Gletschertod - Tony Dreher - E-Book

Gletschertod E-Book

Tony Dreher

4,8

  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2017
Beschreibung

Viel zu tun für den Journalisten Mike Honegger. Erst taucht ein Toter auf dem Gauligletscher auf und dann stirbt in Bern auch noch ein Freund von Honegger. Er recherchiert in beiden Fällen und schnell wird ihm klar, dass zwischen den beiden Toten ein Zusammenhang bestehen muss. Die Spuren führen zur Russischen Revolution, zu einem lange vergessenen Abkommen und zur Absturzstelle einer amerikanischen Dakota im November 1946. Hätte Honegger die Vergangenheit besser ruhen lassen?

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Seitenzahl: 346

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Tony Dreher

Gletschertod

Der zweite Fall für Mike Honegger

Impressum

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2017 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2017

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellun/E-Bookg: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © mindanex / photocase.de

ISBN 978-3-8392-5300-7

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Juli 2012

Mit seinen Augen folgte der Mann der Innenstadt von Moskau, bis sie unter dem Rumpf seines Learjets verschwand, und lehnte sich dann im breiten, weichen Ledersessel zufrieden zurück. Er trank einen ersten Schluck des kalten Champagners aus dem Glas in seiner Hand und freute sich auf einen entspannten Flug. Als der Jet kurz danach seine Flughöhe erreichte und der Pilot den Schub der beiden Pratt & Whitney Triebwerke reduzierte, schaltete er mit der Fernbedienung das Unterhaltungssystem ein und wählte eine Playlist aus der Kategorie »Easy Jazz«. Genüsslich schloss er zu den Tönen der sanften Ballade seine Augen.

Das schrille Klingeln des Satellitentelefons auf seinem Mahagonipult beendete schlagartig seine Ruhe.

»Sluschaju«, nahm er den Anruf verärgert entgegen.

»Igor Alexejewitsch, hier spricht Andrei. Es tut mir leid, Sie zu stören.«

»Ich bin soeben vom Flughafen Wnukowo gestartet. Was ist denn so dringend?«

»Es geht um ein Ereignis in der Schweiz, über das Sie sicherlich sofort informiert werden möchten.«

»Reden Sie nicht um den Brei herum. Was ist los?«

»Sie haben den Propeller gefunden!«

»Welchen Propeller? Wovon sprechen Sie denn?«, fragte Igor Alexejewitsch irritiert.

»Drei Alpinisten haben einen der Propeller der amerikanischen Dakota gefunden, die 1946 abgestürzt ist.«

Igor Alexejewitsch richtete sich ruckartig auf und schüttete dabei versehentlich den Rest seines Champagners über seine Hosen.

»Was sagen Sie?«

»Ich habe es soeben beim Frühstücken in der Zeitung gelesen. In der Berner Tagespresse wird ausführlich über den Fund berichtet.«

»Was haben die drei Alpinisten sonst noch entdeckt?«

»Nur einen der beiden Propeller.«

»Sind Sie sicher, dass das alles ist?«

»In den Zeitungen wird nichts Weiteres erwähnt.«

»Wo haben sie ihn gefunden?«

»Der genaue Fundort wird von den drei Männern geheim gehalten, um zu verhindern, dass Sammler ihn aufsuchen. Er muss etwa drei Kilometer von dort entfernt sein, wo das Wrack vor 70 Jahren in Eis und Schnee verschwand.«

Igor Alexejewitsch überlegte einen Moment und fragte dann: »Wer sind die drei Männer?«

»Drei Freunde, ziemlich jung. Einer ist Lehrling in Zweisimmen, seine Kollegen sind aus Meiringen und aus Kanada.«

»Kanada!«, sagte Igor Alexejewitsch alarmiert. »Was wollen denn die Kanadier plötzlich hier? Wer hat ihn geschickt?«

»Er soll lediglich ein Freund des Lehrlings sein, der aus Kanada zu Besuch ist und den Gletscher sehen wollte.«

»Ich traue der Sache nicht. Ich will wissen, wer hinter dem Ganzen steckt und wer die Männer finanziert!«, sagte Igor Alexejewitsch besorgt.

»Sie können sich beruhigen. Es waren nur drei junge Männer auf einer Bergtour, die auf den Gletscher wollten. Ich bezweifle, dass sie gezielt nach etwas suchten oder dass sie für jemanden einen Auftrag ausführten.«

»Ich hoffe für die drei Männer, dass Sie recht haben. Das Wrack muss ganz in der Nähe im Eis begraben liegen, und ich werde nicht zulassen, dass sie etwas finden, das sie nicht sollten. Sie verstehen, was ich meine. Verfolgen Sie die Angelegenheit genauestens und berichten Sie sofort, wenn Sie mehr herausfinden. Sollten die drei jungen Männer nicht locker lassen und weitersuchen, werde ich gezwungen sein, etwas gegen sie zu unternehmen!«

Igor Alexejewitsch blickte besorgt auf die Wolkendecke herab, die weit unter seinem Privatjet die Landschaft bis zum Horizont verdeckte. Er konnte sich während des restlichen Fluges weder mit Champagner noch mit Musik mehr entspannen.

Kapitel 1 – Heute

Mit kurzen schmerzhaften Schritten hinkend, holte Christian Daniela nur langsam ein. Als er sie endlich erreichte, versuchte sie, ihn aufzumuntern: »Schau, Christian! Es ist nicht mehr so weit. Den längsten Teil des Abstiegs haben wir bereits hinter uns. Wir müssen nur noch den Rest der Moräne hinunter, dann sind wir da. Du musst durchhalten!«

Er stützte seine Stöcke auf einem schneefreien Felsen vor ihm ab und blickte auf den Weg, den er noch beschreiten musste. Bis zum Gletscher war die Moräne mit ihren großen, kreuz und quer stehenden Felsbrocken steil, eisig und immer wieder schneebedeckt. Er seufzte. Nach dem Abstieg wartete der flache Gletscher auf sie, da würde das Gehen hoffentlich etwas einfacher werden. Sein Blick streifte über den breiten verschneiten Gauligletscher zum gegenüberliegenden Bergpanorama und auf die Gipfel, die in den stahlblauen Himmel ragten. Sie schienen ihm in seiner jetzigen Lage unüberwindbar. Wegen der Schmerzen, die ihn plagten, konnte er die Schönheit und Reinheit der Natur um ihn herum nicht mehr genießen.

»Mein Knie ist ernsthafter verletzt, als ich dachte. Die Schmerzen nehmen stetig zu. Ich kann fast nicht mehr gehen«, stöhnte er.

