A Song of Wraiths and Ruin. Die Spiele von Solstasia - Roseanne A. Brown - E-Book
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A Song of Wraiths and Ruin. Die Spiele von Solstasia E-Book

Roseanne A. Brown

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Beschreibung

Sie braucht sein Herz für ein magisches Ritual – er ihren Tod für das Leben seiner Schwester: Der New-York-Times-Bestseller »A Song Of Wraiths And Ruin« von der aus Ghana stammenden Autorin Roseanne A. Brown führt uns in eine westafrikanisch inspirierte Fantasywelt, die auf allen Ebenen begeistert: mythisch, romantisch und modern! Alle fünfzig Jahre findet im Königreich Sonande das berühmte Solstasia-Turnier statt, bei dem alle Nationen des Reiches zusammenkommen, um dem Wettstreit der Champions beizuwohnen. Doch für die junge Königin Karina geht es um viel mehr: Um ihre Mutter wiederbeleben zu können, braucht sie das Herz eines Königs. Daher bietet Karina dem Gewinner des Festes ihre Hand an… Zur gleichen Zeit kommt Malik mit seinen beiden Schwestern in die Hauptstadt Ziran, voller Hoffnung auf ein neues Leben fern von Krieg und Gewalt. Malik freut sich auf die Festlichkeiten rund um Solstasia – bis ein rachsüchtiger Geist seine kleine Schwester Nadia entführt und einen furchtbaren Preis für ihr Leben verlangt: den Tod von Königin Karina. Für Malik gibt es nur eine Chance, Karina nahe genug zu kommen, um sie zu töten: Er muss das Solstasia-Turnier gewinnen … Der Auftakt einer spannenden, von westafrikanischer Folklore inspirierten Fantasy-Dilogie, in der eine trauernde Kronprinzessin und ein verzweifelter Geflüchteter ihre Ziele nur erreichen können, indem sie einander töten. Dieser New-York-Times-Bestseller ist perfekt für Fans von Tomi Adeyemi, Renée Ahdieh und Sabaa Tahir.   »Ein explosives, atemberaubendes Fantasy-Debüt […] Vor allem aber nutzt Brown eine üppige Fantasy-Kulisse, um auf ergreifende Weise Probleme der realen Welt zu diskutieren.« Booklist »Eine actiongeladene Geschichte über Ungerechtigkeit, Magie und Romantik, die den Leser in eine spannende Welt eintauchen lässt, die ›Children of Blood and Bones‹ in nichts nachsteht.« Publishers Weekly, Eine antirassistische Kinder- und Jugendbuch-Leseliste

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Seitenzahl: 681

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Roseanne A. Brown

A Song of Wraiths and Ruin.Die Spiele von Solstasia

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Diana Bürgel

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Champions von Solstasia – tretet näher!

Alle fünfzig Jahre findet im Königreich Ziran das berühmte Solstasia-Turnier statt, bei dem alle Nationen des Reiches zusammenkommen, um dem Wettstreit der Champions beizuwohnen. Doch für die junge Königin Karina geht es um viel mehr: Um ihre Mutter wiederbeleben zu können, braucht sie das Herz eines Königs. Daher bietet Karina dem Gewinner des Festes ihre Hand an…

Zur gleichen Zeit kommt Malik mit seinen beiden Schwestern in die Hauptstadt Zirans, voller Hoffnung auf ein neues Leben fern von Krieg und Gewalt. Malik freut sich auf die Festlichkeiten rund um Solstasia – bis ein rachsüchtiger Geist seine kleine Schwester Nadia entführt und einen furchtbaren Preis für ihr Leben verlangt: den Tod von Königin Karina. Für Malik gibt es nur eine Chance, Karina nahe genug zu kommen, um sie töten zu können: Er muss das Solstasia-Turnier gewinnen …

Der New-York-Times-Bestseller »A Song Of Wraiths And Ruin« von der aus Ghana stammenden Autorin Roseanne A. Brown bringt eine Fantasywelt, die auf allen Ebenen begeistert: mythisch, romantisch, divers!

Inhaltsübersicht

Widmung

Anmerkung der Autorin

Karte

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

Danksagung

Leseprobe »A Psalm of Storms and SilenceDie Magie von Solstasia«

Für Mom und Dad und für jedes Schwarze Kind, das sich jemals gefragt hat, ob es gut genug ist – ja, das bist du.

Anmerkung der Autorin

Dieses Buch thematisiert milde Formen von selbstverletzendem Verhalten, Gewaltfantasien, emotionalen und körperlichen Missbrauch, Angstzustände und Panikattacken, den Tod der Eltern und den Tod von Tieren. Ich habe mich sehr um einen sensiblen Umgang mit diesen Inhalten bemüht, möchte dich aber dennoch darum bitten, vorsichtig zu sein, falls du diese Themen als triggernd empfinden könntest.

1

Malik

»Abraa! Abraa! Kommt und versammelt euch – hier beginnt gleich eine Geschichte!«

Der Singsang der Griotte strich durch die sengend heiße Wüstenluft, vorbei an den Eselgehegen und edelsteingeschmückten Wohnanhängern der Zeltsiedlung vor dem Westtor des Stadtstaates Ziran. Instinktiv reagierte Malik auf den Ruf und wandte sich in die Richtung, aus der die Stimme der Geschichtenerzählerin kam. Unwillkürlich umklammerte er den Tragegurt der Umhängetasche über seiner Schulter fester.

Die Griotte war eine untersetzte Frau, fast einen ganzen Kopf kleiner als Malik, und ihr Mund dehnte sich zu einem zähneentblößenden Grinsen. Jeder Zoll ihrer dunkelbraunen Haut war mit wirbelnden, knochenweißen Tätowierungen verziert und voller Symbole, die Malik nicht verstand.

»Abraa! Abraa! Kommt und versammelt euch – hier beginnt gleich eine Geschichte!«

Nun wurde der Ruf vom stetigen Rhythmus einer Djembé-Trommel untermalt, und binnen weniger Minuten hatte sich eine beachtliche Menschentraube bei dem Baobab versammelt, unter dem sie stand. Es war die perfekte Zeit für eine Geschichte – diese Stunde, in der die Abenddämmerung in die Nacht überging und das letzte schwache Sonnenlicht den Himmel noch erhellte, während die Welt darunter schon in Dunkelheit getaucht war. Die Zuhörer setzten sich auf umgedrehte Kisten und zwischen abgenutzte Karren und blickten alle paar Minuten suchend zum Himmel hinauf, obwohl Bahias Komet erst in ein paar Stunden erscheinen und den Beginn des Solstasia-Festes ankündigen würde.

Die Griotte rief ein drittes Mal, und Malik ging einen weiteren Schritt auf sie zu, dann noch einen. Als die Zirani seine Heimat im Eshran-Gebirge erobert und besetzt hatten, waren die Griots die Ersten gewesen, die gegangen waren. Doch die wenigen Verbliebenen hatten einen tiefen Eindruck in Maliks Seele hinterlassen. Einem Griot oder einer Griotte zuzuhören war, als würde man eine neue Welt betreten. Eine Welt, in der Helden durch den Himmel tanzten und Geister ihnen folgten. Eine Welt, in der Gottheiten mit einer einzigen beiläufigen Bewegung ganze Berge schufen. Maliks Körper schien sich von allein in Bewegung zu setzen, gefangen im hypnotischen Lockruf der Frauenstimme.

Zwei Monate lang waren seine Schwestern und er durch die Wüste Odjubai gereist. Ihre einzige Gesellschaft waren das Knarren des falschen Karrenbodens, unter dem sie sich versteckten, der Wind, der durch die Dünen heulte, und das leise Wimmern der anderen Geflüchteten gewesen. Was konnte es schon schaden, sich eine einzige Geschichte anzuhören und nur einen Moment lang zu vergessen, dass sie kein Zuhause mehr hatten, zu dem sie zurückkehren konnten, und kein …

»Malik, pass auf!«

Eine kräftige Hand packte ihn am Kragen, und er stolperte zurück. Den Bruchteil einer Sekunde später landete ein ledriger Fuß von der Größe einer kleinen Kuh stampfend auf der Stelle, an der er gerade noch gestanden hatte. Ein Schatten schob sich über Maliks Gesicht, während der Chipekwe vorüberschlenderte und bei jedem donnernden Schritt Sand und Kiesel aufwirbelte.

Als Kind hatte Malik Geschichten über Chipekwes gehört, aber keine der Erzählungen hatte die gigantische Größe dieser Kreaturen einfangen können. Sie jagten Elefanten in der Savanne, und mit ihrem gepanzerten Kopf hätten sie mit Leichtigkeit das Dach des alten Hofhauses seiner Familie durchbrechen können. Das spitze Horn, das ihnen aus der Nase spross, war fast so groß wie Malik selbst.

»Willst du dich umbringen?«, fauchte Leila, nachdem der Schatten des Chipekwes vorübergezogen war. Über ihre schiefe Nase hinweg funkelte seine ältere Schwester ihn an. »Pass auf, wohin du gehst!«

Die Wirklichkeit sickerte zurück in Maliks Körper wie ein Tropfen aus einem rostigen Wasserhahn, und allmählich wurde der Ruf zur Geschichte von den Stimmen der Wagenfahrer übertönt, die ihren Tieren Befehle zubrüllten. Von den Melodien der Musizierenden, die ihr Publikum mit Sagen von vergangenen Solstasia-Festen unterhielten, und von den anderen Klängen der Zeltsiedlung. Ein paar Leute waren stehen geblieben, um diesen Trottel anzustarren, der sich fast zu Tode hätte trampeln lassen, und das Gewicht ihrer Blicke ließ Malik die Hitze ins Gesicht steigen. Er drehte an seinem zerschlissenen Tragegurt herum, bis ihm das Leder in die Handfläche schnitt. Schatten huschten am Rand seines Blickfelds umher, und er drückte die Augen so fest zu, dass es wehtat.

