Aareschwimmen - Tony Dreher - E-Book

Aareschwimmen E-Book

Tony Dreher

3,8

Beschreibung

Kaum hat sich Journalist Mike Honegger in der Aare abgekühlt, wird sein Aufenthalt im erfrischenden Nass durch einen jähen Schrei unterbrochen: Eine Leiche wurde im Flusswasser treibend gefunden. Trotz vermehrter Warnungen versucht Mike Honegger die Identität des Toten aufzudecken und begibt sich dabei in Lebensgefahr. Sein Weg kreuzt den von zwei amerikanischen Agenten, die einen Waffenschmuggel in der Schweiz aufdecken sollen. Die Spuren führen schließlich bis in die höchste Ebene von Politik, Finanz und Industrie.

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Tony Dreher

Aareschwimmen

Kriminalroman

Zum Buch

LEBENSGEFÄHRLICH Als der Journalist Mike Honegger in Bern in der Aare schwimmt, wird im Wasser eine männliche Leiche gefunden. Er beginnt den Todesfall zu recherchieren und stellt bald fest, dass es sich um Mord handeln muss. Er ignoriert die Drohung, den Fall nicht weiter zu verfolgen, und wird selbst zum Gejagten, der um sein Leben fürchten muss. Gleichzeitig suchen die beiden Agenten David Reynolds und Rick Perez von der amerikanischen Botschaft nach einem verschwundenen Informanten, der ihnen helfen soll, die Drahtzieher hinter dem Waffenschmuggel durch die Schweiz zu entlarven. Die drei Männer ahnen nicht, dass sie nur gemeinsam ihre Ziele erreichen werden und sich zuerst finden müssen. Auf der Suche nach dem Mörder und den Drahtziehern geraten sie in ein gefährliches Duell mit führenden Vertretern von Politik, Finanz und Wirtschaft mit ungeahnten Folgen.

Tony Dreher wurde als Auslandschweizer in Mexiko Stadt geboren, wo er seine Kindheit verbrachte. Sein Studium in Physik und Ingenieurwesen absolvierte er in den USA. Seit seiner Rückkehr in die Schweiz vor über 25 Jahren arbeitet er in der IT-Branche und lebt mit seiner Familie in der Nähe von Bern. Er interessiert sich für Sprachen, Geschichte, Weltgeschehen, Astronomie, Kino und Musik.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Benjamin Arnold

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © iStock.com/Joel Carillet

Druck: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-4788-4

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Kapitel 1

Um sich im erfrischenden Nass abzukühlen, war Mike seit dem Sprung flussaufwärts in die Aare unter Wasser geschwommen, und seine Lungen verlangten jetzt ultimativ Sauerstoff. Hätte er die Luft noch etwas länger anhalten können, hätte sich sein Leben an jenem Nachmittag nicht für immer verändert. Er hob seinen Kopf aus dem Wasser und zog die ersehnte, frische Luft tief in sich hinein. Die heiße Augustsonne brannte hoch am Himmel, und das Gold der Verzierungen an den Kuppeln des Bundeshauses über dem Freibad Marzili blendete ihn mit grellem Sonnenlicht. Als er mit gefüllten Lungen wieder unter Wasser tauchen wollte, schreckte ihn der schrille Schrei einer Frau auf. Er drehte seinen Kopf nach links. Am Ufer stand eine Gruppe Menschen in Badekleidern in einem Halbkreis herum. Die Strömung trieb ihn schnell an der Stelle vorbei, und er musste sich umdrehen, um zurückzuschauen. Einige im Halbkreis zeigten auf etwas im Wasser, das er nicht sehen konnte, andere hielten sich entsetzt die Hände vor den Mund. Jemand stützte eine Frau, die ohnmächtig zusammenzubrechen schien. Die Frau, die geschrien hatte? Mike zögerte nicht. Er schwamm mit voller Kraft quer zur Strömung ans Ufer und konnte sich im letzten Moment beim Vorbeitreiben mit der ausgestreckten linken Hand am rostigen Geländer einer Treppe festhalten. Tropfend nass stieg er die rutschigen Zementstufen zum Uferweg hinauf, dem er flussaufwärts zum Ort des Geschehens folgte, während er mit häufigem Hüpfen versuchte, den Schmerz des brennend heißen, groben Kies unter seinen Füßen zu lindern.

Inzwischen standen etwa zwei Dutzend Personen im Halbkreis am Aare-Ufer und blickten ins Wasser.

»Was ist denn geschehen?«, fragte er in die Runde.

»Jemand hat einen toten Mann im Wasser gefunden«, antwortete eine alte, magere, aber sportlich wirkende Frau, die sich sichtlich freute, die Geschichte bereits ein erstes Mal weitererzählen zu können.

»Schon wieder? Gerade vorgestern ist doch ein Jugendlicher etwas weiter flussaufwärts ertrunken«, erinnerte sich Mike.

»Ja, das war aber anders. Der vorgestern, der war ein besoffener Jugendlicher. Selbst schuld, wenn sich Schüler am Nachmittag bei den Lehrkräften krankmelden, um sich dann als lebende Alkoholflaschen vom Schönausteg ins Wasser zu stürzen.« Die Frau schüttelte energisch ihren Kopf. »Nein, dieser hier ist kein Jugendlicher, und er liegt angekleidet im Wasser. Einfach so, tot. Mehr weiß ich auch noch nicht. Aber eines kann ich Ihnen bereits jetzt sagen.« Sie näherte sich, blickte verschwörerisch zu ihm hinauf und flüsterte, »an dieser Sache ist etwas faul. Oh ja, das ist es! Wissen Sie, so etwas spürt man in meinem Alter einfach.«

Sie drehte sich schnell wieder von ihm ab und spähte zwischen den herumstehenden Menschen zum Wasser, um nichts zu verpassen. Mike drängte sich nach vorn.

Zwei weißhaarige Männer mit während Jahren sonnengebräunter, runzliger Haut und Bäuchen, die über ihre unanständig kleinen Badehosen hingen, hatten soeben den leblosen Körper eines Mannes aus dem Wasser gehoben und unsanft ins Gras gelegt. Das triefende, weiße, langärmlige Hemd des Toten war über der Brust aufgerissen und entblößte eine bleiche, leicht behaarte Brust. Vielleicht hatte einer der beiden Männer die Leiche daran aus der Aare gezogen und es zerrissen, spekulierte Mike.

