Nacht am Münster - Tony Dreher - E-Book + Hörbuch

Nacht am Münster E-Book und Hörbuch

Tony Dreher

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Beschreibung

IT-Administrator Sven Olsen wird unterhalb der Münsterplattform in Bern tot aufgefunden. Sein Freund, der Journalist Mike Honegger, glaubt nicht an einen Selbstmord und beginnt zu recherchieren. Bald darauf erhält er eine anonyme Drohung, sein Computer wird offensichtlich überwacht und seine Daten verschwinden aus der Cloud. Wer jagt Mike und seine Freundin Nina? Ein bedrohliches Rennen um die Wahrheit beginnt, in dem nichts ist, wie es scheint, und das beide in Lebensgefahr bringt.

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Seitenzahl: 328

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Tony Dreher

Nacht am Münster

Der dritte Fall für Mike Honegger

Zum Buch

Jagd nach der Wahrheit Sven Olsen, IT-Administrator bei einem Softwareunternehmen, wird unterhalb der Münsterplattform in Bern tot aufgefunden. Vieles deutet darauf hin, dass sich Sven selbst das Leben nahm. Aber sein Freund, der Journalist Mike Honegger, glaubt nicht an einen Selbstmord und beginnt zu recherchieren. Doch je mehr Fragen Mike stellt, desto mehr Ungereimtheiten kommen auch zum Vorschein. Bald erhält er eine anonyme Drohung, sein Computer wird offensichtlich überwacht und seine Daten verschwinden aus der Cloud. Mike und seine Freundin Nina werden gejagt und wissen nicht mehr, was sie glauben und wem sie trauen können. Der Verlust seines Jobs und ihre plötzlich leeren Bankkonten treiben die beiden immer mehr in die Enge. Ein bedrohliches Rennen beginnt, in dem nichts ist, wie es scheint. Werden Mike und Nina der Wahrheit auf die Spur kommen und ihre eigenen Leben retten?

Tony Dreher wurde als Auslandschweizer in Mexiko-Stadt geboren, wo er seine Kindheit verbrachte. Sein Studium in Physik und Ingenieurwesen absolvierte er in den USA. Seit Tony Drehers Rückkehr in die Schweiz vor über 30 Jahren arbeitet er in der IT-Branche und lebt mit seiner Familie in der Nähe von Bern. Er interessiert sich für Sprachen, Geschichte, Weltgeschehen, Astronomie, Kino und Musik. »Nacht am Münster« ist sein dritter Roman um den Journalisten Mike Honegger.

Mehr Informationen zum Autor finden Sie hier: www.tonydreher.com

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Yü Lan / AdobeStock

ISBN 978-3-8392-7362-3

Widmung

Für Eija und Kati

Kapitel 1

»Vorab bitte schon mal eine große Flasche kaltes Mineralwasser, mit Gas, und zwei Gläser«, bestellte Mike und nahm die Menükarte entgegen, die ihm die Servicemitarbeiterin überreichte. Er blickte über den Tisch zu Nina, die ebenfalls zu einer Karte griff, und murmelte: »Und noch ein erholsames Wochenende dazu, bitte.«

Nina lächelte. »Ja, gerne. Damit wäre ich schon zufrieden. Was für ein Tag!« Sie schüttelte ihren Kopf. »Es tut mir leid für die Verspätung, aber unser Workshop in der Schule wollte kein Ende nehmen. Als er dann spät endlich endete, eilte ich gleich hierher. Schau, ich bin ganz verschwitzt vom Hetzen bei dieser frühsommerlichen Hitze.«

»Kein Stress. Ich bin ebenfalls erst vor fünf Minuten eingetroffen«, erklärte Mike. »So einen mühsamen Freitag wie heute habe ich im Büro schon lange nicht mehr erlebt. An unserer monatlichen Sitzung mit dem gesamten Team hörten die Diskussionen nicht auf. Jeder und jede wollte noch ein Anliegen besprechen und gleich lösen. Das Ganze natürlich mit Dutzenden von Folien untermauert. Die Sitzung dauerte und dauerte.«

Still beobachteten beide eine Weile das Hin und Her der Passanten auf dem Bärenplatz in der Berner Altstadt. Berufstätige auf dem Weg nach Hause, Einkaufende mit ihren gefüllten Taschen, Flanierende, die die Stadt besuchten. Allmählich füllten sich die wenigen freien Tische um Mike und Nina herum mit Gästen.

Nina nahm das Thema wieder auf. »Es scheint, dass wir beide einen ähnlich mühsamen Tag hinter uns haben. In der Schule kam unser Workshop so, wie ich es voraussagte. Niemand war vorbereitet. Die erste Stunde verbrachten wir mit dem Lesen der Unterlagen, die wir bereits im Vorfeld hätten lesen sollen. Das hatten die meisten wieder mal nicht getan. Zum Glück wissen unsere Schüler und Schülerinnen nicht, wie ihre Lehrkräfte heute arbeiten. Sie wären nicht wirklich beeindruckt. Manchmal ist es mit meinen Kollegen und Kolleginnen zum Verzweifeln.«

Die Servicemitarbeiterin schenkte zwei Gläser Mineralwasser ein und setzte die mit Kondenswasser angelaufene Flasche auf den Tisch.

»Wir brauchen noch einen Moment«, sagte Nina, als sie ihre Bestellung aufnehmen wollte.

Mike und Nina griffen beide zu den Gläsern und tranken sie leer.

