Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Wenn Dein Leben ein Wirbelsturm ist, sei besser keine Pusteblume … Nach einer brutalen Trennung und einer wütenden Tirade über untreue Männer live on air steht Radiomoderatorin Lotte auf einmal ohne Mann, ohne Wohnung und auch noch ohne Job da. Wäre jetzt der passende Zeitpunkt für einen kleinen, feinen Nervenzusammenbruch gekommen? Nee! Stattdessen zieht sie zu ihrer lebenslustigen Freundin Anne nach Berlin – und findet sich mitten in einem Szenekiez wieder, in dem es jeden Tag einen Grund zum Feiern gibt, und sei es nur, am Leben zu sein. Nach und nach krempelt die liebenswert-chaotische Nachbarschaft Lottes Leben um und lässt es in neuen Farben erstrahlen. Und dann gibt es da auch noch den geheimnisvollen Tristan, der eine Saite in ihr zum Klingen bringt, von der sie gar nicht wusste, dass es sie gibt … Eine Hommage an beste Freundinnen, Irrwege der Liebe und Verrücktheiten des Alltags – für Fans von Sophie Passmann!
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 399
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Nach einer brutalen Trennung und einer wütenden Tirade über untreue Männer live on air steht Radiomoderatorin Lotte auf einmal ohne Mann, ohne Wohnung und auch noch ohne Job da. Wäre jetzt der passende Zeitpunkt für einen kleinen, feinen Nervenzusammenbruch gekommen? Nee! Stattdessen zieht sie zu ihrer lebenslustigen Freundin Anne nach Berlin – und findet sich mitten in einem Szenekiez wieder, in dem es jeden Tag einen Grund zum Feiern gibt, und sei es nur, am Leben zu sein. Nach und nach krempelt die liebenswert-chaotische Nachbarschaft Lottes Leben um und lässt es in neuen Farben erstrahlen. Und dann gibt es da auch noch den geheimnisvollen Tristan, der eine Saite in ihr zum Klingen bringt, von der sie gar nicht wusste, dass es sie gibt …
Originalausgabe 2013, 2025
Dieses Buch erschien bereits 2013 unter dem Titel »Lotte Macchiato« bei dotbooks.
Copyright © der Originalausgabe 2013, 2025 Neuausgabe dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock
eBook-Herstellung: dotbooks GmbH unter Verwendung von IGP (lj)
ISBN 978-3-98952-981-6
***
dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people . Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!
***
Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit gemäß § 31 des Urheberrechtsgesetzes ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected] . Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags
***
Sind Sie auf der Suche nach attraktiven Preisschnäppchen, spannenden Neuerscheinungen und Gewinnspielen, bei denen Sie sich auf kostenlose eBooks freuen können? Dann melden Sie sich jetzt für unseren Newsletter an: www.dotbooks.de/newsletter (Unkomplizierte Kündigung-per-Klick jederzeit möglich.)
***
Besuchen Sie uns im Internet:
www.dotbooks.de
www.facebook.com/dotbooks
www.instagram.com/dotbooks
blog.dotbooks.de/
Nelly Tolle
Roman
dotbooks
Lotte trommelt mit den Fingerspitzen auf den urigen Holztisch, als Johannes endlich die Kneipe betritt. Er umarmt sie flüchtig, legt den Mantel ab und lässt sich auf den Stuhl ihr gegenüber fallen. Die Tüte, in der sie ihr Geschenk vermutet, legt er auf den Tisch.
»Du bist spät«, sagt sie, bemüht, ihrer Stimme einen unbekümmerten Ton zu verleihen.
»Ich weiß, es tut mir auch leid. Es ist nur ...«
»Mach Dir keine Sorgen. Bestellen wir doch erst einmal was zu trinken.« Lotte lächelt Johannes zu und hebt ihr Glas mit dem perlenden Prosecco. »Ich war schon so frei. Es gibt ja schließlich was zu feiern.« Sie greift nach seiner Hand, doch er zieht diese unvermittelt weg, um in seiner schwarzen Aktenmappe nach etwas zu suchen.
»Ich habe deinen Geburtstag nicht vergessen; nicht, dass du das glaubst.« Er schiebt Lotte einen bunten Umschlag zu.
Hatte sie etwa erwartet, dass er ihr einfach so ein schnödes rechteckiges Kästchen über den zerkratzten Tisch reichen würde? Lotte lächelt in sich hinein und denkt: Johannes hat Stil. Die Location ist ihr allerdings ein Rätsel. Die Musik ist viel zu laut und die Einrichtung rustikal mit vielen Gimmicks in den Nischen und an den Wänden. Auf dem Buffet steht eine Volière mit Plastikziervögeln, darüber hängt eine Frau, die auf dem Kopf steht und in kubistischer Manier ihre Gliedmaßen mit einem Akrobaten verschränkt. Überall ranken üppige Kunstpflanzen und von der Decke baumelt ein schwarzer Lüster, an den kleine Marzipanschweinchen gebunden sind. Das Publikum ist typisch für die Szene in St. Georg: bunt gewürfelt und schrill und – obwohl sich Lotte ansonsten unter Paradiesvögeln sehr geborgen fühlt – für ein romantisches Treffen eindeutig nicht die erste Wahl. In ihrer Vorstellung hatte sie immer mit einem gediegenen Sterne-Restaurant gerechnet, vielleicht sogar mit einem eigens für sie gebuchten Geigenspieler; oder besser noch mit einem kleinen Tisch an der Alster, den Johannes nur für sie beide organisiert hätte, und einem Cateringservice, der zu verschwinden wüsste, wenn er nicht benötigt wird. Für Johannes wäre es ein Leichtes gewesen, so etwas zu managen. Aber heute, sinniert Lotte – und mit einem Mal fühlt sie sich ganz leicht – will er mir zeigen, wie gut er mich in all den Jahren kennengelernt hat. Lotte muss daran denken, wie oft sie Johannes von ihren Streifzügen durch die Läden in St. Georg erzählt und jedes Mal einen missbilligenden Blick kassiert hat – sicherlich ist diese Einladung seine Art der Wiedergutmachung. Er verzichtet absichtlich auf große Worte. Er will mich einfach nicht überrennen. Auch Johannes ist noch für Überraschungen gut.
»Was ist denn da drin?«
Er räuspert sich, sieht auf den Boden.
»Nein, sag nichts, lass mich raten.« Lotte spricht jetzt schnell, um keinen der vielen Gedanken, die in ihrem Kopf umherschwirren, zu verlieren. »Ist es ein Liebesbrief? Ein Versprechen vielleicht, um unsere Liebe zu bekräftigen?« Lotte nestelt am Umschlag, ihre Hände zittern. »Oder«, plappert sie weiter, »ist es eine Reise nur für uns beide? So etwas ähnliches wie Flitterwochen?« Sie kichert. »Flitterwochen, nicht wahr Johannes, müssen wir unbedingt machen.«
»Es ist nur«, flüstert er beinahe beschwichtigend, denn Lottes zarte Stimme ist laut geworden vor Vorfreude, und ein paar neugierige Tischnachbarn haben ihnen schon die Köpfe zugewandt.
In dem Moment öffnet Lotte den Umschlag. Entgeistert blickt sie Johannes an. »Ein Gutschein, ein Gutschein von Douglas.«
Johannes versucht ein Lächeln. »Er ist über 150 Euro ausgestellt und du gehst doch da so gerne einkaufen.«
»Ja«, nuschelt sie, »ja, ich gehe wirklich gerne da einkaufen.«
»Weißt du, Lotte, ich muss unbedingt mit dir reden, und da war dieser Ort hier – auch wenn er dir vielleicht ungewöhnlich vorkommt – genau der richtige.«
»Ja?«, entgegnet sie und schöpft neue Hoffnung.
