boden gestürzt war, blitzte vor ihrem inneren Auge auf. »Wir müssen wenigstens nachsehen. Afua, schnell.«

Das Zawenji-Mädchen änderte pflichtschuldig den Kurs. Sobald das Schiff zum Stehen kam und gesichert war, kletterte Karina hastig hinab und rannte zu dem Menschen, der dort im Sand lag. Es war eine ältere Frau, alt genug, um ihre Großmutter sein zu können. Dunkelviolette Blutergüsse blühten überall auf ihrer faltigen Umbrahaut, und die breiten roten Striemen im Sand, die sie hinter sich hergezogen hatte, ließen keinen Zweifel daran, dass sie Hunderte von Metern vorangekrochen sein musste, bis sie schließlich nicht mehr weitergekonnt hatte.

»Kannst du mich hören, Atti?«, fragte Karina und verwendete das ziranische Kosewort für »Großmutter«. Afua trat zu ihr und hielt der Frau einen Ziegenlederbeutel voller Wasser an die Lippen. Nach mehreren, furchterregend stillen Momenten begann die Frau schließlich, gierig zu trinken, bis sie furchtbar husten musste und ihr das Wasser über die Brust schwappte.

»M-M-Meine Tochter«, brachte sie heraus, nachdem das Husten endlich nachgelassen hatte. »Bitte, helft mir, sie haben meine Tochter mitgenommen!«

»Wer hat deine Tochter mitgenommen, Atti?«, fragte Dedele. »Was ist mit dir passiert?«

»Sie sind letzte Nacht gekommen und haben a-a-alle gepackt. Wer gekämpft hat, wurde umgebracht. Ich habe mich tot gestellt, und deshalb haben sie mich liegen lassen.« Der Griff, mit dem sie die Vorderseite von Karinas Kleid festhielt, war so schwach, dass ihn eine Fliege hätte abschütteln können. »Oh, meine Tochter! Meine einzige Tochter! Sie haben sie mitgenommen! Sie ist fort!«

Die Frau heulte auf wie ein verwundetes Tier, und wenn Karina sie nicht aufrecht gehalten hätte, wäre sie in ihrer Verzweiflung wieder zusammengesunken. Sie erklärte nicht näher, wer die Angreifer gewesen waren, doch das musste sie auch gar nicht. Es war bekannt, welches Grauen die Menschenhändler verursachten, die durch die Odjubai streiften. Dass diese Frau einen ihrer Raubzüge überlebt hatte, war entweder schieres Glück oder der Wille der Gottheiten, je nachdem, woran man glaubte.

Während die Frau weiterschluchzte, sah Karina auf und tauschte einen Blick mit Dedele und Afua. In den Gesichtern der beiden sah sie ihren eigenen Konflikt gespiegelt. »Wir müssen etwas tun.«

»Und was genau?«, gab Dedele zurück. »Den Menschenhändlern hinterherjagen und sie dann höflich bitten, die Tochter wieder herauszugeben? Im besten Fall sind wir dann alle tot. Im schlimmsten Fall finden sie heraus, wer Ihr seid und …« Mit einem raschen Blick auf die ältere Frau unterbrach sie sich, doch diese war viel zu tief in ihrem eigenen Kummer gefangen, als dass sie begriffen hätte, was Dedele fast herausgerutscht wäre. Nur dem dicken smaragdgrünen Tuch, das sich Karina fest um den Kopf geschlungen hatte, war es zu verdanken, dass die Frau sie nicht sofort an ihrem Silberhaar erkannt hatte, doch diese Tarnung war bestenfalls dürftig.

Karina erkannte durchaus, dass Dedele recht hatte. Sowohl sie als auch Afua hatten ihr Leben riskiert, um Karina aus Ziran hinauszubringen, und nun riskierten sie ihr Leben ein weiteres Mal, damit es Karina bis nach Arkwasi schaffte. Durfte sie dieses Opfer aufs Spiel setzen für eine Frau, deren Namen sie nicht einmal kannte? Nun erschien es ihr so, als wäre es fast gnädiger gewesen, wenn sie einfach an ihr vorbeigefahren wären, denn jetzt hatten sie ihr Hoffnung gemacht, nur um sie ihr gleich wieder zu entreißen.