»Ah, das tut gut bei der Hitze. So fühlt sich Wochenende an«, lächelte Mike. »Weißt du schon, was du bestellst?«

»Die Spaghetti aglio et olio hören sich gut an, morgen ist Samstag, da kann ich nach Knoblauch stinken.«

»Das sagst du«, erwiderte Mike und grinste. »Ich freue mich auf eine Pizza aus dem Holzofen. Eine Prosciutto e Funghi und ein Glas offener Roter. So fühlt sich Wochenende an.«

»Für Rotwein ist es mir zu warm. Ich nehme lieber ein Glas kühlen Rosé.«

Beide legten ihre Menüs auf den Tisch, und Nina füllte die Gläser erneut mit Mineralwasser auf.

»Jetzt ist der Arbeitstag aber vorbei, es ist endlich Feierabend, das Wochenende steht bevor, und das Wetter soll herrlich werden. Jedenfalls versprach das der Meteorologe heute Morgen im Radio. Es ist Zeit, um herunterzufahren und zu entspannen«, freute sich Nina.

Die Servicemitarbeiterin kehrte zurück, bückte sich unter dem Sonnenschirm über den Tisch zu Mike und Nina, legte Besteck und Servietten hin und nahm ihre Bestellung auf.

»Nina, wir haben bereits mehrmals darüber gesprochen, ein langes Wochenende zusammen wegzufahren. Nach einem mühsamen Tag wie heute ist es höchste Zeit zu planen. Ich finde, wir brauchen beide eine Pause vom Alltagsstress. Ich denke an eine Städtereise, übernächstes Wochenende oder das Wochenende danach. Donnerstag bis Sonntag. Du und ich zusammen, einfach wegfahren, genießen und erholen. Was meinst du dazu?«

Nina nickte und lächelte begeistert. »Du sprichst mir aus der Seele. Nach dem heutigen Workshop kann ich dazu nur ja sagen. Ich werde einen Donnerstag freinehmen, Freitag arbeite ich eh nicht. Dann haben wir vier Tage am Stück zum Wegfahren. Milano. Shoppen, feine Pasta. Entspannen.«

»Ich kann zwei Tage Urlaub beantragen, Ruedi wird sicherlich nichts dagegen haben. Du sagst Milano? Vor zwei Wochen veröffentlichten wir in der Zeitung einen Artikel zur deutschen Universitätsstadt Marburg. Die wunderschöne Altstadt ist noch erhalten, und ein Besuch soll sich lohnen. Auch das Schloss soll sehenswert sein. Nach Marburg können wir mit dem Zug über Frankfurt fahren. Was sagst du zu Marburg anstatt Milano?«

Bevor Nina antworten konnte, servierte die Servicemitarbeiterin Ninas Spaghetti und Mikes Pizza und stellte die Gläser mit dem Rotwein und dem Rosé auf den Tisch. Mit einem »en Guete mitenand«, drehte sie sich um und widmete sich den Gästen am Nachbartisch.

Mike und Nina begannen hungrig zu essen. Nach den ersten Bissen legte Nina ihr Besteck ab und hob ihr Glas. »Also, von Marburg bin ich noch nicht ganz überzeugt, aber das lösen wir noch. Prost. Auf das bevorstehende, hoffentlich erholsame Wochenende, und auf ein baldiges verlängertes Wochenende zusammen, weg von hier.« Auch Mike hob sein Glas und prostete Nina zu.

»Egal, wo wir hinfahren«, sagte Nina, »unsere Joggingausrüstung nehmen wir aber mit. Jetzt, wo du endlich mit Joggen begonnen hast, darfst du dein Training nicht unterbrechen, sonst schimpfen Sven und Madeleine mit dir.«

»Ich weiß. Es dauert aber noch elf Monate bis zum nächsten Berner Grand Prix Rennen, da habe ich noch viel Zeit, um zu trainieren. Sven und Madeleine müssen ja nicht wissen, dass wir in Marburg nicht trainieren werden.«

Nina hob ihre Augenbrauen und lächelte Mike zu. »Du meinst wohl Milano, oder?«

»Themenwechsel«, antwortete Mike und schmunzelte.

»Nicht so schnell, Mike. Im Mai hast du Sven, Madeleine und mir am Grand Prix zugeschaut und hast uns angefeuert. Dann hast du laut verkündet, am nächsten GP würdest du teilnehmen und mit uns rennen. Seit damals trainieren wir gemeinsam. Du darfst nicht bereits nach vier Wochen aufgeben.«

»Es geht noch ewig bis zum nächsten GP. Du kannst ja deine Joggingkleider nach Marburg mitnehmen und für uns beide trainieren«, witzelte er.

In Ninas Tasche klingelte es. »Oh, es tut mir leid, ich habe vergessen, es auf Stumm zu schalten.« Sie legte ihr Besteck ab und nahm das Handy aus der Tasche. »Es ist Madeleine. Ich werde ihr gleich verraten, wie an diesem Tisch über unser Joggingtraining gesprochen wird.«

»Hallo, Madeleine. Nur ganz kurz, denn Mike und ich sitzen an der Front und genießen den Feierabend mit Pizza, Spaghetti und einem Glas Wein.«

Nina hörte Madeleine zu. Auf einen Schlag wurde ihr Gesicht ernst und bleich.

»Was sagst du?«, wollte sie laut wissen. Mike blickte sie fragend an.

»Nein, das kann doch nicht wahr sein. Was ist denn geschehen?«

Mit entsetztem Blick schaute Nina zu Mike, deckte das Handy mit der Hand ab und flüsterte: »Es ist Sven.« Mike erkannte in Ninas Augen, dass etwas Schreckliches vorgefallen sein musste. Sein Blick verwandelte sich von fragend zu alarmiert.

»Wann ist es denn geschehen, Madeleine?«

»Nein! Ich kann es nicht glauben. Ist es wirklich dein Ernst?«

»Sven von der Münsterplattform gestürzt und tot?«

Mike erschrak sichtlich und legte sein Besteck ab.

