A Shadow's Soul - Vanessa Merten - E-Book

A Shadow's Soul E-Book

Vanessa Merten

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Beschreibung

Wenn der Preis für ein langes Leben deine Seele wäre, würdest du sie den Wölfen zum Fraß vorwerfen? Jillian lebt ein vollkommen normales Leben in einer Zeit, die alles andere als normal ist. Schatten sind aus der Dunkelheit empor getreten und versprechen der Menschheit ihren Schutz und ihre Macht. Dafür verlangen sie nur eines: Ihre Seelen. Doch auch Jillian hat ein Geheimnis. Sie ist eine Schattenwölfin und damit der einzige weibliche Schatten, der je existiert hat. Deshalb versucht sie, vor ihrer Art verborgen zu bleiben. Als ihr ehemaliger Verlobter jedoch mit seinem Clan ihre Stadt besucht, droht er alles zu zerstören, was Jillian sich aufgebaut hat. Plötzlich muss sie sich entscheiden. Will sie weiter im Verborgenen leben oder die Menschen beschützen, die sie zu lieben gelernt hat…

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Seitenzahl: 436

Veröffentlichungsjahr: 2025

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A Shadow's Soul
Über die Autorin
Impressum
Prolog
I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
VII.
VIII.
IX.
Epilog
Die Eisermann Media GmbH

Vanessa Merten

A Shadow's Soul

Eisermann Verlag

Über die Autorin

Eines hat die 1991 geborene Schriftstellerin Vanessa Merten schon immer getan: Fantastisches geliebt, gelesen und geschrieben. Gemeinsam mit ihrer Familie lebt Vanessa im wunderschönen Hessen, ganz in der Nähe ihres Geburtsortes, und genießt es, in der Ruhe des Grünen neue Welten zu erschaffen.

Facebook: vanessa.merten.autorin

Instagram: vanessa.merten.autorin

TikTok: @vanessa.merten.autorin

Impressum

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.deabrufbar.

Print-ISBN: 978-3-96173-244-9

E-Book-ISBN: 978-3-96173-295-1

Copyright (2025) Eisermann Verlag

Lektorat: Jessica Strang

Umschlag- & Farbschnittgestaltung: Grit Richter, Eisermann Verlag

Bilder und Grafiken von www.shutterstock.com und creativemarket.com

Stockfoto-Nummer: 1518665594, 2312661925

Buchsatz: Grit Richter, Eisermann Verlag

Hergestellt in Deutschland (EU)

Eisermann Verlag

ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH

Alte Heerstraße 29 | 27330 Asendorf

Alle Personen und Namen innerhalb dieses Buches sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Prolog

Wärme. Geborgenheit. Liebe.

Von diesen Gefühlen spricht man, wenn man von seiner Kindheit erzählt. Von einer Mutter, die dich in den Arm nimmt und von einem Vater, der dich vor allem beschützt, was dir Leid zufügen will.

Ist es nicht so?

Man denkt an kleine Prinzen und Prinzessinnen, die auf Spielplätzen toben und deren größtes Problem es ist, den Eltern nicht beichten zu müssen, dass sie ihre neue Hose beschädigt haben. Kleine Kinder, die weinend am Boden sitzen, weil sie sich das Knie aufgeschrammt haben. Eine lächelnde Mutter, die es versorgt, und ein Vater, der seinem Kind erklärt, dass man auf sich Acht zu geben hat.

So ist die Welt, nicht wahr?

Liebende Familien. Generation für Generation. Das Kind sieht seinen Vater im hohen Alter in Würde sterben und will genauso ein Mensch sein, wie er es war. Sein eigen Fleisch und Blut so erziehen, wie er es tat.

So sollte die Welt sein. Doch das ist sie nicht! Schon lange nicht mehr.

Früher war Magie eine Legende aus alten Büchern, heute ist sie die grausame Realität. Keiner weiß mehr, wann der Tag war, an dem die Schatten die Dunkelheit verließen und die Menschen unterwarfen, doch es geschah. Niemand vermochte es, sie zu stoppen.

Schattenwesen.

Äußerlich glichen sie den Menschen, doch sie waren in der Lage, sich in Schatten zu verwandeln. Schatten, die in ihrer wahren Gestalt immer einem gewissen Tier ähnelten.

Es gab tausend verschiedene Rassen von ihnen, doch keine war so stark wie der Wolf. Erst war er ein Einzelgänger gewesen, aber im Laufe der Zeit bildete er Rudel. Dann einen Clan.

Und während die Schatten in der Finsternis lauerten, begannen die Menschen wieder damit, ihren Alltag zu leben. Schule.

Arbeit. Freizeit. Von außen sah alles so aus, wie es sein sollte. Aber wenn man genauer hinsah, waren die Spielplätze leer und die Blicke der Väter und die Sorgen der Mütter bestanden nicht mehr darin, dass ihr Kind sich beim Spielen verletzen könnte, sondern dass die Schatten es holten und dass es ihre Kinder zulassen würden. Schmerzhaft hatten die Menschen erfahren müssen, nach was es den Schatten begehrte.

Seelen. Ihren Seelen.

Sie ernährten sich davon und nahmen der Menschheit Stück für Stück das, was eigentlich gänzlich ihr gehören sollte. Die Schattenwesen erwählten sich die Menschen – ob Mann oder Frau – und wenn man ihnen gehörte, wich man ihnen nicht mehr von der Seite. Ein »Blasser«, wie man sie nannte, war seinem Schatten hörig. Man tat und gab alles, was man hatte, um ihm zu dienen, während er dem Menschen etwas gab, was eigentlich nicht zur menschlichen Natur gehörte: Macht.

Wenn man nun seine Kindheit beschrieb, dachte man nur noch an die Angst, seine Liebsten zu verlieren, die Furcht, selbst verdammt zu werden, und die Dunkelheit, die von den Seelen Besitz ergreifen konnte.

Das war die Zeit, in der ich lebte.

***

Freudig wippte ich von einem Fuß auf den anderen. Heute war mein Tag, mein großer Tag. Schon so viele Wochen hatte ich ihn herbeigesehnt und nun stand ich hier vor dem Spiegel und trug endlich das wunderschöne Kleid, das Mutter mir versprochen hatte.

Mein dreizehnter Geburtstag und mein erster, großer Ball, an dem ich offiziell teilnehmen durfte. Sonst hatte ich so oft die Frauen in ihren riesigen Kleidern aus den Verstecken beobachtet, die mein Bruder mir gezeigt hatte. Die Burg war gemacht dafür, in den hintersten Ecken zu verschwinden und von niemandem gefunden zu werden. Doch natürlich wusste ich, dass sich das nicht schickte und natürlich hatte ich meinem Bruder versprochen, die Geheimgänge nur im Notfall zu benutzen. Aber was war wohl ein größerer Notfall, als sich auf den Tag vorzubereiten, der heute gekommen war. Grinsend drehte ich mich im Kreis und ließ den Rock meines Kleides durch die Luft fliegen. »Du bist wunderschön.« Mit einem seligen Lächeln stand meine Mutter in der Tür und sah zu mir. Ihre langen, braunen Haare lagen in leichten Locken über ihren Schultern bis zu ihren Brüsten, die in einem dunkelroten Dekolletee verschnürt worden waren.

Das Kleid, das meine Mutter trug, war gänzlich in dieser Farbe, bis auf ein paar silberne Applikationen, die die gesamte Robe ebenso elegant wirken ließen wie die kurze Schleppe, die sie auf dem Weg zu mir hinter sich her zog. Meine Mutter war eine unglaublich edle Frau, die immer genau wusste, was sie tat. Genauso war es auch bei der Auswahl meines Kleides gewesen. Das dunkle Blau passte perfekt zu meinen dunkelblonden Haaren und meiner blassen Haut. Es lag bis zur Hüfte eng an meinem schmalen Körper an, sodass ich mir sofort ein paar Brüste gewünscht hätte, wie meine Mutter sie hatte. Aber dafür war ich noch zu jung und das wusste ich auch.

Außerdem lenkten die kleinen Diamanten an meiner Hüfte sowieso von meinem fehlenden Dekolletee ab.