»Tun Sie doch etwas! Beatmen Sie ihn Mund-zu-Mund! Vielleicht können Sie ihn doch noch retten«, kreischte eine Frau.

Die beiden weißhaarigen Männer verdrehten gleichzeitig ihre Augen.

»Glauben Sie mir, dieser Kerl lebt nicht mehr. Er atmet nicht, und Puls hat er auch keinen«, sagte derjenige, der neben der Leiche kniete. »Rufen Sie lieber die Polizei. Die Leiche zu beatmen bringt nichts mehr, dazu ist es zu spät. Aber nur zu, falls Sie es versuchen möchten.«

Ein Raunen ging durch die Gruppe, und die Vorschläge aus der Runde verstummten. Der Gedanke, eine nasse Leiche zu beatmen, war für ein junges, verliebtes Paar neben Mike doch etwas zu makaber. Beide schnitten eine Grimasse und liefen Hand in Hand eilig flussaufwärts davon. Erst jetzt fiel Mike hinter den Herumstehenden das kleine Mädchen auf, das mit dem Rücken an einen Baum angelehnt alleine im Gras saß. Es hielt beide Arme um seine angezogenen Knie und schluchzte leise vor sich hin.

Erst als er vor ihm niederkniete, schaute es unter seiner roten Baseballkappe auf. Er zeigte mit dem Finger auf das Badekleid des Mädchens und sagte mit sanfter Stimme: »Das ist aber ein schönes blaues Badekleid, das du da trägst. Mir gefällt der Delfin darauf. Delfine sind meine Lieblingstiere.« Es hörte auf zu schluchzen und musterte ihn mit seinen blaugrünen Augen.

Er setzte sich zu ihm ins Gras und sprach weiter. »Ich heiße Mike. Wer bist du?«

»Ich bin das Mädchen, das den Mann im Wasser gefunden hat«, antwortete es scheu.

Mike rückte näher.

»Was? Was hast du?«

»Ich habe den Mann da gefunden.«

Es zeigte mit seinem rechten Zeigefinger mitten in die Menschenmenge.

»Wie hast du ihn denn gefunden?«

»Ich habe Ball gespielt und bin dann meinem Ball nachgerannt, denn ich wollte nicht, dass er in den Fluss rollt. Dort, hinter dem Busch, ist er stehen geblieben. Als ich ihn aufnehmen wollte, sah ich … dann sah ich … den Mann …« Es begann wieder zu schluchzen.

»Du sahst den Mann im Wasser liegen?«, fragte Mike erstaunt.

Es zog seine Baseballkappe tiefer ins Gesicht und antwortete nicht. Mike sah den Schock des Erlebten in sein zartes Gesicht geschrieben.

»Wie heißt du denn? Wie alt bist du?«, fragte er, als es sich etwas beruhigt hatte.

»Ich heiße Elvira und bin«, es schaute ihm in die Augen und hielt ihm seine kleine Hand mit fünf ausgestreckten Fingern entgegen. »Ich hatte letzte Woche Geburtstag und jetzt bin ich schon groß.«

»Wo sind denn dein Papa oder deine Mama?«

Es senkte seinen Blick zum Boden. »Ich habe keine Mama mehr«, antwortete es traurig. »Meine Tante liegt auf der großen Wiese in der Sonne. Sie hat gesagt, ich darf nicht weit weggehen. Jetzt muss ich zu ihr zurück, sonst schimpft sie mit mir.«

Er bot ihm seine Hand an. »Komm, gehen wir zusammen. Ich begleite dich gerne zurück zu deiner Tante.«

Elvira stand auf und kreuzte demonstrativ beide Arme vor ihrem Körper. »Mein Papa sagt mir immer, dass ich nicht mit Fremden gehen darf. Ich darf auch nicht mir dir gehen, denn du bist ein Fremder. Ich gehe alleine zurück. Das kann ich schon, denn ich bin jetzt schon«, sie hielt ihm wieder ihre Hand mit fünf ausgestreckten Fingern entgegen.

»Warte! Ich habe noch Fragen und würde gerne mit dir weiterplaudern«, versuchte Mike sie aufzuhalten.

»Nein. Ich muss jetzt zurück.«

Bevor Mike noch etwas hinzufügen konnte, rannte sie bereits weg zur großen Liegewiese des Freibads, ohne noch einmal zurückzuschauen. Er verlor sie in der Menge der sonnenbadenden Familien aus den Augen.

Eigentlich hätte er den ganzen Nachmittag im Marzili verbringen wollen, musste aber bald ins Büro. Nur Hans Werdenberger, sein Ressortleiter, konnte am Nationalfeiertag der Schweiz eine Sitzung auf 16.30 Uhr festlegen, dachte er verärgert. »Keine Diskussion, Honegger«, hatte er ihn gestern mit erhobenem Zeigefinger gewarnt und ihn mit runzliger Stirn und großen Augen über seine Lesebrille angestarrt. »Ich erwarte Sie morgen pünktlich um halb fünf in meinem Büro. Die Welt steht auch an einem Feiertag nicht still! Zeigen Sie mir dann, wie weit Sie mit den Artikeln zur Geschichte der Berner Vororte sind. Sie schreiben jetzt schon lange genug daran. Zu meiner Zeit hätte ich als 25-Jähriger wie Sie die acht Artikel bereits nach einer Woche abgeliefert. Und das mit Schreibmaschine getippt, ohne Computer und Wikipedia! Bis Ende der Woche will ich die Serie endlich fertig sehen oder Sie bekommen noch mehr Ärger mit mir!«

Mike blickte auf seine Uhr. Kurz vor vier Uhr. Er musste sich spätestens jetzt umziehen, um noch die geringste Chance zu haben, rechtzeitig vor Werdenberger zu erscheinen. Die Zeit würde schon so knapp.

Vor ihm bot sich aber eine einmalige Gelegenheit. Als erster und einziger Journalist vor Ort über den Fund einer Leiche in der Aare zu berichten – nein, diese Gelegenheit durfte er wegen einer Sitzung mit seinem Chef doch nicht vergeben. Er musste unbedingt herausfinden, was sich am helllichten Tag hier ereignet hatte und durfte nichts verpassen, was ihm dabei helfen würde. Er blickte auf seine Badehose. Sein Handy, sein Portemonnaie und seine Schlüssel hatte er in einem Schließfach bei der Kasse am Eingang des Freibads eingeschlossen. Sein Handy zu holen, um Werdenberger anzurufen, würde zu viel Zeit in Anspruch nehmen. Wieder zögerte er nicht. Der Anruf musste warten. Mike würde hier bleiben und verspätet bei Werdenberger erscheinen.