»Selbstmord?«, fragte Nina laut genug, dass sich das Paar am Nachbartisch zu ihr umdrehte. »Nein, hör auf. Das kann doch alles nicht wahr sein! Warte einen Moment.«

Sie nahm das Handy vom Ohr und wandte sich zu Mike. »Es ist ganz fürchterlich. Wir müssen sofort zu ihr fahren.« Dann hob sie das Handy wieder ans Ohr. »Madeleine, wir kommen gleich zu dir.«

»Bist du sicher? Wir kommen wirklich gerne.«

»Aha, ich verstehe. Klar.«

»Oh, Madeleine, wie fürchterlich. Das kann doch alles nicht wahr sein. Es ist ein Albtraum.«

»Wirklich? Also bis morgen. Wenn du sprechen möchtest, rufe einfach an. Jederzeit. Die ganze Nacht. Du weißt, wir sind für dich da.«

»Ja, bis morgen. Unsere Gedanken sind bei dir. Tschüss.«

Nina legte das Handy zurück in ihre Tasche und schaute Mike mit Tränen in den Augen an. »Ich kann es nicht glauben. Die Polizei hat sie gestern Abend benachrichtigt. Sven wurde unterhalb der Münsterplattform gefunden. Tot.«

»Wir bezahlen und fahren gleich zu ihr«, sagte Mike sofort.

»Nein. Sie sagte, sie wäre dankbar, wenn wir sie erst morgen besuchen. Ihre Eltern sind unterwegs zu ihr, und sie sind für heute Belastung genug. Du weißt, dass sie eine schwierige Beziehung zu ihnen hat. Das wird für sie kein einfacher Nachmittag.«

Mike und Nina blickten auf den Rest des Essens auf dem Tisch. Beide hatten ihren Appetit schlagartig verloren. Von einem verlängerten Wochenende in Milano oder Marburg war keine Rede mehr.

»Sven tot. Ich kann das nicht glauben. Das kann doch nicht wahr sein«, sagte Mike mit bedrückter Stimme. »Was ist denn geschehen?«

»Madeleine hat nicht viel mehr erzählt. Die Arme konnte vor Weinen fast nicht sprechen«, antwortete Nina leise.

Nach einer Pause, während der beide versuchten, die schreckliche Neuigkeit zu fassen, fuhr sie fort. »Madeleine war schon während unseres Studiums an der Pädagogischen Hochschule meine beste Freundin. Seit du und ich uns kennen, machen wir so vieles zu viert. Ich finde das toll, dass sich meine Freundschaft mit Madeleine auf dich und Sven erweitert hat. Wir gehen sogar regelmäßig zusammen joggen. Und jetzt das …« Nina versagte die Stimme.

»Es ist schön für mich, Svens Freund zu sein. Er ist ein so guter und freundlicher Mensch, immer ruhig und gelassen, wie kann jemand ihn nicht mögen. Ich mochte ihn vom ersten Moment an, als du ihn und Madeleine mir damals vorstelltest.«

Die Freude am wohlverdienten Feierabend und die Aussicht auf eine baldige erholsame Städtereise hatten sich mit einem Telefonanruf blitzartig verflüchtigt. Mike blickte besorgt zu Nina und nahm ihre Hand auf dem Tisch in die seine.

Kapitel 2

Madeleine wohnte zwar nicht mehr in der herrlichen Villa aus der Belle Époque der angesehenen Familie Grandjean, wo sie in der Nähe von Genf am See aufgewachsen war, ihre Wohnung wirkte aber trotzdem elegant, und, wie Mike fand, nobel im positiven Sinne. Die großen Ölbilder an den Wänden passten erstaunlich gut zu den modernen Designer-Möbeln im Wohnzimmer, und Mike bewunderte, wie Madeleine alles farblich passend kombiniert hatte. Er blickte zu Madeleine und Nina, die ihm gegenübersaßen. Madeleines französischer Akzent, mit dem sie Schweizerdeutsch sprach, fand er an ihr immer besonders charmant. Kombiniert mit ihrer natürlichen Schönheit, positiven Ausstrahlung und ihren langen dunklen Haaren, verlieh er ihr einen zusätzlichen Hauch Eleganz. Davon war jetzt nichts mehr zu spüren, realisierte Mike traurig.

Madeleine blickte vor sich auf den Boden und schluchzte. »Jeden Augenblick hoffe ich, aus diesem Albtraum zu erwachen und Sven neben mir stehen zu sehen. Ständig wünsche ich mir, dass er mich anruft und erklärt, es handle sich um eine grausame Verwechslung. Mit 23 Jahren Witwe zu werden, das kann doch nicht sein.« Mit einem Papiertüchlein wischte sie sich Tränen aus den Augen. Nina rückte auf dem großen Ledersofa näher und legte den Arm um ihre Schultern, während Madeleine fortfuhr: »Vorgestern früh musste ich vor ihm zur Arbeit fahren, und wir verabschiedeten uns wie jeden Tag. Ein Abschiedskuss, der vielleicht etwas hastiger war als sonst, weil ich spät dran war, aber wie immer von ganzem Herzen gemeint, dann eilte ich aus der Wohnung und fuhr mit dem Bus zur Arbeit. In so einem Moment denkt man nicht daran, dass es der letzte Abschiedskuss sein könnte, der letzte Blick in die Augen von jemandem, den man über alles liebt, das letzte Tschüss, bevor man sich umdreht und geht. Dann, spät am Abend, der schreckliche Anruf der involvierten Patrouille der Polizei.«

»Unvorstellbar, wie schlimm das für dich gewesen sein muss«, sagte Nina.

»Vorgestern Nacht, spät, sagten sie, hätte jemand die Notfallnummer angerufen und gemeldet, dass … gemeldet …« Madeleine stockte die Stimme und sie konnte nicht weitersprechen.