Sie trennten das Oberteil von dem weiten Rock, den ich mir gewünscht hatte. Obwohl ich sagen musste, dass ich mir den Unterrock bequemer vorgestellt hatte. Ebenso wie die Schuhe mit diesem lächerlichen Absatz.

Freudig streckte meine Mutter mir ihre Hände entgegen, die ich lachend in meine nahm.

»Alles Gute zum Geburtstag«, hauchte sie mir zu, ehe sie mich an einer Hand packte und mich im Kreis drehte. Und gerade als ich dachte, sie würde mich wieder anhalten, drehte meine Mutter mich nur noch schneller. Glücklich versuchte ich, mich aus ihrem Griff zu befreien, doch sie ließ mich nicht. Stattdessen wirbelte sie mich immer schneller und schneller herum, bis ich das Gleichgewicht verlor und nach hinten stürzte. Bevor ich jedoch auf dem Boden aufschlagen konnte, wurde ich plötzlich von zwei starken Armen aufgefangen und wieder auf die Beine gestellt. Grinsend trat ich einen Schritt nach vorne, ehe ich mich umdrehte und mich synchron zu meiner Mutter leicht verneigte. Mein Bruder sah gut aus. Seine langen, blonden Haare hatte er zu einem Zopf nach hinten binden lassen, sodass sein Gesicht noch markanter wirkte. Hohe Wangenknochen und der dunkle Bart sowie seine breiten Augenbrauen ließen ihn härter erscheinen, als ich ihn eigentlich kannte. Seine silbernen, unergründlichen Augen musterten mein Kleid, während auf seinen Lippen ein leichtes Lächeln lag.

»Du siehst aus wie eine Prinzessin, Jillian.« Mein Grinsen wurde breiter.

»Weil ich eine bin«, erwiderte ich sofort. Lächelnd ging Chris vor mir in die Knie und hielt mir seine Hand entgegen. Darauf lag ein kleiner, schwarzer Samtbeutel, der meine Aufregung sofort wieder steigerte.

»Das bist du, kleine Schwester. Die Prinzessin des stärksten Schattenclans des Landes und damit du das nicht vergisst…« Er nickte mir zu, woraufhin ich ihm den Samtbeutel sofort aus der Hand riss. Aufgeregt öffnete ich ihn und zog ein kleines Armband darauf empor.

»Es ist aus purem Silber.« Mein Bruder nahm mir das Schmuckstück ab, ich schob den Ärmel meines Kleides ein Stück nach oben und hielt ihm mein nacktes Handgelenk hin. Beinahe andächtig legte er mir das Armband an. Es war eine feine, silberne Kette, in die einige glänzende Diamanten gearbeitet worden waren, die im Sonnenlicht silbrig schimmerten.

»Danke«, hauchte ich, ehe ich mich überschwänglich auf meinen überraschten Bruder warf. Sofort darauf bereute ich meinen Emotionsausbruch, rutschte von ihm herunter und erhob mich.

»Entschuldige«, flüsterte ich leise, während mein Bruder sich mit einem mahnenden Blick erhob. Er war der Anführer, der König, unseres Clans und egal wie sehr er mich liebte – und das tat er, das wusste ich – er erwartete Respekt von jedem. Auch von mir.

»Du musst heute Abend Ruhe und vor allem Haltung bewahren, Jillian. Du weißt, dass das hier heute kein normaler Ball sein wird.« Ich nickte und bemerkte gleichzeitig, wie meine Mutter neben mir zu einer Bemerkung ansetzte. Ein einfacher Blick meines Bruders brachte sie zum Schweigen.

»Es sind bedeutende Anhänger anderer Clans da, weil es wichtige Dinge zu regeln gibt. Dein Geburtstag ist ein besonderer Anlass, meine liebste, kleine Schwester, aber er ist nicht der Grund für dieses Fest.« Wieder nickte ich, während ich versuchte, mein Lächeln nicht zu verlieren. Bestimmt lag ein besonderer Sinn in seinen Worten, den ich einfach noch nicht verstand, aber ich würde mich heute Abend auf jeden Fall vorbildlich benehmen und meine Familie und meinen Bruder stolz machen.

I.

»Jill! Verdammt, Jill! Steh auf! Es beginnt!« Mit einem lauten Murren drehte ich mich zur Seite und zog meine Bettdecke über meinen Kopf, um vielleicht doch noch einen Moment der Ruhe genießen zu können. Nach diesem Traum, der mich seit Jahren verfolgte, brauchte ich eindeutig noch etwas Zeit, ehe ich richtig wach werden konnte. Aber wenn es einen menschlichen Wirbelsturm gab, der immer bekam, was er wollte, dann war es Mia.

Die Brünette mit den wallenden Locken, den kastanienbraunen Augen und den viel zu langen Beinen riss einfach mit aller Kraft an meiner Decke und hätte ich nicht damit gerechnet, hätte mich die junge Frau mit Sicherheit aus dem Bett geworfen.

»Jill, wir müssen los!« Ohne weitere Erklärungen landete etwas Weiches auf mir. Stöhnend öffnete ich die Augen und erkannte das beige Kleid, das Mia gestern noch bei ihrem Bühnenauftritt getragen hatte. Mia war junge sechsundzwanzig, Studentin und Leadsängerin in ihrer Jazzband. Ein Traum von Frau und die beste Freundin, die ich jemals gehabt hatte.

»Jill!« Ohne einen weiteren Ton von mir zu geben, schritt ich an meiner besten Freundin vorbei und schloss die Badezimmertür hinter mir. Ja, ein Morgenmuffel war ich wohl schon immer gewesen und gerade an einem Tag wie heute, hasste ich es mehr als alles andere, aufstehen zu müssen. Murrend warf ich das Kleid meiner Freundin beiseite, zog mir schnell meine schwarze Jeans und meine rot karierte Bluse an und besah mich im Spiegel. Meine langen, dunkelblonden, fast braunen Haare lagen wirr um meinen Kopf, während meine dunkelgrünen Augen mit leichten Augenringen gesegnet waren. Schlaftrunken kämmte ich meine Mähne und bändigte sie schlussendlich zu einem Pferdeschwanz, von dem ich nur eine Strähne löste, die mir frei ins Gesicht fiel.

»Das ist doch nicht dein Ernst?!« Mia deutete wütend auf mein Outfit, als ich das Bad wieder verließ. Sie hatte sich in ihr enges, graues Kleid gehüllt, das kürzer nicht hätte sein können, und dazu Schuhe, bei deren Anblick allein mir schon die Gelenke schmerzten. Ein weiteres Mal stellte ich fest, dass diese junge Frau eindeutig ein paar weibliche Gene zu viel besaß, die bei mir eindeutig vergessen worden waren. Oder aber sie waren mir im Laufe der Jahrhunderte einfach zu unwichtig geworden.

»Aber heute ist ein Feiertag, Jill«, trällerte Mia aufgeregt, während sie sich bei mir unterzuhaken versuchte. So schnell ich konnte, wich ich ihr aus. Die Stimmungsschwankungen der jungen Frau waren unglaublich.

»Mir ist nicht nach feiern.« Mit diesen Worten schnappte ich mir meine Umhängetasche und verließ gemeinsam mit Mia unsere kleine Zweizimmerwohnung. Meine beste Freundin und ich lebten in einem Mehrfamilienhaus, das zwar erst vor einigen Jahren neu gebaut, aber schon so oft mit Graffitis und besoffenen Jugendlichen in Berührung gekommen war, dass es eher an ein altes Gefängnis erinnerte statt an einen modernen Neubau. Die eintönigen, grauen Fassaden waren nie farblich verputzt und der Außenbereich vor dem U-förmigen Gebäude nie so angelegt worden, wie der Vermieter es sich anfangs sicherlich vorgestellt hatte. Drei schmale Bäume zierten den Vorgarten und auch wenn die Erde damals für den Rasen umgegraben worden war, hatte ihn niemals jemand gepflanzt. Die Luft in dieser Gegend war miefig und die Menschen meist mies gelaunt, aber das war wohl auch alles ein Grund dafür, warum Mia und ich uns diese Wohnung leisten konnten.