»Tut mir leid«, murmelte er.

Ein kleiner Kopf, umgeben von einer Wolke fröhlicher, springender dunkler Locken, tauchte hinter Leila auf. »Hast du das gesehen?«, rief Nadia. Seiner jüngeren Schwester stand vor Staunen der Mund offen. »Der war … mindestens eine Million Fuß hoch! Ob der wegen Solstasia hier ist? Kann ich ihn mal anfassen?«

»Er ist sehr wahrscheinlich wegen Solstasia hier, weil jeder wegen Solstasia hier ist«, gab Leila zurück. »Und du fasst hier gar nichts an.« Sie wandte sich wieder an Malik. »Gerade du solltest es eigentlich besser wissen, als einfach so davonzuschlendern.«

Malik umklammerte seinen Tragegurt noch fester. Es hatte keinen Sinn, seiner großen Schwester erklären zu wollen, welche Macht ein Ruf zu einer Geschichte auf ihn hatte. Er neigte zu Tagträumereien und zum Umherschlendern, Leila dagegen bevorzugte Logik und Planung. Sie sahen die Welt unterschiedlich, in mehr als einer Hinsicht.

»Tut mir leid«, wiederholte Malik, den Blick fest auf den Boden gerichtet. Er sah auf den Sonnenbrand auf der Oberseite seiner in Sandalen steckenden Füße. Sie waren voller Blasen nach der langen Reise in Schuhen, die für so etwas nicht gedacht waren.

»Heiliger Patuo, gib mir Kraft. Auf euch beide aufzupassen ist, als müsste man einen Sack Flöhe hüten.« Malik zuckte zurück. Leila musste wirklich wütend sein, sonst hätte sie ihren Schutzgott nicht in die Angelegenheit verwickelt.

Sie streckte Malik die linke Hand hin. Auf der Handfläche prangte das Symbol, das ihre Mondausrichtung zeigte.

»Na komm. Gehen wir lieber, bevor sich noch ein Elefant auf dich setzt.«

Nadia kicherte, und Malik ärgerte sich über die Stichelei, trotzdem nahm er gehorsam Leilas Hand. Die andere bot er Nadia an, die ohne Zögern zugriff.

Niemand achtete auf Malik und seine Schwestern, als sie sich einen Weg durch die Zelte der Tausenden von Menschen bahnten, die für Solstasia von überallher nach Ziran gekommen waren. In der Siedlung vor der Stadt gab es Hunderte von Geflüchteten, und jeden Tag kamen Dutzende von ihnen dazu. Drei weitere – jung und unbeaufsichtigt, wie sie waren – machten da kaum einen Unterschied.

»Solstasia afeshiya! Solstasia afeshiya!«

Die Worte erklangen von überall und nirgends, ein Ruf zum Fest in einer Sprache, die älter war als Ziran selbst. In ein paar Stunden würde Bahias Komet – benannt nach der ersten Sultanin Zirans – am Himmel erscheinen und eine ganze Woche zu sehen sein. Damit würde er das Ende dieses Zeitalters kennzeichnen und gleichzeitig ein neues einläuten. Während dieser Woche veranstalteten die Zirani ein Fest, das als Solstasia bekannt war. Sieben Champions – um die sieben Schutzgottheiten zu repräsentieren – würden sich je drei Herausforderungen stellen. Der Gewinner würde zeigen, welche Gottheit über das kommende Zeitalter herrschen sollte.

»Stellt euch vor, jeder Karneval und jedes Maskenfest und jede Feier auf der ganzen Welt würden alle gleichzeitig stattfinden.« So hatte Nana es ihnen einmal beschrieben, und obwohl sich seine Großmutter in einem Lager Hunderte von Meilen entfernt befand, konnte Malik fast die Wärme ihrer runzeligen braunen Hände auf seinen Wangen spüren, die dunklen Augen erfüllt von einer Weisheit, die er sich kaum vorstellen konnte. »Sogar das wäre nichts im Vergleich zu einer einzigen Stunde von Solstasia.«

Obwohl Leila nicht einmal sonderlich schnell lief, dauerte es nur wenige Minuten, bis Malik der Schweiß über den Rücken rann und sein Atem in kurzen, schmerzhaften Stößen kam. Die Reise hatte seinen ohnehin schon schwachen Körper noch weiter ausgezehrt, bis er kaum mehr als eine Hülle seiner selbst war. Nun begannen violette und grüne Punkte bei jedem Schritt vor Maliks Augen zu tanzen, während die erbarmungslose Wüstensonne auf ihn niederbrannte.

Sie steuerten sechs identische Holzplattformen auf einem großen freien Platz an, auf dem die Behörden der Zirani die in die Stadt strömenden Menschen überprüften. Jede Plattform war doppelt so groß wie ein Wohnanhänger. Reisende, Kaufleute und Geflüchtete versuchten, den Kontrollpunkt zu passieren und dabei so wenig Aufmerksamkeit wie möglich auf sich zu ziehen.

»Händler sowie Gruppen von fünf oder mehr Personen nach rechts! Einzelpersonen sowie Gruppen von vier oder weniger Personen nach links«, rief einer der Amtsleute. Zwar sah Malik einige Soldaten der Zirani in silber-braunen Uniformen, Sentinels entdeckte er jedoch nirgends. Gut – das Fehlen der wachhabenden Elitekrieger Zirans war stets ein Grund zur Freude.

Malik hob den Blick zu dem vor ihm aufragenden Gebilde. Anders als beim Chipekwe hatten die alten Geschichten nicht untertrieben, was die Größe Zirans betraf. Die Außenmauer erstreckte sich, so weit das Auge reichte, und verblasste am Horizont zu einer schillernden Luftspiegelung. Siebenstöckige, uralte Gebäude aus Sandstein und Lehmziegeln erhoben sich über die Siedlung, und das Westtor bildete eine dunkelbraune, hufeisenförmige Abweichung im roten Stein.

Straßenhändler, die Kapital aus der hier versammelten Menge schlagen wollten, hatten ihre Stände entlang des Pfads zur Stadt errichtet und priesen ihre Waren zunehmend hektisch jedem an, der an ihnen vorüberkam. Alle möglichen Güter stapelten sich auf ihren Verkaufstischen: ebenhölzerne Gebetsstatuen der Großen Mutter und der sieben Schutzgottheiten, Hörner aus Elfenbein, mit denen man lauter trompeten konnte als jeder Elefant, leise klingelnde Armbänder, um Geister und das unheimliche Volk fernzuhalten.

Obwohl es viel Kundschaft an den Ständen gab, ließen die meisten von ihnen die Armbänder unberührt. Übernatürliche Wesen waren Stoff für Geschichten, die man sich in finsteren Nächten zuflüsterte, mehr nicht. Malik wusste aus Erfahrung, dass diese Armbänder nie funktionierten und oft einen juckenden grünen Ausschlag auf der Haut hinterließen.

Bei dem Gedanken an das unheimliche Volk warf Malik wieder einen Blick über die Schulter, doch hinter ihm drängten sich nur Menschen. Er musste sich entspannen und aufhören, sich zu benehmen, als könnten ihn jeden Moment irgendwelche eingebildeten Monster packen. Das Einzige, worauf er sich jetzt konzentrieren musste, war, mithilfe des gefälschten Passierscheins in seiner Schultertasche in die Stadt zu kommen. Dann würden Leila und er Arbeit finden, denn dank Solstasia gab es derzeit Tausende von unbesetzten Stellen. Sie würden genug Geld verdienen, um auch für Mama und Nana Passierscheine zu kaufen.

Aber was, wenn es ihnen nicht gelang?

Bei dieser Vorstellung ging sein Atem noch kürzer, und die Schatten am Rand seines Sichtfelds begannen erneut zu tanzen. Die Welt um ihn herum verschwamm, und er schloss die Augen und wiederholte in Gedanken das Mantra, das seine Mutter ihm beigebracht hatte, als vor all den Jahren die ersten Panikattacken eingesetzt hatten.

Atme. Bleib im Jetzt. Bleib hier.

Solange sie keine Aufmerksamkeit auf sich zogen, niemanden ansahen und mit niemandem sprachen, sollte alles gut gehen. Es war nur eine Menschenmenge. Es würde ihn nicht umbringen, sich hindurchzubewegen, auch wenn seine Handflächen schweißnass waren und sein wild pochendes Herz ihm die Brust zu sprengen drohte.

»Hey.« Nadia zupfte ihn mit der freien Hand am Hosenbein und deutete auf die Stoffziege, deren Kopf vorne aus ihrer verblichenen Djellaba herausschaute. »Gege möchte wissen, ob ich deine Tasche bekomme, wenn der Chipekwe beim nächsten Mal wirklich auf dich drauftritt.«

Trotz der Angst, die in seinem Bauch rumorte, brachte Malik ein kleines Lächeln zustande. »Gege hat keinen guten Einfluss auf dich. Hör lieber nicht auf ihn«

»Gege hat gesagt, dass du das sagen würdest«, murmelte Nadia mit der Würde, die nur eine Sechsjährige zustande brachte, und Malik lachte. Ruhe erfüllte ihn. Ganz gleich, was geschah, er hatte seine Schwestern. Solange sie zusammen waren, würde alles in Ordnung kommen.

Sie nahmen ihren Platz in der Schlange hinter einer Frau ein, die mehrere Körbe voller Papayas auf dem Kopf balancierte, und erst jetzt ließ Leila ihn los.