Daniela drehte sich um. Die »Gaulihütte«, die sie vor einigen Stunden noch bei Dunkelheit verlassen hatten, war nicht mehr zu sehen. Die Hütte war im Winter zwar nicht bewirtet, der alte Teil des Gebäudes blieb jedoch immer für Bergtourengeher offen. Sie hatten dort eine erholsame und, dank des schönen alten Holzherdes, warme Nacht verbracht. Sie blickte an der Moräne entlang in die Höhe, zurück auf die Stelle über ihnen, an der Christian auf einer Eisplatte so unglücklich ausgerutscht und mit dem linken Knie mit großer Wucht gegen einen Felsen geprallt war. Zuerst schien der Unfall glimpflich verlaufen zu sein. Beide waren erleichtert gewesen, dass er sich nichts gebrochen hatte und nur mit Prellungen davonzukommen schien.

»Wir müssen weiter. Zur Hütte zurückzukehren, ist keine Option, das schaffst du nicht«, stellte sie resigniert fest.

»Ja, ich versuche, noch bis zum Gletscher abzusteigen, wo das Gelände flach wird. Dort müssen wir unsere Tour aber abbrechen und die Rega anfordern. Sie muss uns ausfliegen, denn ich schaffe es nicht mehr über den Gletscher. Geh du bitte voraus, das macht es für mich einfacher.«

Er folgte Daniela und stützte sich mit seinen Stöcken ab, um das verletzte Knie zu entlasten. Trotz seiner Vorsicht rutschte er mehrmals aus.

»Bis zum Gletscher muss ich es noch schaffen«, wiederholte er immer wieder leise zu sich selbst und machte vorsichtig einen Schritt nach dem anderen.

»Es geht wirklich fast nicht mehr. Es tut höllisch weh«, rief er verzweifelt hinunter zu Daniela. »Das Knie ist inzwischen so angeschwollen, dass es gegen die Hosen drückt. Die werde ich nicht mehr ausziehen können, man wird sie mir wegschneiden müssen. Die Schmerztablette wirkt auch schon lange nicht mehr.«

Als das Gelände allmählich flacher wurde, stapfte Daniela durch den tiefen frischen Schnee voraus und bemühte sich, eine möglichst breite Spur zu hinterlassen. Christian folgte darin, und sie hörte ihn jedes Mal stöhnen, wenn er mit seinem linken Bein einen kurzen Schritt humpelte. Bald musste er vor Schmerzen immer öfter anhalten. Die Sonne brannte vom wolkenlosen Himmel herab, und der Schnee spiegelte das grelle Licht auf sein Gesicht. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und atmete tief durch. Noch einen Schluck Tee und noch einen kurzen Moment Pause, dann würde er zu Daniela aufschließen.

Ihr Schrei riss ihn aus seinen Gedanken. Er hallte von den Bergflanken zurück, und das Echo wiederholte sich im Kessel immer wieder. Erschrocken blickte Christian auf und sah sie am Rand des Gletschers im Schnee knien.

»Christian!«, rief sie. Wieder hallte das Echo ihrer alarmierten Stimme von den Bergflanken zurück.

Christian hinkte zu ihr, sein Gesicht von den quälenden Schmerzen verzerrt.

»Was ist geschehen? Bist du verletzt?«, rief er ihr außer Atem zu, noch bevor er sie erreicht hatte.

Ohne zu antworten, stapfte Daniela eilig auf ihn zu.

»Komm, es ist schrecklich!«, antwortete sie aufgeregt und stützte ihn beim Gehen.

»Was hast du denn?«

»Schau, dort im Schnee, gleich vor diesem Spalt.«

Er humpelte die letzten Schritte bis an die Stelle und erschrak selbst. Vor ihm ragte der Teil eines menschlichen Oberkörpers aus dem Schnee, der linke Arm in einem 45-Grad-Winkel in die Luft gestreckt, als ob er den Weg in den Himmel zeigen wollte. Die hochgestreckte linke Hand war dick in Stoff eingebunden. Die rechte Schulter und der Rest des Rumpfs blieben im Schnee verborgen. Christian machte einen Bogen um den leblosen Körper, um ihn von vorne zu betrachten. Das Gesicht des Mannes war im Schnee nicht sichtbar, als ob die Leiche ihre Identität bis zuletzt verheimlichen wollte. Er studierte die schwarzen, von leichtem Schneepuder bedeckten Haare, ein Ohr und den Nacken der gefrorenen Leiche.

»Ist er tot?«, fragte Daniela, ohne zu überlegen.

»Natürlich ist er tot«, antwortete er gereizter, als er beabsichtigt hatte.

»Was sollen wir tun?«

»Wir müssen die Polizei benachrichtigen. Hoffentlich haben wir hier oben Handyempfang.«

Er zog sein Telefon aus der Jackentasche und blickte auf das Display.

»In der Sonne sieht man auf diesen Geräten wirklich gar nichts!«

Er drehte sich um, verdeckte mit seinem Oberkörper die Sonne und betrachtete das Telefon in seinem Schatten.

»Das wäre ja zu einfach gewesen! Wir empfangen kein Signal! Hier oben werden wir nicht telefonieren können.« Er blickte zum See unterhalb des Gletschers. »Da drüben, auf dem Felsvorsprung links vom See, dort hast du vielleicht vom Tal her Empfang.«

»Schaffst du es bis dorthin?«

Christian schüttelte seinen Kopf. »Nein. Tut mir leid. Das ist zu weit weg, das musst du machen. Ich warte hier auf dich. Nimm mein Handy. Hoffentlich klappt es.«

»Was tun wir, wenn wir auch dort kein Signal empfangen?«, fragte Daniela.

Ohne zu antworten, zuckte er mit den Achseln, warf seinen Rucksack vor sich in den Schnee, und ließ sich da­rauf nieder, sein linkes Bein vor sich ausgestreckt. Daniela machte sich auf den Weg.

Es dauerte nicht lange, bis sie den exponierten Felsvorsprung erreicht hatte. Christian beobachtete, wie sie mit dem Telefon hantierte, konnte aber aus der Distanz nicht beurteilen, ob der Anruf geklappt hatte. Auf halbem Weg zurück, sah er sie rufen.

»Ich verstehe dich nicht! Hast du sie erreicht?«, rief er ihr gespannt zurück.

Als sie näher gekommen war, verstand er endlich ihre Worte: »Hat geklappt!« Erleichtert atmete er tief aus.

Kurz danach kniete sie strahlend neben ihm.

»Wir haben Glück, dort vorne empfing ich tatsächlich ein ganz schwaches Signal! Nur ein Strich auf dem Display! Ich habe die Notrufnummer gewählt und den Fund sowie unseren Standort gemeldet. Die Polizei wird sich mit der Rega absprechen und mit einem Heli hochfliegen. Bis es so weit ist, wird es jedoch noch eine Weile dauern.«

Christian nickte zufrieden. »Bin ich froh, dass es geklappt hat! Bis zu ihrem Eintreffen können wir jetzt nichts anderes tun als warten.«

Er verstaute das Telefon in seiner Jacke und studierte eine Weile lang aufmerksam den Toten.