»Lotte? Hörst du mir überhaupt zu?« Seine Stimme bekommt einen schneidenden Klang, sein Tonfall wird fordernd. »Es ist wirklich wichtig. Ich weiß, dein Geburtstag ist sicher nicht der beste Zeitpunkt, aber die Angelegenheit duldet keinen weiteren Aufschub.«
Seit wann bin ich eine Angelegenheit?, denkt Lotte irritiert und starrt Johannes ins Gesicht. Er weicht ihrem Blick aus. Schnell schiebt sie den Einwand beiseite. Johannes hat schließlich auf seine Weise recht. Wir können nicht ewig auf den einzigen Moment, auf die magische Gelegenheit warten. Sie starrt auf seinen akkurat gebügelten Hemdkragen, auf die perfekt sitzende Krawatte. Unvermittelt muss sie daran denken, wie Johannes die Kneipe betreten hat, angetan mit der üblichen Bundfaltenhose, und wie er sie umarmt hat; und wieder hat sie den Duft seines guten After Shaves und des dazu passenden Parfums in der Nase. Er ist eben pragmatisch und wenig romantisch, fordernd und vielleicht ein bisschen rechthaberisch, aber eben auch durchsetzungsfähig und klar im Denken. Und gerade sein ungeheures Selbstbewusstsein macht es mir überhaupt erst möglich, mich sicher und geborgen zu fühlen. Auch ich sollte ihn nehmen, wie er ist.
»… und deshalb«, beendet er den Satz, »muss ich noch heute aufbrechen.«
Lotte schreckt aus ihren Gedanken hoch. Sie kann das eben Gesagte nicht einordnen. »Entschuldige, ich war nicht ganz bei der Sache. Ich glaube, ich habe das Wesentliche verpasst.«
»Genau«, antwortet er prompt, »so wenig hörst du mir zu. Nicht einmal dann, wenn es darauf ankommt, Lotte. Du bist so schrecklich verträumt. Das kann ja nur ein schlimmes Ende nehmen.«
»Meinst du?«, flüstert Lotte. Sie spürt, wie ihr Tränen in die Augen steigen. »Heute ist mein Geburtstag. Willst du mir ausgerechnet jetzt meine Fehler aufzählen?« Sie sucht seinen Blick, ein Lächeln, das das Gesagte abschwächt, eine warme Geste, aber da ist nichts.
»Nein. Einen Streit will ich uns wirklich gerne ersparen. Es gab auch die schönen Zeiten, und die werde ich in guter Erinnerung behalten.«
»Du meinst doch nicht etwa …?« Lotte setzt Wortfetzen zusammen und das Ergebnis lässt sie erstarren. »Johannes, das kann nicht sein.«
Er schweigt.
Die Leichtigkeit, die sie gerade noch gespürt hat, ist fort. Plötzlich drängen Geräusche in voller Lautstärke in ihr Bewusstsein: das Klirren von Gläsern, die rauchige Männerstimme, die Country aus den Lautsprechern schmettert, das Gelächter der Kellner. Das Warum liegt ihr bleischwer auf der Zunge.
»Lotte«, sagt er hilflos. »Wir fahren jetzt nach Hause, dann räume ich das Feld.«
»Wer ist sie? Kenne ich sie?«
Johannes greift nach Lottes Hand und wirft dabei das Proseccoglas um. Die letzten Reste der klebrigen Flüssigkeit ergießen sich auf seine Hose. »Ich wollte dir eigentlich nicht zumuten, dass du dich damit auseinandersetzen musst, aber du wirst es über kurz oder lang sowieso erfahren.« Johannes tupft mit der grünen Serviette seine Hose trocken und hinterlässt schmierige Spuren. Ich kann mich Miranda einfach nicht mehr erwehren.«
»Miranda?« Lottes Stimme nimmt einen schrillen Ton an. »Die aufgeblasene Ziege, mit der ich studiert habe?«
Johannes nickt verhalten.
»Diese viel zu mager geratene Oberzicke von Miranda? Die mit der operierten Oberweite? »
»Ich verstehe ja, dass du dich aufregst, Lotte. Aber so ist sie nicht, wirklich. Sie ist so tough, so straight. Sie strahlt so viel Energie aus.«
»Ich wusste gar nicht, dass du dich plötzlich für Atomkraft begeistern kannst«, zischt Lotte.
Johannes greift nach ihrem Arm. »Ich verstehe deinen Kummer. Es tut mir so Leid, Lotte.«
Zitternd vor Wut schiebt sie seine Hand beiseite. »Nichts tut dir Leid. Und ich dachte immer, du und ich, wir gehören einfach zusammen. Ich dachte«, sie schluckt, »du würdest mir heute ...« Lotte führt den Satz nicht zu Ende. Johannes versteht sie auch so.
»Ich weiß«, sagt er. »Das wollte ich ursprünglich auch. Aber ...«, er flüstert beinahe, »mit Miranda fühle ich mich plötzlich wieder so lebendig. Alles scheint möglich.«
Lotte erwacht von einem Klirren. Auf dem antiken Beistelltisch rotiert eine leere Rotweinflasche.
»Mephistopheles«, murrt Lotte. Die sabbernde Bulldogge ist auch nicht besser als ihr Herrchen. Langsam kehrt die Erinnerung zurück und mit ihr ein übles Rumoren in der Magengegend. Währenddessen schlabbert das Ungetüm genüsslich Lottes Hand ab. Sie richtet sich mit einem Ruck auf. »Moment mal, warum bist du noch da?«
Sie erhebt sich kraftlos, und noch immer leicht schwankend, vom schwarzen Ledersofa, das Johannes Bedingung beim Einzug gewesen ist. »Mich gibt es nur gemeinsam mit ihm«, hatte er gesagt und auf die kühle Lederhaut geklopft wie auf die Schulter eines Freundes. Es folgte der erste Streit und schließlich gab Lotte um des lieben Friedens willen nach. Wenig später war dann auch Mephistopheles eingezogen: die unterschlagene Bedingung, mit der sie sich – ob sie wollte oder nicht – arrangieren musste.
Lotte blickt sich im Zimmer um. Johannes‹ sorgsam und farblich geordnete Anzüge sind aus ihrem Kleiderschrank verschwunden. Auch das Silberbesteck seiner Großmutter, die CD- und DVD-Sammlung, das Laptop und die wenigen Bücher – Arbeitsmaterial für sein Jurastudium – fehlen. Sogar an seine Zahnbürste und an das Deo, an dessen Geruch sie sich so gewöhnt hat, hat er gedacht. Warum ist der Köter noch hier? Lotte kann sich nur undeutlich daran erinnern, was vorgefallen ist. Sie hatte sich die Nacht zuvor mit ihrem MP3-Player und zwei Flaschen bestem Rotwein ins Wohnzimmer zurückgezogen. Die Augen die meiste Zeit geschlossen, vielleicht in der Hoffnung, Ungesehenes auch ungeschehen zu machen. Schließlich war sie wohl eingeschlafen. Sie erinnert sich an kein Wort des Abschieds. Aber Johannes kann das Ungetüm schwerlich übersehen haben. Das sitzt jetzt neben der kopfschmerzgeplagten Lotte und fiept, weil es nach draußen will, oder Futter ersehnt oder sein Herrchen vermisst. Lotte ertastet ihr Handy unter dem Sofakissen und wählt Johannes‹ Nummer. Der Anrufbeantworter wünscht ihr freundlich einen schönen Tag und erbittet die übliche Nachricht nach dem Signalton.