Doch es war mehr als ihr Mitgefühl mit einer Fremden, was Karina dazu brachte, die Frau weiter an sich zu drücken. Etwas, das Malik in der Totenstadt unter Ziran gesagt hatte, hallte in ihrem Kopf wider.

Sind Euch die Menschen gleichgültig, die jeden Tag bei dem Versuch sterben, die Wüste zu durchqueren? Oder die Menschen, die bei den Unruhen in Eshra ums Leben kommen?

Seine Worte erfüllten sie auch jetzt noch mit derselben Scham, wie sie es damals getan hatten. Denn obwohl er ein Verräter war, obwohl er sie dem Tod hatte überlassen wollen, war es doch die Wahrheit. Sie hatte sich nie um die Geflüchteten oder die Gefallenen gekümmert, weil sie es nie gemusst hatte. Sie hatte ihr Leben ignorant und von allem abgeschieden in ihrem Alabasterturm verbracht, und das Leid jener, die unter ihr standen, war ihr ebenso fern gewesen wie das Leid der Charaktere aus irgendwelchen Volkssagen.

Selbst jetzt noch wurde sie vor den schlimmsten Auswirkungen von Farids Staatsstreich beschützt. Als ihr Volk sie am dringendsten gebraucht hatte, war sie weggelaufen. Trotz all ihrer Magie und ihrer Stellung war sie voll und ganz machtlos gewesen, als die Welt um sie herum zusammengebrochen war.

Genau wie in jener Nacht, in der sie Baba und Hanane verloren hatte.

Genau wie in jener Nacht, in der sie ihre Mutter verloren hatte.

Wieder heulte der Wind um sie auf. Wie sollte sie sich jemals eine Königin nennen dürfen, wenn sie nicht einmal eine alte Frau retten konnte?

»Wenn die Menschenhändler nicht zurückkommen und sie umbringen, dann wird sie sicher verdursten«, sagte sie leise, und sogar Dedele wirkte verstört angesichts der Vorstellung, dass diese Frau hier im Sand verrotten würde. »Wenn wir sie ins nächste Dorf bringen, dann hat sie vielleicht eine Chance.«

Karina bedachte Dedele mit demselben stählernen Blick, mit dem der Turmfalke seine besonders sturen Gegner in die Knie gezwungen hatte.

Schließlich seufzte Dedele tief.

»Es gibt ein kleines Dorf namens Tiru etwa eine Stunde von hier entfernt«, erklärte sie schließlich widerstrebend. »Ich bezweifle, dass die Nachricht von Eurer Flucht schon bis dorthin gelangt ist, also sollte es einigermaßen sicher sein. Aber danach keine weiteren Unterbrechungen mehr, bis wir in Arkwasi sind.«

Karina nickte zustimmend und zog die alte Frau auf die Füße. Schon bald würden sie wieder auf der Barke sein, und die Reise, die zu ihrer Rache führte, würde weitergehen.

Doch zuerst ein kleiner Umweg.

3

Malik

Die Prinzessin will dich sehen, hatte Farid gesagt, als würde es um nichts weiter als einen Besuch beim Fischhändler gehen. Als würden sie nicht von ebenjener Prinzessin sprechen, die noch vor einer Woche nicht mehr als ein Haufen Knochen in einem weißen Leichentuch gewesen war.

Weder Malik noch seine Schwestern hatten ihre Wiederauferstehung miterlebt, doch seither redete niemand über etwas anderes mehr. Selbst jetzt sprachen die Diener darüber, während sie Malik auf seine Begegnung mit ihr vorbereiteten.

»Ich habe gehört, dass Mwale Farid die Prinzessin im höchsten Turm eingeschlossen hat, den nur er selbst betreten kann, mit einem Kristallschlüssel, den er an einer Kette um den Hals trägt«, wisperte einer der Diener einem anderen zu, während sie Malik im Hamam gründlich abschrubbten.

»In ihrem Haar verbergen sich Hörner, und ihre Ohren sind spitz wie die einer Ziege«, schwor ein weiterer Diener, während sie Malik in einen schwarzen, goldverzierten Kaftan kleideten und dabei sorgfältig darauf achteten, seine noch immer nicht vollständig verheilten Wunden zu schonen. »Wenn man ihr zu lang in die Augen sieht, dann raubt sie einem die Seele!«

Es war der Stoff, aus dem Kindermärchen und Geschichten am Lagerfeuer gemacht waren. Genauso fühlte sich Maliks Leben an, seit er in Ziran eingetroffen war. Doch da niemand Prinzessin Hanane seit dem Ende der Solstasia-Feierlichkeiten gesehen hatte, waren die Gerüchte derart lebendig geworden, dass die Leute vermutlich ziemlich enttäuscht sein würden, wenn sie herausfänden, dass sie keine gespaltenen Hufe oder irgendeine andere monströse Fehlbildung aufweisen konnte.