Inzwischen war die Anzahl der Gaffer etwas zurückgegangen. Sie hatten den Toten gesehen, der Kick war vorbei. Die verbleibenden hielten respektvoll Abstand von der Leiche, die jemand mit einem großen Badetuch zugedeckt hatte. Niemand beachtete Mike, als er sich ihr näherte. Das grüne Badetuch wölbte sich über den Bauch des toten Mannes wie ein kleines Zelt. Er schmunzelte, als er die Werbeaufschrift unter dem Logo eines bekannten Matratzenherstellers auf dem Tuch las, ›für den ewigen Schlaf …‹. Ja, dachte er, dieser Mann hatte in der Aare tatsächlich seinen ewigen Schlaf angetreten. Wer war er? Niemand schien ihn zu kennen. Hatte er einen Herzschlag erlitten? Dann wäre er nicht ins Wasser gefallen. War er Nichtschwimmer und versehentlich ins Wasser gefallen? Nicht am Uferweg der Aare.

Die beiden Dickbäuchigen standen im Schatten eines Baums und rauchten gemütlich eine Zigarette. Auch sie beachteten Mike nicht, so kniete er vor der Leiche nieder und inspizierte den linken Arm, der vom Badetuch nicht verdeckt war. Um sein Handgelenk trug der Mann eine Uhr und am Ringfinger einen großen goldenen Ring. Mike studierte den Ring genauer, ohne den Toten zu berühren.

»Treten Sie weg da!«

Er erschrak ob der lauten, tiefen Stimme und blickte auf. Von ihm unbemerkt hatten uniformierte Polizisten damit begonnen, bis zur Ankunft des kriminaltechnischen Diensts die Neugierigen zurückzudrängen und die Stelle abzuschirmen. Ein großer, athletisch wirkender Polizist mit breiten Schultern postierte sich vor ihn.

»Treten Sie weg, habe ich gesagt!«, brüllte er.

Mike stand auf und nahm einen Schritt zurück.

»Haben Sie die Leiche gefunden?«, doppelte der Polizist nach.

»Nein.«

»Was tun Sie dann hier?«

»Ich, äh, bin Journalist«, antwortete Mike verlegen.

Der Polizist starrte ihn an, als ob er eine ausführlichere Erklärung von ihm erwartete. Mike kam nichts Besseres in den Sinn als zu ergänzen, »ich wollte eigentlich nur schwimmen.«

Der Polizist blickte auf seinen inzwischen trockenen Körper. »Also gut. Treten Sie weg! Aber bleiben Sie trotzdem in der Nähe! Wir brauchen noch Ihre Personalien.«

Mike trat wieder zurück unter den Baum, an dem er mit Elvira gesprochen hatte, und verfolgte das Geschehen um die Leiche.

Eine Frau in Jeans und einer farbigen Bluse stieß zu den beiden Polizisten, die neben der Leiche standen und jetzt ihre Blicke auf die Frau richteten. Eine modische dunkle Brille verdeckte ihre Augen.

»Kunz, entfernen Sie das Badetuch!«, befahl sie dem kleineren der beiden, der sofort gehorchte.

Das muss die Mitarbeiterin des kriminaltechnischen Diensts sein, die jetzt die Spuren sichern wird, dachte Mike.

Eine Weile lang stand sie regungslos da, ihr Blick auf die Leiche gerichtet. Dann zog sie aus ihrer linken Hosentasche ein Paar Einweghandschuhe hervor, die sie über ihre Hände stülpte, und kniete nieder, um die Leiche näher zu untersuchen. Sie durchsuchte gewandt die Brusttasche des zerrissenen Hemds sowie die Hosentaschen, schien darin aber nichts zu finden. Als Nächstes beugte sie sich ganz nahe über die bleiche Brust des Mannes und inspizierte sie lange. Mike konnte die Augen der Frau hinter der dunklen Brille nicht sehen und erkannte nicht, was sie so lange interessierte.

Aus ihrer hinteren Hosentasche zog sie ein kleines, digitales Diktiergerät hervor und sprach hinein.

»Jacqueline Meyer-Lang, Bericht zum Fund einer männlichen Leiche in der Aare, Freibad Marzili, unterhalb des Restaurants Dampfzentrale. Der Mann ist etwa 40, leicht übergewichtig, schwarze Haare, rundliches Gesicht, in weißem Hemd und Jeans. Er trägt schwarze Lederschuhe. In den Kleidungsstücken kein Ausweis. Am linken Ringfinger trägt er einen großen goldenen Ring. Keinen Ehering, sondern einen Ring mit einem Siegel. Am linken Handgelenk eine einfache digitale Uhr. Sonst keine persönlichen Gegenstände. Außer einer kleinen Wunde in der Herzgegend sind keine äußerlichen Verletzungen festzustellen.«

Sie verstaute das Diktiergerät in ihrer Hosentasche und zog die Handschuhe von ihren Händen.

»Kunz, kümmern Sie und Ihre Männer sich um die Spurensicherung. Ich will Fußabdrücke, Zigarettenstummel, Kaugummis, einfach alles, was für unsere Ermittlungen relevant ist. Dokumentieren Sie die Stelle und fotografieren Sie die Leiche und die Umgebung. Lassen Sie sie zur Obduktion ins Institut für Rechtsmedizin der Uni bringen. Befragen Sie die Leute, die hier herumstehen, und nehmen Sie ihre Personalien auf. Bis 18 Uhr will ich Ihren Bericht vorliegen haben.«

Sie drehte sich auf der Stelle um und ging davon.

Die meisten Gaffer wollten nicht freiwillig von der Polizei vernommen werden und versuchten, sich unauffällig zu entfernen. Die Polizisten riefen sie aber zurück und begannen mit der Befragung.

Als der Bestattungswagen mit der Leiche langsam davonrollte, blickte Mike auf seine Uhr und realisierte, dass er heute Werdenberger im Büro nicht mehr treffen würde. Er wusste, wie wütend dieser reagieren würde. Sein Entscheid, an der Aare zu bleiben, würde ihn teuer zu stehen kommen. Wenn er morgen Werdenberger noch beichtete, dass seine Artikelreihe noch lange nicht fertig war, würde er das Fass zum Überlaufen bringen. Die einzige Chance, sich zu retten, lag darin, ihm morgen einen erstklassigen Artikel über den Fund in der Aare vorzulegen und zu hoffen, er würde ihm wegen des verpassten Termins vergeben.