»Schau dir den Kragen und den Ärmel der braunen Jacke an. Wirkt die nicht irgendwie komisch? Bergsteigerbekleidung wird doch normalerweise nicht aus so einem rauen, dicken Stoff hergestellt.«

Daniela untersuchte den Ärmel etwas genauer.

»Du hast recht. Mit einer solchen Jacke geht man nicht klettern. Der Stoff sieht irgendwie alt aus, oder nicht? Und warum die eingebundene Hand?«

»Erfrierungen? Eine Verletzung? Ich weiß es nicht. Vielleicht ist er … äh … war er doch ein Bergsteiger, der vor langer Zeit verunfallt ist. Und der Gletscher hat ihn wahrscheinlich erst jetzt freigegeben. Man liest ja immer wieder in der Zeitung, wie Bergsteiger Jahrzehnte nach ihrem Verschwinden gefunden werden … aaaah … die Schmerzen bringen mich fast um«, stöhnte er.

Vergeblich versuchte er, sein linkes Knie etwas zu entlasten, indem er das Bein anwinkelte.

Noch bevor sie den Motorenlärm hörten, sichteten sie den Helikopter, der vom Urbachtal her über den See zu ihnen hochflog. Daniela stand auf und winkte, so heftig sie konnte, bis er über ihnen schwebte als Zeichen, dass der Pilot sie geortet hatte. Sie zogen die Kapuzen ihrer Winterjacken hoch und drehten ihre Köpfe zur Seite, um sich vor dem feinen Schnee zu schützen, den der landende Helikopter meterhoch aufwirbelte. Zwei Männer sprangen aus der Maschine und stapften durch den tiefen Schnee zu ihnen. Sie stellten sich als Dr. Remo Berger, Arzt aus Meiringen, und Stefan Gmünder, Polizist, ebenfalls aus Meiringen, vor. Während Dr. Berger sofort Christians Knie untersuchte, zeigte Daniela Gmünder die Stelle, an der die gefundene Leiche weiterhin mit dem Arm in den Himmel zeigte.

Gmünder ging mehrmals um den Toten herum und inspizierte die Fundstelle genau, bevor er sie aus verschiedenen Richtungen fotografierte. Dann kniete er nieder und untersuchte Kopf und Arm der Leiche genauer, ohne sie zu berühren. Er fotografierte alles, was er untersuchte.

»Da ist wirklich nicht viel zu sehen. Wir werden die Leiche aus dem Schnee befreien müssen«, meinte er endlich.

Er holte aus dem Helikopter einige Spaten und bat den Piloten und Dr. Berger zur Fundstelle. Nachdem auch der Arzt die Leiche inspiziert hatte, machten sie sich zu dritt daran, vorsichtig um den Körper herum zu graben und den Schnee zu entfernen, ohne die Leiche zu verletzen.

Zwischendurch brachte Daniela den drei Männern aus ihrer Thermosflasche Tee und bot ihre Hilfe beim Graben an, die sie jedoch höflich ablehnten. Als sie zu Christian zurückkehrte, saß er auf seinem Rucksack, mit dem Rücken an den Helikopter angelehnt. Im Schatten der Maschine war er eingeschlafen. Das Schmerzmittel, das Dr. Berger ihm gespritzt hatte, hatte glücklicherweise sofort gewirkt.

Es dauerte über eine Stunde, bis die drei Männer die Leiche ganz aus dem Schnee befreit hatten. Vorsichtig hievten sie sie aus dem Loch und legten sie im Schatten des Helikopters sanft ab.

Alle drei blickten erschüttert auf den gefrorenen steifen Körper, dann kniete Dr. Berger vor dem Kopf der Leiche nieder und untersuchte die von Haaren teilweise verdeckte Stirn. Daniela konnte nicht hören, was er zu seinen Kollegen sagte, die ebenfalls vor der Leiche knieten, denn er hatte ihr seinen Rücken zugekehrt. Es musste aber etwas Besonderes gewesen sein, da Gmünder da­rauf überrascht reagierte, mit ihm zu diskutieren begann und gleichzeitig sein Telefon zückte.

»Empfang hat man hier keinen«, rief sie ihm zu. »Sie müssen dorthin, zum Felsvorsprung.« Sie zeigte mit der Hand in die angegebene Richtung. Dr. Berger nickte ihr dankend zu und marschierte los.

Neben ihr schlief Christian weiter. Mit ihrem Handy fotografierte sie zuerst das Bergpanorama, dann schoss sie ein Selfie mit ihr und Christian, und dann, als die zwei Männer abgelenkt waren, fotografierte sie mehrmals die Leiche.

»Wie lange ist er schon tot?«, hörte sie Gmünder fragen, als Dr. Berger zurückgekehrt war.

»Die Leiche ist in erstaunlich gutem Zustand. Trotzdem ist es schwierig, den Zeitpunkt des Todes zu schätzen«, antwortete der Arzt. »Schaut mal die Kleider an. Sie erinnern mich an Fotos aus der Jugend meiner Eltern. Die Jacke, die Hosen … irgendwie alt. Vielleicht Mitte des vorigen Jahrhunderts?«

»Was sollen denn die Verbände um die Hände und um die Füße? Und was ist mit seinem linken Bein?«, fragte der Pilot.

»Wenn du mich fragst, war das ein Versuch, wegen einer Verletzung oder eines Beinbruchs das Bein ohne geeignetes Material notfallmäßig zu schienen. Die Hände und Füße hat er vielleicht wegen Erfrierungen eingebunden. Mehr werden wir erst erfahren, wenn die Pathologie ihn untersucht hat.«

Gmünder schüttelte den Kopf. »Ein Mann in unpassender Kleidung, mit verbundenen Händen und Füßen, ohne Handschuhe oder Rucksack, und einem gebrochenen Bein? Hier, tot, mitten in den Alpen? Was soll denn das?«, fragte er erstaunt.

Daniela unterbrach das Gespräch und rief Dr. Berger zu: »Christian ist aufgewacht, und die Schmerzen setzen wieder ein. Er friert. Ich fürchte, er hat Fieber.«

Dr. Berger untersuchte Christian flüchtig und verkündete: »Es wird Zeit. Wir müssen ihn ins Spital ausfliegen.«

»Zuerst fliege ich Berger, Christian und Daniela ins Tal, dann komme ich zurück, und nehme dich und die Leiche mit«, sagte der Pilot und kletterte in die Kabine des Helikopters, um mit den Vorbereitungen für den Start zu beginnen.

Gmünder nahm eine Wolldecke aus dem Helikopter und bedeckte damit vorsichtig den Toten.