»Schon gut, Madeleine. Du musst nichts sagen«, erwiderte Nina und zog sie fester an sich.

Erst nach einigen Minuten konnte Madeleine fortfahren. »Die Polizei muss bald nach dem Anruf am Münster eingetroffen sein. Sie bot einen Fahnder, einen Arzt, der die Todesbescheinigung ausstellte, jemanden vom Institut für Rechtsmedizin und jemanden vom Kriminaltechnischen Dienst auf. Die Staatsanwältin ordnete die Legalinspektion an, die Untersuchung der Leiche vor Ort, und gab sie später in der Nacht anhand aller Erkenntnisse frei. Es heißt, es handle sich um einen klaren Fall, so würde alles voraussichtlich sehr schnell gehen. Einen klaren Fall für wen, muss ich da fragen. Für mich sicherlich nicht. Svens Leiche wurde dann in ein Bestattungsunternehmen gebracht, wo sie sich immer noch befindet. Gestern haben sich zum Glück Svens Eltern um die Bestätigung seiner Identität gekümmert. Stellt euch vor, wie fürchterlich das ist. Ich hätte es nicht tun können.«

»Was hatte er denn am Abend in der Altstadt noch vor?«, fragte Mike.

»Ich weiß es nicht. Sven rief mich am frühen Abend an und sagte, er hätte noch eine geschäftliche Verabredung in der Altstadt, am Münsterplatz. Die Einladung sei kurzfristig erfolgt, und er wäre bereits unterwegs. Wir sprachen nur kurz miteinander, denn er war verspätet. Er müsse noch jemanden treffen und würde später als üblich nach Hause kommen, sagte er. Ich sollte ruhig schlafen gehen und nicht auf ihn warten. Ich fragte nicht nach, denn es hörte sich nicht nach einem wichtigen Treffen an, und er war in Eile. Er hat mich immer angerufen, wenn er sich verspätete oder irgendwohin musste. Ich wusste immer, wo er war, wir hatten voneinander keine Geheimnisse. Ein so ehrlicher und verlässlicher Mann.«

»Ja, das war er«, pflichtete ihr Nina bei.

»Machst du mir einen Gefallen und holst mir bitte ein Glas Wasser aus der Küche, Mike? Nimm aber bitte das gefilterte Wasser neben der Kaffeemaschine«, bat Madeleine.

Mike ging durch das Wohnzimmer in die mustergültig saubere und aufgeräumte Küche, die mit modernsten Küchengeräten der gehobenen Klasse ausgestattet war. Nach kurzem Suchen fand er den Schrank mit den Gläsern, füllte drei mit dem Wasser aus der Filterkanne und kehrte zu Madeleine und Nina zurück. Nachdem alle drei verlegen etwas Wasser getrunken hatten, nahm er das Gespräch wieder auf. »War das das Letzte, das du von ihm gehört hast?«

»Ja. Nach seinem Anruf machte ich mir natürlich keine Gedanken, denn ich wusste ja, dass er in der Stadt war, und richtete mich auf einen gemütlichen Abend ein. Ich las noch eine Weile und schaute dann zu einem Glas Süßwein fern.«

»Wie hat er am Telefon gewirkt?«

»Etwas gestresst, weil er verspätet war. Er ist ein …« Madeleine machte eine kurze Pause und senkte ihren Kopf. »Er war immer pünktlich. Menschen, die es nicht sind, ärgerten ihn. Besonders, wenn er auf sie warten musste. Sonst wirkte er aber ganz normal, so wie immer. Voller Liebe für mich. Ihr wisst ja, wie sehr er mich verehrt.« Sie nahm mit zitternder Hand das Glas und trank zwei Schlucke Wasser, um sich wieder zu fassen. »Die Polizei vermutet, dass er von der Münsterplattform … dass er von der Münsterplattform … gesprungen ist.«

»Das kann doch nicht sein«, sagte Nina und schüttelte ihren Kopf. »Einfach so, aus dem Nichts? Jemand wie Sven, den nie etwas aus der Ruhe brachte, außer verspätet zu sein?«

»War an ihm in letzter Zeit etwas anders als sonst? Machte er sich irgendwelche Sorgen?«, wollte Mike wissen.

»Nein. Er war derselbe liebevolle Mann, den ich vor zwei Jahren geheiratet habe. Meine Eltern fanden den Zeitpunkt dafür viel zu früh, wie ihr wisst. Ich habe die Entscheidung keinen Moment bereut, denn wir passen perfekt zueinander. Das spürte ich vom Augenblick unseres ersten Treffens an, und ich weiß, dass er das ebenfalls spürte. Es gibt sie eben doch, die Liebe auf den ersten Blick. Sie ist vielleicht selten, aber manchmal hat man im Leben Glück.« Madeleine machte eine Pause, und ihre Stimme wurde leiser. »Und jetzt bin ich alleine auf dieser Welt. Ganz alleine.« Sie hob ihren Blick zu den zwei Aquarien, in denen Fische in verschiedenen Größen und Farben zwischen den blubbernden Luftbläschensäulen schwammen. »Wer wird sich denn jetzt um die Fische kümmern?« Sie starrte auf die Fische, und Tränen rollten über ihr Gesicht. »Ach, ihr denkt wohl, ich rede wirres Zeug, springe von einem Thema zum andern. Es ist einfach zu viel für mich im Moment.«

Nina gab ihr ein weiteres Papiertüchlein. »Du musst jetzt einen Schritt nach dem anderen nehmen. Mike und ich werden dir jederzeit zur Seite stehen, wir sind für dich da. Tag und Nacht. Immer. Sag, was wir für dich tun können.«

»Ich danke euch und weiß, dass ich auf euch zählen kann. Im Moment fühlt sich alles so leer an. Mir ist, als wäre ich mitten im Ozean, alleine, wehrlos, am Strampeln, um nicht unterzugehen. Kein Mensch, kein Schiff und kein Land in Sicht. Nichts. Nur die Wellen, die mich in unbekannte Richtungen treiben. Am Montag soll ich Svens Sachen auf der Polizeiwache am Waisenhausplatz abholen. Die Sachen, die Sven vorgestern trug, als er angeblich von der Plattform sprang. Das schaffe ich einfach nicht.«

»Wir kommen mit«, bot Mike spontan an. »So bist du nicht alleine.«

»Danke, das Angebot kann ich nicht annehmen. Ihr müsst am Montagmorgen arbeiten«, entgegnete Madeleine.