Kapitel 2

Mike blickte während der kurzen Fahrt mit der historischen Drahtseilbahn zur Altstadt von Bern aus dem Fenster herauf zum Bundeshaus und hinab zum Freibad an der Aare. In der Hand drehte er nachdenklich sein ausgeschaltetes Handy. Nachdem er die Sitzung mit Hans Werdenberger hatte platzen lassen, wusste er, dass auf seiner Combox mindestens eine Meldung auf ihn wartete. Er konnte sich deren Inhalt vorstellen.

Wenige Minuten später stieg er aus der Bahn auf die Bundesterrasse, setzte sich im Schatten auf eine alte Holzbank und hielt das Handy noch eine Weile in der Hand, bevor er es endlich einschaltete.

»Hier ist Werdenberger. Wo zum Teufel stecken Sie, Honegger? Sie hatten um halb fünf einen Termin bei mir, jetzt ist es schon Viertel vor fünf. Ich kann mir keinen guten Grund vorstellen, dass Sie nicht hier vor mir stehen, außer Sie liegen im Koma im Spital! Morgen um acht in meinem Büro.«

Auf ihn wartete eine weitere Meldung. Er erkannte die kratzige Raucherstimme seiner Arbeitskollegin. »Mike, hier ist Verena. Wo steckst du denn nur? Der Werdenberger dreht fast durch vor Wut. Deine Artikel seien immer noch nicht fertig und du seist nicht in seinem Büro, flucht er immer wieder. Mit ihm ist jetzt wirklich nicht zu spaßen. Pass auf, was du tust! Tschüss.«

Mike wählte die Nummer des Büros. Es nahm niemand ab. Der Telefonbeantworter nannte die Öffnungszeiten der Redaktion. Es mussten inzwischen alle nach Hause gefahren sein.

Werdenberger referierte bereits bei Verspätungen von fünf Minuten gerne und lange über die Wichtigkeit von Pünktlichkeit und Genauigkeit im Berufs- wie auch im Privatleben. Mike wusste, dass ihm eine geplatzte Sitzung, ohne vorherige Abmeldung, nicht nur eine besonders lange Rede, sondern weiteren Ärger einbringen würde. Er hoffte weiterhin, ein Exklusivbericht über den Fund einer Leiche beim Marzili würde als Erklärung für sein Fehlverhalten genügen. Mike entschloss, er hätte selbständig und unternehmerisch gehandelt. Ganz im Sinne des Zeitungsverlags. Wie es Werdenberger immer predigte, aber doch nicht zuließ. Er musste morgen pünktlich um acht Uhr in seinem Büro erscheinen, sich gut verkaufen und den Artikel über den ertrunkenen Mann – oder vielleicht ermordeten Mann? – vorlegen. Das musste genügen, um den alten Werdenberger zu besänftigen, und den geplatzten Termin wieder gutzumachen. Er machte sich aber nichts vor. Bis dahin musste er einiges recherchieren und hart daran arbeiten, einen handfesten, druckreifen Artikel zu schreiben.

In seiner Wohnung im dritten Stock des grauen Blocks im Breitenrainquartier verschlang er in der Küche den warmen Kebab, den er auf dem Heimweg in der Stadt gekauft hatte. Er musste als Nachtessen genügen, da er sich sofort an das Schreiben machen wollte. Mit einer großen Flasche Eistee aus dem Kühlschrank ging er in das mit einfachen Möbeln spärlich eingerichtete Wohnzimmer und setzte sich an seinen Arbeitstisch vor dem Fenster. Während sein Computer hochfuhr, nahm er sein Handy in die Hand und wählte Verenas Nummer.

»Hast du meine Meldung abgehört? Wo bist du denn geblieben, Mike? Ich sag dir, du, der Werdenberger ist fast ausgerastet.«

»Auch du musstest also an einem Feiertag bei Werdenberger antraben, was?«, fragte Mike.

»Ja, heute waren die meisten dran! Es ist ja jedes Jahr dasselbe. Aber los, erzähl mal, warum bist du nicht aufgetaucht?«

Er fasste zusammen, was er an der Aare erlebt hatte und fragte: »Hattest du vielleicht noch Gelegenheit im Büro die neusten Meldungen durchzulesen?«

»Ja, ich war nach der Sitzung noch eine Weile dort und habe sie überflogen.«

»Ist von der Polizei die Meldung über den Ertrunkenen eingegangen?«

»Nein, zu einem Ertrunkenen in der Aare wurde nichts gemeldet. Warum meinst du?«

»Die Polizei hätte doch eine Meldung veröffentlichen sollen. Sie sucht sicher nach den Angehörigen oder nach Zeugen. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass an dieser Sache etwas faul ist.«

»Was soll denn daran faul sein?«

»Ein angekleideter Mann, ohne Ausweis, am helllichten Tag in der Aare beim Marzili ertrunken? Da kann doch etwas nicht stimmen.«

Verena überlegte kurz, bevor sie fragte: »Wohin haben sie die Leiche geschickt?«

»Die Beamtin hat sie ins Institut für Rechtsmedizin geschickt.«

»Die Rechtsmedizin in der Länggasse kommt immer zum Zug, wenn eine Person nicht eines natürlichen Todes stirbt. Auch wenn der Mann verunfallt sein sollte, die Polizei will die genaue Todesursache herausfinden.«

»Ich sag’s ja. Etwas stimmt nicht.«

»Das ist nur eine Vermutung. Vergiss lieber deinen Termin morgen nicht, Mike. Der ist jetzt wichtiger als dein Erlebnis heute Nachmittag. Was ist übrigens mit deiner Artikelreihe los? Warum bist du damit noch nicht fertig?«

»Ich weiß es auch nicht. Ich recherchiere dafür schon lange, aber eine Artikelreihe über die Geschichte der Vororte von Bern begeistert mich einfach zu wenig. Mein Vater war zwar Historiker, aber mich interessiert Schweizer Geschichte oder Weltgeschichte. Bei den Vororten der Stadt harzt es einfach noch und ich schiebe die Arbeit ohne Inspiration so vor mich her. Komme einfach nicht vom Fleck.«