»Wir sind da! Jetzt warten wir.«

Offenbar würden sie eine ganze Weile warten müssen. Obwohl die Siedlung von geschäftiger Energie vibrierte, ging es nur quälend langsam voran. Vor ihnen hatten einige Grüppchen sogar Lager für die Nacht aufgeschlagen, und niemand schien es eilig zu haben.

Nadia zog die Nase kraus. »Kann ich mir die Stände anschauen gehen?«

»Nein«, antwortete Leila und strich sich eine Falte aus dem blauen Kopftuch.

»Aber die Schlange bewegt sich nicht mal!«

»Ich habe Nein gesagt.«

Nadia blies die Wangen auf, und Malik spürte den sich anbahnenden Wutanfall. Leila meinte es gut, aber der Umgang mit kleinen Kindern war nicht gerade ihre Stärke. Also war es Malik, der vor Nadia in die Hocke ging, um mit ihr auf Augenhöhe zu sein, und auf die Außenmauer deutete. »Siehst du das?«

Nadias Kopf ruckte hoch. »Was denn?«

»Da oben, auf der Spitze des größten Turms.«

Zu Ehren von Solstasia war sogar die Außenmauer mit Bannern geschmückt worden. Sie hingen von den Türmen herab, und jedes davon stellte eine der sieben Schutzgottheiten dar – von Gyata der Löwin, die über die Sonnenausrichtung herrschte, bis zu Adanko der Häsin, Maliks Schutzgöttin, die über die Lebensausrichtung regierte.

Jede Schutzgottheit wachte über einen Tag der Woche, und wenn ein Kind geboren wurde, ritzte ihm die Hebamme das Symbol eines der sieben Gottheiten in die linke Handfläche, damit es seine eigene Ausrichtung kennen würde. Man sagte, die Ausrichtung eines Menschen entschied über jedes wichtige Ereignis in seinem Leben, angefangen von der Arbeit, für die man geeignet war, bis hin zu der Person, mit der man sein Leben teilen wollte.

Nadia klappte der Mund auf, als sie das Sonnenbanner an der Mauer erblickte. »Das ist mein Symbol!«

»Stimmt«, bestätigte Malik. »Gyata beobachtet alle Sonnenausgerichteten, um zu sehen, wer der nächste Sonnenchampion werden soll. Aber sie wird dich nicht auswählen, wenn du weinst.«

»Ich weine nicht!« Nadia hob einen Stock vom Boden auf und schwang ihn durch die Luft. »Und dann, wenn Gyata mich als Champion auswählt, wohne ich im Palast mit der Sultanin, und ich kann essen, was ich will, und dann sage ich Prinzessin Karina, sie soll verbieten, dass ich jemals wieder in einer Schlange stehen muss!«

»Ich glaube nicht, dass die Prinzessin Gesetze erlässt.«

Wieder blies Nadia die Wangen auf, und zum ersten Mal erkannte Malik, wie ähnlich sie einander sahen – das gleiche stark gelockte schwarze Haar, das sich gegen jeden Kamm wehrte, die gleiche hellbraune Haut, die gleichen großen schwarzen Augen, die immer irgendwie überrascht wirkten. Mondeulenaugen, hatte Papa sie immer genannt, und für die Dauer eines Herzschlags fehlte Malik sein Vater so sehr, dass er nicht atmen konnte.

»Na gut, und was würdest du dann tun, wenn du die Prinzessin triffst?«, wollte Nadia wissen.

Was würde er tun, wenn er Prinzessin Karina träfe? Malik schob die schmerzhaften Gedanken an seinen vermissten Vater fort, um über diese Frage nachzudenken.

Eine der größten Vergünstigungen, wenn man zu einem Solstasia-Champion wurde, war das Leben im Palast für die Dauer des Festes. Zwar hätte Malik es niemals zugegeben, aber er hatte sich tatsächlich schon ein-, zweimal ausgemalt, einer der Champions zu werden und seine Ausrichtung vor der ganzen Welt zu repräsentieren. Allerdings war es eine vollkommen aussichtslose Fantasie, da seit der Eroberung durch die Zirani vor über zweihundertfünfzig Jahren kein Eshran mehr zum Champion erwählt worden war.

Außerdem war Prinzessin Karina Alahari den Gerüchten zufolge ein sprunghaftes, verantwortungsloses Mädchen, das nur deshalb zur Thronerbin wurde, weil ihre ältere Schwester vor fast zehn Jahren bei einem Brand ums Leben gekommen war. Prinzessin hin oder her, mit so jemandem wollte Malik nichts zu tun haben.

»Ich glaube nicht, dass die Prinzessin und ich sonderlich gut miteinander auskommen würden«, sagte er.

Nadia schnaubte. »Du bist langweilig!«

Sie versetzte ihm einen Stoß mit dem Finger in den Bauch, und er brach in gespieltem Schmerz zusammen.

»Au! Ich ergebe mich!«, jammerte er. »Hörst du auf, mich umbringen zu wollen, wenn ich dir eine Geschichte erzähle?«

»Ich kenne deine Geschichten alle schon.«

Malik strich ihr die Locken aus der Stirn. Nadia war schon immer klein für ihr Alter gewesen, und nun, nach monatelanger schlechter Ernährung, war sie so zart, dass Malik manchmal fürchtete, ein kräftiger Windstoß könnte sie einfach für immer davontragen.

»Kennst du schon die von dem kleinen Mädchen auf dem Mond?«

Nadia machte große Augen. »Es gibt ein kleines Mädchen auf dem Mond?«

Malik nickte und setzte eine komisch-ernsthafte Miene auf. »Ja. Ihr älterer Bruder hat sie dort ausgesetzt, weil sie einfach nicht aufhören wollte zu schmollen.«

Er unterstrich seine Worte mit einem Stups auf ihre Nase, was ihm ein entrüstetes Kichern von Nadia einbrachte. Da Papa nicht einmal ein Jahr nach Nadias Geburt fortgegangen war, hatte es Malik übernommen, auf sie aufzupassen, wenn Mama, Nana und Leila auf den Feldern arbeiteten. Er kannte sie besser als jeder andere. Er wusste, dass sie alles stehen und liegen lassen würde, um eine Geschichte zu hören, genau wie er selbst. Im Wagen hatte Malik sie mit einer Geschichte nach der anderen über die Gaunerheldin Hyäne unterhalten, und nachdem ihm dazu nichts mehr eingefallen war, hatte er seine eigenen Geschichten erfunden, auf der Grundlage der Legenden, die er im Laufe der Jahre gehört hatte. Er hatte erzählt und erzählt, bis er heiser geworden war. Alles, um Nadia davor zu bewahren, unter der Last ihrer Situation zusammenzubrechen.

Wieder einmal hob Malik den Blick, voller Verwunderung über die Stadt vor ihm. Obwohl das Eshran-Gebirge zu den Territorien der Zirani gehörte, bekamen nur sehr wenige Eshrans die berühmte Stadt tatsächlich zu Gesicht. Der Preis für die Passierscheine war zu hoch, und die Zustimmungsrate für besagte Scheine zu niedrig. Von den Gefahren der Odjubai ganz zu schweigen. Ziran mochte jeden Aspekt des Lebens der Eshrans kontrollieren, bis zu der Entscheidung, in welchem Dorf man wohnen durfte, aber die Freuden Zirans waren wiederum nie für Maliks Volk bestimmt gewesen.

Trotzdem waren sie nun hier und standen am Fuß der größten Stadt der Welt. All die Nächte, in denen sie eng aneinandergeschmiegt unter mottenzerfressenen Decken gelegen und versucht hatten, den beißenden Wind und das Weinen der Menschen um sie herum auszuschließen, die man wie Tiere behandelte. Dazu die seelenraubende Angst, dass er seine Heimat nie wiedersehen würde – all das war es wert gewesen.

Tatsächlich hatte er bisher nicht einmal eine Spur jener … Kreaturen zu Gesicht bekommen, die ihm in Oboure so zugesetzt hatten.

Sie waren jetzt in Sicherheit.

Maliks Gedanken wurden von einem Tumult in der Schlange links von ihnen unterbrochen, als ein ramponierter, von einem räudigen Esel gezogener Leiterwagen die Plattform erreichte. Der alte Mann, der den Karren fuhr, reichte dem Soldaten auf der Plattform einen Stapel Dokumente, während seine Familie ängstlich aus dem Anhänger des Leiterwagens hervorlugte. Malik wurde eiskalt, als er die vertrauten Symbole an der Seite des Wagens erkannte – geometrische Muster, die aus Eshra stammten.

Der Soldat blätterte den dünnen Papierstapel mit demonstrativer Genauigkeit durch. Dann hob er den Knauf seines Schwerts und schlug damit gegen den Schädel des alten Mannes. »Keine Eshrans, mit oder ohne Papiere!«

Keine Eshrans. Wieder begann die Welt um Malik zu verschwimmen, doch er zwang sich dazu, aufrecht stehen zu bleiben. Es war alles in Ordnung. Ihre Papiere gaben sie als Geschwister aus Talafri aus, einer Stadt ein gutes Stück innerhalb der Grenzen der Zirani. Solange sie sich ihren Akzent nicht anhören ließen, würde niemand erfahren, dass sie ebenfalls Eshrans waren.

Die Schreie der Familie hallten durch die Luft, als die Soldaten den alten Mann davonschleiften und den Leiterwagen von der Plattform fortschafften. In dem Durcheinander bemerkte niemand, wie jemand aus dem Wagen auf die staubtrockene Erde fiel. Es war ein Junge, kaum älter als Nadia, trotzdem achtete niemand auf ihn, während alle nach vorn drängen, um in der Schlange den Platz seiner Familie einzunehmen. Es brach Malik das Herz.