Malik konnte nicht mehr tun, als einen Fuß vor den anderen zu setzen, während Farid ihn in das Herz des Palasts führte. Aufgrund der noch immer bestehenden Gefahr durch Feinde, sowohl von außerhalb als auch von innerhalb des Palasts, wurde Prinzessin Hananes Aufenthaltsort selbst vor jenen geheim gehalten, die hier lebten, weshalb Malik eine Augenbinde trug und von Farid geführt wurde.

Sofort verlor er vollkommen die Orientierung, während sie ihrem gewundenen Weg folgten. Die Tatsache, dass der Sentinel aus dem Krankenzimmer sie ebenfalls begleitete, half ihm kein bisschen dabei, seine Nervosität niederzuringen. Bei jedem der hallenden Schritte des Mannes musste Malik daran denken, wie viele seines Volkes diese Krieger abgeschlachtet hatten.

Als ob du ihnen nicht dasselbe antun könntest, wenn du es wolltest.

»Sei still!«, zischte Malik leise, woraufhin Farids Griff um seine Schulter fester wurde.

»Stimmt etwas nicht?«

»N-Nein, alles in Ordnung!« Während er sich innerlich dafür verfluchte, dass er den Köder des Obosoms geschluckt hatte, ließ Malik sein Armband gegen seine Haut schnappen, immer wieder, bis die Innenseite seines Handgelenks zu brennen begann. Möge die Große Mutter ihm helfen, er hatte die Prinzessin noch nicht einmal zu Gesicht bekommen und verlor schon die Nerven.

Das einzig Gute an seiner Situation war die Tatsache, dass das unheimliche Volk und damit auch die Geister nirgends zu finden waren. Das war ihm bereits aufgefallen, als er während des Solstasia-Festes in den Palast gekommen war  – irgendetwas hielt die Kreaturen aus Ksar Alahari fern. Malik nahm sich vor, Farid danach zu fragen, sobald sie mit dem fertig waren, was auch immer sie vorhatten.

Links, rechts, dann noch einmal rechts, dann eine Treppe hinauf, noch einmal links, bis Farid ihn endlich anwies, stehen zu bleiben. Galle schwappte in Maliks Magen, als jemand verkündete: »Adil Asfour, Lebenschampion von Solstasia, ist eingetroffen, Euer Hoheit.«

Farid nahm Malik die Augenbinde ab, und gedämpftes Fackellicht erfüllte seine Sicht. Er stand in einem höhlenartigen Steinsaal, der schon alt gewesen sein musste, als der Palast erbaut worden war. An einer Wand reihten sich Schwerter, Speere, Schilde und andere Waffen, während der Großteil des Raums von einer flachen Mulde eingenommen wurde. Die steinerne Einfassung darum wies Spuren auf, die unmöglich von menschlichen Händen stammen konnten. Der scharfe Geruch nach einem gerade gelöschten Feuer hing in der Luft.

Doch der wirklich erstaunlichste Anblick hier war Prinzessin Hanane. Karinas ältere Schwester saß auf einer erhöhten Plattform, von der aus man die Kampfarena überblicken konnte, und Malik gefror an Ort und Stelle zu Stein, als ihn das Gewicht ihres Blicks traf. Eine Herrscherin, die ihre neueste Eroberung inspizierte.

Die Gerüchte waren alle falsch  – da war kein graues, verwesendes Fleisch, da waren keine Klauen oder Krallen, wo menschliche Hände hätten sein sollen. Die Prinzessin war mehr als schön, etwa in Maliks Alter, und ihre Haut schimmerte wie Obsidian. Ihre Augen waren ebenso schräg und scharf wie die von Karina, und auch der sanfte Schwung des Kinns und der Silberschimmer ihres Haars glich dem ihrer Schwester, doch die Unterschiede überwogen die Ähnlichkeiten zwischen den beiden Prinzessinnen bei Weitem. Wo Karina voll und weich war, wirkte Hanane schmal und schlank. Sommersprossen tupften ihren Nasenrücken wie ein Sternbild, und ihr Silberhaar fiel ihr in dünnen Zöpfen über den Rücken, wohingegen Karina ihre Locken offen trug. Sogar das sanfte Pastellrot ihres Kleids stand im Kontrast zu den kräftigen Farben und Mustern, die ihre jüngere Schwester bevorzugte.