»Das habe ich auch schon erlebt. Öfters als mir lieb ist, glaube mir. Aber höre auf meinen Rat! Wenn du morgen von Werdenberger nicht zermalmt werden willst, so packe die Artikel heute Nacht noch an! Bis morgen früh kannst du einiges hinkriegen. Musst halt die ganze Nacht durcharbeiten. Es ist deine einzige Rettung.«

»Ich werde ihm einen Artikel über den Toten bringen.«

»Nein, Mike, tue das nicht! Du kennst ja den Werdenberger. Er möchte genau das sehen, was er bestellt hat. Nie mehr und nie weniger.«

»Schon okay. Danke für den Rat.«

Mike öffnete im Computer den Entwurf eines seiner Artikel, trank von der Eisteeflasche und starrte auf den Titel: ›Die Geschichte des Berner Vororts Ostermundigen‹. Er las den Entwurf mehrmals durch, in der Hoffnung, so in Gang zu kommen. Unbewusst richtete er wiederholt seinen Blick über den Bildschirm durch das Fenster zum gegenüberliegenden Block, der genau so grau war wie seiner.

Die Polizei hatte den Vorfall an der Aare erfasst. Die Beamtin hatte vom Polizisten sogar dringend einen Bericht verlangt. ›Vor sechs‹, hatte sie ihm befohlen. Wenn die Meldung beim Zeitungsverlag nicht eingegangen war, so musste sie wenigstens von der Polizei selbst veröffentlicht worden sein. Er öffnete die Website der Kantonspolizei Bern und durchsuchte den Bereich Aktuelles. Autounfälle, Diebstähle, Einbrüche. Das heute leider Übliche. Von einem Ertrunkenen in der Aare war aber nichts zu lesen. Auf den Websites von Boulevardblättern und Pendlerzeitungen war auch nichts zu erfahren. Niemand hatte über den Vorfall berichtet.

Draußen im Hof krachten die ersten Knallkörper, am Himmel explodierten Raketen in allen Regenbogenfarben. Die Schweiz feierte ihren ersten August.

Früh am nächsten Morgen machte Mike auf dem Weg ins Büro zuerst halt am Kiosk nebenan. Zu einem lauwarmen, wässrigen Industriekaffee in einem wackligen Plastikbecher durchforstete er an einem Stehtischchen die aktuellen Tageszeitungen und suchte nach Berichten über die Ereignisse von gestern. Keine der Zeitungen hatte über einen ertrunkenen Mann in der Aare geschrieben. Gestern war zwar ein Feiertag gewesen, trotzdem hätten die Zeitungen heute darüber berichten können. Der Tod eines Menschen war ja immer ein beliebtes Thema für Schlagzeilen. Dass keine Zeitung darüber schrieb, war zwar merkwürdig, bedeutete aber auch, dass er weiterhin exklusiv berichten konnte.

»So nicht, Honegger!« Hans Werdenbergers Wut hatte über Nacht nicht abgenommen. »Haben Sie von mir in Sachen Pünktlichkeit und Genauigkeit im Leben noch gar nichts gelernt? Wie oft muss ich mich denn wiederholen?«

Mike kannte Werdenberger gut genug, um zu wissen, dass er die Rede, die folgte, ohne ein Wort zu erwidern über sich ergehen lassen musste. Es schien ihm trotzdem eine Ewigkeit, bevor Werdenberger seufzte und endlich fragte: »Also, warum sind Sie gestern nicht aufgetaucht?«

Mike erklärte ihm detailliert, was vorgefallen war und weshalb er sich nicht gemeldet hatte. Dann legte er ihm stolz den Artikel über den Fund der Leiche in der Aare auf sein Pult. Werdenberger hörte mit grimmiger Miene zu und ignorierte den Artikel. Als Mike fertig war, sagte er: »Sie sind also nicht aufgetaucht, weil Sie glaubten, ein ertrunkener Mann sei für unsere Zeitung ein passendes und interessantes Thema? Sind wir denn nicht mehr eine angesehene Zeitung mit langer Vergangenheit, die für sich in Anspruch nimmt, hochkarätigen Journalismus zu bieten? Sind wir neuerdings zu einem Boulevardblatt verkommen, das mit persönlichen Katastrophen auf der Titelseite ihre Leser verführt? Und glauben Sie wirklich, das rechtfertige, einen Termin mit mir ohne Abmeldung platzen zu lassen?«

»Ich denke, er wurde ermordet!«, versuchte Mike sich zu rechtfertigen.

Werdenberger begann mit den Händen zu gestikulieren. »Sehen Sie, das ist ja noch schlimmer. Jetzt spekulieren Sie schon über die Todesursache. Was ist denn das für ein Niveau? Es ist sicher nicht das Niveau, das zu unserer traditionsreichen Tageszeitung passt! Dazu kommt noch, dass Sie den Auftrag, den ich Ihnen gegeben habe, nämlich eine Artikelserie zu schreiben, immer noch nicht ausgeführt haben. An fehlender Zeit scheint es ja nicht zu liegen, wenn Sie in der Aare baden gehen können und Wegwerf-Gesellschafts-Artikel wie diesen schreiben können!«

Er stand hinter seinem Pult auf, ging zum Fenster und blickte lange hinaus.

»Nein, Honegger. Wir wissen beide seit einiger Zeit, dass wir nicht zusammenpassen. Suchen Sie sich eine Stelle bei einer Gratiszeitung. Dort können Sie in fünf Zeilen etwas über Mordfälle spekulieren, das jeder Pendler im Halbschlaf am Morgen im Zug konsumieren kann und nicht mehr als einen Grundwortschatz von 100 Wörtern voraussetzt. Aber nicht hier und nicht bei mir. Die Fortsetzung unseres Arbeitsverhältnisses ist aus meiner Sicht nicht mehr zumutbar. Es wäre also besser, wenn Sie Ihr Pult räumten. Sie haben eine Stunde Zeit, dann will ich Sie nicht mehr sehen. Das wäre alles. Sie können gehen.«

Seine Arbeitskollegen waren schockiert, als Mike ihnen kurz mitteilte, dass Werdenberger ihn soeben gefeuert hatte. Da dieser aber mit gekreuzten Armen unter dem Türrahmen seines Büros stand und wie ein Feldherr auf sein Schlachtfeld in das Großraumbüro starrte, getraute sich niemand, was zu sagen. Einzig Verena nahm ihr Headset ab und flüsterte ihm mit einem Lächeln voller Mitleid zu: »Ich rufe dich an.«