»Klar geht das. Keine Diskussion. Am Montag begleiten wir dich«, bestätigte Nina und nickte bestimmt.

Nach dem Besuch in Madeleines Wohnung saßen Mike und Nina während der Busfahrt zurück zum Bahnhof Bern lange stumm in ihre Gedanken versunken.

»Kannst du am Montagmorgen Madeleine und mich wirklich begleiten?«, fragte Nina.

»Ich versuche, es hinzukriegen. Zum Glück ist Ruedi mein Vorgesetzter. Er ist nicht nur ein guter Ressortleiter, sondern auch sehr menschlich und zeigt immer Verständnis, wenn jemand aus unserem Team aus privaten Gründen mal kurz wegmuss oder am Morgen mal später ins Büro kommt. Ich schreibe ihn wegen Montag gleich an.«

Nina blickte aus dem Fenster des Busses und schwieg wieder.

Mike zog sein Handy hervor und tippte die Nachricht an Ruedi ein.

Ein guter Freund von uns ist vorgestern gestorben, und Nina und ich begleiten seine Frau am Montagmorgen früh zur Polizei. Ich schaffe es nicht zum wöchentlichen Meeting und komme später. Ich hoffe, das ist für dich in Ordnung. Gruß, Mike

Es dauerte nicht lange, bis das Handy piepste.

Es tut mir leid für euch, mein Beileid, alles klar, kein Problem wegen Montag. Wir besprechen den Stand deiner Artikelserie anstatt am Montag am Dienstag. Wollten wir ja bereits gestern tun. Ich schicke dir eine elektronische Einladung für Dienstagmorgen. Gruß, Ruedi

Kapitel 3

Am Montagmorgen gingen Mike und Nina zu Fuß vom Bahnhof Bern zum Waisenhausplatz und wurden rechts und links von Jugendlichen überholt, die zu spät waren, um rechtzeitig zum Unterrichtsbeginn ihr Schulgebäude zu erreichen, und von Erwachsenen, die knapp vor der Öffnung der Geschäfte und Büros in die Altstadt eilten. Nach dem warmen und sonnigen Wochenende passte der kühle und bewölkte Morgen zu Mike und Ninas Stimmung.

»Madeleine tut mir so leid«, sagte Nina mit bedrückter Stimme. »Stell dir vor, wie das sein muss, die Sachen deines Mannes abholen zu müssen. Das ist ja schrecklich.«

»Ein schwerer Gang, ganz besonders für eine so junge Frau«, antwortete Mike.

Nina blickte auf und zeigte auf die ganz in Schwarz gekleidete Frau, die auf dem Waisenhausplatz stand. »Dort wartet sie bereits, vor dem Oppenheim-Brunnen.«

Als sie sie erreicht hatten, begrüßte Madeleine sie mit einem Nicken. »Danke, dass ihr mich heute begleitet. Wie ihr euch vorstellen könnt, ist das Abholen von Svens Sachen für mich ein Grauen.«

Mike und Nina bemerkten beide ihr bleiches Gesicht und ihre geröteten Augen, die sie mit ihrer eleganten schwarzen Sonnenbrille zu verstecken versuchte. »Also, bringen wir es hinter uns«, forderte sie sie mit einem leisen Seufzer auf und griff mit beiden Händen nach ihren zwei Freunden. Diese nahmen sie in ihre Mitte, und zu dritt gingen sie auf das Eisentor und den Garten vor dem Palais-ähnlichen Polizeigebäude zu.

Zurück in Madeleines Wohnung saßen sie zu dritt im Wohnzimmer und blickten auf Svens Habseligkeiten, die sie von der Polizei erhalten und auf dem Glastisch vor ihnen ausgebreitet hatten.

»Das ist alles, was von einem Menschen zurückbleibt, den ich liebte«, sagte Madeleine traurig. »Eine Hose, Schuhe, Socken und ein Schlüsselbund. Sein Hemd und seine Jacke wurden entsorgt. Das ist auch gut so, ich kann mir vorstellen, wie die ausgeschaut haben. Sie zu sehen, wurde mir erspart.«

Sie verstaute die Sachen wieder in einem Plastiksack und legte ihn neben das Sofa auf den Boden.