»Du hast ein Lebewesen zurückgelassen«, versucht sie es sachlich, bis ihr aufgeht, dass Johannes das missverstehen könnte. »Und damit meine ich nicht mich«, stottert sie, »sondern das Tier mit dem missglückten Namen, das übrigens irgendetwas von mir möchte, so sehr fiept es, und ich weiß nicht, was es ist, und ich habe jetzt auch gar keine Zeit dafür.« Lotte erhascht einen Blick auf die Uhr. »Scheiße«, flucht sie laut. »Das war jetzt nicht für dich gedacht, Johannes, falls du das denkst. Nein, also, es ist fast 10 Uhr und um 10 Uhr 35 beginnt meine Sendung. Den Schlüssel hast du ja noch, denke ich. Hol dieses Vieh, äh, diesen Hund ab, ich will ihn hier nicht mehr sehen, wenn ich wiederkomme. Und nimm das ungeheuerliche Sofa auch gleich mit. Schlafen kann man darauf eh nicht. Mein ganzer Nacken ist verspannt. Also, Tschüss.«
Lotte schleudert ihr Uralt-Handy in die Tasche. Was für ein gelungener Anruf, unmöglicher hätte sie sich kaum anstellen können. Viel zu unsicher, viel zu nett! Kopfschüttelnd und Selbstvorwürfe murmelnd schlüpft sie aus ihren alten Klamotten und macht das Radio an. Guten Morgen, guten Morgen, guten Morgen, Sonnenschein, trällert eine warme Nana-Mouskouri-Stimme, als Lotte im Trockner nach einem frischen Slip und einem BH sucht. Doch sie findet lediglich ein Knäuel aus Küchenhandtüchern.
Doch du musst nicht traurig sein, dudelt es.
Lotte drückt den Powerknopf: »Wenn du wüsstest ... Aber dich kann ich wenigstens ausschalten.«
Ganz unten in der Kommode angelt sie eine letzte saubere Unterhose – ein ausgeleiertes Snoopyhöschen. Einen BH findet sie nicht. Ist heute auch egal. Jeans und Schlabberpulli müssen genügen. Die langen Locken zwängt sie in einen Pferdeschwanz und schlüpft in Stiefel und Wintermantel. Im Treppenhaus rennt sie beinahe in Frau Glückstadt, ihre geschwätzige Nachbarin.
»Guten Morgen«, flötet diese.
»Nicht auch noch sie«, nuschelt Lotte und ist auch schon fast an Frau Glückstadt vorbei, als diese ihr hinterher ruft: »Der Herr Maritsch, also das ist doch ihr Verlobter, oder? Der ist gestern mit ganz vielen Sachen unterm Arm noch spät abends durchs Treppenhaus gelaufen. Was ist denn passiert? Ziehen Sie jetzt aus? Oder nur er? Ich will mich ja nicht einmischen, aber…«
»Dann tun Sie es auch nicht«, faucht die sonst so friedliebende Lotte. »Ich kann jetzt wirklich nicht mehr. Ich muss zur Arbeit.« Und damit ist sie schon zwei Stufen weiter und froh, endlich auch mal für Gesprächsstoff gesorgt zu haben. Sie weiß genau, dass sich die Damen des Hauses künftig die Mäuler über sie zerreißen werden, wobei sie sehr bedacht darauf sein werden, sich nichts anmerken zu lassen. Single in Winterhude, das führt bestenfalls zu rotweingetränkten Abenden, die man allein vor debilen Castingshows verbringt, denkt Lotte, als sie am Steuer sitzt und aufs Gaspedal tritt. Wenn ich ausnahmsweise die Geschwindigkeitsbegrenzung etwas weniger streng befolge und in keinen Stau gerate, werde ich sogar noch pünktlich im Sender sein.
***
Um 10 Uhr 25 stürmt Lotte ins Studio, wirft den Mantel hin und lässt sich auf den Drehstuhl fallen. Sie schenkt sich einen Schluck abgestandenes Wasser ein und spürt ihm nach, wie es ihre Kehle hinunterrinnt. So fühlt es sich also an, wenn man unvermutet festgefahrene Muster durchbricht und auf Gewohntes kein Verlass mehr ist. Wenn die eigene Existenz plötzlich in neuem Licht erscheint, weil sich alle Zusammenhänge verschieben und nichts zurückbleibt als intensiver Schmerz, der jeden Atemzug durchdringt.
Später weiß Lotte nicht, ob es Trauer oder Sehnsucht oder Wut war, die sie befähigt hat, das Unmögliche zu wagen. Sie weiß nur eins: Zu keinem anderen Zeitpunkt hätte sie sich diese Anmoderation zugetraut.
»Guten Morgen, meine Damen. Hier ist Ihre Radiowelle eins Punkt eins, die erste Wahl des Tages. Am Mikrofon hören Sie Ihre Lieblingsmoderatorin Lotte Blankenstein, die heute nur ernst gemeinte Ratschläge geben wird. Also schmeißen Sie den Mistkerl, den Sie in Ihrem Bett vorfinden, aus Ihrer Wohnung, servieren Sie ihm kein Frühstück, denn auch wenn Mama uns höflich und gastfreundlich erzogen hat: Es gibt keinen Anspruch darauf. Flirten und vögeln Sie, als gäbe es kein Morgen. Glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage: Er hat weder Ihr Mitleid noch Ihr Bemühen verdient. Und dazu passt natürlich der Klassiker: Gloria Gaynor mit I will survive. Sie dürfen dazu tanzen, Geschirr zerschmettern oder einen lang vergessenen Typen anrufen, um ihn zu beschimpfen. Gleich danach bin ich wieder für Sie da. Und jetzt: Frauenpower mit Gloria!«
Als Lotte die Kopfhörer abnimmt, sieht sie, wie Aleksandra, ihre Kollegin vom Ratequiz, auf sie zustürmt. »Jaja, schon gut, ich weiß, was du sagen wirst, trotzdem erst mal einen schönen Morgen für dich.«
Aleksandra runzelt die Stirn. »Sag mal, hast du einen im Tee? Ich meine, deine Anmoderation war ja ganz witzig und so, aber du weißt doch … der Chef wird es nicht mögen.«
»Dies ist eine ernstzunehmende Beratungssendung für Frauen in Beziehungskrisen ...«, äfft Lotte die getragene Stimme ihres Chefs nach. »Ich weiß, ich weiß. Hab´s oft genug gehört. Und ich kann dir sagen, ich befinde mich gerade in einer solchen und dieses gezwungene Gelaber würde mir jetzt überhaupt nichts helfen. Wenn die Typen sich so benehmen dürfen, dann ... Aleks?«
Ihre Kollegin schluckt und tritt mit Blick auf den Korridor den Rückzug an. »Ich hab´s ja gesagt, Lotte. Chef im Walrossgang in Anmarsch. Du ziehst dich besser warm an.«
»Nichts dergleichen tu ich. Ich stoppe einfach frühzeitig die Musik. Da kann er mich unmöglich unterbrechen. Das ist meine Show und auch mein Tag.«
»Überleg es dir lieber nochmal, Lotte. Der steht echt unter Druck, die streichen ihm die Gelder, er hat momentan nicht viel zu lachen. Da kann er dich und deine Krise gerade noch gebrauchen.«
»Egal.« Lotte stoppt die Musik, als Arthur die Klinke zu ihrem Studio herunterdrückt und seinen Bauch durch den Spalt schiebt. Er schnaubt hörbar und schließt die Tür wieder mit einem Knall.