Das hier war der Bezirk der Stadt, in dem man für gewöhnlich die Kinder nicht gerne allein auf die Straße schickte. Heute allerdings war kein gewöhnlicher Tag in dieser Stadt. Normalerweise war es hier trist und die Menschen hielten sich lieber in geschlossenen Räumen auf als auf offener Straße. Fall nicht auf! Das war in diesen Zeiten die erste Lektion, die die Kinder von ihren Eltern beigebracht bekamen. Fall nicht auf und wenn du es doch tust, dann verschwinde sofort! Deshalb sah man auch keine Kinder mehr auf dem Spielplatz und keine Jugendlichen beim Bolzen. Sie waren alle irgendwo, wo sie niemandem ins Auge fallen konnten, der ihnen schaden würde.

Heute jedoch war alles anders. Die Zäune, Straßenlaternen und sogar die tristen Vorgärten waren bunt geschmückt worden und die Menschen fein säuberlich angezogen.

»Wird das jetzt wirklich einen Monat so gehen?«, stöhnte ich genervt, während wir in eine Gasse abbogen, die uns direkt zum Marktplatz führen würde. Mia grinste. Sie genoss diese Zeit und das vor allem aus dem Grund, dass übermorgen ihr siebenundzwanzigster Geburtstag sein würde.

»Dieses Jahr wird mein Jahr«, kreischte sie, während sie sich an meinen Arm klammerte. Seufzend blickte ich in den Himmel hinauf und überlegte mir meine nächsten Worte gut, denn ich wusste, wie heikel dieses Thema bei meiner besten Freundin war. Doch egal wie ich dieses Gespräch in meinem Kopf auch begann, es änderte nichts an seinem Ausgang.

»Ich verstehe dich nicht. Wie kannst du das nur wollen?«, entgegnete ich schließlich.

»Jeder will das doch.« Mit verschränkten Armen stellte sich meine beste Freundin vor mich. »Sie geben dir Stärke, Sicherheit,... Liebe.« Ich musste ein Lachen unterdrücken. Mia war so naiv wie viele Frauen ihres Alters. Mit siebenundzwanzig konnte man sich endlich den Schatten anschließen und das bedeutete, eine »Blasse« zu werden. Man übergab dem Schatten, der einen erwählte, Stück für Stück seine Seele und im Gegensatz dazu wurde man stärker und schneller, als es einem Menschen jemals möglich sein sollte, und man stand unter dem Schutz dieses Schattens. Viele junge Mädchen träumten davon, eine »Blasse« zu werden, denn seitdem all die dunklen Wesen aus ihren Löchern gekrochen waren, war man nirgends mehr sicher. Egal ob vor Mensch oder Schatten. Unzählige nutzen die Dunkelheit aus, um Verbrechen zu begehen, die niemand verfolgen konnte und würde. Wer sollte schon feststellen, ob die Schatten sich eine junge Frau genommen hatten oder irgendein normaler Mensch seinen Blutdurst an ihr gestillt hatte?

»Ich höre schon die Musik. Was meinst du, wer dieses Jahr kommen wird?« Emotionslos zuckte ich mit den Schultern. Mir war es egal. Jedes Jahr die gleiche Leier. Irgendein Schattenclan kam in die Stadt, um seine Macht zu demonstrieren und sich neue »Blasse« zu suchen, die sie für ihre Zwecke nutzen konnten. Es gab viele von ihnen. Die Tiger, Löwen, Füchse oder Dingos. Ganz egal, welcher Clan in unsere Stadt kam, die Menschen mussten ihnen zeigen, wie sehr sie sie verehrten. In diesen Momenten war ich froh, dass ich erst fünfundzwanzig war. Und das auch für immer bleiben würde.

»Jill, es ist fast sieben Uhr. Wir müssen uns beeilen!« Rasend schnell packte Mia mich am Handgelenk und zog mich mit sich. Als der Marktplatz in Sichtweite kam, wusste ich schon, warum ich am liebsten nicht hierhergekommen wäre. Hunderte von Menschen hatten sich hier versammelt und warteten darauf, dass die Uhr sieben schlug. Dann würden die Schatten auftauchen, sich feiern lassen und einen Monat im großen Herrenhaus der Stadt verweilen. Das war wohl die schlimmste Zeit des Jahres. Die jungen Frauen hatten die Möglichkeit, sich zu präsentieren. Natürlich taten das auch einige junge Männer, aber ihre Anzahl war im Gegensatz zu den Frauen eher gering. Sie begannen auf der Straße zu tanzen, auf den vielen aufgebauten Bühnen zu singen oder halb nackt durch die Gassen zu stolzieren, nur um aufzufallen. Die weisen Worte ihrer Eltern waren vergessen. In ihrer Gier nach Macht waren eben alle Menschen gleich. Ignorant und rücksichtslos.

»Sie kommen«, hörte ich ein Flüstern neben mir, als es auch schon geschah. Der Himmel verdunkelte sich, während dunkelsilberner Dunst aus dem Wald in die Stadt hinein waberte. Erst weniger und dann immer mehr, sodass nicht einmal mehr ein Stück des Sonnenuntergangs zu sehen war, der eben noch den Himmel in alle Farben getaucht hatte. Alles wurde dunkel und kalt. So kalt, dass selbst unser Atem in der Luft sichtbar wurde. Es war das Gefühl von Winter, das durch alle unsere Poren zog und eine starke Gänsehaut hinterließ. Zitternd rieb ich mir die Arme, als ich auch schon hörte, wie Mia neben mir der Atem stockte. »Wölfe«, murmelte sie.

Das war der Moment, in dem ich hätte wegrennen sollen.

Der Nebel wurde langsam klarer und aus den Wogen formten sich Gestalten. Sie wurden zu rennenden Wölfen, deren silberne, fast weiße Augen aus dem dunklen Nebel hervorstachen und die Magie verrieten, die in ihnen wohnte.

»Wölfe«, flüsterte ich leise, als sich auch schon das erste dieser Wesen in den Mann verwandelte, der es eigentlich war. Die Menge begann zu toben.

»Schade, dass Frauen es nicht haben können, oder?« Verwirrt blickte ich Mia an. »Das Gen. Schade, dass es nur männliche und keine weiblichen Schatten geben kann und dass sie nur geboren werden. Wir werden nie so sein wie sie.«

»Zum Glück«, zischte ich, »Ich will so etwas nicht sein. Menschliche Seelen verspeisen und sein «Futter« damit bei Laune halten, dass man es vor den kleinen Raubtieren beschützt. Denen, die nur fressen, und sich keinem Clan anschließen wollen.«

»Sie sind für uns da«, fuhr meine beste Freundin mich an.

»Ohne sie würden unsere Seelen allen Schatten zum Fraß

vorgeworfen werden. Sie geben uns eine Wahl!«

»Eine Wahl? Dass ich nicht lache. Die Wahl zwischen seine Seele freiwillig hergeben oder sie weggenommen zu bekommen, ist nur ein schlechter Kompromiss, mehr nicht. Tot ist tot.« Bevor Mia mir etwas erwidern konnte, drehte sich eine ältere Frau zu uns um und strafte uns mit einem wütenden Blick. Mit einem verächtlichen Schnauben drehte meine beste Freundin sich von mir weg und begann zu klatschen. Immer mehr und mehr Wölfe tauchten aus dem Nebel auf und begannen damit, durch den Gang zu schreiten, den die Menschen ihnen gebildet hatten.

Sie waren wie Herrscher. Wie Könige.

Wie Götter.

An ihrer Spitze lief ihr Anführer. Ein muskulöser, junger Mann Ende zwanzig, dessen kurze schwarze Haare einen perfekten Kontrast zu seinen strahlend silbernen Augen bildeten. Eine kleine Narbe war an seiner Wange zu erkennen, die allen zeigte, dass ein Schatten zu sein nicht bedeutete, keinen Schmerz mehr ertragen zu müssen. Sie gab allen den Glauben daran, dass auch die Schatten menschlich sein konnten. Welch ein Irrtum.