»Mit meinen Eltern hatte er es ja nicht einfach. Sie hätten sich am liebsten einen französischen Adeligen als Schwiegersohn gewünscht, nicht Sven Olsen, Sohn norwegischer Einwanderer. Er war ihnen nie gut genug. Sie gaben das zwar nicht zu und sprachen lieber davon, dass wir zu jung für die Ehe wären, und dass ich warten sollte, mindestens bis zum Abschluss meines Studiums. Seine Intelligenz, seine Reife und Besonnenheit bedeuteten ihnen genauso wenig wie die Tatsache, dass wir vom ersten Moment an, als wir uns kennenlernten, wussten, dass wir zueinander passten. Das spürten wir einfach. Eine Kollegin, die seine Familie kennt, hat ihn mir vorgestellt. Zwischen uns funkte es sofort. Das gibt es. Ganz einfach. Nicht alle lernen sich unter Umständen wie ihr kennen.«

Nina nickte. »Ja, das kannst du wirklich sagen. Sich im Rahmen eines Todesfalls kennenzulernen, der sich später als Mord herausstellt, ist schon etwas Einmaliges.« Sie wandte ihren Blick zu Mike und legte ihre Hand auf seine Schulter. »Und dann zusammen entführt und angeschossen zu werden, das gibt es zum Glück selten. Das hat uns aber auch verbunden. Nicht, dass ich so etwas je wieder erleben möchte.«

»Das liegt zum Glück hinter uns.« Mike legte eine kurze Pause ein und wechselte das Thema. »Aber zurück zu euch beiden, Madeleine. Ich habe euch trotz der Differenzen mit deinen Eltern nach der Hochzeit als sehr glücklich erlebt.«

»Das waren wir. Es passte einfach alles. Wir blieben frisch verliebt und waren das auch zwei Jahre nach der Hochzeit noch. Die Zeit, bis Sven endlich seine Stelle bei Granite­lock fand, war anstrengend, weil er meinen Eltern unbedingt beweisen wollte, dass er erfolgreich sein würde. Als er die Stelle endlich antrat, waren wir beide überglücklich.«

»Uns gegenüber erwähnte er seine Arbeit selten. War er damit zufrieden?«, fragte Nina.

»Ich hatte immer den Eindruck, dass ihm seine Arbeit als IT-Administrator Spaß bereitete. Er war ja eine Informatik-Koryphäe, wie sie sich jeder Arbeitgeber sicher wünscht. Schon während des Studiums hatte er immer die besten Noten. Er sprach aber tatsächlich nicht oft von der Arbeit. Ich deutete das immer als Zeichen, dass alles in Ordnung war. Ich kann mir aber vorstellen, dass er sich selber unter Druck setzte, besonders erfolgreich zu sein. Wegen meiner Eltern.«

»Vielleicht wollte er zur Arbeit nichts Negatives sagen, das zu deinen Eltern durchdringen konnte«, spekulierte Mike.

»Ja, das kann auch sein. Ich hätte es aber gespürt, wenn am Arbeitsplatz etwas nicht gestimmt hätte, da bin ich mir sicher. Das macht es für mich auch so schwer zu glauben, dass er sich sein Leben genommen hat. Es stimmte doch alles. Dazu kommt noch, dass er mein Leben nie hätte ruinieren wollen. Genau das hat er jetzt getan.«

»Es ist auch für mich sehr schwer vorstellbar. Er war immer fröhlich und machte den Eindruck, zufrieden und mit dem Leben im Einklang zu sein. Oder nicht?« Mike blickte zu Nina.

»Das sehe ich auch so. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihn etwas ernsthaft bedrückte, und wir, besonders natürlich du, Madeleine, es nicht bemerkt haben.«

Madeleine schaute nachdenklich von Nina zu Mike. »Ich kann nicht damit leben, nicht zu wissen, was geschehen ist. Jede Nacht halten mich Fragen vom Schlaf ab. War es der Druck, meinen Eltern etwas zu beweisen? War ich so naiv, nicht zu erkennen, dass er am Arbeitsplatz Schwierigkeiten hatte, die er vor mir verbarg?« Sie senkte ihren Blick und begann zu schluchzen. »Oder war unsere Ehe tatsächlich ein Fehler, den ich, blind vor Liebe, nicht erkannt habe? Ich weiß nicht, was ich denken soll.« Sie hob ihren Blick wieder, die Tränen flossen über ihre Wangen. »Ich muss verstehen können, muss auf meine vielen Fragen Antworten finden. Bitte helft mir dabei. Ihr seid unsere, meine besten Freunde. Ich weiß nicht, wer mir sonst helfen kann. Ohne Antworten werde ich den Verstand verlieren. Bitte.«

Bevor Mike oder Nina antworten konnten, klingelte es. Madeleine wischte sich mit der Hand die Tränen aus den Augen, ging zur Wohnungstür und fragte durch die Gegensprechanlage, wer da sei. Sie legte den Hörer auf und drückte auf den Türöffner. »Es sind Svens Eltern. Sie meinen es gut und möchten mir in diesen Stunden beistehen.«

»Wir lassen euch alleine, Madeleine«, sagte Nina und stand auf. »Rufe uns an, falls du uns brauchst.« Sie ging auf Madeleine zu und umarmte sie.

Kapitel 4

Ruedi Moser zeigte mit seiner Hand auf einen freien Stuhl am Sitzungstisch in seinem Büro. »Setz dich schon mal. Ich muss noch eine E-Mail fertigschreiben, dann schauen wir, wie weit du mit deiner Arbeit bist.« Mike nahm Platz, legte sein Tablet auf den Tisch und sah Ruedi zu, wie er konzentriert seine E-Mail schrieb. Ruedi, den Mikes Arbeitskolleginnen wegen seines Aussehens den Richard Gere der Zeitung Der Berner nannten, wurde nicht nur von ihm, sondern vom ganzen Team geschätzt. Er war immer offen für Ideen und Vorschläge, bedacht, mit Konsens zu führen, aber trotzdem den Weg zeigend. Mike arbeitete gerne für ihn.