Mike ging zu Fuß zum Bahnhof, wo er sich auf dem Vorplatz an einen Restauranttisch setzte und einen Kaffee bestellte. Er konnte nicht fassen, was soeben geschehen war. Den Generationenunterschied zwischen ihm und Werdenberger hatte er schon seit Langem gespürt, wie seine Kollegen und Kolleginnen auch, und sie hatten auch nie richtig harmoniert. Dass er ihn jedoch feuern würde, hätte er nie gedacht. War er wirklich zu weit gegangen? Auch nach langem Überlegen beurteilte er seinen gestrigen Entscheid weiterhin als richtig. Als Journalist musste er jede Gelegenheit packen, um über Außergewöhnliches zu berichten, wann und wo immer sie sich auch bot, Sitzungstermine hin oder her. Er bestellte einen zweiten Kaffee. Den Toten in der Aare würde er nicht loslassen, dazu war er jetzt erst recht entschlossen. Er würde dem Fall nachgehen, herausfinden, wer der Mann war und einen erstklassigen Artikel darüber schreiben. Damit würde er eine neue Stelle suchen.

Die Polizeiwache Bern steht nicht weit vom Bundeshaus entfernt am Waisenhausplatz, in einem dreistöckigen, palaisähnlichen Gebäude, das bis fast Mitte des letzten Jahrhunderts als Knabenwaisenhaus diente.

»Wie kann ich Ihnen helfen?« Ein korpulenter Mann mit kurz geschorenen Haaren inspizierte Mike mit seinen kleinen schwarzen Augen durch das Panzerglas des Empfangsschalters. Sein abschätziger Blick verriet ihm, dass er von Mikes Jeans und T-Shirt nicht viel hielt.

»Ich bin Journalist und arbeite bei den ›Berner Nachrichten‹. Ich recherchiere den Todesfall von gestern im Marzili. Wem kann ich dazu einige Fragen stellen?«

»Wer sagt denn, dass es gestern einen Todesfall gegeben hat?«

»Ich habe die Leiche selbst gesehen und war dabei, als zwei Polizisten und eine Frau vom kriminaltechnischen Dienst sie untersuchten.«

Der Beamte zögerte einen Moment, schaute ihn misstrauisch an und fragte: »Was genau wollen Sie denn wissen?«

»Ich möchte mich über den Stand der Ermittlungen informieren. Meine Leser wollen wissen, ob der Mann inzwischen identifiziert wurde.«

Mit ›meine Leser‹ bluffte Mike erst recht. Nachdem er heute Morgen gefeuert worden war, hatte er keine Leser mehr. Er hoffte aber, seinem Anliegen damit mehr Gewicht zu verleihen.

»Haben Sie auch schon etwas von Datenschutz gehört? Wenigstens das gibt es bei uns in der Schweiz noch.«

Der Mann wandte seinen Blick von Mike ab und wischte sich demonstrativ einige Krümel seines Frühstücks von seinem grauen Kittel, der einige Nummern zu klein wirkte.

»Hören Sie bitte zu. Ich bin Journalist und weiß, welche Informationen Sie herausgeben dürfen, ohne den Datenschutz zu verletzen. Suchen Sie jemanden, der mir Antworten liefern kann, oder nicht?«

Der Beamte runzelte seine Stirn und nahm provokativ langsam den Telefonhörer in die Hand. Er sprach leise, sodass Mike dem Gespräch durch die Glaswand nicht folgen konnte.

»Also dann. Es kommt gleich jemand. Dort ist der Warteraum.«

Mike musste nicht lange warten, bis ein uniformierter Polizist in den Warteraum trat.

»Sind Sie der Journalist, der nach einem angeblichen Unfall in der Aare fragt?«

Die höfliche Stimme wirkte künstlich aufgesetzt.

»Ja.«

Bevor Mike sich vorstellen konnte, hielt ihm der Polizist die Hand entgegen, als ob er an einer Kreuzung den Verkehr anhalten wollte.

»Es tut mir leid, Sie enttäuschen zu müssen. Gestern ist bei uns keine Meldung über einen angeblichen Badeunfall eingegangen. Es muss sich um einen Irrtum Ihrerseits handeln.«

Mike sah ihn erstaunt an.

»Nein, da muss es sich um einen Irrtum Ihrerseits handeln, denn ich war dabei, als die Leiche aus der Aare gezogen wurde und als Ihre Kollegen sie untersuchten. Und es war übrigens kein angeblicher Badeunfall.«

»Wie gesagt, es tut mir leid, Herr Honegger, uns ist nichts bekannt. Ich habe alle Meldungen von gestern selbst überprüft. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«

Er schaute Mike direkt in die Augen und setzte erneut sein künstliches Lächeln auf.

»Was Sie sagen, stimmt nicht und Sie wissen es! Einer Ihrer Kollegen hat meine Personalien aufgenommen.«

»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen. Ich war ja, wie Sie wissen, selbst nicht anwesend. Abschließend kann ich nur wiederholen: Uns ist nicht bekannt, dass gestern jemand in der Aare verunfallt ist. Vielleicht war der Mann ja nur ohnmächtig und Sie glaubten, er sei tot gewesen. Solche Verwechslungen kann es geben und führen unweigerlich zu peinlichen Missverständnissen. Leider konnte ich Ihnen nicht weiterhelfen. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.«

Er verschwand durch den Türrahmen, und Mike hörte nur noch das Piepsen des Badgelesers, als er die Sicherheitstür ins Innere des Gebäudes öffnete.

Als Mike aus dem Wartesaal trat, ignorierte ihn der dicke Beamte am Schalter, der in irgendwelchen Papieren wühlte. Er verließ das Gebäude, ging die Stufen zum Vorplatz hinunter und spazierte nachdenklich durch den schönen Garten zum Eisentor und zum Waisenhausplatz, wo er sich auf eine Bank setzte und dem Wasser zuschaute, das über den Oppenheim-Brunnen plätscherte. Er spürte, dass der Polizist mehr wusste, als er zugab, und ihn angelogen hatte. Er hatte auch das Gefühl, dass ihm im Gespräch mit dem Polizisten etwas entgangen war, das ihm hätte auffallen müssen, etwas, das nicht stimmte. Gedanklich ging er das Gespräch mit ihm noch einmal durch, erkannte aber nicht, was es sein könnte.