Was, wenn es Nadia wäre, die dort im Staub lag und der niemand half? Allein bei dem Gedanken zog sich ihm schmerzhaft die Brust zusammen, und immer wieder sah er zu dem Jungen hinüber.

Leila folgte seinem Blick und runzelte die Stirn. »Lass es.«

Doch Malik hatte sich schon in Bewegung gesetzt. Kurz darauf hob er den Jungen auf und stellte ihn auf die Füße.

»Alles in Ordnung?«, fragte er und tastete ihn nach Verletzungen ab. Aus leeren, tief eingesunkenen Augen sah das Kind zu ihm hoch. Sein Gesicht wirkte verhärmt, und in den schwarzen Tiefen der Pupillen sah Malik sein Spiegelbild.

Schnell wie ein Blitz zog ihm der Junge den Schultergurt seiner Tasche über den Kopf und tauchte in die Menschenmenge. Ein paar Sekunden lang stand Malik einfach nur da und starrte mit offenem Mund auf die Stelle, an der gerade noch das Kind gestanden hatte.

»Hey!«

Während er sich noch für seine Naivität verfluchte, tat er, was er am besten konnte.

Er rannte.

2

Karina

Die Tanzende Robbe war eines jener Wirtshäuser, die sowohl älter als auch dreckiger waren, als erlaubt sein sollte, mit einer äußerst fragwürdigen Schmutzschicht, die jede sichtbare Oberfläche sowie das Personal überzog. Trotzdem war das Essen fantastisch und das Unterhaltungsprogramm sogar noch besser. Was auch der Grund war, der Karina in diese Gaststätte nahe der Außenmauer Zirans geführt hatte.

Während Aminata neben ihr schmollte, hielt Karina den Blick fest auf den Musiker gerichtet, der sein Publikum in Atem hielt: einen stämmigen Barden, der eine Oud spielte und dessen Schnurrbart so perfekt eingedreht war, dass er unmöglich echt sein konnte. Von seinem Äußeren jedoch einmal abgesehen, war der Mann sehr talentiert, und der Art nach zu urteilen, wie er über die runde Bühne in der Mitte des Raums schlenderte, wusste er das auch.

Seine Zuhörerschaft waren an diesem Abend hauptsächlich Reisende und fahrende Händler, die Gesichter gezeichnet von den vielen Jahren auf den erbarmungslosen Wüstenstraßen. Aus dem Gemurmel der Menge hörte Karina deutlich Kensiya heraus, eine Sprache der Arkwasianer, einem Volk aus den Dschungeln im Norden der Odjubai. Außerdem noch T’hoga, eine Sprache der Ostwasser-Savanne, und ab und zu sogar ein Wort in Darajat, das einem der ängstlichen Diener aus Eshran zugebrüllt wurde. Jede der großen Bevölkerungsgruppen in Sonande war an diesem Abend hier vertreten.

Am besten war jedoch, dass niemand wusste, wer Karina war.

Die Leute saßen auf Kissen um niedrige Tische herum, die sich unter Schüsseln mit dickem Bohneneintopf und dampfendem Lammfleisch bogen. Sie riefen dem Barden Bemerkungen zu, eine dreckiger als die andere, und sangen schief zu den Stücken, die er spielte. Solstasia machte selbst die schlimmsten Geizhälse großzügiger, weshalb viele der hier Versammelten bereits bei ihrem dritten oder vierten alkoholischen Getränk angekommen waren, obwohl die Sonne noch am Himmel stand.

Der Blick des Barden fiel auf Karina, und er grinste. Sie neigte den Kopf zur Seite, und als Antwort auf die kühne Andeutung in seinem Blick breitete sich ein Ausdruck engelsgleicher Unschuld auf ihrem Gesicht aus.

»Willst du da nur rumstehen und dekorativ aussehen, oder spielst du endlich mal etwas, bei dem sich das Zuhören lohnt?«, rief sie herausfordernd. Mehrstimmiges Johlen erhob sich, und die bereits dunkelroten Wangen des Mannes bekamen einen Stich ins Violette. Trotz des nicht gerade appetitlichen Erscheinungsbilds war die Tanzende Robbe eine der höchstangesehenen Bühnen in ganz Ziran, wenn es um Musik ging. Nur die besten Musiker konnten hier das Publikum für sich gewinnen.

Der Barde stimmte ein derbes Lied an, in dem es um die Liebesbeziehung eines einsamen Geistes zu einem Sklavenmädchen ging. Karina lehnte sich auf ihrem Kissen zurück und musterte den Mann. Ihr ursprüngliches Urteil war korrekt gewesen: Er war wirklich talentiert. Er passte die Melodie der Stimmung des Publikums an und steigerte das Tempo, als die Sage ihrem Höhepunkt zustrebte. Wenn sie hätte raten müssen, hätte sie darauf getippt, dass er feuerausgerichtet war. Diese Ausrichtung hatte einen Hang zum Dramatischen.

Karina strich ihr Kopftuch glatt, um sicherzustellen, dass sich auch keine Haarsträhne herauswand, dann beugte sie sich zu ihrer Begleiterin hinüber. »Meinst du, der ölt seinen Schnurrbart jeden Tag, damit er so glänzt?«

»Ich meine, dass wir schon viel zu lang hier sind«, gab Aminata zurück und wich vor der verdächtig aussehenden Flüssigkeit zurück, die ihren Tisch überzog.

»Es sind doch erst zehn Minuten.«

»Genau.«

Karina rollte mit den Augen und fragte sich, warum sie irgendetwas anderes von ihrer Zofe erwartet hatte. Es wäre einfacher, einem Fisch das Schwimmen an Land beizubringen, als Aminata dazu zu bekommen, sich auch nur einen Abend lang zu entspannen.

»Es ist Solstasia, Mina. Wir können ruhig ein bisschen Spaß haben.«

»Können wir wenigstens irgendwo hingehen, wo nicht alles voller Leute ist, die uns vielleicht erstechen wollen?«

Karina wollte schon antworten, dass theoretisch auch jeder andere Raum voller Menschen sein könnte, die sie vielleicht erstechen wollten, aber da wechselte der Barde zu einem Lied, das Baba immer für sie gespielt hatte, und ein dumpfer Schmerz ließ sie innehalten. Wie ein Holzhammer, der von innen gegen ihren Schädel schlug. Karina presste die Augen zu, stieß die Luft zwischen den Zähnen hervor und umklammerte die Tischkante, bis sich Splitter in ihre Haut bohrten.

Aminata runzelte die Stirn, begriff dann aber sofort, was den Migräneanfall hervorgerufen hatte. »Wir sollten lieber gehen, bevor es noch schlimmer wird«, schlug sie in jenem behutsamen Tonfall vor, den die Leute immer anschlugen, wenn sie mit Karinas Trauer konfrontiert waren.

»Noch nicht.«

Wahrscheinlich war dies der letzte freie Augenblick, den sie haben würde, bis Solstasia wieder endete. Migräne hin oder her, sie würde sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen.

Applaus brandete auf, als der Barde die letzte Note verklingen ließ. Er sammelte seine Spenden in einem Samtbeutel, kam dann zu ihrem Tisch geschlendert und verbeugte sich tief.

»Ich hoffe, dir hat meine Darbietung ebenso gut gefallen wie mir dein Anblick.«

Karina kämpfte den Schwindel nieder, der ihre Migräneanfälle häufig begleitete, erwiderte den Blick des Barden und hob eine Braue. Möglicherweise hätte sie seine Erscheinung ja ansprechend gefunden, wenn sie um die siebzig wäre. Allerdings war sie nun mal erst siebzehn, und er erinnerte sie an die Kröten, die in den Brunnen beim Palast vor sich hin quakten. Ihre Mundwinkel hoben sich, doch es reichte nicht ganz zu einem Lächeln.

»Ich bin beeindruckt.« Ihr Blick wanderte zu der Geldbörse an seiner Hüfte. »Darf ich fragen, was genau du mit deinen Einnahmen vorhast?«

Der Barde leckte sich über die Lippen. »Schenk mir eine Stunde deiner Zeit, dann zeige ich dir, was ich alles kann.«

Aminata gab ein kaum verhohlenes Schnauben von sich, und Karina entgegnete: »Ich glaube, ich kenne ein perfektes Zuhause für deine Münzen.«

»Und wo mag das sein, meine süße Gazelle?«, gab er lüstern zurück. Karina warf einen Blick auf seine linke Handfläche – kein Symbol, was bedeutete, dass er ausrichtungslos war. Dieser Mann kam von sehr weit her – aus der Ostwasser-Savanne vielleicht.

»In meiner Tasche.« Karina beugte sich vor, bis ihre Nase dicht vor seiner schwebte, nah genug, um die Orangenessenz zu riechen, mit der er sich offenbar den Schnurrbart einölte. »Ich fordere dich heraus. Ein Lied. Das Publikum entscheidet, wer der Gewinner ist.«

Überraschung, gefolgt von Verärgerung, flackerte über das Gesicht des Barden. Karina verbiss sich ein Lachen.

»Hast du überhaupt ein Instrument?«

»Habe ich. Aminata?«

Aminata seufzte, reichte ihr aber pflichtschuldig die Lederhülle auf ihrem Schoß. Der Barde feixte, als er erkannte, in welchem Zustand Karinas Oud war. Dünne Risse durchzogen den birnenförmigen Klangkörper des Instruments, und die Blumenmuster, die Baba in den Hals geschnitzt hatte, waren längst so abgegriffen, dass man sie kaum noch erkennen konnte. Trotzdem beruhigte es Karina, das letzte Geschenk ihres Vaters in Händen zu halten, und ihre Kopfschmerzen ebbten ab.