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, drehte ich mich einfach um und ging davon. Dass die Menschen wirklich so dumm waren, all den leeren Versprechungen der Schatten Glauben zu schenken, machte mich jedes Mal aufs Neue wieder so wahnsinnig wütend. Ebenso wie der Gedanke daran, niemanden von ihnen zur Vernunft bringen zu können. Egal wie nah ich demjenigen auch stehen mochte.

»Sie wird es versuchen, oder?« Matt erschreckte mich nicht, denn aus den Augenwinkeln heraus hatte ich ihn schon vorher in der Gasse stehen sehen. Sein Blick hing wie immer an Mia.

»Wir wussten doch, dass sie es versuchen würde, sobald sie siebenundzwanzig ist. Ich hab‘s probiert, aber ich kann sie nicht davon abbringen«, erklärte ich dem Verehrer meiner besten Freundin seufzend. Matt war der Bassist in Mias Band und unübersehbar in sie verliebt. Die Einzige, die es nicht zu bemerken schien, war Mia selbst. Obwohl ich der Meinung war, dass sie es einfach nicht wissen wollte. Der braunhaarige Wuschelkopf mit den meerblauen Augen war schon seit dem Kindergarten mit Mia befreundet und mit ihr durch dick und dünn gegangen. Zumindest wurde es mir so erzählt. Ich selbst kannte die beiden erst, seit ich vor drei Jahren in diese Stadt gezogen war und seitdem mit Mia zusammen in einer Wohngemeinschaft lebte.

»Auf mich hört sie auch nicht.« Ohne den Blick von seiner besten Freundin abzuwenden, fuhr Matt sich mit der Hand durch seine dichten Locken. »Ich weiß nicht, was an den Schatten so besonders ist, dass jedes Mädchen ihnen verfällt. Vielleicht sind sie alle verzaubert.« Ein Grinsen schlich sich auf mein Gesicht.

»Das ist Schwachsinn, das weißt du. Wenn diese Wesen dazu in der Lage wären, wäre dieser ganze Monat hier überhaupt nicht nötig und sie würden sich einfach nehmen, was sie wollen.«

»Vielleicht turnt sie das an«, knurrte Matt wütend, während er seine Hände zu Fäusten ballte. Schulterzuckend seufzte ich auf.

»Es ist doch egal, wie es schlussendlich ist. Wir können doch sowieso nichts dagegen tun.«

»Das sehen die Dali mit Sicherheit anders.« Ich musste mich bemühen, um nicht verächtlich aufzuschnauben. Dali... Die Absichten dieser Gruppe von Rebellen waren ehrenhaft und mit Sicherheit auch vollkommen richtig, doch so schrecklich es auch war, sie hatten einfach keine Chance. Auch wenn die meisten Schatten sich vordergründig daran hielten, nur die zu töten, die sich ihnen freiwillig hingaben, wusste jeder, dass Menschen, die gegen sie aufbegehrten, weder Nachsicht noch Gnade erwarten konnten. Das hatten die Menschen anfangs schmerzlich lernen müssen, auch wenn sie es mittlerweile scheinbar wieder vergessen haben.

»Halt dich von den Dali fern«, riet ich Matt nachdenklich, »Du weißt, dass ihre Gruppe verfolgt wird.«

»Für Mia würde ich alles riskieren.« Ehe ich den jungen Mann vor mir so anschreien konnte, wie ich es am liebsten gewollt hätte, ertönte die Sirene. Das bedeutete, dass alle Schatten die Stadt betreten hatten und der Bürgermeister seine Rede halten würde. Stille trat ein, die kaum ein paar Sekunden später von der nervigen, hohen Stimme des Mannes durchbrochen wurde, der bereits seit zwei Jahren diese Stadt in den Untergang führte.

»Meine lieben Wähler und Wählerinnen, nachdem uns letztes Jahr die Luchse besucht haben, fühlen wir uns natürlich besonders geehrt, die Obersten der Schattenwesen, die Wölfe, bei uns begrüßen zu dürfen. In diesem Monat habt ihr alle die Möglichkeit euch zu beweisen und euch den Schatten anzubieten. Aber noch einmal will ich euch in aller Demut raten, Ihnen mit Respekt gegenüberzutreten. Niemand ist perfekt und wir wollen doch nicht ...« Weiter hörte ich dem dicken, alten Mann mit der viel zu kleinen Brille auf der Knollnase nicht zu. Niemand ist perfekt?

Leute verschwanden einfach, wenn die Schatten in der Stadt waren. Der Bürgermeister schien auf seine Art vor der Gefahr warnen zu wollen, die von den Schatten ausging, aber er wusste genauso gut, wie ich, dass es nichts gab, was irgendjemanden hier retten konnte.

»Dämlicher Fettsack«, hörte ich Matt hinter mir murren. Mit dieser Einstellung würde sich dieser Junge noch mächtigen Ärger einhandeln.

»Der macht auch nur seinen Job. Er ist doch im Grunde völlig machtlos.«

»Und genau, weil jeder hier so denkt, steckt die Welt in diesem Schlamassel!« Wütend schlug der junge Mann mir gegenüber mit der Faust gegen die Hauswand, ehe er sich umdrehte und in der Gasse verschwand. Einen Moment sah ich ihm einfach nur nach. Normalerweise war Matt ein unglaublich ruhiger und gelassener, junger Mann, mit dem man stundenlang nachts am Lagerfeuer sitzen und reden konnte. Manchmal wünschte ich ihn mir sogar als Ruhepol an Mias Seite, obwohl ich wusste, dass es wahrscheinlich niemals so sein würde. Matt war viel zu schüchtern, um seiner besten Freundin seine tiefen Gefühle zu gestehen, und Mia war viel zu sehr mit ihrem Traum, als Blasse zu leben, beschäftigt, um den jungen Mann auch nur als eben solchen wahrzunehmen. Und so folgte ich Matt in die Tiefen der Gasse hinein, weg vom Marktplatz und den jubelnden Menschen. Was sollte ich auch noch hier? Der Bürgermeister würde weiter reden, bis der letzte der Schatten in dem alten Herrenhaus verschwunden war, und dann würde in den nächsten vier Wochen Ausnahmezustand herrschen. Und ich würde so lange im Hintergrund bleiben, bis das ganze Theater vorbei war und wieder Normalität herrschte.

Doch dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen, stellte sich als schwieriger heraus, als ich es erwartet hatte, und meine beste Freundin hartnäckiger, als ich es ertrug. Vielleicht hätte ich in diesen Tagen mein Handy regelmäßig zu Hause vergessen sollen, um den Anrufen meiner besten Freundin zu entgehen, doch wahrscheinlich hätte sie dann einfach noch öfter in meinem Büro gestanden, um mir von den wichtigen Dingen in ihrem Leben zu berichten.

»Nein Mia, ich bringe dir sicherlich kein Sandwich an die Uni. Es gibt so etwas wie eine Cafeteria, falls du das vergessen hast. Und ja, ich weiß, dass die da alle zu viel Remoulade drauf machen und dass du für deinen Auftritt gut aussehen musst, aber du weißt auch, dass ich das nicht unterstützen werde. Du hättest dir heute Morgen selbst noch etwas machen können. Wir sehen uns heute Abend.« Stöhnend stellte ich mein Handy auf stumm und ließ es in meine Jackentasche gleiten. Ich hatte gehofft, wenigstens an meiner Arbeit etwas Abstand von diesem ganzen Trubel zu bekommen, aber da hatte ich mich geirrt. Mia kannte in ihrem Wahn nach Anerkennung keine Grenzen, aber wenigstens bei meiner Arbeit wollte ich an etwas anderes denken als an Schatten. Nachdem ich in diese Stadt gekommen war, hatte ich eine Stelle in einer kleinen Firma erhalten. Dort konnte ich das einzige machen, worin ich wirklich Talent besaß. Zeichnen. Ich hatte nie wirklich das Verlangen danach gehabt zu studieren, so wie Mia es tat. Mir lag es mehr, Dinge selbst zu tun, als in Büchern über sie zu lesen. Und das Zeichnen ... Es ließ mich vergessen und gab mir das Gefühl, wenigstens etwas in meinem Leben kontrollieren zu können.