Kapitel 2

Mike konnte sich später nicht erklären, warum er sofort das Schlimmste ahnte. Er beschleunigte seine Schritte und näherte sich dem Hotel, vor dem ein Streifenwagen und eine Ambulanz standen. Schaulustige zogen gegen die Kälte und den eisigen Wind, die an diesem Wintermorgen unerbittlich durch die Gassen der Berner Altstadt und über den Bundesplatz blies, die Kragen ihrer Mäntel hoch und ihre Kappen tiefer über die Ohren oder rieben sich die Hände. Die Gaffer hofften, einen Verletzten zu sehen. Oder vielleicht sogar eine Leiche.

Mike drängte sich durch die Menschenmenge und zwischen dem Polizeiauto und der Ambulanz bis zum Hoteleingang durch, der von einem uniformierten Polizisten breitbeinig versperrt wurde.

»Sind Sie Gast im Hotel?«, fragte er Mike grimmig.

»Nein, aber ich treffe um 10 Uhr einen Gast in der Lobby.«

Der Polizist blickte ihn prüfend an, trat zur Seite und ließ ihn durch die automatische Schwingtür in die warme Eingangshalle eintreten. Mehrere Angestellte, in dunkle elegante Uniformen gekleidet, standen mit finsteren Mienen an der Rezeption und flüsterten miteinander, ohne ihn zu beachten. Mike spürte die gedrückte Stimmung in der Luft. Ein magerer Mann mit einem grauen wirren Haarschopf und einem gleichfarbigen Anzug ohne Krawatte machte sich mitten im Raum in einem kleinen Block Notizen.

Als er Mike bemerkte, hob er den Kopf und fragte forsch: »Was wollen Sie hier?«

»Ich habe um 10 Uhr einen Termin mit einem Gast.«

»Und hat der Gast auch einen Namen?«

»James Matthews.«

Kaum hatte Mike den Namen ausgesprochen, runzelte der Mann die Stirn. Sein Blick bestätigte Mike, was er befürchtet hatte. Matthews musste etwas zugestoßen sein. Bevor sich Mike danach erkundigen konnte, fragte ihn der Mann: »Und was will dieser Herr Matthews von Ihnen?«

»Er flog gestern von London in die Schweiz und wollte mich heute treffen. Er wird an der NATO-Konferenz in Interlaken teilnehmen.«

»NATO-Konferenz?«

Mike hatte das Gefühl, der Mann wusste von der Konferenz, antwortete aber trotzdem auf die Frage: »Ja, die NATO-Konferenz der WMD für Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen.«

»WMD?«

Wieder tönte die Frage des Mannes so, als ob er die Antwort bereits kannte.

»Ja, Massenvernichtungswaffen: Weapons of Mass Destruction«, antwortete Mike irritiert.

»Woher wissen Sie so viel über die Konferenz?«

»Professor Matthews hat darüber gesprochen, und dann habe ich mich informiert.«

»Warum wollte er Sie treffen?«

Mike beunruhigte, dass er immer noch nicht erfahren hatte, ob Matthews etwas zugestoßen war oder nicht, und dass das Gespräch immer mehr einem Verhör ähnelte.

»Wer sind Sie überhaupt? Wo ist Professor Matthews? Was ist geschehen?«, fragte er herausfordernd laut.

Die Hotelangestellten an der Rezeption unterbrachen ihr Geflüster und blickten überrascht zu ihm, drehten sich danach aber schnell wieder ab und flüsterten weiter.

»Kommen Sie, setzen wir uns da drüben an einen Tisch an der Bar«, schlug der Mann vor.

Als sie sich gesetzt hatten, legte er vor Mike seinen Ausweis auf den Tisch.

»Mein Name ist Herrenstein. Ich arbeite für die Kantonspolizei Bern, Dezernat ›Leib und Leben‹. Und wer sind Sie?«

»Mike Honegger ist mein Name.«

»Welche Beziehung haben Sie zu Herrn Matthews?«

»Professor Matthews ist nicht nur ein Kollege meines verstorbenen Vaters, sondern auch ein guter und langjähriger Freund der Familie.« Mike blickte in das blasse Gesicht Herrensteins, das müde wirkte. »Wenn Sie für das Dezernat ›Leib und Leben‹ arbeiten, ist Matthews wohl etwas zugestoßen. Ich will endlich wissen, was los ist«, verlangte Mike verärgert.

Herrenstein räusperte sich und überlegte, wie er das Geschehene formulieren sollte. »Ja, in der Tat. Es tut mir leid, derjenige zu sein, der Ihnen die schlechte Nachricht überbringen muss. Herr Matthews wurde vor einer halben Stunde in seinem Zimmer aufgefunden. Tot. Von einer Hotelangestellten.«

Mike spürte, wie sich sein Magen zuschnürte, und lehnte sich nach vorne. »Was? Matthews tot? Was ist denn geschehen?«

»Das ist im Moment Gegenstand der Ermittlungen. Die Angestellte klopfte mehrmals an die Tür. Als er nicht antwortete, öffnete sie das Zimmer mit ihrem Badge. Sie entdeckte ihn angekleidet auf seinem Bett liegend. Zuerst dachte sie, Matthews schlafe, und ist gewaltig erschrocken, als sie realisierte, dass er tot war.« Er deutete mit einer Kopfbewegung zu einer Seitentür. »Sie wird von einer ihrer Kolleginnen dort drüben im Gepäckraum betreut. Hoffentlich beruhigt sie sich bald. Vielleicht erfahren wir dann mehr von ihr. Herr Matthews muss einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall erlitten haben.«

Mike schüttelte den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht. Der Professor ist zwar schon über 70, er wirkte aber viel jünger und war immer sehr sportlich und fit. Ich bin noch keine 30 und hätte Mühe gehabt, mit ihm mitzuhalten. Vor zwei Tagen habe ich noch mit ihm telefoniert, und er erzählte begeistert, wie er sich auf das Skifahren vor der Konferenz freute und auch dieses Jahr wieder Schneeschuhwandern wollte. Vergangenen Sommer war er in die USA geflogen, um in den Rocky Mountains zu wandern und zu klettern. Das tönt nicht nach einem Mann, der kurz vor einem Schlaganfall steht!«

»Herr Honegger, bitte! Herzinfarkte und Schlaganfälle melden sich selten an und fragen nicht höflich, ob sie schon stattfinden dürfen. Anstatt jetzt zu spekulieren, sollten wir die Ergebnisse der Untersuchung abwarten.«

Als links von der Rezeption der Gong des ankommenden Lifts erklang, blickten alle wie auf Kommando in diese Richtung. Zwei Sanitäter rollten eine Bahre durch die Halle zur vor dem Hotel wartenden Ambulanz. Da­rauf, gut erkennbar, ein mit einem Leintuch zugedeckter Körper. Professor James Matthews. Mike seufzte laut und wandte sich ab.