»Wenn ich gewinne, bekomme ich alles, was du heute Abend verdient hast«, verkündete sie nonchalant, während sie die elf Saiten der Oud stimmte.

»Und wenn ich gewinne«, gab der Barde zurück, »erweist du mir die Ehre, dich während dieses Abends die Meine nennen zu dürfen.«

Sie brauchte ihre ganze Selbstbeherrschung, um nicht zu würgen. »Abgemacht. Und weil Solstasia bald beginnt, darfst du das Lied aussuchen.«

Der Barde verengte die Augen zu Schlitzen, doch dann wurde sein Lächeln breiter. »Die Ballade von Bahia Alahari.«

Der Schmerz in Karinas Kopf pochte wieder heftig. Baba hatte dieses Lied geliebt.

Da sie ihrem Konkurrenten auf keinen Fall zeigen wollte, dass er sie aus der Fassung gebracht hatte, erwiderte sie nur: »Nach dir.«

Die Ballade von Bahia Alahari war ein trauriges Lied, das die Geschichte der ersten Sultanin von Ziran erzählte. Sie hatte gegen ihren eigenen Ehemann, den Gesichtslosen König, kämpfen müssen, als dieser sich in der letzten Schlacht des Pharaonenkriegs auf die Seite des Kennouanischen Reichs geschlagen hatte. Es dauerte nur wenige Minuten, bis den Zuhörern die Tränen über die Wangen liefen, einige schluchzten sogar haltlos. Allerdings blieben ein paar der Gäste, die allesamt keine Zirani zu sein schienen, vollkommen unbeeindruckt von der Darbietung, und Karina behielt sie im Blick, während ihr Gegner spielte.

Nach der letzten eindringlichen Note senkte der Barde seine Oud, und donnernder Applaus erhob sich.

»Du bist dran«, sagte er und ließ seinen Raubtierblick über ihren Körper wandern. Karina trat vor und brachte ihre Hände in Position, ohne auf das höhnische Lachen zu achten, mit dem der Zustand ihres Instruments kommentiert wurde.

Ja, ihr Gegner war gut.

Aber sie war besser.

So schnell, dass sie niemand aufhalten konnte, sprang Karina von der Bühne auf den Tisch vor sich, was ihr ein paar Schreckensrufe aus dem Publikum einbrachte. Sie begann, mit ihrem in einer Sandale steckenden Fuß einen Rhythmus zu stampfen, der im ganzen Restaurant widerhallte. Obwohl sie ihre Zofe nicht ansah, wusste sie, dass Aminata mitklatschte, wenn auch mit mürrischer Miene. Wenige Augenblicke später hatten sämtliche Gäste eingestimmt und klopften gegen ihre Tische, mit allem, was gerade zur Hand war.

Karinas Grinsen hätte eine Hyäne beschämen können, als sie zu spielen begann.

Es war immer noch die Ballade von Bahia Alahari, doch Karina wandelte die Melodie ab, bis sie kaum noch zu erkennen war. Wo sich der Barde auf die erstickende und zugleich wunderschöne Traurigkeit konzentriert hatte, für die dieses Lied bekannt war, peitschte Karina den Rhythmus zur Raserei auf und spielte in einer Geschwindigkeit, die man normalerweise nur für die schnellsten Tanzlieder anschlug. Sie setzte zu einem Crescendo an, wo sie hätte leise werden sollen, und schlug hart in die Saiten, wo eigentlich Sanftheit gefordert war. Trotzdem verlor die Ballade durch diesen Rausch hindurch niemals ihre Trauer – doch es war eine Trauer, die in manische Energie umgeschlagen war, die einzige Art von Trauer, die Karina kannte.

Sie sang die erste Strophe auf Zirani, während sie sich im Kreis drehte, damit jeder im Raum sie hören konnte.

Für die zweite Strophe wechselte sie zu Kensiya. Die Gruppe der Arkwasianer johlte begeistert auf, zum ersten Mal an diesem Abend ließen sie sich mitreißen. Dann fuhr Karina auf T’hoga fort und kehrte schließlich wieder zurück zu Kensiya. Jede Strophe sang sie in einer anderen der Hauptsprachen Sonandes. Die einzige Sprache, in der sie nicht einmal eine Zeile sang, war Darajat. Keiner ihrer Lehrer hatte die Sprache Eshras als wichtig genug betrachtet, um sie ihr beizubringen, und ihr fehlte der Anreiz, sie von sich aus zu lernen.

Der Jubel des Publikums verschluckte die letzten Noten. Zuckersüß lächelte Karina den Barden an, der drauf und dran zu sein schien, sein Instrument zu Boden zu schleudern.

»Das nehme dann ich.« Karina schnappte sich seinen Geldbeutel und wog ihn in der Hand. Es mussten mindestens hundert Daira darin sein.

»Ich verlange eine Revanche!«, forderte der Barde.

»Eine Revanche womit? Was hast du sonst noch zu verlieren?«

Sein Lächeln wirkte eher wie eine gequälte Grimasse, als er einen schweren Gegenstand aus der Tasche zog. »Ich habe das hier.«

Er hielt das älteste Buch in der Hand, das Karina je gesehen hatte. Der grüne Ledereinband wies Bissspuren an den Rändern auf, und die Zeit hatte die Seiten gelb und schimmlig werden lassen. Der fast bis zur Unleserlichkeit verblasste Titel auf Zirani lautete: »Der Foliant der lieben Verstorbenen: Eine umfassende Studie der seltsamen Angelegenheit des Todes im Kennouanischen Reich.«

»Der Mann, der es mir verkauft hat, konnte nicht einmal den Titel lesen«, erklärte der Barde. »Er hat gar nicht begriffen, dass er gerade ein echtes Überbleibsel aus der Zeit der alten Pharaonen verhökert hatte.«

Ein Schauer lief Karina über den Rücken, während sie die kennouanischen Glyphen musterte, die auf das Buch geprägt waren. Lesen hatte noch nie zu ihren bevorzugten Beschäftigungen gehört, und sie brauchte und wollte keinen verstaubten alten Schinken über eine längst an die Vergangenheit verlorene Kultur.

»Wenn dieses Buch so besonders ist, warum willst du es dann verspielen?«

»Jeder lohnende Gewinn ist ein Opfer wert.«

Karina gehörte nicht zu denen, die sich vor einer Herausforderung drückten, ganz gleich, was es sie kosten konnte. Sie lächelte zähnebleckend und löste die Oud von ihrem Rücken.

»Zweite Runde.«

 

Zwanzig Minuten später verließ Karina beschwingt die Tanzende Robbe, ihr neues Buch wog schwer in ihrer Tasche, und Aminata folgte ihr wie ein zweiter Schatten. Um sie herum wurden in Windeseile letzte Vorbereitungen für Solstasia getroffen. Arbeiter auf Gerüsten befestigten Girlanden aus gewundenem Jasmin und Lavendel zwischen den eng stehenden Gebäuden, während Akolythen in weißen Roben den Leuten zuriefen, sie sollten alles, was sie nicht in das neue Zeitalter mitnehmen wollten, zu ihnen bringen, damit man es der Großen Mutter während der Eröffnungszeremonie als Opfer darbringen konnte. Menschen jeden Alters strömten in Richtung des Tempelwegs und unterhielten sich darüber, wer wohl die sieben Champions werden würden.

Karinas Münzen klimperten in ihrer Tasche, und sie musste lächeln, als sie sich ausmalte, wie sie ihren Gewinn dem stetig anwachsenden Haufen Daira hinzufügen würde, der in einem Schmuckkästchen in ihrem Frisiertisch versteckt war. Jede Münze brachte sie näher an das Leben heran, das sie wirklich wollte. Ein Leben weit fort von Ziran.

»Musst du denn immer so dramatisch sein?«, fragte Aminata seufzend, während sie um eine Gruppe von Arbeitern herumgingen, die gerade den Altar für Patuo mitten auf der Straße errichteten.

»In meinem ganzen Leben habe ich noch nie etwas Dramatisches getan oder gesagt, meine liebe Mina.«

Während Karina beiläufig im Foliant der lieben Verstorbenen blätterte, flog ihr Blick über diverse Kapitelüberschriften: »Wie man die Magie der Zawenji von der Magie der Ulraji unterscheidet«; »Pflege und Fütterung eines jungen Serpoparden«; »Der Ritus der Wiederauferstehung mitHilfe des Kometen Meirat«.

Karina hielt inne. Der Komet Meirat war von den Kennouanern schließlich Bahias Komet genannt worden.

… der Ritus der Wiederauferstehung ist das heiligste und fortgeschrittenste Verfahren, und es ist nur während jener Woche möglich, in welcher der Komet Meira am Himmel sichtbar ist …

Sie betrachtete die Bilder unter der Beschreibung. Das erste zeigte maskierte Gestalten, die um einen in Bandagen gewickelten Leichnam standen, während auf dem zweiten zu sehen war, wie die Maskierten ein menschliches, mit einer hellroten Substanz überzogenes Herz auf den Leichnam legten. Das dritte Bild stellte dar, wie der Leichnam umherlief und wieder eine recht gesunde Gesichtsfarbe angenommen hatte.

Karina schnalzte mit der Zunge und stopfte das Buch zurück in ihre Tasche. Wenn die Kennouaner tatsächlich das Geheimnis gekannt hätten, wie man die Toten wieder zum Leben erweckte, dann wäre das mittlerweile mit Sicherheit bekannt geworden. Vielleicht würde sie Farid das Buch schenken, wenn sie wieder zu Hause war. Er hatte schon immer eine Vorliebe für altes, langweiliges Zeug gehabt.