Seufzend nahm ich den Bleistift wieder in meine Hand und ließ ihn über das Blatt gleiten. Einer unserer Kunden hatte sich ein in schwarz-weiß gehaltenes Porträt seiner Familie gewünscht, das er seiner Frau zu ihrem fünfundzwanzigsten Hochzeitstag schenken wollte. Er hatte mir als Vorlage ein altes Foto gegeben, das ihn mit seiner Frau, seinen drei Kindern und dem schneeweißen Familienhund zeigte. Im Hintergrund befand sich ihr altes Fachwerkhaus. Sie waren eine kleine, glückliche Familie. Wie viel ich doch dafür gegeben hätte, wie sie zu sein. Mit diesem Gedanken setzte ich den Stift an die Nase des Hundes an, als plötzlich die Tür aufgerissen wurde und eine aufgebrachte Mia in mein Büro stürmte. Vor Schreck riss ich den Stift zur Seite und zog einen breiten Strich durch das Gesicht der jüngsten Tochter, die ihren Arm im Sitzen um den Hund gelegt hatte. Frustriert warf ich den Stift auf den Tisch und blickte zu Mia, die mir wütend entgegenfunkelte. Kurz warf ich einen Blick auf die Wanduhr. Meine Freundin war eindeutig ziemlich schnell hier gewesen, wenn sie eben wirklich von der Uni aus mit mir telefoniert hatte.

»Das ist ein neuer Rekord«, erklärte ich gelangweilt, während ich mir ein Radiergummi schnappte und das Bild zu retten versuchte. Das wiederum veranlasste Mia aber nur dazu, einen theatralischen Seufzer auszustoßen.

»Jill, irgendwie scheinst du den Ernst der Lage nicht zu verstehen.« Sie schlug mit der flachen Hand vor mir auf die Tischplatte. »Morgen ist mein Geburtstag und alles muss perfekt sein.«

»Ich weiß. Eine riesige Party, eine große Bühne und der Auftritt deines Lebens. Das habe ich nun schon gefühlte tausend Mal gehört. Ich muss jetzt arbeiten.« Vergeblich versuchte ich, mich wieder auf meine Arbeit zu konzentrieren, als Mia auch schon nach dem Foto schnappte und es vor sich hielt.

»Eine Bilderbuchfamilie«, interpretierte sie, ehe sie das Bild auch schon zu Boden warf, »Wie öde.« Genervt stand ich von meinem Platz auf, schnappte mir das Foto und legte es wieder auf meinen Schreibtisch. Kurz besah ich es mir noch, bevor ich Mia meine Aufmerksamkeit schenkte. Ich hatte schließlich keine andere Wahl, da sie mir sonst wohl mein ganzes Büro zerlegen würde.

»Also, was ist das heutige Problem?«, fragte ich so genervt wie möglich, aber Mia ignorierte meine Andeutung. Stattdessen hellte sich ihre Miene wieder auf.

»Wir müssen die Location noch schmücken, die Getränke werden angeliefert und dann muss ich mich noch um unsere Outfits kümmern.«

»Unsere Outfits?« Skeptisch zog ich meine Augenbrauen in die Höhe.

»Natürlich, meinst du etwa, dass ich dich so gehen lasse?« Fragend blickte ich an mir herunter. Ok, ich war nicht gerade schick, aber für eine normale Geburtstagsparty würden mein schwarzes Shirt und die dunkle Jeans schon reichen.

»Ein hübsches Kleid und schon werden die Männer nur noch Augen für dich haben.« Dazu sagte ich lieber nichts. Mia wusste, dass ich keinen Mann an meiner Seite wollte und meine Ungebundenheit liebte, aber trotzdem wollte sie mich am liebsten in den Armen des nächstbesten sehen. Ich war nun einmal nicht so ein Männermagnet wie meine Freundin und ich wollte auch keiner sein. Es hatte lange gedauert, Mia das auch nur annähernd begreiflich zu machen.

»Also, zieh dir deine Jacke an und los geht’s.« Ich fragte Mia erst gar nicht, warum das gerade jetzt sein musste und ob das nicht bis Feierabend warten konnte, sondern erklärte meinem Chef auf dem Weg nach draußen, dass ich von zu Hause aus weiter arbeitete, obwohl ich wusste, dass das wohl heute auch nichts mehr werden würde. Das war eine der guten Seiten an meiner Arbeit. Ich konnte sie mir einteilen, wie ich es wollte. Hauptsache ich konnte die Deadline einhalten.

Als wir draußen an die frische Luft traten, fiel mir sofort ein junges Pärchen auf. Sie stand ihm schüchtern lächelnd gegenüber, während er sanft ihr Kinn anhob und in ihre Augen sah. An seinen erkannte man sofort, dass er ein Schatten war. Die leuchtend silbernen Iriden, die auch in jeder Dunkelheit sehen konnten, ließen seinen Träger viel harmloser erscheinen, als er es in Wirklichkeit war. Aber sie machten zumindest jedem Menschen deutlich, wer ihm gegenüber stand.

»Ist das nicht süß?«, schwärmte Mia neben mir. Sofort drehte der Schatten uns seinen Kopf entgegen und lächelte süffisant, sodass ich meine beste Freundin schnell von ihm wegschob, die bereits damit begann, dem Fremden schöne Augen zu machen. Dass diese Wesen so gut hören konnten, hatte ich vollkommen vergessen. Ihre Sinne waren viel ausgeprägter als die der Menschen und auch das waren Eigenschaften, die diese Wesen so gefährlich machten.

»Was sollte denn das?«, knurrte Mia mich an, während sie sich aus meinem Griff befreite. Kurz dachte ich darüber nach, ihr wiederum zu erklären, wie gefährlich ihr Unterfangen war, doch ich wusste, dass das nichts bringen würde und so erwiderte ich das Erste, was mir sonst noch in den Sinn kam, um sie davon abzuhalten, zu dem fremden Schatten zurückzukehren.

»Wir haben doch nur noch wenig Zeit bis zur Party und du wolltest dich um dein Outfit kümmern. Schöne Augen kannst du den Schatten auch noch machen, wenn du deinen Auftritt hinter dir hast.« Ich hoffte, dass meine beste Freundin die Ironie in meiner Stimme erkennen würde, doch wenn es so war, ignorierte sie es gekonnt.

»Vielleicht wollte ich den von eben einladen.«

»Du hast doch deine ganzen Freunde und Studienkollegen gebeten, die Stadt mit Plakaten vollzuhängen. Ich glaube, dass jeder weiß, dass morgen deine Geburtstagsparty ist und sie nicht verpassen wird. Dein Bild sticht echt jedem ins Auge.« Stolz grinste Mia mich an. Genauso hatte sie es auch geplant und das wusste ich. Absolut jeder sollte zu dieser Party kommen, die sie in der alten Lagerhalle nahe der Stadtgrenze veranstalten würde. Sie hatte jedes bisschen Geld zusammengekratzt, das sie entbehren konnte, und monatelang nur Tütensuppe gegessen, um sich diesen Ort leisten zu können. Es war faszinierend gewesen mit anzusehen, welche Disziplin sie dabei an den Tag gelegt hatte. Als Mias Handy plötzlich klingelte und die Melodie eines berühmten Rocksongs wiedergab, wurde ich aus meinen Gedanken gerissen.

»Hey Matt«, meldete Mia sich sofort. Ich konnte mir das Grinsen des jungen Mannes bildlich vorstellen, das er immer hatte, wenn die Stimme seiner Bandkollegin ertönte.

»Die Jungs und ich haben eben die Getränke abgeholt und sind jetzt auf dem Weg zur Halle. Nina und Claudi sind schon da. Sie wollten sich um die Deko kümmern, weil du ihnen dafür versprochen hast, dass sie auch auftreten dürfen. Ich verstehe es zwar nicht, aber okay. Du siehst, wir haben alles im Griff. Du musst mir also nicht mehr unentwegt schreiben.« Mia quiekte laut auf und klatschte in die Hände wie ein Kleinkind.