»Es tut mir leid, Herr Honegger.«

Mike schüttelte den Kopf und sagte leise: »Ich kann es einfach nicht fassen. Nicht Matthews.«

Der Professor und seine Frau hatten während Mikes Kindheit oft dessen Eltern besucht. Er erinnerte sich an die ewigen Diskussionen zwischen den beiden Wissenschaftlern. Stundenlang konnten sie am Esstisch oder im Wohnzimmer über die Wichtigkeit und die Folgen irgendeines ihm selbst unwichtig scheinenden Ereignisses der Weltgeschichte fachsimpeln. Damals hatte Mike zum ersten Mal von punischen Kriegen, Phöniziern und Völkerwanderungen gehört. Zu seiner Erleichterung durfte er allerdings, sobald derartige Diskussionen begannen, das Zimmer verlassen und spielen gehen. Erst als Matthews vor zehn Jahren seine Frau durch ein Herzleiden verloren hatte, wurden seine Besuche seltener und kürzer.

»Vor einigen Jahren wollten meine Eltern zu einer Konferenz nach London zu Matthews fliegen und sind auf dem Weg zum Flughafen Bern-Belp tödlich verunfallt.«

Herrensteins Blick verlor etwas an Strenge. »Es tut mir leid, Herr Honegger, das konnte ich nicht wissen.« Er senkte seinen Blick und machte eine Pause, bevor er weitersprach. »Wann haben Sie zuletzt mit dem Professor gesprochen?«

»Vorgestern rief er mich aus London an. Er sagte, er würde bei der NATO-Konferenz einen Vortrag halten und mit anderen Teilnehmern über ein brisantes Thema sprechen. Vorher würde er sich aber noch Urlaub gönnen und im Berner Oberland eine Woche Ski fahren. In Mürren. Er wollte mich aber hier in Bern auf der Durchreise unbedingt treffen.«

»Welchen Grund hat er angegeben, Sie treffen zu wollen?«

»Matthews ist Geschichtsprofessor in London und hatte mit meinem Vater in diversen Projekten zusammengearbeitet. Er sagte nur, es gehe um die Forschungsarbeit meines Vaters. Das hat mich erstaunt, denn ich war in seinen Arbeiten nie involviert.«

»Was tun Sie denn beruflich?«, wollte Herrenstein wissen.

»Ich bin Journalist.«

»Woran forschte Ihr Vater?«

»Er hatte sich in den letzten Jahren mehr und mehr auf die Geschichte Russlands spezialisiert, insbesondere auf die Geschichte der Beziehungen zwischen der Schweiz und Russland. Im Detail weiß ich aber nicht, woran er vor seinem Tod arbeitete.«

»Was hat Professor Matthews sonst noch gesagt, Herr Honegger?«

»Er fragte mich mehrmals, ob ich über die Forschungsarbeiten meines Vaters mehr wisse. Ich antwortete ihm, wie ich gerade auch Ihnen sagte, dass ich nicht genau wüsste, woran er forschte. Matthews erklärte, er müsse mich deswegen unbedingt sprechen, wollte aber am Telefon nicht ins Detail gehen.«

»Ich spüre, dass Ihnen das ungewöhnlich schien.«

Mike überlegte einen Moment. »Ja. Er wirkte am Telefon irgendwie komisch.«

»Verängstigt? Nervös?«, fragte Herrenstein.

»Nein, nicht verängstigt oder nervös. Aber doch so, als wollte er am Telefon nicht darüber sprechen. Als ob es sich um etwas Vertrauliches handelte, das er mir nur persönlich erzählen konnte. Warum soll das relevant sein?«

»Ich versuche herauszufinden, weshalb er Sie sprechen wollte. Genaueres teilte er Ihnen also nicht mit?«

»Nein, er blieb sehr vage.«

»Gut. Das genügt für den Moment. Ich notiere mir noch Ihre Personalien, für den Fall, dass wir weitere Fragen an Sie haben sollten. Danach können Sie gehen.«

Mike ärgerte sich ob der überheblichen Aussage »danach können Sie gehen«. Solange ihn die Polizei nicht festhielt, konnte er ohnehin jederzeit gehen. Er versuchte, seinen Ärger zu verbergen, und reagierte nicht auf die Bemerkung. Als Herrenstein aufstehen wollte, hielt ihn Mike am Ärmel seiner Jacke fest.

»Einen Moment noch, ich habe nämlich noch Fragen an Sie, Herr Herrenstein. Hat Professor Matthews heute Morgen im Hotel gefrühstückt?«

Herrenstein schaute Mike verwundert an, als ob ihn der plötzliche Rollentausch verwirrte.

»Sie haben Fragen an mich? Das verstehe ich nicht ganz. Für Sie ist die Sache für den Moment nämlich erledigt.«

Trotzdem setzte sich Herrenstein wieder auf die Bank.

»War Professor Matthews heute Morgen frühstücken?«, insistierte Mike.

»Also gut. Nein, er wurde heute Morgen im Frühstücksraum nicht gesehen.«

»Warum hat er sich dann zuerst angezogen und sich danach, ohne zu frühstücken, wieder aufs Bett gelegt?«

»Herr Honegger, ich weiß nicht, auf was Sie hinauswollen. Nachdem er sich angezogen hatte, fühlte er sich wahrscheinlich nicht wohl und legte sich noch einmal aufs Bett. Er war ja wirklich nicht mehr der Jüngste.« Herrenstein blickte provokativ auf seine Uhr. »Jetzt muss ich mich aber nach dem Stand der Dinge im Zimmer von Herrn Matthews erkundigen. Ich habe Ihnen schon gesagt, dass wir zuerst die Ergebnisse der Ermittlungen abwarten müssen. Der Fall scheint für mich aber klar zu sein: Er hat sich hingelegt und ist gestorben. Und für Sie ist die Sache jetzt wie gesagt abgeschlossen. Fahren Sie zur Arbeit!«

Herrenstein stand auf, verabschiedete sich, ohne Mikes Hand zu schütteln, und verschwand im Lift.

Mike setzte sich zurück an den kleinen Tisch. Er konnte nicht fassen, was er von Herrenstein erfahren hatte. Matthews, unerwartet und plötzlich tot? Nein, das konnte er nicht glauben. Sein Bauchgefühl sagte ihm, dass mehr dahintersteckte als nur ein Herzinfarkt oder ein massiver Hirnschlag. Schon der Anruf von Matthews vor zwei Tagen hatte ihn beunruhigt. Mike hatte Herrenstein gesagt, dass der Engländer seltsam gewirkt hatte. Dass Matthews am Telefon mehr als nur seltsam, sondern sogar äußerst besorgt gewirkt hatte, hatte er Herrenstein verschwiegen. Ebenso Matthews’ Versprechen, die Forschungsarbeiten mitzubringen, um sie ihm persönlich zu überreichen. Weshalb, hatte er ihm nicht sagen wollen. Oder nicht sagen können? Und jetzt war er tot in seinem Hotelzimmer aufgefunden worden. Etwas stimmte an der Angelegenheit ganz und gar nicht.