Eine Gruppe Touristen folgte dem von ihrer Reiseleiterin hochgehaltenen Sonnenschirm und hielt vor dem bekannten Brunnen an. Noch bevor die Reiseleiterin mit ihren Ausführungen beginnen konnte, knipsten schon unzählige Kameras. Hinter der Gruppe verließen drei Geschäftsherren mit Aktenkoffern in den Händen ein Schulgebäude. Mike schaute ihnen zu, wie sie sich voneinander verabschiedeten. Da fiel ihm ein, was ihm im Gespräch mit dem Polizisten entgangen war: Der Polizist hatte ihn mit seinem Namen angesprochen, Mike hatte sich aber in der Polizeiwache nicht namentlich vorgestellt. Der Polizist konnte seinen Namen unmöglich kennen. Außer … ja, der Polizist hatte den Bericht von gestern gelesen. Dort waren seine Personalien vermerkt, und deshalb kannte er seinen Namen.

Er schloss die Augen und dachte über den gestrigen Tag nach. Bei ihrer Ankunft an der Aare hatten sich die Polizisten und die Beamtin nicht vorgestellt. Aber danach … ja, jetzt konnte er sich wieder daran erinnern. Die Frau hatte den kleineren der beiden Polizisten neben der Leiche mit seinem Namen, Kunz, angesprochen. Und bei der Eröffnung des Protokolls in das Diktiergerät hatte sie ihren eigenen Namen genannt. Jacqueline irgendetwas. Meyer-Lang, ja, das war ihr Name gewesen. Er musste die beiden Polizisten und die Frau in Zivil finden. Die wussten genau, was geschehen war. Er öffnete die Augen und sah den Touristen nach, wie sie zum Bärenplatz in Richtung Bundeshaus weiterzogen. Dann nahm er sein Handy hervor.

»Kantonspolizei Bern, grüessech.« Er drückte es näher ans Ohr.

»Könnten Sie mich bitte mit Frau Meyer-Lang verbinden?«

»Moment bitte«, Mike hörte den Mann den Namen auf der Tastatur seines Computers schreiben. »Es tut mir leid, wir haben keine Frau Meyer-Lang bei uns. Sind Sie sicher, dass der Name stimmt?«

»Ja, ganz sicher. Können Sie noch einmal nachschauen?«

»Ich habe unter Meyer gesucht, mit i und mit y. Auch unter Lang finde ich niemanden. Kann Ihnen vielleicht jemand anders helfen?«

»Ja, da ist noch ein uniformierter Polizist namens Kunz. Könnten Sie mich bitte mit ihm verbinden?«

Wieder hörte Mike das Tippen auf der Tastatur.

»Kunz, Jürg. Ja, den habe ich gefunden. Ich verbinde.«

Das Telefon klingelte dreimal.

»Kantonspolizei Bern, Kunz.« Mike erkannte die Stimme sofort. Es war der Polizist von gestern.

»Guten Tag, Herr Kunz, ich bin Mike Honegger und war gestern dabei, als Sie die Leiche untersuchten, die in der Aare entdeckt wurde. Ich würde Ihnen gerne einige Fragen zu diesem Fall stellen.«

Kunz erwiderte nichts. Er hängte das Telefon auf.

Mike wählte die Nummer noch einmal und wurde wieder verbunden. Das Telefon klingelte und klingelte. Dann meldete sich ein Beantworter. »Der gewünschte Teilnehmer ist momentan nicht erreichbar. Bitte hinterlassen Sie nach dem Ton …«

Mike wartete das Ende der Meldung nicht ab und hängte auf. Frustriert schlug er mit der Faust neben sich auf die eiserne Bank. Jeder Versuch, etwas herauszufinden, führte in eine Sackgasse.

Sein Magen begann zu knurren, es war fast Mittag. Im nahe gelegenen Starbucks kaufte er sich ein Sandwich und einen Kaffee und setzte sich unter einen Sonnenschirm auf den Balkon. Die Sonne brannte heiß auf den Platz. Mike blickte auf die Menschen herab, die sich im Schatten der Bäume eine Pause von der Arbeit oder vom Einkauf gönnten. Kunz wollte nicht mit ihm reden, Meyer-Lang war bei der Polizei unauffindbar. Trotzdem musste er mehr über den Toten herausfinden. Aber, wie?

Kapitel 3

Mike drückte auf den Klingelknopf der Gegensprechanlage neben der verschlossenen Glastür des Instituts für Rechtsmedizin der Universität Bern und blickte in das schwarze Auge der Kamera über dem Lautsprecher.

»Wie kann ich Ihnen helfen?«, tönte eine blecherne Stimme aus der Anlage.

»Mein Name ist Mike Honegger. Ich bin Journalist und recherchiere einen Todesfall von gestern. Die Leiche wurde von der Polizei hierher geschickt. Ich würde Ihnen gerne einige Fragen zum Opfer stellen.«

Mehrmals klickte es aus dem Lautsprecher, als ob die Frau am Empfang mehrere Anläufe nehmen musste, eine Antwort zu formulieren.

»Es tut mir leid, ich kann Sie nicht hereinlassen. Wir geben der Presse hier keine Auskünfte. Stellen Sie Ihre Fragen bitte schriftlich an unsere Abteilung Kommunikation. Die hilft Ihnen gerne weiter.«

Ein letztes Klicken aus dem Lautsprecher signalisierte das Ende des Gesprächs. Durch den Besuchereingang würde Mike nicht ins Gebäude gelangen.

Er folgte der Gebäudefront rechts um die Ecke und blickte auf die gesamte Länge des dreistöckigen, grauen Gebäudes. Eine breite Rampe neben den Treppen führte der Seite entlang hinunter zu den tiefer gelegenen Eingängen der verschiedenen Institute, die im Gebäude untergebracht waren und vor denen Studenten auf Treppenstufen saßen und den warmen Mittag genossen. Links unter ihm, am vorderen Ende des Gebäudes, stand ein Servicewagen einer Liftfirma vor einem breiten, offenen Tor, das in eine Werkstatthalle führte. Zwei Techniker in Overalls lagen mit geöffneten Oberteilen auf der Laderampe in der prallen Sonne. Mike stieg die Treppen hinunter, grüßte die beiden selbstsicher beim Vorbeigehen und betrat die Werkstatthalle, wo er nach dem Eingang ins Gebäude suchte. Er hatte Glück. Um die Sicherheitstür, die ins Innere des Gebäudes führte, nicht jedes Mal elektrisch vom Empfang aus öffnen lassen zu müssen, hatten die beiden Techniker sie mit einem Holzbalken blockiert. Als er sich ihr näherte, drehten Sensoren das Licht im langen grauen Gang dahinter automatisch an. Über die Treppe am Ende des Gangs gelangte er ins Erdgeschoss. Die Luft roch nach Desinfektionsmittel, die Wände zeigten blanken Beton, der Boden war mit billigem Linoleum belegt. Die Gänge im Erdgeschoss wirkten so düster und farblos wie die im Untergeschoss. Nur die eingravierten Metallschilder neben den Türrahmen wiesen auf den Standort hin. Aus einem der Räume drangen Stimmen und Gelächter. Den Schildern mit Namen von Mitarbeitern nach schien es sich in diesem Trakt um Büroräumlichkeiten zu handeln. Am Ende des Gangs bog Mike links in einen nächsten Gang ab.