Sie kamen an eine Weggabelung. Wenn sie links abbogen, würden sie zum Flussmarkt und zum Westtor kommen, nach rechts ging es über den Jehiza-Platz in die Alte Stadt. Obwohl bis Sonnenuntergang noch ein wenig Zeit blieb, hatte sich die Kälte der Wüstennacht bereits ausgebreitet, und Karina schlang sich ihr Tuch enger um den Kopf, während sie darüber nachdachte, welchen Weg sie einschlagen sollten.

In gewisser Weise bestand Ziran eigentlich aus zwei Städten. Die erste war die Alte Stadt, die ursprüngliche Kasbah, in der Bahia Alahari auf einem Berg ihre Festung erbaut hatte: Ksar Alahari. Der ziranische Hof residierte dort. Westlich der Alten Stadt am Fuß des Berges breitete sich die Niedere Stadt aus. Dieser wuchernde Wirrwarr war fast doppelt so groß, und dort lebten die Menschen, die Ziran so interessant machten.

Darum herum zog sich die Außenmauer, und jenseits davon lag das restliche Sonande. Karina hatte genug Zeit mit dem Studium der Landkarten verbracht, um zu wissen, was sie finden würde, sollte sie Ziran je verlassen. Im Norden lagen die undurchdringlichen Dschungel von Arkwasi, während sich im Westen das Eshran-Gebirge erhob, und dies waren nur die unmittelbaren Nachbarn Zirans. Nur ein kleiner Teil der Welt, die darauf wartete, entdeckt zu werden.

Allerdings waren es zwei verschiedene Dinge, über die Welt dort draußen Bescheid zu wissen oder sie mit eigenen Augen zu sehen. Doch jedes Mal, wenn sich Karina der Außenmauer näherte, zog sie ein scharfer Ruck in ihrem Bauch zurück nach Hause. Obwohl sie mit aller Macht dagegen ankämpfte, war ihr Pflichtgefühl offenbar irritierend stark.

Sie wandte sich nach links, ohne auf Aminatas protestierendes Murren zu hören. »Lass uns zum Tempelweg gehen. Vielleicht sehen wir ja die Auswahlzeremonie des Windtempels.«

Karina war eine Windausgerichtete, empfand allerdings wenig Verbundenheit mit ihrem Schutzgott Santrofie. Sie hatte nur ein einziges Mal gebetet, nachdem Baba und Hanane gestorben waren, doch ihr Gott hatte nie geantwortet.

»Übrigens«, sagte Aminata, als sie sich an eine Hauswand drückten, um einer Gruppe von Tänzern Platz zu machen, die ein zorniges Warzenschwein hinter sich herzerrten. »Ich wusste gar nicht, dass du dieses Lied in so vielen Sprachen gelernt hast.«

»Habe ich auch nicht. Jedenfalls nicht vor heute Abend.«

»Du hast es dir beim Spielen selbst übersetzt?«

»Die vielen Jahre in Gesellschaft der Sprachlehrer haben sich endlich bezahlt gemacht.« Karina gab sich nicht einmal Mühe, die Selbstgefälligkeit aus ihrer Stimme zu verbannen, und Aminata rollte mit den Augen.

Auf den ersten Blick waren sie ein sehr ungleiches Paar. Ihre Zofe war unscheinbar und reserviert, Karina dagegen extrovertiert und sorglos. Aminata war das Wasser zu Karinas Wind, dünn und sehnig, wo Karina rund und weich war. Aminatas dichte Locken waren einen Zoll über ihrem Kopf abgeschnitten worden, wohingegen sich Karinas Locken um ihre Schultern bauschten, wenn sie ihr Haar offen trug. Doch Aminatas Mutter war Karinas Mutter unter der Schar der Kinderfrauen die liebste gewesen, weshalb die beiden Mädchen von klein auf unzertrennlich gewesen waren. Die Einzigen, mit denen Karina in ihrer Kindheit noch mehr Zeit verbracht hatte, waren das Mündel ihrer Eltern Farid und ihre ältere Schwester Hanane gewesen.

»Wenn du dir im Unterricht auch nur halb so viel Mühe geben würdest, hättest du vermutlich die besten Noten der ganzen Stadt.«

»Damit der Turmfalke in Zukunft noch mehr von mir erwartet? Lieber esse ich Kamelmist.«

»Ich bin sicher, deine Mutter wäre begeistert, wenn sie wüsste, wie viel du tatsächlich gelernt hast«, beharrte Aminata und weigerte sich, den Spitznamen zu verwenden, den das Volk seiner Sultanin gegeben hatte. »Wo wir gerade beim Thema sind, wir sollten wirklich zurückgehen, bevor sie bemerkt, dass du weg bist.«

»Ich könnte vor ihren Augen tot umfallen, und meine Mutter würde trotzdem nicht bemerken, dass ich weg bin.«

»Das stimmt nicht.«

Eine Woge ungewöhnlich heftiger Schuldgefühle traf Karina vor die Brust. Sie war jedoch nicht so weit gegangen, um über die Zuneigung des Turmfalken zu diskutieren – oder über den Mangel an Zuneigung.

»Mina, welcher Tag ist heute?«, fragte Karina, bevor ihre Zofe ihr einen weiteren Vortrag halten konnte.

»Der Abend vor Solstasia.«

»Genau.« Karina deutete zum Himmel im Westen. »Heute Nacht wird Bahias Komet zum ersten Mal seit fünfzig Jahren wiedererscheinen, und trotzdem findest du, dass wir uns diese Gelegenheit entgehen lassen und den Abend stattdessen im Palast mit Menschen verbringen sollten, die wir jeden Tag sehen.«

Geschichten über die Wunder von Solstasia hatten Menschen aus jedem Winkel Sonandes nach Ziran gebracht, selbst aus jenen Regionen, die nicht an die Schutzgottheiten glaubten. Warum sollten sie ihre Zeit mit Menschen vergeuden, die auch in einer Woche noch hier sein würden, während es so vieles gab, was sie nur jetzt sehen und tun konnten?

Allerdings hatte Aminata recht damit, dass Karinas Verschwinden irgendwann auffallen würde. Sie hatte Ksar Alahari durch einen der aufgegebenen Dienstbotenausgänge verlassen, von denen alle glaubten, sie wüsste nichts darüber. Trotzdem würde schließlich jemand bemerken, dass sie sich nicht für die Ankunft des Kometen bereit machte, wie sie es eigentlich sollte.

Karina warf einen Blick zu Ksar Alahari hinauf. Der Palast funkelte wie ein Juwel am Horizont und wurde mit jedem Schritt, der sie von der Alten Stadt entfernte, noch kleiner. Solange sie sich hier draußen auf der Straße befand, konnte sie Solstasia wenigstens miterleben, auch wenn sie nicht wirklich daran teilhatte.

»Ich gehe nicht zurück«, murmelte Karina, mehr zu sich selbst als zu Aminata. »Jedenfalls noch nicht.«

»Wohin zurück?«

Sowohl Karina als auch Aminata fuhren herum, als die Stimme des Barden aus der Tanzenden Robbe hinter ihnen erklang. Mit einem Messer in der Hand glitt er aus dem Schatten und drängte die Mädchen an eine Hauswand. Schützend legte Karina einen Arm um Aminata, während der Mann näher kam.

»Ich habe Gerüchte von einer jungen Musikerin gehört, die eine Schneise durch Ziran schlägt«, sagte der Barde. Das Messer glänzte im schwindenden Licht. »Sie verschwindet immer direkt nach ihrer Vorstellung und spielt nie zweimal am selben Ort.«

Karina suchte die Straße nach jemandem ab, der ihnen helfen konnte, doch ärgerlicherweise war da niemand. In diesem Teil der Niederen Stadt wusste man, dass man sich lieber davonmachte, sobald Gewalt in der Luft lag.

»Wenn du so viel Zeit hast, dich über deine Konkurrenz schlauzumachen, solltest du diese Zeit besser dazu nutzen, dein Können zu verbessern«, gab Karina zurück. Sie dachte daran, nach den Wachen zu rufen, doch sie wollte nicht riskieren, dass der Barde den Kopf verlor und sie angriff.

»Ist das alles, was du zu sagen hast, süße Gazelle? Oder sollte ich lieber … Euer Hoheit sagen?«

Sein Blick huschte zu ihrer Stirn, wo sich eine Haarlocke aus dem Kopftuch gelöst hatte, und Karina fluchte innerlich. Sie konnte Tag und Nacht lügen, aber keine Lüge der Welt würde die Wahrheit ihres schimmernden Silberhaars verleugnen, dessen Farbe an die Wolken kurz vor einem Sturm erinnerte.

Das Erkennungsmerkmal der Alaharis, der Sultansfamilie von Ziran.

»Da du weißt, wer ich bin«, sagte Karina und versuchte nicht einmal, eine Wahrheit zu vertuschen, die nicht vertuscht werden konnte, »bist du dir sicher auch im Klaren darüber, dass es für dich selbst am besten wäre, das Messer fallen zu lassen und einfach zu gehen.«

»Im Gegenteil. Ich glaube, für mich wäre es am besten, wenn ich herausfinde, wie viel Lösegeld Haissa Sarahel für ihre einzige Tochter zu zahlen bereit ist.«

Für ihre einzige lebende Tochter, korrigierte Karina in Gedanken.

Vielleicht lag es an dem Adrenalin ihres Siegs oder auch an dem Wein, den sie zuvor getrunken hatte, aber Karina verspürte keine Angst, als sie auf die Messerklinge zuschritt. Nicht einmal, als Aminata erschrocken an ihrem Ärmel zog.