Hinter der Tür mit dem Schild »Zutritt nur für Personal« hörte er jemanden schluchzen und eine Stimme sprechen, die er nicht verstehen konnte. Er blickte zur Rezeption. Die Hotelangestellten sahen alle durch die Glastür nach draußen und beobachteten, wie die Sanitäter die Türen der Ambulanz schlossen und die Hecktür eines Leichenwagens öffneten. Der Polizist am Hoteleingang drängte die Menschen, die herumstanden, zur Seite, um beide Fahrzeuge wegfahren zu lassen.

Mike nutzte den Augenblick und trat schnell in den Gepäckraum. In dem kleinen fensterlosen Zimmer saß eine junge blonde Frau auf einem Klappstuhl vor Regalen, auf denen Koffer und Taschen standen. Vor ihr kniete eine Frau, die sie offenbar zu trösten versuchte. Als sie Mike eintreten sah, erhob sie sich hastig und sagte energisch: »Hier hat nur Personal Zutritt. Sie müssen wieder raus!«

»Hat sie den Toten im Hotelzimmer gefunden?«, fragte Mike trotzdem und zeigte auf die Frau auf dem Klappstuhl. Ihr erneutes Schluchzen war ihm Antwort genug.

»Professor Matthews ist … äh, war ein Freund meiner Familie. Würden Sie mir bitte zwei, drei Fragen beantworten?« Er blickte beide Frauen flehend an. »Sie können sich nicht vorstellen, wie es mir nach der Nachricht seines Todes zumute ist!«

Die ältere Frau blieb unerschütterlich vor Mike stehen und sagte: »Jetzt ist kein guter Zeitpunkt dafür. Sie sehen ja, wie es Frau Sommer getroffen hat. Bitte zeigen Sie wenigstens ein bisschen Verständnis und Anstand. Lassen Sie sie in Ruhe.«

Diese Frau würde ihn nicht mit Frau Sommer sprechen lassen. Er drehte sich um und verließ das Hotel.

Im Café gegenüber setzte sich Mike ans Fenster, wo er unter den Lauben den Hoteleingang auf der gegenüberliegenden Straßenseite gut überblicken konnte, und bestellte einen doppelten Espresso. Er bezahlte ihn gleich. Frau Sommer schien vom Schock, Matthews’ Leiche gefunden zu haben, sehr betroffen gewesen. Mike konnte sich nicht vorstellen, dass sie heute noch lange im Hotel arbeiten würde. Ihr Chef würde sie zur Beruhigung sicherlich bald nach Hause schicken.

Kaum hatte er den Espresso ausgetrunken, sah er eine Frau das Hotel in Richtung Bundesplatz verlassen. Sie trug eine rote Wollkappe, die sie tief ins Gesicht gezogen hatte, eine schwarze Winterjacke mit hochgestelltem Kragen, und hatte einen dicken weißen Wollschal um den Hals gewickelt. Mike erkannte sie trotzdem und eilte ihr nach.

»Geht es Ihnen besser, Frau Sommer?«, überraschte er sie.

Sie hielt an und blickte zu ihm auf. Schneeflocken fielen auf ihr Gesicht. »Ah, Sie sind es. Ja danke, es geht besser. Es tut mir leid wegen der Reaktion meiner Kollegin im Gepäckraum. Sie meinte es nur gut mit mir. Sie hütet uns jüngere Mitarbeiterinnen wie eine Henne ihre Küken. Und nennen Sie mich Nina.«

»Schon gut, es muss ja auch ein rechter Schock gewesen sein, Matthews tot aufzufinden. Ich bin übrigens Mike. Würdest du mir bitte einige Fragen beantworten und mir helfen, das Geschehene besser zu verstehen?«

Nina überlegte kurz und antwortete dann: »Also gut. Mir frieren aber fast die Finger ab und der Wind bläst mir durch Mark und Bein. Du kannst mich in den ›Starbucks‹ beim Parkhaus einladen. Dort können wir in Ruhe reden.«

Über zwei heiße Latte macchiatos gebeugt, setzten sie ihr Gespräch fort.

»Erzähl mal. Lag Matthews wirklich angekleidet auf dem Bett?«

Nina atmete tief ein und schloss kurz die Augen.

»Ich hatte mehrmals laut an die Tür geklopft. Als er nicht öffnete, nahm ich an, er sei bereits frühstücken gegangen. Ich öffnete die Tür und rief trotzdem zuerst nach ihm. Er hätte ja auch im Badezimmer stehen können. Dann sah ich ihn auf dem Bett liegen, angezogen. Er trug sogar Jacke und Schuhe, als ob er das Zimmer gleich verlassen wollte. Natürlich trug er dieselben Kleider wie gestern.«

»Was meinst du dieselben Kleider wie gestern?«

»Sein Gepäck ist gestern Abend am Flughafen nicht angekommen. Er war vor seinem Abflug zu knapp am Flughafen in London eingetroffen, und die Zeit reichte nicht mehr, sein Gepäck ins Flugzeug einzuladen. Jemand von der Rezeption hat mir erzählt, der Koffer würde heute noch von der Fluglinie direkt ins Hotel nachgeliefert. Der arme Mann hatte nicht einmal Handgepäck bei sich. Bei einem solch kurzen Flug hat man ja auch keine Zeit, sich zu beschäftigen.«

»Hast du im Hotelzimmer irgendetwas Außergewöhnliches bemerkt? Irgendwelche persönlichen Gegenstände? Vielleicht eine Tasche oder einen Aktenkoffer?«

»Nein. Bis auf die wenigen Sachen, die man ihm an der Rezeption organisierte – Zahnbürste, Zahnpaste, Rasierzeug und so, weißt du, so das Dringendste eben – war es leer.« Nina trank den Rest ihres Kaffees aus und blickte durch das Fenster in den grauen kalten Tag. Am Straßenrand und auf den wenigen parkierten Fahrzeugen begann sich der Schnee zu setzen.