Außerdem war Hanane barfuß. Irgendwie war es dieses kleine Detail, das Malik mehr verstörte als alles andere – wenn jemand von den Toten wiederauferstand, sollte er eigentlich irgendein verräterisches Merkmal aufweisen, doch Malik sah nur ein Mädchen vor sich, das seine Königswürde trug wie eine zweite Haut.

Auch der Rat war anwesend, seine Mitglieder saßen im Halbkreis zu beiden Seiten der Prinzessin. Trotzdem hätten Malik und Prinzessin Hanane die einzigen Menschen auf der Welt sein können, so intensiv sah sie ihn an. Dann hob sie einen Finger und winkte ihn zu sich.

»Du bist also derjenige, der den Gesichtslosen König besiegt hat.« Ihre Stimme war nicht rauchig wie die ihrer Schwester, besaß aber denselben Respekt einflößenden Klang, so als würde sie alle und jeden dazu herausfordern, ihr zu trotzen. Malik fragte sich, ob der permanente Vergleich mit ihrer Schwester Karina wohl zu schaffen gemacht hatte, bevor ihm wieder einfiel, dass ihn das eigentlich nicht kümmern sollte.

In seinem Kopf wand sich der Gesichtslose König voller Unbehagen.

Mach, dass du von der Untoten wegkommst. Je weiter, desto besser.

Dieses eine Mal waren Malik und er eindeutig einer Meinung, doch trotz seiner Nervosität war Malik nicht so dumm, einer Angehörigen der Königsfamilie den Rücken zu kehren.

»Das bin ich, Euer Hoheit«, antwortete er.

»Farid spricht in den höchsten Tönen von dir. Du musst tatsächlich sehr mächtig sein, wenn du eine solche Kreatur gefangen halten kannst.«

Malik beschloss, lieber nicht zu erwähnen, dass der Flussgeist in der vorherigen Nacht um ein Haar ausgebrochen war. »Ich fühle mich geehrt, das zu hören, Euer Hoheit.«

Er versuchte nach Kräften, sich nicht unter Prinzessin Hananes Blick zu winden. »Man hat mir gesagt, dass du Illusionen erschaffen kannst?«

Malik nickte. »Ich kann herbeirufen, was auch immer ich mir vorstellen kann.«

»Erschaffe etwas für mich. Gleich jetzt.«

Darüber dachte er einen Moment nach, dann fiel ihm wieder ein, wie sehr die verstorbene Königin Pflanzen geliebt hatte  – vielleicht galt dies auch für ihre Tochter.

Ein warmes Summen lief durch seine Adern, ein Gefühl, als könnte man sich nach Stunden in der Kälte endlich an ein Feuer setzen. Er hätte tausend Jahre leben können, ohne dieses Gefühls jemals müde zu werden – dieser Moment, in dem seine Worte die unsichtbaren Bande des Nkra um ihn herum in pure Magie verwandelten.

»Welche Blumen mögt Ihr am liebsten? Rote? Blaue? Gelbe mit einem rosa Kranz in der Mitte?« Hananes Augen leuchteten auf, als eine Blume zwischen ihnen in der Luft erschien, deren Blütenblätter erst tiefrot, dann himmelblau und schließlich sonnengelb wurden. Die Begeisterung darüber, ein Publikum zu haben, wärmte Malik, machte ihn selbstsicher. Gab ihm das Gefühl, sich besser im Griff zu haben.