»Danke, danke, danke.«

»Für dich tun wir doch alles, das weißt du doch. Du brauchst dich nur noch um dich selbst zu kümmern, Mia, den Rest machen wir«, erklärte Matt weiter. Fast hätte ich laut aufgelacht.

»Wie bitte?! Ich komme auf jeden Fall noch mal vorbei und begutachte, wie alles aussieht. Es muss perfekt sein, Matt. Perfekt.«

»Als ob ich das nicht geahnt hätte.« Matts Lachen ertönte.

»Aber lass uns etwas Zeit, ja? Schnapp dir Jill und macht, was Mädchen in eurem Alter so machen.« Mit diesen Worten legte der junge Mann auf, ehe Mia noch einmal protestieren konnte.

»Und was machen Mädchen in unserem Alter?«, fragte ich Mia lächelnd, obwohl ich die Antwort schon längst kannte. Verwundert blickte meine beste Freundin mich an.

»Echt erstaunlich, was für gute Ohren du hast, Jill. Das vergesse ich manchmal wirklich.« Verlegen kratzte ich mich am Kopf. Ich musste wirklich besser darauf achten, wie ich mich benahm.

»Ein gottgegebenes Talent, meine Liebe. Vielleicht hatte ich ja einen Luchs unter meinen Vorfahren«, scherzte ich.

»Das ist möglich.« Lachend hakte sich meine beste Freundin bei mir unter und deutete auf das große Mehrfamilienhaus, in dem sich unsere Wohnung befand. Je öfter ich es sah, desto schäbiger kam es mir vor. Aber wie sagte man immer? Das Innere zählt. Und in diesem Fall war das unsere Wohnung, die wir mit unseren Möglichkeiten schön zurecht gemacht hatten. Mit den Mitteln, die eine Zeichnerin und eine Studentin eben so hatten. Es war echt erstaunlich, was für schöne Sachen man so auf Trödelmärkten finden konnte.

Als wir die Stufen unseres Treppenhauses nach oben gingen, klingelte plötzlich mein Handy und als ich den Namen las, der mir darauf entgegenblinkte, erstarrte ich. Mia bemerkte es natürlich sofort.

»Alles in Ordnung?« Ich nickte, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen.

»Geh schon mal nach oben. Ich komme gleich nach.« Meine beste Freundin machte kurz Anstalten, etwas zu erwidern, doch dann beließ sie es dabei und öffnete die Tür zu unserer Wohnung, während ich wieder nach draußen ging.

»Was?«, fragte ich sofort, als ich den Anruf entgegennahm.

»Du bist mal wieder die Freundlichkeit in Person, Jillian.« Am anderen Ende der Leitung ertönte eine mir wohl bekannte männliche Stimme.

»Sei froh, dass ich überhaupt dran gehe. Ich habe dir gesagt, dass ihr mich in Ruhe lassen sollt, Natnael.«

»Und ich habe dir lange genug Zeit gegeben, dich zu finden. Es ist an der Zeit zurückzukehren.« Unwillkürlich begann ich zu knurren.

»Was gibt dir das Recht, diese Zeit zu bestimmen, Nate? Ich bin gegangen, weil es das einzig Richtige war und ich habe bestimmt nicht vor, die Vergangenheit zu wiederholen. Lass mich einfach ein für alle Mal in Ruhe!« Wütend schaltete ich mein Handy aus, ehe Natnael auch nur ein weiteres Wort verlieren konnte. Was sollte das? Nate wusste besser als jeder andere, was ich durchgemacht hatte und dass er das Letzte war, was ich wieder in meinem Leben gebrauchen konnte.

Frustriert steckte ich mein Handy wieder weg. Wieso konnte Nate die Vergangenheit nicht endlich ruhen lassen?

Um nicht weiter darüber nachdenken zu müssen, begab ich mich auf den Weg in die Wohnung. Wenn mich jetzt jemand ablenken konnte, dann war es Mia. Und als ob sie meine Gedanken gehört hätte, ertönte die schrille Stimme meiner besten Freundin schon, als ich die Tür gerade erst geöffnet hatte: »Das gibt es doch nicht! Ich habe einfach nichts zum Anziehen!« Mit voller Wucht landete ein lilanes Top in meinem Gesicht. Unachtsam warf ich es zu den zwanzig anderen, die schon neben mir lagen, ehe ich die Tür hinter mir ins Schloss fallen ließ. Wenn man unsere Wohnung betrat, stand man sofort im Wohnzimmer, in dem eine dunkelrote Couch und ein großer Tisch mit vier Stühlen ihren Platz gefunden hatten. In einer hohen Glasvitrine standen unzählige Bücher, die Mia angeblich für ihr Studium brauchte. Tatsächlich hatte ich sie jedoch noch nie an der Vitrine gesehen.

Gegenüber der Eingangstür ging es weiter in die kleine Küche, neben der sich auch Mias Zimmer befand. Früher hatten wir beide darin geschlafen, doch das nächtliche Schnarchen meiner besten Freundin hatte mich schon lange auf das Sofa verbannt. Neugierig schielte ich um die Ecke. Unsere Wohnung hatte noch ein zusätzliches Zimmer und auch wenn ich es gerne als mein persönliches Arbeitszimmer oder als Schlafraum genutzt hätte, war es Mias Ankleidezimmer geworden. Drei Schränke zierten diesen Raum, von denen einer erheblich kleiner war als die anderen zwei und eher an eine Kommode erinnerte. Darin befanden sich meine Klamotten. Die zwei größeren Schränke, inklusive der dazwischen stehenden Kleiderstange und fünf Ankleidepuppen, die alle voll angezogen waren, gehörten Mia.

Während ich nun beobachtete, wie meine beste Freundin weiter einen ihrer Kleiderschränke auseinandernahm, stellte ich mich neben eine ihrer Puppen. Sie trug ein dunkelgrünes, knielanges Kleid, das nur einen Träger hatte, der schräg am Hals vorbei ging. Der Rücken war weit ausgeschnitten und würde so perfekt Mias Tattoo zur Geltung bringen. In jungen Jahren hatte sie sich eine verschnörkelte Ranke stechen lassen, die von ihrem rechten Oberschenkel bis zu ihrer linken Schulter reichte.

»Was ist denn aus diesem Kleid geworden?«, rief ich meiner Freundin zu, die schon beinahe gänzlich in ihrem Schrank verschwunden war. Die Angesprochene hob ihren Kopf.

»Spinnst du? Das Grün passt doch gar nicht zu mir. Es sollte mehr ein Rot sein oder Schwarz. Eben etwas, das zum Anlass passt«, entgegnete Mia, als ob diese Antwort das Selbstverständlichste auf der Welt war.

»Gut, dass wir dafür acht Stunden shoppen waren«, flüsterte ich leise.

»Weißt du was, du könntest es doch anziehen, Jill.« Mit diesen Worten tauchte Mia abermals aus ihrem Kleiderschrank auf.

»Na toll, für dich ist es nicht gut genug, aber ich kann es anziehen?«, fragte ich meine beste Freundin gespielt beleidigt.

»Du willst doch auch nicht auffallen, oder? Das waren deine Worte.« Ich nickte.

»Das Problem ist nur, dass ich in diesem Kleid mit Sicherheit auffallen werde«, erklärte ich, doch Mia war bereits wieder in ihrer Kleiderwelt versunken. Seufzend besah ich mir noch einmal das Kleid. In meinen üblichen Klamotten würde die Brünette mich sowieso nicht auf ihrem Geburtstag haben wollen und da ich außer einem schwarzen Kleid nichts anderes schickes besaß, würde ich Mias Angebot wohl annehmen müssen.

»Was ist denn mit dem weinroten Kleid von Jonas‘ Geburtstag letzte Woche?« Mia quiekte laut auf und zog augenblicklich das weinrote Stück Stoff aus ihrem zweiten Kleiderschrank.

»Perfekt«, flötete die junge Frau, während sie sich vor dem Spiegel hin und her drehte. Dieses Kleid besaß keine Träger und war vorne recht kurz und reichte hinten allerdings fast bis zum Boden.