»Sehen Sie, meine Damen, das haben wir davon, wenn wir nicht tun, was die Männer von uns verlangen. Sie schnauben und prusten. Ich glaube, Arthur, oder auch französisch, wie er es bevorzugt, Arthüüüür, mag meinen neuen selbstbewussten Stil nicht. Für alle, die es nicht wissen, Arthüüüür ist mein Chef und – ach, was rede ich? Da klingelt doch längst mein
Telefon. Guten Morgen, mit wem spreche ich?«
»Guten Morgen, hier ist Maike aus Eppendorf. Sie klingen so anders als sonst, Lotte. Aber ich mag Ihre Sendung wirklich.«
»Maike, was ist denn los? Warum weinen Sie? Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Mein Mann, ach, es ist so klassisch … mein Mann ist Oberarzt im Klinikum Eppendorf, und er betrügt mich mit einer seiner Schwestern. Ich bin mir ganz sicher.«
»Hmm, Maike, um es mal mit den Worten einer großen gegenwärtigen Bühnenkünstlerin und Diseuse zu sagen: Seit Jahren warten Sie schon auf den Moment. Gehen Sie raus, tun Sie dasselbe. Wozu hat Gott die Matrosen erschaffen?«
»Das meinen Sie jetzt nicht ernst, Lotte!«
»Na, mit den Matrosen bin ich mir nicht so sicher, obwohl, in Hamburgs Häfen müsste es eine Menge davon geben, aber ansonsten: Klar meine ich das ernst. Wollen Sie in Ihrem Kinder-und-Küche-Alltag versauern? Sie haben ein Leben verdient. Gönnen Sie sich den Spaß und warten Sie ab, was auf Sie zukommt. Seien Sie der Schöpfer Ihres Tages – und Ihrer Nacht, natürlich. Maike, von was träumen Sie, wenn es dunkel wird? Wann hat es Ihr Mann Ihnen das letzte Mal so richtig besorgt? Wie oft langweilen Sie sich an seiner Seite und warten auf diese oder jene Aufmerksamkeit, die er ihnen versagt? Lassen Sie sich das nicht bieten. Sie verdienen es, wie eine Göttin behandelt zu werden, machen Sie sich zu einer.«
»Also ich weiß nicht, Lotte. Ich hatte geglaubt, Sie würden mir zu einem ernsten Gespräch mit ihm raten, in dem ich ihn bitte, alle Karten auf den Tisch zu legen.«
»Sie kennen die Karten doch schon, Maike. Mischen Sie sie neu. Wozu vertrauliche Gespräche mit Vertrauensbrechern?«
»Hmm, na ja, ich denk‹ mal darüber nach. Aber danke für Ihren Rat, ich fühl‹ mich schon ein wenig besser.«
»Bitte, bitte und viel Spaß beim Vögeln, Maike. Der Frühling rückt näher, es gibt keine bessere Erfrischungskur als Sex! Und jetzt Musik, was Brasilianisches, was Heißes. Fühlen Sie den Rhythmus, fühlen Sie, wie das Blut in Ihren Adern kocht. Ihre Wut will sich entladen. Tanzen Sie, tanzen Sie den Sommer herbei ...!«
Lottes Wangen glühen, als Arthur wutschnaubend den Raum betritt.
»Was hast du dir nur dabei gedacht?!« Arthur brüllt wie ein Ochse auf der Schlachtbank.
»Du verkörperst unser Image wie keine andere und jetzt so etwas!« Nach einer Kunstpause fährt er fort:
»Ich kenne deinen Vertrag, Lotte. Das gerade war Rufmord!«
Seine Stimme schraubt sich derart in die Höhe, dass sie nur noch ein Quietschen ist. Lotte unterdrückt das erste Grinsen des Tages, Arthur schwitzt und schnaubt und Lotte ist sich plötzlich ganz sicher: Allein für dieses Bild hat sich ihr Auftritt gelohnt. Arthur entgeht ihre sonderbare Ruhe nicht. Er atmet dreimal ein und dreimal aus – Lotte registriert es ganz genau – und wechselt dann vom üblichen Medien-Du zum distanzierten Sie: »Sie sind so was von gefeuert, Frau Blankenstein!«
Lotte nickt und entgegnet lediglich: »Wenn ich Sie dann bitten dürfte, Arthüüür, die Studiotür zu schließen, ansonsten kann ich meine letzte Sendung nicht zu Ende moderieren.«
Lotte kann den Zwiespalt, in dem sich Arthur nun befindet, an seinem Gesicht ablesen. Sie weiß genau, was ihm gerade durch den Kopf geht: Sendung abbrechen und selber moderieren, nein, geht gar nicht, einen Kollegen abziehen, die beste Lösung, aber es ist keiner verfügbar, die sind alle auf Sendung und die Praktikantin mit ihrer Fistelstimme ist wirklich nicht zu gebrauchen, also gut, Zähne zusammenbeißen und durch, soll sie nur sehen, was sie davon hat.
Erhobenen Hauptes drückt er die Klinke, nicht ohne sein letztes Druckmittel auszuspielen: »Nehmen Sie sich zusammen, Frau Blankenstein, ich behalte mir Rechtsberatung vor.« Dann knallt er die Tür zu.
»Habe ich schon erwähnt, liebe Zuhörerinnen, dass sich der Abschluss einer Rechtsschutzversicherung immer lohnt?«, eröffnet Lotte die neue Runde.
***
Lotte fühlt sich beinahe beschwingt, als ihr die kalte Winterluft ins Gesicht weht. Ein paar vereinzelte Schneeflocken tanzen am klaren Himmel. Ihre Finger umklammern das fristlose Kündigungsschreiben, das ihr Arthur nach ihrer Sendung wortlos in die Hand gedrückt hat – nicht ohne auf eine Quittierung des Empfangs zu bestehen. Und plötzlich wird die Stille in Lotte laut. Was wirst du jetzt machen? Ein kurzer glorreicher Moment. Dafür musst du jetzt zum Arbeitsamt. Die werden dich sperren. Das hast du davon. Hättest dich lieber krank melden sollen. Daran ist bloß Johannes schuld und diese Miranda. Lotte, jetzt konzentriere dich doch mal, kein Wunder, dass er abgehauen ist. Geh nach Hause, Lotte. Ruf Anne an. Vielleicht solltest du sie besuchen. Ein bisschen Abwechslung würde dir gut tun. Und in Berlin erinnert dich nichts an Johannes.
Lotte rennt beinahe, bis sie vor der Burger-King-Filiale zum Stehen kommt und ein großes Eis mit Karamellsauce ordert. Eis im Winter ist zwar keine Lösung, aber ein Anfang. Querdenken, sich nicht abbringen lassen, Neues wagen. Auf keinen Fall will sie an Johannes denken. Sie spürt das Eis auf der Zunge und beschließt, das Schreiben vom Sender zu schreddern und den Enten zum Fraß vorzuwerfen, bevor sie in die U-Bahn steigt und zu einer Wohnung fährt, die kein Zuhause mehr ist, weil keiner auf Lotte wartet, nicht einmal sie selbst.
***
Anne ist beim dritten Klingeln am Telefon. »Und?«, jubelt sie. »Hat er oder hat er nicht? Und bist du jetzt die glücklichste Menschin auf Erden? Du sagst ja gar nichts.«
Lotte kullern die Tränen ganz plötzlich aus den Augen. Es formen sich kehlige Geräusche, die sich einen Weg nach draußen bahnen, und Anne sagt: »Scheiße« und »So ein Mistkerl« und »Ich hab‹s doch gleich gewusst, mit dem stimmt was ganz gewaltig nicht.« Obwohl diese Worte Lotte nur noch mehr schluchzen lassen, geht es ihr auf einmal besser, denn Anne korrigiert sie nicht und stellt keine Zwischenfragen.
»Klar kommst du zu mir, wann immer du willst, du kannst auch ganz bei mir einziehen. Ich habe da zwei schnucklige Zimmer frei. Du und ich, Lotte, das wär‹s doch. Endlich wieder vereint. Was willst du hoch oben im Norden? Gib dir einen Ruck. Das Wetter ist in Berlin auch nicht schlechter und ich weiß, dass du dich hier wohl fühlen wirst. Du glaubst es noch nicht, aber ich weiß es einfach.«
Anne ist in Fahrt und nur schwer zu bremsen. Aber ihren fraglosen Beistand und ihre Ideen für zwei genießt Lotte sehr. Sie geben ihr das Gefühl von Geborgenheit.