Ruedi setzte sich an den Sitzungstisch und unterbrach Mikes Gedanken. »Also, zeig mal. Wie weit bist du?«

Mike schaltete sein Tablet ein und öffnete eine Präsentation. »Auf dieser Folie habe ich die wichtigsten Punkte zusammengefasst. Wie besprochen, schreibe ich eine Serie von Artikeln, die wir wöchentlich veröffentlichen können. Themen sind die Schulreform im Kanton Bern, der Stand des Schulwesens aus Sicht der Lehrer, der Eltern und der Kinder, ergänzt mit einer Reihe begleitender Artikel zu verschiedenen Schulen im Kanton, in der Stadt und auf dem Land.«

»Warum erweiterst du die Serie nicht mit fachspezifischen Artikeln, zum Beispiel zu umstrittenen Fragen wie, ob Informatikunterricht bereits in der Grundschule stattfinden soll? Welche Fremdsprachen sollen Kinder ab welchem Alter lernen? Sollten die Kinder früh damit anfangen oder lieber später? Spielerischer oder klassischer Unterricht? Sollen Kinder überhaupt noch Französisch lernen, oder zugunsten von Englisch darauf verzichten? Das sind zum Teil emotionale Themen, die immer wieder kontrovers diskutiert werden und in einem zweisprachigen Kanton weitreichende Konsequenzen haben können.«

»Das macht Sinn. Ich ergänze die Liste gleich auf der Präsentation, so vergesse ich die einzelnen Punkte nicht.«

»Sag mal, Mike. Du bist mit deinem Tablet da. Wo ist denn diese Präsentation gespeichert? Hast du sie lokal auf dem Tablet?«, fragte Ruedi verwundert.

»Nein, sie ist in meinem Cloudkonto gespeichert. Ich werde alles auf unseren Server kopieren. Es war mir einfacher, unterwegs meine Notizen und Bilder auf dem Tablet festzuhalten.«

»Hmmmmm. Du kennst die Weisungen über die Nutzung privater Geräte und Konten am Arbeitsplatz. ›Bring your own device‹, nennt sich das heute. Alles, was wir erarbeiten, muss mit der Unternehmens-IT gemacht und alle Daten auf unseren Servern gespeichert werden. So werden sie auch professionell gesichert und können im Notfall wieder hergestellt werden.«

Mike nickte etwas verlegen. »Das ist mir klar. Ich werde alles rüberkopieren, was ich bisher erarbeitet habe. Gleich nachher.«

»Wie recherchierst du in diesem Projekt?«

»Ich spreche mit Lehrern, Schulleitern, Schülern, aber auch Vertretern von Elternräten und Schulbehörden. Dann besuche ich die Schulen, über die ich schreibe, und nehme im Unterricht als Gast teil. So spüre ich die Stimmung in den Klassen und unter den Kindern.«

»Welche Beiträge kann ich als Entwurf schon mal lesen?«

»Es sind zum größten Teil noch Notizen, Bilder und Entwürfe.«

Ruedi runzelte erstaunt seine Stirn. »Was sagst du da?«

»Ich bin dran, es kommt schon gut«, versuchte Mike zu beschwichtigen.

»Das Konzept gefällt mir gut, damit bin ich zufrieden. Dass du aber noch keinen einzigen Beitrag zur Abgabe fertig hast, erstaunt mich schon. Wir wollten bereits letzten Freitag den Stand der Arbeiten anschauen und mussten auf heute verschieben. Damit haben wir Zeit verloren, die du hättest nutzen können. Ich hatte erwartet, dass du mit dem Schreiben weiter wärst. Wenn wir in zwei Wochen mit der Veröffentlichung des ersten Beitrags starten wollen, musst du die Arbeit beschleunigen.«

»Das mache ich, keine Sorge.«

»Also gut. Mach dich an die Arbeit und arbeite mit unseren Werkzeugen auf unserer Infrastruktur!«

Mike verließ Ruedis Büro und ging durch das Großraumbüro an seinen Arbeitsplatz. Er schaltete seinen Computer ein und öffnete den online-Kalender. Außer der Sitzung mit Ruedi sah er für heute keine eingetragenen Termine. Er blickte auf den Termin der gestrigen Teamsitzung, an der er nicht teilgenommen hatte, weil er mit Nina und Madeleine Svens Sachen bei der Polizei abgeholt hatte. Er dachte an Sven. Und an Madeleine. Er konnte es immer noch nicht fassen, dass Sven wirklich tot war. Was hatte Sven so bedrückt, dass er entschied, seinem Leben ein Ende zu setzen? Konnte es wirklich sein, dass Sven seine Sorgen vor Madeleine, Nina und ihm erfolgreich verstecken konnte?

»Alles gut bei dir?« Mike blickte nach rechts zu seiner Kollegin, die ihn fragend anstarrte.

»Ja, warum meinst du?«

»Du sitzt da und starrst auf den Bildschirm, ohne etwas zu tun. Du hast mich nicht mal deinen Namen sagen gehört.«

»Tut mir leid. Es ist privat einiges los. Ich war in Gedanken woanders.«

Noch bevor er mit dem Schreiben begann, verließ Mike gleich wieder seinen Arbeitsplatz, ging durch das Großraumbüro in den kleinen Sitzungsraum, wo er telefonieren konnte, ohne dass jemand ihm zuhörte, und schloss die Tür. Auf seinem Handy suchte er nach der Telefonnummer der Staatsanwaltschaft Bern-Mittelland.

»Guten Morgen. Mein Name ist Mike Honegger. Ich bin Journalist bei Der Berner und recherchiere über den Todesfall von Sven Olsen, der letzte Woche unterhalb der Münsterplattform tot geborgen wurde. Können Sie mir bitte etwas über den Stand der Ermittlungen sagen?«

Dass er für die Zeitung recherchierte, war nicht wahr, aber er hoffte, damit mehr zu erfahren, als wenn er als Privatperson nachfragte.

»Ich muss Sie verbinden, Moment bitte.« Mike deutete das als gutes Zeichen.

»Mein Name ist Flückiger, ich bin Staatsanwältin und leite die Untersuchung zu Herrn Olsens Tod. Wie kann ich Ihnen helfen?«, meldete sich eine Frau.