»Ganz ehrlich gesagt, habe ich kein gutes Gefühl bei dieser Sache«, sagte Mike nachdenklich. »Ich behaupte, Matthews ist nicht eines natürlichen Todes gestorben.«

Sie blickte ihn mit großen Augen an. »Wie willst du das wissen?«

»Ich habe Herrn Herrenstein von der Polizei schon gefragt: Warum würde Matthews sich ankleiden, Schuhe und Jacke anziehen, um sich dann wieder aufs Bett zu legen?«

»Vielleicht wurde er ohnmächtig und fiel auf das Bett.«

Mike schüttelte den Kopf. »Nein. Du sagtest ja, er sei auf dem Bett gelegen, als ob er schliefe. So fällt man nicht ohnmächtig um.«

Nina blickte ihn mit ihren großen grünen Augen weiterhin ungläubig an und wischte sich eine blonde Haarsträhne aus der Stirn. »Meinst du … glaubst du, er sei … ermordet worden? Das hätte man doch sofort gesehen. Blut oder so.«

»Ich weiß es nicht, aber eines natürlichen Todes ist er meiner Meinung nach nicht gestorben.«

Kapitel 3

Kaum öffnete der Fahrer die Türen des modernen Cars, traten die Reisenden aus dem warmen, gemütlichen Inneren in die windige Kälte Berns. Die pensionierten Paare aus den Niederlanden schlossen ihre Jacken und genossen trotz der Kälte die frische Luft. Einige gingen mehrmals um den Car, um nach der langen Fahrt ihre Beine zu strecken, andere blickten erwartungsvoll zum Hoteleingang oder bewunderten die Gebäude der Altstadt, während der Fahrer die Gepäckabteile öffnete und damit begann, die Koffer aus dem Bauch des Cars zu hieven. Die Raucher zündeten sich Zigaretten an und zogen nach dem langen Verzicht während der Fahrt genussvoll den Rauch in ihre Lungen. Alle freuten sich darauf, sich in Kürze in ihren Zimmern zu erfrischen und sich vor ihrer geplanten Führung durch die Altstadt noch etwas auszuruhen. Ungeduldig wollte jeder sofort seinen Koffer, um im Hotel möglichst zuerst einzuchecken, und der Fahrer konnte die Gepäckstücke gar nicht schnell genug he­rausgeben. Wie bei jedem Halt herrschte vor dem Hotel bald ein Durcheinander.

Als die meisten Reisenden im Hotel verschwunden waren, betrat Mike das Gebäude. Er quetschte sich durch die Gäste, die in der engen Eingangshalle herumstanden. Die zwei überforderten Hotelangestellten an der Rezeption waren mit der Gruppe beschäftigt und bemerkten ihn nicht. Er kletterte über Koffer und Taschen zum Gepäckraum, wo er Nina Sommer vor wenigen Stunden zum ersten Mal gesehen hatte.

Matthews war gestern ohne Gepäck angereist, und Nina hatte in seinem Zimmer auch kein Handgepäck gesehen. Mike folgerte daraus, dass sich die Forschungsarbeit seines Vaters, die Matthews ihm mitzubringen versprochen hatte, in seinem Gepäck befinden musste. Vor einer Viertelstunde hatte er im Café gegenüber seinen dritten Espresso bestellt, als die Fahrerin eines Lieferwagens einen Koffer und einen Skisack in das Hotel getragen hatte. Wenige Stunden nach dem Tod von Matthews war das inzwischen herrenlose Gepäck endlich im Hotel eingetroffen.

In dem dunklen Raum stolperte Mike fast über den Skisack, der hinter der Tür quer am Boden lag und den Weg versperrte, bevor er mithilfe seiner Handyleuchte den schwer erreichbaren Schalter an der Wand fand und das Licht einschaltete. Mitten im kleinen Raum stand neben dem Skisack ein brauner Lederkoffer. Am Griff war ein in weichem Leder eingeschweißtes Kärtchen angehängt, das in edler Schnörkelschrift stolz den Besitzer des Koffers verkündete: Property of Prof. James Matthews III. Wie britisch, schmunzelte Mike. Er legte den Koffer vor sich auf den Boden und kniete sich davor. Durch die Tür hörte er dumpf die Reisenden über Doppel- und Einzelzimmer streiten und bereits nach dem Frühstücksraum für morgen früh fragen. Die beiden Bronzeschlösser am Koffer waren nicht abgeschlossen und schnappten mit einem leisen Klicken auf. Vorsichtig öffnete Mike den Deckel des Koffers. Hemden, Krawatten, Skianzug, Winterwäsche, Socken, Unterwäsche, Necessaire, ein Roman. Nichts Besonderes. Er durchsuchte die seidenen Stofftaschen an den rechten und linken Innenseiten. Nähzeug, Aspirin, Schlüssel zum Koffer, Garantiekarte. Hatte Matthews vergessen, die ihm versprochene Arbeit seines Vaters mitzubringen? Unmöglich. Nicht Professor Matthews. Mike durchsuchte den Koffer ein zweites Mal, diesmal besonders gründlich. Nichts. Weder Notizblöcke noch Hefte oder Papiermappen im Koffer. Er öffnete sogar das Necessaire und durchsuchte seinen Inhalt. Die Forschungsarbeit seines Vaters war schlicht nicht da.

Hinter der Tür wurde es allmählich leiser, die meisten Gäste hatten inzwischen ihre Zimmer bezogen. Mike legte den Inhalt des Koffers vorsichtig wieder zurück, stellte das Gepäckstück so auf den Boden, wie er es vorgefunden hatte, löschte das Licht, und öffnete die Tür einen Spaltbreit. Die Mitarbeiterin an der Rezeption verglich konzentriert eine ausgedruckte Gästeliste mit einer Tabelle auf ihrem Bildschirm. Er trat aus dem Gepäckraum und schloss die Tür leise hinter sich. Niemand beachtete ihn, als er das Gebäude enttäuscht und nachdenklich verließ.

Wo hatte Professor Matthews die Forschungsarbeit seines Vaters gelassen? Hatte er es sich anders überlegt und sie nicht mitgebracht? Hatte er sie vielleicht in London vergessen?

Kapitel 4

»Wir haben vom Tod von Professor Matthews erfahren und sprechen dir unser Beileid aus«, eröffnete Ruedi Moser die morgendliche Sitzung. Mikes Teamkollegen und -kolleginnen rund um den Sitzungstisch stimmten ihm mitfühlend zu.

»Ich danke euch allen. Auch für die Karte auf meinem Pult, mit den netten Worten. Das bedeutet mir wirklich viel. Matthews war für mich so etwas wie ein Onkel, und mir ist, als ob ich ein weiteres Familienmitglied verloren hätte.«

»Ich weiß, dass dich die Angelegenheit beschäftigt, möchte dir aber trotzdem einen Auftrag erteilen, wenn das für dich geht. Vielleicht hilft er dir, dich etwas abzulenken.«

»Ja klar, das ist kein Problem. Zu seinem unerwarteten Tod habe ich noch einige Fragen, die mich beschäftigen. Bei der bisherigen Version der Ereignisse kann einiges einfach nicht stimmen. Ich möchte die offenen Punkte klären, kann das jedoch gut nebenbei erledigen. Ich bin ja hier, um zu arbeiten.«

»Also dann fangen wir doch mit den Aufträgen gleich bei dir an. Die Kantonspolizei Bern meldet in einem kurzen Communiqué, dass sie vorgestern Nachmittag im Oberland, unterhalb einer Berghütte, eine Leiche geborgen hat. Zwei Tourer haben sie entdeckt. Einer der beiden musste von der Rega wegen einer Verletzung ins Tal geflogen werden.« Moser blickte auf seine Notizen. »Das ist so ziemlich alles, was wir bisher wissen. Übernimm bitte die Berichterstattung zu diesem Fall. Du hast ja im Recherchieren von Todesfällen Erfahrung.« Moser schmunzelte.