»Ich habe nicht vor wegzuziehen, ich brauche nur ein bisschen Abstand. Ach, und Anne, Johannes hat seine Töle bei mir gelassen.« Lotte berichtet ihrer Freundin nun auch, wie Johannes das Sofa am Vormittag abholen ließ und dass auf dem Küchentisch sein Schlüssel und sein Anteil für die nächste Monatsmiete liegen. Auch den Dreizeiler daneben verschweigt sie nicht: Miranda ist allergisch gegen Hunde. Nimm ihn oder bring ihn ins Tierheim, wenn du es übers Herz bringst. Es tut mir leid, Johannes.
»Der hat doch nicht mehr alle Tassen im Schrank«, krakeelt Anne.
Mephistopheles hat es sich inzwischen auf Lottes Bett gemütlich gemacht.
Am Abend klingelt Lottes Telefon Sturm, auf dem Display eine unbekannte Handynummer. »Ja bitte?«
»Valentin hier von Namara Night Productions. Spreche ich mit Lotte – Lotte Blankenstein?«
Lotte nickt. Es dauert ein wenig, bis ihr bewusst wird, dass der Anrufer sie nicht sehen kann. Sie schickt ein kurzes »Ja, richtig, bin am Apparat« hinterher.
»Wir hören deine Sendung schon länger. Ich darf doch du sagen, oder?«
»Hmm«, macht Lotte geistesabwesend. Sie versteht überhaupt nicht, was dieser Valentin von ihr will.
»Du gibst ja auch öfter Lesetipps, die die Beziehung wieder auf Trab bringen sollen. Und die waren immer recht außergewöhnlich und besonders. Aber deine Sendung gestern hat uns beide vom Hocker gerissen. Mit uns meine ich meinen Kompagnon und mich. Wir sind nur zu zweit und betreiben einen kleinen Verlag hier im Herzen Berlins. Und wir wollen ganz groß durchstarten, weißt du.«
Lotte weiß nicht, was sie darauf erwidern soll. Für irgendwelche dubiosen Anrufe aus Callcentern hat sie jetzt wirklich keinen Nerv. Das muss eine ganz neue Masche sein, die Kunden durch persönliche Schmeicheleien für sich zu gewinnen. Deshalb sagt sie: »Hören Sie, ich verstehe beim besten Willen nicht, worauf sie anspielen. Ich bin heute gefeuert worden, wegen der Sendung, von der Sie sprechen und die Sie angeblich so begeistert hat. Genau deswegen bin ich bestimmt der letzte Ansprechpartner für sie. Ich bin nämlich künftig nicht in der Lage, irgendjemandem irgendetwas zu spenden und schon gar keinem dubiosen Verlag, der sich später als Pornoproduktionsfirma outet. Ich bin mir nicht mal sicher, wie ich wie mir künftig meinen Lebensunterhalt finanzieren soll.« Lottes Rede hat sich ins Leidenschaftliche gesteigert. Der Callcentermensch soll ihre Wut ruhig zu spüren bekommen. Schon viel zu oft war sie solchen Typen gegenüber brav und höflich, ganz die wohlerzogene Tochter.
»Wunderbar«, flötet der Mann am anderen Ende der Leitung jetzt allerdings.
Lotte traut ihren Ohren nicht. »Wie bitte? Ich habe mich wohl verhört.«
»Nein, nein, Lotte, versteh mich bitte nicht falsch, aber dennoch ein wunderbarer Wink des Schicksals. Dann stehen dir alle Möglichkeiten offen. Wir machen dir ein Angebot. Wir wollen nämlich keine Spenden akquirieren, wir wollen dich als unseren neuen Talentscout. Wir brauchen jemanden, der so offen und geistesgegenwärtig ist wie du. Jemanden, der für unsere Autoren eintritt und ein Gespür für Menschen und ihre Geschichten hat. Erotische Geschichten, deshalb der Verlagsname, aber im Sinne von Kunst; wir haben nichts gegen Pornos, aber wir machen keine, verstehst du?«
»Aha« ist die einzige Reaktion, zu der Lotte fähig ist.
»Ich hab schon mal eine E-Mail an dich geschrieben mit unserem Angebot. Viel zahlen können wir nicht, aber vielleicht hast du ja trotzdem Lust? Für die Miete und das Leben reicht es und so teuer wie die Hansestadt ist Berlin längst nicht. Wenn alles gut läuft, bekommst du auch Prozente an den Verkäufen der Bücher, und du lernst tolle Leute kennen, also uns schon mal auf jeden Fall, und du hast viele Freiheiten, wir werden keine solchen Arschlöcher sein wie dein Arthüüür.«
»Aha«, macht Lotte jetzt wieder, aber diesen Valentin scheint das nicht zu stören.
»Überlegst du es dir? Wir würden uns freuen. Schreib dir doch mal eben unsere Kontaktdaten auf, okay? Und melde dich bald, wir brauchen dich hier in spätestens zwei Wochen.«
Lotte ist noch zu keiner sinnvollen Überlegung imstande, daher sagt sie einfach, was ihr in den Sinn kommt: »Ich habe aber kürzlich erst eine Bulldogge bekommen, Familienzuwachs sozusagen.«
»Das ist doch das geringste Problem, oder? Ich hatte selbst mal einen Hund. Solange er mein Katzenpärchen am Leben lässt, schwöre ich schon jetzt Freundschaft.«
»Versprechen kann ich nichts«, sagt Lotte und Valentin erwidert: »Macht nichts. So ist das Leben, lebensgefährlich.«
Lotte lacht. Dieser neue Chef in spe scheint tatsächlich das genaue Gegenteil von Arthur zu sein und das Leben, das er ihr eröffnet, scheint ihr wie ein Wink des Schicksals angesichts ihres geplatzten Traums mit Johannes. »Ich melde mich«, verspricht sie.
Der Blick auf die viel befahrene Frankfurter Allee hat Lotte überzeugt. Sie will nicht auf einen beschaulichen Hinterhof mit einer alten Kastanie schauen oder den Müttern vom Prenzlauer Berg beim Spielen mit ihren boutiqueausgestatteten Kindern zusehen, sie will genau das: restbesoffene Partyheimkehrer, streitende Pärchen und dazwischen die alte, auf ihren Rollator gestützte Frau Zukunft von nebenan. Jetzt hockt sie auf ihrer mit einem weinroten Spannbettlaken bezogenen Matratze, wärmt ihre Hand an einer Tasse mit frischem Ingwertee und lauscht der leisen Klimpermusik aus den Boxen. In der Küche klirrt es.
»Welche Gläser nimmt man noch mal für Rotwein?«, ruft Anne, ihre beste Seit-immer-Freundin und seit neuestem auch ihre Mitbewohnerin. Lotte stöhnt und steht auf. In der Küche streckt sie sich nach den bauchigen Kelchen. »Kannst du mal?«, fragt sie.
Lotte ist klein, sie misst knapp einen Meter und sechzig. Dafür mag sie ihre kastanienbraunen Locken, ihre Stupsnase und sogar die paar Kilos zu viel auf den Hüften. Die stehen ihr, beharrt sie und wehrt sich auf diese Weise gegen jedes teure und an ihrer Freizeit nagende Fitnessangebot.
Lotte nimmt Anne die Flasche aus der Hand, entkorkt den Merlot und füllt schnell die Gläser.