»Na los«, sagte sie, ihre zweite Herausforderung an diesem Abend. »Trau dich doch.«

Wenn sie starb, würde sie Baba und Hanane wiedersehen. Sie würde niemals Königin werden müssen.

Der Barde machte sich bereit für den Angriff, und ein Schauer lief Karina über den Rücken, gefolgt von einem schrillen Kreischen in ihren Ohren. Ein Schatten bewegte sich, und dann stand eine Sentinel hinter dem Mann, und ihr Schwert war viel länger als das Messer des Barden. Die Sentinel bewegte sich mit atemberaubender Geschwindigkeit, und ihre strahlend weiße Rüstung wirkte fast skeletthaft im verblassenden Licht, als sie den Barden mit einem schnellen Tritt aus dem Gleichgewicht brachte und seine Waffe aus der Luft fing.

Karina und Aminata drängten sich gegen die Hauswand und sahen mit großen Augen zu. Wenn eine Sentinel kämpfte, mischte man sich nicht ein – man ging aus dem Weg und dankte seinem Gott dafür, dass sie hinter einem anderen her war.

Die Sentinel schlug dem Barden den Ellbogen ins Gesicht und brach ihm das Handgelenk mit der Leichtigkeit, mit der sie einen dürren Zweig geknickt hätte. Der Barde brach in einer Lache seines eigenen Bluts auf dem Boden zusammen. Sein Arm ragte in einem unnatürlichen Winkel unter ihm hervor.

Das schrille Kreischen in Karinas Ohren wurde lauter, als sich die Sentinel zu ihr und Aminata umwandte, und sie sah, dass sich eine silbern-karmesinrote Schärpe über ihre Brust spannte. Das war keine einfache Sentinel – dies hier war Kommandantin Hamidou. Irgendjemand in Ksar Alahari musste sehr aufgebracht sein, wenn man die Anführerin der Sentinels losgeschickt hatte, um sie zu holen. Karina wusste nicht, ob sie gerührt oder verängstigt sein sollte.

Mit einem raschen Blick auf Aminata vergewisserte sie sich, dass es ihrer Zofe gut ging, dann hob sie trotzig das Kinn und sah der Sentinel entgegen. Die Sentinels hatten durchaus ihren Nutzen – hauptsächlich übernahmen sie Aufgaben, die zu delikat waren, um sie den gewöhnlichen Soldaten anzuvertrauen –, doch irgendwas an ihnen hatte Karina schon immer beunruhigt. »Also gut, Ihr habt mich erwischt. Zu wem bringt Ihr mich jetzt? Zu Farid?«

Ein zu langes Schweigen verging, bevor Kommandantin Hamidou antwortete: »Ich bringe Euch zu Eurer Mutter.«

Und zum ersten Mal an diesem Abend rauschte echte Angst durch Karinas Adern.

3

Malik

Das Herz schlug Malik bis zum Hals, während er dem Jungen hinterherjagte, der ihnen ihre Papiere gestohlen hatte. Nadia und Leila rannten ihm nach. Er kam an einer Gruppe Arkwasianer vorbei, die Kleider aus bunten Kente-Stoffen trugen und einige aus Bambus gefertigte Rasseln begutachteten, und stieß beinahe mit ein paar Kindern zusammen, die Wakama spielten. Das Wispern von Wesen, die es eigentlich nicht geben durfte, lag in der Luft, und die Angst trieb Malik voran.

Schließlich verlor er den Jungen aus den Augen, nahe einer Gruppe von Kaufleuten, die antike Teppiche in einen Wagen luden. Es waren Erdausgerichtete, was das Symbol Kotokos verriet, das in ihre grüne Kleidung eingestickt war.

»Ähm, Verzeihung«, murmelte Malik, der vor Erschöpfung fast zusammenbrach. Eigentlich wollte er sie fragen, ob sie einen Jungen mit einer rotbraunen Ledertasche gesehen hatten, doch wie immer, wenn er mit Fremden sprach, blieben ihm die Worte einfach in der Kehle stecken. »War hier … wisst Ihr … habt Ihr einen Jungen mit einer Tasche gesehen?«

Einer der Kaufleute verengte die Augen zu Schlitzen und musterte Maliks vom Reisen verfilztes Haar und die zerschlissenen Kleider. Eine Sekunde zu spät begriff Malik, dass er vergessen hatte, seinen Akzent zu verbergen.

»Haut ab, ihr verdammten Kekkis«, fuhr der Kaufmann die Geschwister an. Er spuckte aus, und ein Schleimklumpen landete auf Maliks ausgefranster Tunika.

Rasch machten sie, dass sie fortkamen, bevor der Mann sie noch mit etwas anderem als nur mit Worten attackierte. Fast eine Stunde lang suchten sie, doch bald schon wurde deutlich, dass der Junge verschwunden war. Jeder, den Malik um Hilfe bitten wollte, schickte sie fort, und einige gingen sogar so weit, sie mit Steinen oder Müll zu bewerfen, sobald sie sich näherten.

Der Hass auf die Eshran war Malik nicht neu. Seit über zweihundert Jahren war dies nun schon die Wirklichkeit, in der sein Volk lebte. Seit die Armee der Zirani in die Berge marschiert war, um einen Krieg zwischen rivalisierenden Volksstämmen der Eshran zu unterdrücken und dann nie wieder abzuziehen. Die Zirani behaupteten, dass die Ältesten der Eshran nicht in der Lage gewesen seien, nach den Kämpfen ihre Schulden zu bezahlen, was die fortdauernde Besetzung rechtfertige. Die Ältesten dagegen erklärten, dass Ziran den Krieg nur als Vorwand benutzt habe, um das fruchtbare Land der Eshrans zu stehlen, da die Odjubai zunehmend unwirtlicher wurde.

Malik wusste nicht, welche der Geschichten stimmte. Er kannte nur die Realität, in der er lebte und in der die Zirani ganz oben und sein Volk ganz unten standen.

Als er schließlich keinen einzigen Schritt mehr gehen konnte, sank er neben einer zerbröckelnden Sandsteinmauer zu Boden. Ihre Suche hatte sie ganz an den Rand der Kontrollstelle gebracht, wo der Chipekwe friedlich im Sand döste und die Griotte von vorhin müßig unter dem Baobab saß und auf ihrer Djembé herumtrommelte. Die knochenweißen Tätowierungen der Frau schienen über ihren Körper zu tanzen, während sie spielte, und obwohl Malik bis ins Mark erschöpft war, spürte er doch wieder die Sehnsucht danach, ihrem Ruf zu folgen.

Voller Scham ließ er den Kopf hängen, unfähig, seinen Schwestern in die Augen zu sehen. Diese Tasche war ihre einzige Chance auf ein neues Leben in Ziran gewesen. Ohne die Papiere hatten sie weniger als nichts, und er konnte niemand anderem als sich selbst die Schuld daran geben.

»Es tut mir so leid«, brachte er heraus. Er zwang sich dazu, den Bick zu Leila zu heben, doch sie hatte die Augen geschlossen. Ihre Lippen bewegten sich in stummem Gebet, und sowohl Malik als auch Nadia wussten es besser, als sie zu stören.

»Warum bist du aus der Reihe getreten, obwohl ich dir gesagt habe, dass du es nicht tun sollst?« Leilas bebende Schultern straften die Gelassenheit in ihrer Stimme Lügen. Nadia blickte zwischen ihren Geschwistern hin und her und wirkte dabei fast so verstört, wie Malik sich fühlte.

»Der Junge«, sagte Malik schwach, seine Worte klangen ihm hohl in den Ohren. »Er hat Hilfe gebraucht.«

»Das heißt aber nicht, dass ausgerechnet du ihm helfen musstest! Hast du vergessen, was Mama uns vor unserer Abreise gesagt hat? ›Dort draußen werdet ihr niemanden haben außer einander. Niemanden sonst wird es interessieren, was mit euch passiert, also müsst ihr euch selbst um euch kümmern.‹ Ist dir irgendein Fremder, den du nicht einmal kennst, wichtiger als wir?«

Malik öffnete und schloss ein paarmal den Mund, brachte jedoch nichts heraus, weil Leila recht hatte. Er hatte auf sein Herz und nicht auf seinen Kopf gehört, und nun waren all ihre harte Arbeit, die monatelange Reise und die erschöpfende Schinderei umsonst gewesen. Die Erkenntnis traf ihn mit voller Wucht, und unwillkürlich griff er nach dem Tragegurt seiner fehlenden Tasche. Dann umklammerte er stattdessen den Stoff seines Hemds.

»Ich … ich …«

Die Schatten um ihn herum zuckten, krochen langsam näher, so als würden sie von seiner Verzweiflung angezogen. Malik presste sich die Handballen auf die Augen, bis es wehtat, und hörte Papas Stimme in seinem Kopf, die ihn für seine Schwäche tadelte. Echte Männer weinten nicht.

Je mehr Malik jedoch versuchte, den sich in ihm aufbauenden Druck zurückzudrängen, desto heftiger wurde er. Sie konnten nicht in Ziran bleiben, nicht, solange sie kein Geld hatten und niemand einem Eshran Arbeit geben würde. Zurück nach Hause konnten sie aber auch nicht – sie hatten kein Zuhause mehr, zu dem sie zurückkehren konnten. Ihr Zuhause waren nun Nana und Mama, und sie lebten beide in einem Lager in Talafri, abhängig von dem Geld, das Malik und seine Schwestern ihnen schicken sollten. Mit leeren Händen zurückzukehren, kam nicht infrage. Nur, was hatten sie nun noch für eine Wahl?