»Und wo wir ja jetzt beide etwas zum Anziehen haben, können wir wohl nur noch eins tun, bis morgen dein großer Tag bevorsteht.« Sofort verschwand Mias Grinsen.

»Ich kann auf jede weitere Standpauke echt verzichten, Jill. Aber danke.« Ich musste lachen, als ich in das ernste Gesicht meiner Freundin sah. Ohne auch nur ein weiteres Wort zu verlieren, ging ich an Mia vorbei in die Küche und öffnete den Kühlschrank. Sofort stand meine beste Freundin neben mir. In ihr Gesicht hatte sich ein breites Grinsen geschlichen und als ich ihr den alten Whiskey vor die Nase hielt, war es gänzlich um sie geschehen. Hinter mir schnappte sie sich noch die kalte Cola und zwei Gläser, ehe wir uns beide aufs Sofa warfen. Während Mia uns eingoss, betrachtete ich unsere Wohnung. Wie schnell die junge Frau hier immer solch ein Chaos veranstalten konnte, war und blieb mir wohl für immer ein Rätsel.

»Noch eins?« Mein Blick fuhr zur Seite. Mia hatte doch tatsächlich ihr erstes Glas schon ausgetrunken. Ihr bevorstehender siebenundzwanzigster Geburtstag schien ihr doch mehr an die Nerven zu gehen, als meine beste Freundin es zugeben wollte. Ohne etwas zu sagen, nahm ich die Fernbedienung und schaltete Mias Lieblings-CD ein. Lauter Bass drang an meine Ohren. Meine Musik war es persönlich nicht, aber ich wusste, dass meine beste Freundin jetzt genau das brauchte. Ohne weiter darüber nachzudenken zog ich sie an der Hand auf die Beine und begann mich mit ihr im Takt der Musik zu bewegen. Begeistert schrie die Brünette auf, schnappte sich die Schnapsflasche und setzte sie sich an die Lippen, während sie auf das Sofa sprang. Ich musste lachen, als sie lauthals begann mitzusingen. Schnell riss ich ihr die Flasche aus der Hand und tat es ihr gleich.

»Let‘s do it, let‘s do it, whuuooo, whuuhoo«, sangen wir, so laut wir konnten, tanzten dabei durch unsere kleine Wohnung und tranken den Alkohol, den Matt irgendwann einmal hier vergessen hatte. Es war ganz und gar nicht meine Art, aber wenn es Mia gut tat, dann sollte es mir heute recht sein. Wer wusste schon, wie lange unsere gemeinsame Zeit noch andauern würde.

»Yeah, yeah, yeah!« Ehe ich es verhindern konnte, rutschte meine beste Freundin mitsamt der Whiskeyflasche über die Sofalehne und landete hart auf dem Fußboden. Ein paar Zentimeter weiter und ihr angehäufter Klamottenberg hätte Mias Sturz gebremst. So schnell ich konnte, war auch ich vom Sofa gesprungen und versuchte meiner widerspenstigen Freundin aufzuhelfen. Diese jedoch schlug meine Hand weg und schaffte es irgendwie, sich mitsamt der Whiskeyflasche wieder aufzurichten, ohne auch nur einen Tropfen der wertvollen Flüssigkeit zu verschwenden.

»Ich… kann das«, lallte die Brünette, während sie einen weiteren Schluck des Alkohols nahm und ihn sichtlich genoss. So ausgelassen hatte ich meine beste Freundin schon lange nicht mehr erlebt. Ich musste lächeln, als Mia auf das Sofa zurück stolperte und sich stöhnend darauf fallen ließ.

»Ich bin so aufgeregt, Jill.« Von einem auf den anderen Moment schien das junge Mädchen mir gegenüber wieder vollkommen klar bei Sinnen zu sein. Natürlich wusste ich auch sofort, wovon sie redete. Von ihrem Geburtstag. Und dem, was sie dann vorhatte.

»Wieso ist es dir nur so wichtig?«

»Mein Vater hat sich immer einen Sohn gewünscht, weißt du. Einen, der mal zur Armee geht und später den Familiennamen weitergibt. Er war enttäuscht, dass ich bloß ein Mädchen wurde und das hat er mich auch mein Leben lang spüren lassen. Einmal hat er sogar zu mir gesagt, dass ich nichts wert sei.« Tränen standen in den Augen meiner besten Freundin, sodass ich seufzend meinen Arm um sie legte, um sie zu trösten. Normalerweise redete sie selten von ihren Eltern. Sie waren ihr peinlich, das hatte Mia mir mehr als einmal deutlich gemacht. Doch dadurch, dass ich auch nie über meine Familie sprach, war mir das nur recht.

»Dein Vater ist ein Arsch.« Mia lachte. Kurz fragte ich mich, ob der Alkohol daran schuld war oder der Frust. Ihr Vater hatte sie und ihre Mutter geschlagen und verbüßte seine Strafe nun in irgendeiner Vollzugsanstalt, weit weg von hier. Von ihm und ihrer Mutter, die ihr nie geholfen und sogar vor Gericht für ihren brutalen Mann noch gelogen hatte, wollte Mia nun nichts mehr wissen.

»Ich weiß«, gestand meine beste Freundin, »Aber trotzdem will ich ihm beweisen, wie unrecht er hatte. Allen werde ich es beweisen. Ich werde mächtig sein und gleichzeitig noch dabei helfen, dass die Menschheit in Ruhe und Sicherheit leben kann. Es hat nur positive Seiten für mich, eine Blasse zu werden. Egal was ihr alle davon haltet.«

»Aber ...«

»Es ist mein Leben, Jill. Ich hab dich lieb und du bist meine beste Freundin, aber ich lasse mir von niemandem bestimmen, wie ich zu leben habe. Nie wieder.« Ich schwieg, nahm die Flasche Whiskey an mich und ließ mir das flüssige Gold die Kehle hinunter laufen.

Sie hatte ja Recht.

Alles, was ich selbst wollte, war meine Freiheit. Wie konnte ich Mia da ihre verweigern, nur weil mir nicht gefiel, was sie tat? Es war Mias Leben und sie wusste, was ich von ihrem Vorhaben hielt. Wenn eine Blasse zu werden das war, was die junge Frau wirklich wollte, dann ging mich das absolut nichts an. Auch wenn ich besser wusste wie jeder andere, was es bedeutete, als bedeutungsloser Mensch zu einem machtvollen Clan zu gehören ...

***

Lachend ließ ich mich von meiner Mutter um mich selbst drehen. Der Ball war einfach nur wunderbar. Viele wunderschöne Frauen und Männer tanzten im Takt der Musik in den bezaubernsten Kleidern, die ich jemals gesehen hatte. Und sie schimmerten in mir vollkommen unbekannten Farben.

Es ist nicht schwierig, mich zu begeistern, hatte Mutter mir grinsend erklärt, als ich meinen Mund gar nicht mehr schließen wollte, und sie hatte Recht. Seit zehn Jahren kannte ich nur diese Burg und ihre Bewohner. Der Clan war mein Zuhause, meine Familie. Die Schatten und Blassen, die hier lebten, verließen ab und an die Steinmauern, um in der menschlichen Welt Dinge zu erledigen, sogar mein Bruder war schon monatelang unterwegs gewesen, aber ich … ich nicht. Ich war die Prinzessin des Schattenclans und deshalb musste ich beschützt werden. Laut kicherte ich auf, als meine Mutter mich an sich zog und mich in eine feste Umarmung nahm. Wäre unser Vater hier, hätte sie sicherlich stundenlang mit ihm getanzt. Mich hatte jedoch noch kein Junge aufgefordert. Entweder waren sie zu schüchtern oder mein Bruder wollte niemanden um mich herum wissen, in den ich mich während meines ersten, offiziellen Tanzes verlieben konnte. Das war es sicherlich. Mein Bruder wollte mich beschützen und das war auch gut so, denn ich war wichtig für den Clan. Ich konnte mich zwar nicht wandeln, weil ich eine Frau war, aber ich besaß Schattenblut. Wertvolles Schattenblut, das auch durch die Adern meines Bruders floss, und egal, wen ich einmal zur Welt bringen würde, er würde mächtig werden. Fast so mächtig wie Chris.