»Komm, lass uns rausgehen.«
Anne öffnet die doppelten Flügeltüren zum Balkon. Der Straßenlärm tönt den Freundinnen entgegen. »Ich bin mir sicher, du wirst es lieben. Du bist wie für Berlin gemacht.«
Lotte nickt sich selbst Mut zu. »Diese blöde Spießer-Idylle, Winterhuder Mühlenkampflair, Stadtpark hier, Alster da … Was wollte ich da noch mal? Ach ja, Johannes, meinen überaus liebevollen Freund …« Als Lotte Annes Blick bemerkt, korrigiert sie sich schnell: »Exfreund, meine ich. Ich lerne ja dazu.«
Anne nimmt Lottes Hand: »Sehr richtig. Aufgeblasener Gockel, soll er doch mit seinem neuen Magerhuhn glücklich werden. Dir jedenfalls«, sie deutet nach links, »liegt die ganze Stadt zu Füßen. Schau mal, der Fernsehturm, ganz nah.«
»Hmm«, macht Lotte und schiebt die sich aufdrängenden Bilder aus ihrer Erinnerung fort: Der Prosecco mit dem hässlichen bunten Plastikring, den sie all die Zeit getragen hat, ihr erster Opernbesuch, aufgeregt plappernd an Johannes Hand, der Einzug in ihre gemeinsame Wohnung mit dem kleinen Erker und der dumme Streit um sein schwarzes Ledersofa. »Wenigstens das dumme Sofa bin ich jetzt los.«
Anne guckt kurz irritiert, hebt dann aber das volle Glas. »Jawoll«, prostet sie Lotte zu. »Und mich und die Zimmer in exklusiver Lage hast du obendrein dazu gewonnen. Mich wirst du übrigens nicht los, keine Sorge.« Anne drückt Lottes Hand. »Unsere Freundschaft ist mir heilig. Beziehungen werden sowieso überschätzt, ich kann nicht mit, aber auch nicht ohne. Einer will immer mehr als der andere. Und ich liebe immer in Extremen. Ganz oder gar nicht. Das geht nie gut. Same old story. Also, Lotte, bleib meine Stimme der Vernunft und erinnere mich beim nächsten Mal rechtzeitig an meine Fehler. Versprochen?«
Anne bemerkt Lottes abwesenden Blick und setzt rasch nach: »Aber jetzt geht es erst einmal um dich. Du wirst sehen, hier ist alles möglich. If you can make it here, you´ll make it anywhere ... Damit ist eben doch nicht nur New York gemeint. Siehste mal, etwas Gutes hat das Ende mit Johannes doch schon gebracht! Wir sind endlich wieder zusammen in einer Stadt. Und das erste Mal in einer gemeinsamen Wohnung. Das muss gefeiert werden!«
Lotte hebt den Blick und lacht. »In der einzig möglichen Stadt Deutschlands, mit dem schrägsten Job der Welt.«
Noch ein paar Monate zuvor hätte Lotte einen solchen Job nicht angenommen. Sie hätte in ihrer Ikea-Puppenhauswohnung mit dem süßen Erker im schicken Winterhude ausgeharrt und auf irgendetwas gewartet. Auf den Traumjob, ein ergreifendes Gespräch, einen überraschenden Anruf, ein besseres Buch, den absolut perfekten Abend mit ihrem Freund. Auf das Ende der Werbeblöcke beim Sonntagabendfilm, auf Montag, auf Dienstag, auf Weihnachten, auf ein Kind, das Johannes später sicherlich auch gewollt hätte, vielleicht. Jetzt erwacht sie aus ihrem Winterschlaf. Sie ist zu groß geworden für das Puppenhaus. Der nahende Frühling pustet ein paar zartgrüne Blätter und eine leise Ahnung vom Nachbarbalkon vor ihre Füße.
»Das wird toll«, beharrt Anne.
Lotte nickt in sich hinein. Sie wird ab jetzt die besten erotischen Autoren für eine Anthologie finden und dafür sogar bezahlt werden, während Anne an der Volksbühne souffliert und nur gelegentlich die Bretter, die die Welt bedeuten unter ihren Füßen spüren darf, als Kleindarstellerin oder bei freien Produktionen.
»Und dafür hast du jetzt studiert?«, hatte Johannes Lotte noch zuletzt vor die Füße geknallt. »Und ich dachte, du könntest es weit bringen.«
»Es macht mir bestimmt Spaß«, hatte Lotte geflüstert und Johannes war schnaubend und Türen knallend verschwunden. Der Johannes, der sie mit dieser mageren Gucci-Taschen-Schnepfe betrogen hatte. Und Lotte hatte still und heimlich den gemeinsamen Mietvertrag gekündigt, sich neue Stiefel und einen knallroten Lippenstift gekauft und diesen Typen aus Berlin zurückgerufen, Valentin Namara, von Namara Night Productions. Was die bloß an ihr gefunden hatten, nach ihrer verpatzten Radiosendung? Zuerst hatte Lotte an einen Scherz geglaubt. Immerhin hatte der Sender sie fristlos gekündigt.
»Von wegen verpatzt«, hatte Anne gesagt. »So beißend komisch habe ich dich noch nie erlebt, also mal abgesehen von unseren Weingelagen. Liebeskummer tut dir gut, Lotte, du wächst über dich hinaus. Liebeskummer ist wie Granit. Kommt drauf an, was man daraus macht!«
Lotte hatte Anne verflucht in diesem Moment, aber nur ganz kurz, und schließlich hatte sie ihr recht gegeben. Auch wenn sie weiter von ihrem persönlichen Hollywood-Happyend träumen wollte, mit Prinz und Pferd und Kutsche und allem, was dazu gehört. Aber bis es so weit war, war sie niemandem mehr Rechenschaft schuldig.
Jetzt sitzt Lotte auf dem majestätisch zerfallenen Balkon mit Blick auf die vierspurige Hauptstraße und betrachtet nach drei Gläsern Rotwein zufrieden benebelt den Sonnenuntergang.
»Wozu habe ich eigentlich gleich zwei Zimmer in deiner Vierzimmerwohnung gemietet?«, fragt sie in das Autorauschen hinein und erwartet keine Antwort.
»Weil das Berlin ist und du es dir leisten kannst, du Talentscout, du.«
»Genau. Weil das Berlin ist«, wiederholt Lotte wie ein Mantra und auf der Straße klirren Bierflaschen.
»So, genug Frühling vom Balkon, jetzt mal ab ins Leben.«
Annes Stimme vibriert begeistert. Lotte wendet ihr ihren leicht verschleierten Blick zu.
»Was?«
»Na, rausgehen natürlich, deinen neuen Kiez erkunden, Boxhagener Platz, Cafés, Kneipen, ganz wie du willst. Freunde treffen, die Warschauer Straße rauf und wieder runter, am Spree-Ufer abhängen, was weiß ich. Es ist Samstagabend. Du bist schon gestern hergezogen und hast noch nichts gesehen, weil du viel zu beschäftigt damit warst, deine Zimmer penibel einzurichten.«
Lotte blinzelt. Ihr Plan ist ein anderer: im Bett den Gedanken nachhängen, vielleicht in Annes Klauenfuß-Badewanne steigen, den Rest Wein mitnehmen. Das Lavendelbad hat sie erst heute Morgen gekauft, für alle Fälle. Heißes, duftendes Wasser spendet Geborgenheit und die braucht sie jetzt, auch wenn die Gespräche mit Anne die Gedanken an ihr altes Leben in die Schranken weisen.
»Nun komm schon, kneifen zählt nicht. Ohne meine Beste-seit-immer-Freundin ziehe ich heute Abend nicht los.«
Lotte sagt noch immer nichts.