»Ich bin nicht auf unbelebte Gegenstände beschränkt. Ich kann ebenso Lebewesen erschaffen, wie zum Beispiel …«

»Einen Gorilla!«, befahl Hanane. Eigentlich hatte Malik eher an so etwas wie ein Kätzchen gedacht, aber er erfüllte der Prinzessin ihren Wunsch. Sie stieß ein begeistertes Keuchen aus, als sich der Gorilla von hinten näherte und an ihrem Kopf schnupperte. Doch dann verblasste ihr Lächeln, als ihre Hand direkt durch das Tier hindurchstrich. »Man kann deine Illusionen nicht berühren?«

Hitze stieg Malik in die Wangen. »Noch nicht.«

Farid stand inzwischen an der Seite der Prinzessin. Nun schenkte er seinem neuen Schützling ein Nicken. »Man sagt, die Geschichtenweber der alten Zeit konnten so kunstvolle Illusionen erschaffen, dass sie einen Menschen dadurch über Wochen hinweg aushungern konnten, bis er schließlich in der festen Überzeugung starb, jeden Tag königlich gespeist zu haben«, erklärte er. »In all den Jahren, in denen ich die Wissenschaft der Mystik nun schon studiere, habe ich nie von jemandem gehört, der seinen Körper wieder unter seine eigene Kontrolle bekommen hat, nachdem ein übernatürliches Wesen davon Besitz ergriffen hatte. Vielleicht kannst du noch keine berührbaren Illusionen erschaffen, aber ich schätze, dass das eher an mangelnder Unterweisung liegt als an deinen Fähigkeiten.«

Es war schön, Komplimente zu bekommen, wirklich, aber das alles erklärte nicht, warum er in einer Art Kampfarena stand. Vor allem konnte Malik das unterschwellige Grauen nicht abschütteln, das daher rührte, dass er sich in Gegenwart einer Untoten befand. Prinzessin Hanane dort sitzen zu sehen, war, als hätte jemand beschlossen, dass Feuer nicht mehr heiß war oder dass der Norden nun im Süden lag. Etwas fundamental Falsches lag in der Luft, etwas, bei dem sich Maliks Nackenhaare sträubten.

Farid schien dies allerdings vollkommen ungerührt zu lassen. In dem Blick, mit dem er die Prinzessin betrachtete, lag nichts als Zärtlichkeit, und wenn ihre Gegenwart ihn nicht beunruhigte, dann sollte sich auch Malik davon nicht aus der Fassung bringen lassen.

»Du fragst dich vielleicht, warum ich dich habe rufen lassen«, warf Prinzessin Hanane ein. »Heute ist der erste Wassertag des neuen Wasserzeitalters, und es ist üblich, dass im betreffenden Tempel eine Zeremonie für jene abgehalten wird, die nach der derzeit regierenden Schutzgottheit ausgerichtet sind. Die Aufgabe, der Hohepriesterin bei der Durchführung der Zeremonie zu helfen, steht dem Gewinner von Solstasia zu, doch da der Wettstreiter des Wassers Adetunde noch immer vermisst wird, fällt diese Pflicht nun stellvertretend an dich.«

»Tunde wird vermisst?«, platzte Malik heraus. Wie viel hatte er in jenen fünf Tagen im Krankenzimmer verpasst?

Zum ersten Mal seit seiner Ankunft ergriff Großwesirin Jeneba das Wort. »Seit dem letzten Tag von Solstasia wurde Adetunde nicht mehr gesehen. Wir glauben, dass er die Stadt zusammen mit Karina verlassen haben könnte.«

Diese Worte hätten Malik nicht so schwer treffen sollen, wie sie es taten. Immerhin hatte er gewusst, dass Tunde und Karina schon einmal zusammen gewesen waren, lange bevor er selbst nach Ziran gekommen war. Tunde liebte sie, und auch sie musste eine gewisse Zuneigung für ihn empfinden, denn sonst hätte sie ihn wohl kaum an Maliks Stelle dazu erwählt, sie zu heiraten.

Dennoch schmerzte die Vorstellung, die beiden könnten zusammen geflohen sein, an einem dunklen, hässlichen Ort in Malik, von dem er bis zu diesem Moment nicht einmal etwas gewusst hatte.

Tiefe Sorgenfalten zeichneten sich auf Farids Stirn ab. »Es ist ebenfalls möglich, dass der arme Adetunde zu den vielen Opfern des Sturms gezählt werden muss, den Karina auf die Stadt losgelassen hat. Solange wir allerdings nicht wissen, wo er ist, bist du der Einzige, der seine Pflichten erfüllen kann. Und wir müssen sicherstellen, dass du dieser Aufgabe gewachsen bist.«

Malik folgte Farids Blick in die Mitte der Mulde, wo der Sentinel, der mit ihnen gekommen war, nun Schulter an Schulter mit zwei weiteren Soldaten stand. Langsam begann er zu begreifen. »Das hier ist eine Prüfung.«