»Jillian.« Die Stimme meines Bruders erreichte meine Mutter wohl zuerst, denn sie schob mich ein Stück von sich und deutete von der Tanzfläche hinunter zu meinem Bruder, der mit einem Glas Wein in der Hand in meine Richtung sah. Sofort nickte ich meiner Mutter zu, ehe ich mich durch die Menge auf Chris zubewegte. Dieser trug einen langen, silbernen Mantel mit weiten Ärmeln, der mit einem schwarzen Gürtel in der Mitte zusammengebunden war und so das dunkle Hemd aus Leinen sowie die weiße Hose beinahe vollständig verdeckte. Erst als ich fast bei ihm angekommen war, konnte ich den Mann sehen, der ihm gegenüber stand und sich mit ihm zu unterhalten schien. Er war groß. Sogar ein Stück größer als mein Bruder, und besaß ein ebenso markantes Gesicht wie er. Seine Wangenknochen standen ein Stück hervor, und waren von zahlreichen, schwarzen Stoppeln bedeckt, die wohl niemals zu einem Vollbart werden sollten. Sie passten zu den kurzen, schwarzen Haaren, die sein schmales Gesicht perfekt umrahmten. Er war schön. Ebenso wie die meisten Männer des Clans, doch als er sich zu mir umdrehte, fielen mir zwei Dinge an ihm besonders auf. Einerseits seine silbernen Augen, die so sehr strahlten, wie ich es noch bei keinem anderen Schatten jemals gesehen hatte, und andererseits war es die Narbe an seiner Wange. Alle anderen seiner Artgenossen, die ich kannte, wirkten perfekt – makellos – aber dieser Mann trug eine Narbe auf seiner Haut, die ihn nur noch attraktiver zu machen schien. Ich spürte, wie mir die Röte in die Wangen stieg, als sich auf die Lippen des Fremden ein Lächeln legte. Hatte ich ihn etwa angestarrt? Er sollte sich bloß nichts darauf einbilden. Er war viel zu alt für mich und das auch äußerlich. Sicherlich wandelte er schon Jahrhunderte auf der Erde, aber seinem Aussehen nach schien er irgendwo zwischen Zwanzig und Dreißig hängen geblieben zu sein. Schnell wendete ich mich meinem Bruder zu.

»Werter Bruder.« Ich verneigte mich tief, woraufhin er mir ein warmes

Lächeln schenkte.

»Jonathan, das ist meine kleine Schwester Jillian Sophie. Begrüße unseren Gast, meine Liebe.« Ich nickte leicht, ehe ich mich Chris‘ Gast zuwandt und mich abermals verneigte.

»Es ist mir eine Ehre, Jillian.« John nahm meine Hand in seine und hauchte einen Kuss darauf. »Und alles Gute zu deinem Geburtstag. Wie alt wirst du denn heute?« Ich trat an die Seite meines Bruders. Dieser Fremde hatte etwas Merkwürdiges an sich, das ich nicht einordnen konnte.

»Dreizehn.«

»Das ist ein wunderbares Alter.« Das Lächeln wich nicht von Jonathans Lippen, was mich mehr und mehr verunsicherte. Aber irgendwie machte es mich auch wütend. Wer war er?

»Ein wunderbares Alter wofür?« Die Frage hatte meinen Mund

verlassen, ehe ich sie aufhalten konnte. Ich spürte, wie Chris sich neben mir anspannte. Er hasste es, wenn jemand unhöflich wurde und besonders, wenn dieser jemand ich war. John hingegen lachte auf.

»Deine Schwester hat Feuer, Christopher. Das ist etwas Besonderes bei den Frauen heute.« Hatte ich mir das gerade eingebildet oder hatte sich etwas Neues in Johns Blick gelegt? Seine Nähe wurde mir von Minute zu Minute unangenehmer, aber das schien nicht nur mir so zu ergehen. Oder hatte ich mir gerade bloß eingebildet, dass Chris zusammengezuckt war.

»Sie ist auch meine Schwester, Jonathan. Das Feuer liegt uns im Blut.« Verwundert sah ich von einem Mann zum anderen. Ging hier etwas vor, das ich nicht verstehen konnte oder bildete ich mir das nur ein?

»Jillian, hast du schon etwas gegessen heute Abend?« Verwundert sah ich zu Chris, der zwar mit mir sprach, den Blick aber nicht von seinem Gegenüber abwendete. Grinsend nahm dieser einen Schluck seines Rotweins.

»Nein«, erwiderte ich, »Ich war wohl zu aufgeregt, Bruder.«

»Dann hol dir doch etwas und sieh nach Mutter. Nicht, dass sie sich ohne dich langweilt.« Stumm nickte ich und verneigte mich noch einmal vor den beiden Männern.

»Es hat mich gefreut, Jillian.« Jonathans stechend silberne Augen bohrten sich in die meinen. »Es hat meinen Abend sicherlich bereichert.« Gänsehaut zog sich über meinen Körper, während ich mich wortlos umdrehte und schnellen Schrittes zurück zu meiner Mutter ging. Ich spürte Jonathans Blick in meinem Rücken, doch als ich mich ein letztes Mal dazu durchrang, nach ihm zu sehen, war er schon wieder in die Unterhaltung mit Chris vertieft. Lächelnd schüttelte ich den Kopf. Da traf ich zum ersten Mal jemanden, der nicht aus dieser Burg stammte, und schon ängstigte er mich. Ich musste eindeutig ruhiger werden, wenn ich meinen Bruder und meinen Clan mit Stolz erfüllen wollte. Und das wollte ich um jeden Preis.

***

»Jill! Wach auf! Wir müssen los!« Blitzschnell schreckte ich in die Höhe. Als ich endlich realisierte, dass ich nur geträumt hatte, war ich erschrockener als vorher.

War der Auftritt der Schattenwölfe gestern daran schuld, dass sich meine Vergangenheit plötzlich wieder in meine Gedanken schlich?

Oder war es Nates Anruf gewesen?

»Alles in Ordnung?« Mias Gesicht tauchte direkt vor mir auf, sodass ich erschrocken zusammenzuckte. Meine Gedanken waren so weit abgeschweift, dass ich meine beste Freundin vollkommen vergessen hatte.

»Klar. Erstmal herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag«, erwiderte ich leise, während ich eine von Mias braunen Locken aus meinem Gesicht schob und all meine Glieder von mir streckte.

Es war ein Traum gewesen. Und eine eigentlich längst vergessene Erinnerung. Nichts Besonderes. »Was ist denn los? Wieso bist du schon wach?«

»Ich habe kaum geschlafen«, erklärte meine Freundin aufgeregt.

»Geht’s dir gut?« Normalerweise war Mia wie ich ein totaler Morgenmuffel und angesichts unseres gestrigen Alkoholkonsums war ihr jetziges Verhalten mehr als seltsam.

»Natürlich. Merkt man, dass ich zwei Kannen Kaffee getrunken habe? Die Kopfschmerzen sind wie weggeblasen. Oh man, wir müssen los!« Ehe ich auch nur reagieren konnte, landeten meine Hose und ein weißes T-Shirt auf mir.

»Was ist denn überhaupt los?« Gähnend streifte ich mir mein T-Shirt über den Kopf. Auch wenn Mia scheinbar – dank des Kaffees- keine Nebenwirkungen des Whiskeys mehr zu spüren schien, mein Kopf zeigte mir klar und deutlich, was er von der gestrigen Nacht hielt.

Nämlich nichts. Rein gar nichts.

»Matt will uns im Proberaumsehen sehen. Er hat gesagt, dass es dringend ist.« Mein rechter Schuh verfehlte knapp meinen Kopf, während der linke direkt vor meinen Füßen landete. Zum Glück trug ich nur Sneakers und keine monströsen Absatzschuhe. In die Notaufnahme hätte Mia mich heute sicherlich nicht gefahren.

»Mia, du weißt, dass ich arbeiten muss. Irgendwie muss ich auch die Miete bezahlen«, murrte ich, »Du kannst mir doch auch nachher erzählen, was der Wuschelkopf von uns wollte.«