»Ich leihe dir auch mein neuestes Kleid.«
Als sie weiter schweigt, schnappt Anne sich trotz Lottes Protest das Weinglas und zieht sie einfach mit sich in ihr Schlafzimmer vor ihren goldverschnörkelten Spiegel, um den sich viele kleine Bilder und Postkarten ranken. Alle mit Stecknadeln bunt durcheinander an die Wand gepinnt. Unter dem Fenster liegt eine Matratze, mit nachtblauem Bezug und üppigen Kissen, deren Muster an alte Brokatstoffe erinnern. Nach dem Sex ist der Blick zum Himmel garantiert. Es riecht nach Räucherstäbchen mit Vanillearoma. Die Dielen knarzen unter Lottes besockten Füßen und holen sie ins Hier und Jetzt zurück.
»Bei dir ist alles so üppig und fremd, so andersweltlich«, murmelt Lotte und Anne lacht. »Ich weiß nicht, Lotte. Das bin halt ich.«
Lotte steht da und sagt mal wieder gar nichts. Wie gut, dass Anne sich nicht weiter um Lottes Schweigen kümmert. Stattdessen wühlt sie in ihrem Kleiderhaufen, der sich in einer Ecke des Zimmers auftürmt. Das ist eben auch Anne. Strahlend hält sie ein flirrendes Charlestonkleid in die Höhe. »Aus dem Theaterfundus.«
Lotte will widersprechen. Das ist nicht sie, das ist Anne mit ihrer schwarzen Mähne, der geraden Nase und dem dicken, aber exakten Lidstrich. Doch Widerspruch wäre zwecklos und deshalb zwängt Lotte sich in das eine halbe Nummer zu enge Kleid.
»Hervorragend«, jubelt Anne. »Guck dir bloß mal an, wie deine Haut schimmert! Petrol ist echt deine Farbe.«
Sie legt Lotte noch eine lange unechte Perlenkette um, zieht ihr die Socken von den Füßen und wirft ihr ein Paar schwarze Pumps hin. Einer der Riemen ist mit einer Sicherheitsnadel am Schuh befestigt. »Also los.« Lotte stöhnt. Sie weiß wirklich nicht, ob sie das schaffen wird. Es ist schon so lange her, dass sie als Single unterwegs war. Kiezerkundung geht doch später immer noch. Aber sie will Anne den Abend nicht verderben und sie hat sie gerne um sich, nicht nur, weil Anne ihre Gedanken leiser macht. Also gibt sie sich einen Ruck. »In Ordnung, gib mir fünf Minuten, dann bin ich geschminkt und bereit für unser Abenteuer.«
»Braves Mädchen«, kichert Anne.
Auf dem Weg ins Bad sagt Lotte noch: »Aber versprich mir, dass wir es uns gemütlich machen. Kein »Wir sind so cool und jetzt reißen uns alle Jungs auf«-Abend, ja? Wir lassen uns einfach nur treiben.«
»Treiben lassen ist doch gut!«
Als Lotte aus dem Badezimmer kommt, pfeift Anne durch die Zähne und stützt die Hände auf die Hüften, die sich unter dem Stoff ihres roten Neckholderkleids abzeichnen. »Hammer-Braut, meine Freundin«, sagt Anne und Lottes Selbstbewusstsein horcht ein klein wenig auf. Ach was, will Lotte entgegnen, lächelt dann aber nur. Was wäre sie jetzt ohne Anne? Das muss sie sie bei Gelegenheit mal wissen lassen.
Der Fahrstuhl ächzt und knarzt. »Der kann auch mal stecken bleiben, wenn Sie die Innentüren vor dem Stoppen öffnen«, hat die Hausverwaltung Lotte beim Einzug mitgeteilt. Solche Türen in Fahrstühlen, das kennt Lotte weder aus Heilbronn, wo sie und Anne zur Schule gegangen sind, noch aus Hamburg. Als typisches Ost-Berlin-Feeling bezeichnet Anne eine derart veraltete Technik und meint damit bestimmt etwas Gutes.
Für Lottes Augen ist alles noch viel zu neu und überwältigend. Das riesige Berliner Verkehrsnetz, die großen Straßen, das Gefühl von Freiheit. Nur das Meer fehlt, der Alsterstrand.
»Ach was, du wirst schon sehen. In spätestem einem Jahr willst du hier auf keinen Fall mehr weg. Vertrau mir.«
Lotte schlendert mit Anne Hand in Hand die Boxhagener Straße entlang. Vorbei an Cafés, vor denen schon jetzt draußen Stühle stehen. Heizpilze und Decken machen das möglich. Vorbei an einer leer stehenden Sparkasse und vorbei an Annes Lieblingsbäcker, der schon geschlossen hat und von außen gar nicht wie ein Bäcker aussieht.
»Hier gehen wir morgen frühstücken«, sagt Anne und zieht ein Päckchen Zigaretten aus ihrem Mantel. »Dann gehörst du schneller zum Kiez, als du bis zehn zählen kannst. Wenn Farin dich erst mal ins Herz geschlossen hat, bist du ein Teil dieser Straße.«
»Das ist keine gute Idee.« Lottes Alarmglocken läuten Sturm. Sie schüttelt energisch den Lockenkopf. »Ich werde auf keinen Fall ein Kopftuch tragen, und sei er noch so sexy, dein Farin.«
Anne kann kaum mehr an sich halten vor Lachen.
»Erstens ist Farin Kurde und sehr, sehr weltoffen, du wirst schon sehen. Zweitens ist er verheiratet und hat zwei Kinder. Und drittens ist er glücklich, sehr glücklich sogar. Alle, die an dieser Straße wohnen, sind bei ihm Stammkunden. Er ist so eine Art psychologischer Berater, nur ohne Extrakosten. Wo sonst, außer bei Farin, bekommst du das alles noch gratis zu deinen Brötchen dazu?«
Lotte achtet nicht mehr auf den Weg. Sie folgt Anne, die in eine Querstraße abgebogen ist, und bleibt stehen, als Anne innehält.
»Jetzt bist du im Herzen Friedrichhains«, sagt sie. »Darf ich vorstellen?« Anne deutet auf die Altbauten und die vielen Cafés, die den Platz umsäumen. »Der Boxhagener Platz und ich heißen dich in deinem neuen Leben willkommen. Lass uns was trinken gehen.«
»Wir gehen aber rein, oder?«, fragt Lotte vorsichtig. Sie weiß nicht wirklich, wie sie sich in dem enganliegenden Anne-Style-Kleid in Szene setzen soll und hofft auf weniger Publikum in der Kneipe. Außerdem findet Lotte Heizpilze genauso albern wie Cocktails mit zweifelhaften Namen wie Sex on the Beach.
»Klar, ich will dir doch Sanne vorstellen. Es wird Zeit, dass ihr euch mal kennenlernt.«
»Wer ist Sanne? Den Namen habe ich noch nie gehört.«
Und noch ehe Lotte den Satz vollendet hat, ahnt sie schon, weswegen. So fängt es immer an. Ganz harmlos. Beinahe nebenbei.
»Sag mal, diese Sanne, die ist nicht etwa deine neue Flamme?«
»Noch nicht.« Anne strahlt.
Dieses Strahlen kennt Lotte. Sie hat es schon häufig gesehen.