»Erinnere mich bitte nicht daran. Der letzte Fall war nicht gerade ein Vergnügen. Ist die Berichterstattung über eine gefundene Leiche in den Bergen aber wirklich etwas für mich? So etwas kann doch auch ein Lehrling anpacken, oder nicht?«, fragte Mike.

»Das ist mir schon klar. Wie gesagt, ich gebe dir bewusst einen einfachen Auftrag, um dich zu entlasten. So hast du etwas Freiraum in Sachen Matthews. Seit du für uns arbeitest, hast du ja wirklich einen tollen Job gemacht. Da darf es auch mal etwas lockerer zu- und hergehen.«

»Alles klar. Vielen Dank, ich schätze das sehr. Was brauchst du von mir?«

»Wir veröffentlichen auf der letzten Seite einen ersten kurzen Artikel. Er sollte noch heute Abend ins Layout, also mache dich gleich an die Arbeit. Hier hast du meine Notizen, vielleicht nützen sie dir. Morgen, spätestens aber übermorgen will ich einen Folgeartikel. Wer war der Tote? Woher kam er? Wurde er als vermisst gemeldet? Wenn nicht, warum? Was ist in den Bergen geschehen? Antworten auf solche Fragen. Mit dem ersten Artikel wecken wir das Interesse der Leser, mit dem zweiten schließen wir die Berichterstattung hoffentlich inhaltlich für sie ab. Wir wollen den Lesern täglich Aktuelles und Hintergründe bieten, aber auch eine Vielfalt an Themen von Politik, Wirtschaft, Kultur bis Klatsch. Etwas für jedes Alter und jeden Geschmack.«

Mike blickte Ruedi Moser dankbar an. Seine Kolleginnen nannten ihn wegen seines Aussehens »unseren Richard Gere«. Trotz seiner 48 Jahre sah er aus wie 30. Schlank, sportlich, gut gekleidet. Seine langsam grau werdenden Haare verliehen ihm einen Hauch Eleganz, machten ihn in ihren Augen aber nicht älter. Im Zusammenhang mit seinen Recherchen im Fall des Toten an der Aare hatte Mike seine Stelle verloren, als sein damaliger Chef, Hans Werdenberger, ihn gefeuert hatte. Nachdem der Fall abgeschlossen war, bewarb er sich beim »Der Berner«, erhielt zu seiner Überraschung bald einen Vorstellungstermin und danach schnell eine Zusage. Schon bei seinem Vorstellungsgespräch hatte er sich bei Ruedi Moser gut aufgehoben gefühlt. Er hatte anscheinend auch Moser zugesagt, denn schon nach wenigen Minuten hatte er zu ihm gesagt: »I bi dr Ruedi.« Im Gegensatz zu seinem letzten Chef war sein neuer Ressortleiter ein umgänglicher, offener und flexibler Vorgesetzter, der Entscheidungen gerne im Team traf und immer auf Ideen seiner Mitarbeiter hörte. Mike war von seinem ersten Arbeitstag an von ihm und seinem neuen Arbeitgeber begeistert gewesen.

Nach der Sitzung begab sich Mike im Großraumbüro an seinen Schreibtisch. Er war zwar dankbar, einen wenig anspruchsvollen Auftrag erhalten zu haben, der ihn nicht belastete, aber gleichzeitig auch etwas enttäuscht. Gerne hätte er an einem interessanteren Thema gearbeitet. Er machte sich trotzdem gleich an die Arbeit, um heute noch einen ersten Artikel zum Toten in den Alpen abzuliefern.

Zuerst suchte er in den Medienmitteilungen auf der Website der Kantonspolizei nach der Meldung zum Fund in den Bergen. Sie erschien zuoberst auf der Liste.

Gestern meldeten zwei Bergtourer der Kantonspolizei Bern den Fund einer Leiche unterhalb der Gaulihütte im Oberland. Der männliche Leichnam wurde in der Folge durch Spezialisten mit einem Helikopter aus dem schwer zugänglichen Berggebiet geborgen und für erste Untersuchungen nach Meiringen geflogen. Die Identifikation des Toten sowie die Todesursache sind Gegenstand der laufenden Untersuchungen.

Weiter wurde gemeldet, dass die Staatsanwaltschaft Region Oberland in Thun die Verfahrensleitung übernommen hatte.

Mike wählte die Nummer der Staatsanwaltschaft. Eine Frau informierte ihn, dass die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen wären, dass ein Verbrechen nicht auszuschließen sei und dass sich die Kantonspolizei weiterhin um die Abklärungen kümmere. Die wenigen Beweise am Fundort, hauptsächlich Fotografien, hätte die Polizei bereits der Staatsanwaltschaft übergeben. Mehr könne sie dem Journalisten nicht mitteilen. Mike notierte auf einem leeren Couvert »Verbrechen nicht ausgeschlossen« und wunderte sich über diese Aussage. Klettern war nicht ungefährlich. Alpinisten verloren in den Bergen immer wieder ihr Leben, auch ohne Fremdeinwirkung. Vielleicht bedeutete die Aussage auch nichts. Er fragte, ob die Leiche schon identifiziert worden sei. Die Frau verwies auf die Vertraulichkeit laufender Untersuchungen.

Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und las das Communiqué der Polizei mehrmals durch. Die Staatsanwaltschaft hatte die Leitung des Verfahrens übernommen. Am Telefon hatte die Frau in Thun erwähnt, ein Verbrechen sei nicht auszuschließen. Er überlegte kurz, dann wählte er mit der Maus auf der Telefonanwendung auf seinem Bildschirm die gespeicherte Nummer seiner ehemaligen Arbeitskollegin Verena.

»Hallo, Mike, lange nichts mehr von dir gehört. Hast du dich von den Strapazen des letzten Falls erholt?«

»Danke ja, das habe ich. Mit meinem neuen Job bin ich übrigens sehr zufrieden.«

»Wir vermissen dich, weißt du? Außer Werdenberger natürlich.« Verena hustete und fuhr mit heiserer Stimme weiter. »Was kann ich für dich tun?«

»Ich hoffe, dein Husten stammt von einer Erkältung und nicht vom Rauchen! Du solltest wirklich damit aufhören.«