Nadia sagte etwas zu ihm, doch Malik konnte sie durch den Lärm der Gedanken in seinem Kopf nicht hören. Die Schatten drängten sich um ihn, flüsterten Worte in Sprachen, die er nicht kannte. Maliks Rücken stieß gegen die Mauer, als er sich zusammenkrümmte, die Hände über die Ohren schlug und die Knie an die Brust zog, unfähig, den Blick abzuwenden, während die Schatten feste Formen annahmen.

Aufgedunsene, fischähnliche Kreaturen, die sich durch die Beine der Menschen wanden. Kniehohe Insekten mit bunten Schuppen, die in den Bäumen kreischten, neben pulsierenden Wolken aus grünem Nebel, in denen menschliche Zähne umhertrieben. Höllenwesen mit Eselköpfen und Skorpionkörpern, die sich durch haarfeine Risse in den Mauern wanden.

Das unheimliche Volk, so deutlich vor seinen Augen wie die Sonne am Himmel.

Die Schlimmsten unter ihnen waren jedoch die Geister – unberechenbare Wesen, gefangen zwischen dem Reich der Lebenden und dem der Toten. Ihr Körper bestand aus wabernden schwarzen Schatten, die sich um eine blutrote Wolke ballten, dort, wo früher einmal das Herz gewesen war. Es waren die Geister, vor denen sich Malik am meisten fürchtete, und es waren die Geister, die ihn nun umringten, während die Panik ihn zu verschlucken drohte.

Als er noch jünger gewesen war, hatte Malik geglaubt, das unheimliche Volk wäre einfach so normal, dass niemand darüber sprach. So wie auch niemand erst in Worte fassen musste, dass der Himmel blau war. Er war sogar so dumm gewesen, zu glauben, dass diese Wesen seine Freunde waren. Er hatte ihren Erzählungen gelauscht und sich auch selbst Geschichten ausgedacht, um sie zu unterhalten.

Doch sie waren nicht seine Freunde, weil es sie gar nicht gab. Papa und die Ältesten und auch alle anderen im Dorf hatten dafür gesorgt, dass Malik nun wusste, dass man das Übernatürliche zwar respektieren sollte, aber im Grunde nicht wirklich daran glaubte. Zum Beweis trug er die Narben dieser Lektionen noch immer. Die Halluzinationen waren ein Zeichen dafür, dass irgendetwas mit ihm ganz und gar nicht stimmte, und die Tatsache, dass er so viele dieser Wesen auf einmal sah, bedeutete, dass seine Krankheit immer schlimmer wurde. Malik schauderte und grub die Fingernägel fest in die Haut seines Unterarms.

Während die Panik immer weiter anschwoll, verblasste die Welt um Malik herum, als würde er vom Grund eines Ozeans hinaufblicken, während er schneller und schneller hinabsank. Das unheimliche Volk hatte ihn noch nie angegriffen, doch er konnte nicht anders, als sich auszumalen, wie sie mit ihren Krallen sein Fleisch aufrissen und ihn und seine Schwestern verschlangen, während sich im Umkreis von Tausenden von Meilen niemand darum scherte, was mit ihnen geschah.

»Weg von mir«, brachte Malik schluchzend heraus. »Weg von mir, weg von mir, weg von mir!«

Die Leute starrten ihn nun an, diesen verrückten Eshran-Jungen, der sich vor und zurück wiegte und Kreaturen anbrüllte, die niemand sonst sehen konnte. Der Teil in seinem Kopf, der noch immer klar denken konnte, schrie ihm zu, er solle aufstehen, bevor er sich noch mehr blamierte, doch sein Körper gehorchte ihm längst nicht mehr.

Und weil die Große Mutter beschlossen hatte, dass dieser Tag noch nicht demütigend genug gewesen war, liefen seine Tränen nun über. Als Leila das sah, zuckte sie zurück.

»Warte … nicht – ich bringe das schon wieder in Ordnung, hör auf zu weinen«, sagte sie. Es dauerte einen Moment, bis Malik begriff, dass seine ältere Schwester zu Darajat gewechselt hatte. Seit sie aus Eshra aufgebrochen waren, hatten sie diese Sprache nicht mehr gesprochen. Zirani war die Hauptsprache der Odjubai, die Sprache der Gelehrten und der Königinnen. Wenn man hier etwas anderes sprach, brandmarkte man sich als Außenseiter und als leichtes Ziel für Schmähungen.

Nana hatte Malik einmal gesagt, wenn sich die Erde zu schnell um ihn drehte, solle er an seinen liebsten Platz in der Welt denken, bis er sich besser fühlte. Er holte tief Luft und rief sich den größten Zitronenbaum auf dem Hof seiner Familie in Erinnerung. Den Zitrusduft in der Luft, kurz bevor die Früchte reif zum Ernten waren. Die Rinde war rau unter seinen Handflächen, während er Ast für Ast hinaufkletterte, immer höher, bis die Monster ihn nicht mehr erreichen konnten.

Zaghaft streckte Leila die Hand nach ihm aus, zog sie dann aber wieder zurück. Malik atmete mehrmals tief durch und drückte sich die Hände aufs Gesicht, bis die Welt endlich wieder zu einer Geschwindigkeit zurückkehrte, mit der er umgehen konnte.

Das unheimliche Volk entstammte Geschichten und Albträumen, aus denen seine eigene Erschöpfung Halluzinationen schuf. Sie waren nicht echt. Dies hier war die Wirklichkeit.

Und tatsächlich, als Malik aufblickte, waren sie verschwunden.

Mehrere Minuten des Schweigens verstrichen zwischen den Geschwistern, bis Leila endlich sprach.

»Die Fahrer der Wohnanhänger bieten potenziellen Arbeitern oft einen Platz in ihren Wagen an. Wir werden einfach mit einem von ihnen verhandeln, damit er uns alle drei mitnimmt. Das ist keine perfekte Lösung, aber ich glaube, eine andere Möglichkeit haben wir nicht.«

Da seine Kehle so zugeschnürt war, dass er kein Wort herausbekam, nickte Malik nur. So war es immer: Malik, der kleine Bruder, der alles ruinierte, und Leila, die große Schwester, die es wieder in Ordnung brachte. Wenn sie einen Ausweg aus dieser Lage fanden, dann würde er nie wieder etwas gegen ihren Rat tun. Alles war besser für alle, wenn Malik einfach den Kopf gesenkt und den Mund geschlossen hielt.

Leilas Miene wurde entschlossen. »Also gut, lasst uns gehen, bevor es noch dunkler wird. Komm schon, Nadia … Nadia?«

Sowohl Leila als auch Malik sahen sich um.

Nadia war verschwunden.

»Abraa! Abraa!« Der Rhythmus der Djembé war so gleichmäßig wie ein Herzschlag. »Kommt und versammelt euch – hier beginnt gleich eine Geschichte!«

Eis flutete Maliks Adern. Sein Blick flog von einer Person zur nächsten, auf der Suche nach windzerzausten Locken und dem runden Gesicht, das er so gut kannte. Seine vorherige Panik vertausendfachte sich in seiner Brust. Er würde sich selbst niemals verzeihen, dass er ihre Papiere verloren hatte, doch wenn Nadia irgendetwas zustieß …

Da tauchte ein vertrauter Schopf zwischen den Zuhörern am Baobab auf und brachte Maliks morbide Gedanken zum Verstummen. Mit einer Kraft, von der er selbst nicht einmal gewusst hatte, dass er sie noch besaß, bahnte er sich einen Weg durch die Menge und fasste seine kleine Schwester am Arm.

»Lauf nicht einfach so davon«, rief er und tastete sie nach Verletzungen ab. Nadia wand sich in seinem Griff.

»Aber die Griotte!«, rief sie, als Leila endlich bei ihnen ankam. »Sie hat gesagt, wenn man ihr Rätsel löst, dann hat man einen Wunsch frei!«

Malik tauschte einen traurigen Blick mit Leila. Nadia war auf ihrer Reise so tapfer gewesen, nie hatte sie geweint oder sich beschwert, nicht ein Mal. Fast hätten sie vergessen, dass Nadia erst sechs Jahre alt war, immer noch jung genug, um an Magie und andere Lügen zu glauben.

Leila ging vor ihr in die Hocke und nahm ihr Gesicht zwischen beide Hände. »Das ist ein Wunsch, den uns nicht einmal eine Griotte erfüllen kann.«

Es brach Malik das Herz, als die Freude langsam aus Nadias Augen wich. Er verdrängte seine eigene Angst und Panik und sogar die Gedanken an das unheimliche Volk, das um ihn herumschlich. Stattdessen überlegte er fieberhaft, ob es nicht doch etwas – irgendetwas – gab, das ihnen aus ihrer schlimmen Lage helfen konnte.

»Meine Brüder und Schwestern, die Stunde der Ankunft des Kometen naht!«, rief die Griotte. »Während sich dieses Zeitalter seinem Ende zuneigt und das nächste schon am Horizont lauert, gestattet mir, der bescheidenen Nyeni, euch noch ein wenig länger zu unterhalten. In unserer nächsten Geschichte geht es um das erste aller Solstasia-Feste, und sie beginnt in einer Nacht, ganz ähnlich wie dieser, als Bahia Alahari auf genau diesem Sand stand und von einer Welt träumte, die frei war von der Herrschaft des Pharaos …«

Die Sehnsucht kehrte mit aller Macht zurück und verlockte Malik dazu, sich zu Nyenis Füßen zu setzen und ihre Erzählung in sich aufzusaugen. Dies war nicht einmal eine Geschichte seines eigenen Volkes, trotzdem hätte er auswendig vortragen können, wie Bahia Alahari das Kennouanische Reich zerstört hatte. Eine Sage voller Romantik, voller Heldentaten und Kummer, so wie es bei allen guten Epen war.