»Ich will dir ja nicht den Abend verderben, aber ich werde mir diese Sanne ganz genau ansehen. Die muss jetzt erst mal den Beste-Freundinnen-Check über sich ergehen lassen. Du glaubst doch nicht, dass es uns hilft, wenn wir später beide von Liebeskummer zerfressen in unserer Wohnung sitzen und uns von Rotwein ernähren. Das gilt es ohne Rücksicht auf Verluste zu verhindern.«
Anne strahlt weiter. »Du wirst schon sehen. Sanne ist einfach umwerfend.«
Die Bar ist ganz anders, als Lotte erwartet hat. Vom Hamburger Theken-Schick ist hier nichts zu spüren. So einen Laden hätte Johannes unter keinen Umständen betreten. Das ist eindeutig ein Punkt auf der Plus-Liste. Auch die bunt zusammengewürfelte Bestuhlung, das abgewetzte grüne Cordsofa und die gemütlichen Sessel gefallen ihr. Hier darfst du loslassen, scheinen sie zu sagen. Lotte lässt sich seitlich in den nächstbesten Sessel fallen und schlägt die Beine über der Lehne übereinander. Anne lehnt an der zerkratzten Theke und unterhält sich mit einer üppigen, großgewachsenen Frau, die hinter der Bar steht. Sie hat rotbraune Locken und einen vollen Mund. Die theatralische Art, wie sich Anne eine neue Zigarette anzündet, macht Lotte klar, dass es sich bei der Frau um die mysteriöse Sanne handeln muss. Versunken beobachtet sie die beiden und wippt mit den Füßen in Annes Schuhen. Anne wickelt nervös eine Haarsträhne um ihre Finger, lächelt und überlässt ansonsten der anderen das Reden. Sie macht auf mysteriös und geheimnisvoll, während die Rotgelockte Annes Hand streift und die anderen Kunden warten lässt. Warum ist am Anfang eigentlich immer alles so klar? Und warum gerät es zwangsläufig irgendwann aus den Fugen?, fragt sich Lotte.
»Entschuldige.«
Lotte blickt auf. Vor ihr steht ein Mann um die dreißig. In seinen schmalen Händen hält er ein Buch.
»Du sitzt in meinem Sessel.«
Diese haselnussbraunen Augen zu dem langen lockigen Haar. Lotte findet ihn unglaublich sexy. Und seine Stimme klingt warm und rauchig.
»Oh, entschuldige, ich war gerade irgendwo anders. Sorry. Was hast du gesagt?«
Auf Lottes Lippen zeichnet sich ein zartes Lächeln ab, das nicht nur vom Rotwein kommt.
Jetzt lächelt er auch. »Gute Taktik. Muss ich mir merken. Ist ja beinahe charmant.«
Welche Taktik?, fragt sich Lotte. Sie versteht nicht, wovon der Fremde spricht. Deshalb lächelt sie vorsichtshalber weiter. »Das ist ein guter Platz, um die potentielle neue Freundin meiner Freundin zu beobachten.«
»Oh«, sagt er und setzt sich dann einfach auf den freien Sessel neben Lotte.
»Kein Grund zur Eifersucht. Es ist durchaus möglich, zwei Menschen zu lieben, glaub mir. Oder noch mehr. Ich heiße übrigens Tristan.«
Als Lotte ihn nur ungläubig anstarrt, setzt er nach: »Ich weiß, Tristan und Isolde und der ganze Quatsch, der sich bei meinem Namen immer sofort aufdrängt. Aber ich mag ihn trotzdem. Hier in Berlin fällt er gar nicht besonders aus der Reihe.«
»Ähm«, macht Lotte und setzt dann nach. »Ich bin nicht mit Anne zusammen, ich bin nur mit ihr befreundet. Sehr gut sogar. Also ist das mit Sanne gar kein Problem für mich. Nicht aus der Perspektive, jedenfalls.«
»Ach so.« Tristan schmunzelt und steckt sich eine Zigarette an.
Als Lotte eine Weile schweigt, fragt er: »Aus welcher Perspektive denn dann?«
Lotte streicht sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und zupft sich den Träger des Charlestonkleids zurecht, der ihr unter ihrer Jacke von der Schulter zu rutschen droht.
»Es reicht, wenn eine von uns Liebeskummer schiebt. Außerdem brauche ich jetzt Annes ganze Aufmerksamkeit.«
»Ach so.« Der Beinahfremde lächelt schon wieder so breit.
»So mein ich das ja gar nicht, ich will ja nur ihr Bestes.«
»Genau: Ihre Zeit, ihre Zuwendung, ihre Aufmerksamkeit. Verstehe schon.«
Es ist nicht einfach, sich mit einem Mann zu unterhalten. In den vier Wochen seit ihrer Trennung ist Lotte das bewusst geworden. Männer verstehen das, was sie faktisch hören, Frauen versuchen zu erkunden, was wohl gemeint sein könnte.
»Du lenkst mich ab«, sagt Lotte. »So bekomme ich gar nicht mit, was da vor sich geht.«
»Sie küssen sich gerade.«
»Ja ja, schon klar.«
»Schau doch einfach mal hin.«
Lotte folgt Tristans Rat, sie sieht zum Tresen, einmal und dann noch ein zweites Mal. Tristan hat recht. Anne hat sich weit über den Tresen gebeugt, um sich Sanne darzubieten.
»Ein schönes Bild«, sagt Tristan. »Dafür warte ich gerne länger auf mein Bier.«
Bier ist das Stichwort für Lotte. Sie steht auf und geht geradewegs auf den Tresen zu.
»Entschuldige, könnte ich bitte ein Bier haben?«, stört sie das erotische Tête-à-tête. Sanne löst sich ganz langsam von Annes Lippen und schnurrt kehlig: »Sicher doch, ein Bier.« Dabei sieht sie Anne unverwandt an. Doch Annes fragender Blick durchbohrt Lotte. Er könnte alles bedeuten. Gefällt sie dir? Warum störst du uns dann? Ich weiß ja, die Sache mit Johannes ist wirklich mies gelaufen, aber heißt das etwa, dass ich mich nicht verlieben dürfte? Sanne ist einfach umwerfend, findest du nicht?
Lotte murmelt etwas wie »Hattest recht, sie ist umwerfend« und Anne gibt sich sofort versöhnlich. Dabei legt sie verschwörerisch zwinkernd einen Finger auf die Lippen.
»Für mich auch ein Bier.« Tristan steht unvermittelt neben Lotte. Anne zwinkert ihr zu. Also hat sie ihn längst bemerkt und als Top-Kandidaten für ihre Freundin vermerkt. Jetzt gibt sie Lotte heimliche Zeichen, die so heimlich nicht sein können, weil Tristan sie registriert und verblüfft versucht, sie einzuordnen.
»Was treibt ihr da?«, fragt er.
»Geheimste Geheimsprache«, antwortet Anne und Lotte sagt artig: »Tristan, das ist Anne, Anne, das ist Tristan.«
»Hocherfreut«, grinst sie schelmisch und zieht einen imaginären Hut.
Zwei Bier landen mit Schwung auf dem Tresen und schwappen über. »Lotte, Tristan, das ist Sanne«, ahmt Anne Lotte nach. »Sanne«, sie schenkt ihr ein verführerisches Lächeln, »das ist Lotte, von der ich dir so viel erzählt habe, und der Typ ist ihre neue Flamme, Triton oder so.«
»Ist er nicht …«, setzt Lotte an und fügt hinzu: »Er heißt nicht …«, aber das interessiert die beiden schon nicht mehr, denn Anne hat sich längst hinter den Tresen geschlichen und knutscht wild mit Sanne.
»Cooler Job«, kommentiert Tristan und legt Geld für zwei Bier auf die Bar. »Das Bier nehmen wir mit.« Mit einer Hand umfasst er versuchsweise Lottes Hüfte. »Komm, ich zeig dir was. Die beiden sind ja beschäftigt.«
Lotte wundert sich über sich selbst, als sie Tristan nach draußen folgt. Sie gehen dicht nebeneinander, keiner sagt etwas. Die Luft ist beinahe mild. Lotte meint, ersten Blütenduft wahrzunehmen. Aber vielleicht bildet sie sich das auch nur ein. Es ist ja noch nicht einmal April. Sie gehen über eine Brücke, eine metallene Figur ragt aus der Spree, ein blau erleuchteter Kubus spendet Licht. Partyvolk zieht an ihnen vorbei, zwei Männer streiten sich lautstark, in der Ferne wummert House-Musik.