Die Beschriftung neben der ersten Tür, T4.101 Pathologie, Raum C, half ihm nicht weiter. Als er zur nächsten Tür wollte, hörte er hinter sich den Glockenton des Lifts. Eine kräftige Frau in hellblauen Latzhosen, mit einem langen schwarzen Zopf, rollte ihren Putzwagen aus dem Lift vor sich her und pfiff dabei leise ein Lied. Im Wagen türmten sich Putzmittel, Lumpen, Kehrichtsäcke und Schwämme durcheinander.

»Kann ich helfen Ihnen, junger Mann?« Spanierin oder Italienerin, dachte Mike.

»Ja, mein Onkel ist seit gestern verschwunden, und die Polizei will uns nicht weiterhelfen. Anscheinend ist aber ein Mann gestern tot aufgefunden und hierher gebracht worden. Ich hoffe, es handelt sich nicht um Hans-Jörg.« Er inszenierte eine Tränenpause. »Meine Mutter würde das nicht ertragen.«

»Dios mío, qué terrible«, antwortete die Frau. »Sie müssen holen Bewilligung von Behörden, sonst keine Informationen hier.«

»Das habe ich ja bereits versucht, aber es dauert mindestens drei Tage, bis mein Antrag bearbeitet wird. Sie wissen ja, wie langsam Behörden arbeiten.« Er schaute sie so traurig an, wie er konnte, und schämte sich gleichzeitig, diese Frau anlügen zu müssen.

»Ja, ich kenne, von Aufenthaltsbewilligungsbüro. Ei, ei, ei. Aber bevor ich in Schweiz kam, war Leben noch voller von Bürokratie. Hier besser, weniger Bürokratie.« Sie lächelte ihn an und zeigte dabei ihre schneeweißen Zähne.

Mike schielte auf das Schild an ihren Kleidern. »Hören Sie, Laura, ich kann meine Mutter nicht drei Tage lang leiden lassen. Sie müssen mir helfen! Bitte.«

Sie schaute ihn voller Mitleid an und zeigte mit ihrem Blick zu einer Tür neben dem Treppenhaus.

»Kommen Sie! Aber Chef nichts erfahren, sonst ich wieder ohne Job«, flüsterte sie konspirativ.

Die Tür, die sie mit ihrem Schlüssel öffnete, führte in einen kleinen, fensterlosen Raum. Von den beiden Neonröhren an der Decke warf nur noch eine etwas hellgraues Licht auf das Reinigungsmaterial, das hier in Schachteln gelagert wurde, aufgereiht in Metallgestellen, die vom Boden bis zur Decke reichten.

Sie schloss die Tür hinter sich und stellte sich vor ihn. »Ja, gestern haben gebracht Mann. Ist Sissi-Mann.«

»Sissi-Mann?«

»Ja, habe gehört, dass Mann erstochen in Herz mit dünne Nadel oder Feile. Wie Kaiserin Sissi in Genf, als sie auf Schiff ging. Bei Sissi zuerst niemand gesehen, das war Mord. Sie haben Film gesehen?«

»Nein, den Film habe ich nie gesehen. Nur davon gehört.«

»Sie verpassen gute Film, wirklich. Mit hübscher König Franz-Joseph, eh!«

Mike kam wieder auf sein Anliegen zurück.

»Können Sie mir die Leiche zeigen?«

Sie starrte ihn mit großen Augen an und fragte: »Ich, Leiche zeigen?«

»Ich muss wissen, ob es sich beim Mann um meinen Onkel Hans-Jörg handelt. Für meine Mama. Hoffen wir, dass er es nicht ist!«

Laura schüttelte heftig ihren Kopf, sodass ihr langer Zopf hin und her schwenkte. »No, das unmöglich. Ganz unmöglich. Toter jetzt in Kühlraum, mit Kamera kontrolliert. Dass Tote mit Kamera kontrollieren, ist komisch, no? Die gehen ja sicher nicht mehr weg aus Kühlraum! Aber ich habe Toter vor Operation auf Tisch gesehen. Es war weißer Mann mit schwarzen Haaren und große Bauch. Zu viel mexikanisches Essen gegessen.« Sie lächelte wieder.

»Mexikanisches Essen?«

»Ja, habe gehört, wie Arzt hat auf Protokoll diktiert.« Sie wurde wieder ernst und flüsterte: »Magen mit mexikanischem Essen voll. Bohnen, Mais, Tortillas und so. Nicht appetitlich hier arbeiten, aber Lohn für putzen besser als zu Hause sitzen.«

»Ein Mann mit schwarzen Haaren, sagen Sie?« Mike täuschte Erleichterung vor und hielt beide Hände hoch. »Das ist nicht Hans-Jörg! Mein Onkel hat ganz blonde Haare, er kann es nicht sein. Oh, Mama wird überglücklich sein.«

Laura freute sich mit Mike und öffnete ihre schwarzen Augen weit. Mit einem herzlichen Lächeln fuhr sie fort.

»Gracias a dios! Bin froh um Sie. Ist gut für Mama und Familie.«

Mike wollte die Gutmütigkeit dieser Frau nicht überstrapazieren und wusste, im richtigen Moment mit seinem Spiel aufzuhören.

»Laura, Sie sind eine gute Frau. Ich danke Ihnen, dass Sie mir geholfen haben! Auf Wiedersehen.«

»Adios, junger Mann. Sie auch guter Mensch sein. Ich so spüren. Hoffentlich kommt Hans-Jörg bald zurück! Und aufpassen, Sie nicht hier sein dürfen!«