Mike stellte seine Frage zum Stand der Ermittlungen erneut.

»Es handelt sich um eine laufende Untersuchung, und ich kann Ihnen dazu keine Auskunft geben.«

»Können Sie mir nicht wenigstens die bisherigen Erkenntnisse bestätigen? Mehr müssen Sie nicht sagen, ich bin schon mit wenig zufrieden. Vielleicht gibt es eine Medienmitteilung, die ich nutzen kann.«

»Wie soeben gesagt, ich werde keine Auskünfte zu einer laufenden Untersuchung geben. Es tut mir leid.«

»Danke trotzdem, Frau Flückiger«, verabschiedete sich Mike enttäuscht und ging zurück an seinen Arbeitsplatz.

Kapitel 5

Als Ninas Handy klingelte, reduzierte Mike die Lautstärke des Fernsehers.

»Hallo, Madeleine«, begrüßte Nina ihre Freundin. »Nein, gar nicht. Wir sitzen auf dem Sofa und schauen fern. Ich schalte auf Lautsprecher, warte.«

»Hallo, ihr beiden. Sorry, dass ich euch am Abend störe, aber ich muss zwischendurch wieder die Stimmen meiner Freunde hören, sonst befürchte ich zu verzweifeln.« Ninas Seufzer war gut hörbar.

»Jederzeit, Madeleine«, sagte Mike. »Ich habe übrigens heute früh die Staatsanwältin angerufen, denn ich wollte mehr über den Stand der Untersuchung erfahren. Sie gab mir aber keine Auskunft, da es sich um eine laufende Untersuchung handelt. Es tut mir leid, dir nichts Neues berichten zu können«, sagte Mike.

»Danke, dass du es versucht hast. Ihre Antwort überrascht mich nicht. Die Staatsanwaltschaft darf sicherlich keine Erkenntnisse mit der Öffentlichkeit teilen. Besonders nicht mit der Presse.«

Madeleine schwieg.

»Bist du noch da?«, fragte Nina besorgt.

»Ja, ich bin noch da. Ich muss euch sagen: Ich verstehe die Welt nicht mehr. Sven soll von der Münsterplattform gesprungen sein? Einfach so? Fall abgeschlossen, erledigt, ad acta gelegt? Nein, das kann ich mir nicht vorstellen.«

»Madeleine …«, begann Nina, eine Antwort suchend.

»Nein, warte, Nina. Es ist so schwer für mich, nicht zu wissen, was in der Nacht am Münster geschehen ist. Mehr noch, nicht zu wissen, warum es geschehen ist. Das Ganze nicht zu verstehen und trotzdem gleichzeitig jeden Moment funktionieren zu müssen. Den ganzen Tag lang, alle die kleinen Aufgaben, die anfallen, ganz normal erledigen zu müssen. Als ob nichts wäre. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Kontaktiere ich als Erstes die Versicherungen, die Bank, die Steuerverwaltung? Soll ich warten, bis man auf mich zukommt? Muss ich vorher aktiv werden? Ich weiß nicht, was zuerst gemacht werden muss und was danach. Ich bin so durcheinander. Helft mir bitte, den Überblick zu bewahren.«

»Oh, Madeleine. Ich weiß, was in so einem Fall alles an Bürokratie und an Aufgaben anfallen. Vor Jahren habe ich ja meine Eltern verloren und weiß, was das bedeutet. Ich kann dir nur raten, eine Liste zu führen mit allem, was dir an Pendenzen in den Sinn kommt. Dann vergisst du nichts. Erledige eines nach dem anderen. Schritt für Schritt«, riet ihr Mike.

»Mach das«, ergänzte Nina, »Setze alles auf die Liste. Kredit- und Bankkarten sperren, Versicherungen und Banken kontaktieren. Letzteres ist sicherlich dringend. Hast du ein eigenes Konto? Du musst ja die Rechnungen bezahlen, die jetzt fällig sind. Da fragt nämlich niemand, ob du auf euer Geld zugreifen kannst, oder ob die Konten bis auf Weiteres gesperrt sind.«

»Das sollte vorläufig kein Problem sein. Nebst unserem gemeinsamen Konto habe ich auch mein eigenes. Wenn du schon von Kartensperren sprichst: Wo ist denn überhaupt Svens Portemonnaie geblieben? Es war nicht unter den Gegenständen, die die Polizei mir überreicht hat.«

Mike und Nina blickten sich gegenseitig an und hoben die Schultern. »Eine gute Frage. An das Portemonnaie hatte ich gar nicht gedacht. Es hätte unter den Gegenständen sein sollen, die du zurückerhalten hast. Wo trug Sven jeweils sein Portemonnaie? In seiner Jacke? Vielleicht in seiner Hosentasche?«, fragte Mike.

»Bis auf sein Handy trug er seine Sachen immer in seinem Rucksack. Dem alten schwarzen, den er seit ewig ersetzen sollte. Wo ist der denn geblieben?«

»Den hast du ebenfalls nicht zurückerhalten. Hatte er ihn vielleicht nicht dabei?«, fragte Nina nachdenklich.

»Das wundert mich, denn er trug den Rucksack immer auf sich, wenn er zur Arbeit fuhr. Sven mochte genau diesen Rucksack besonders, weil er seinen Laptop in einem gepolstertem Fach darin sicher transportieren konnte. Das hässliche Ding war aber inzwischen so abgenutzt, es sah schrecklich aus. Ich bot Sven mehrmals an, ihm einen neuen zu kaufen, aber er zögerte den Ersatz immer hinaus.«

»Wollte er nach dem Treffen in der Stadt vielleicht zurück ins Büro und hat den Rucksack deshalb dort zurückgelassen?«, fragte Mike.

»Das denke ich nicht, denn er hat am Telefon gesagt, er komme nach dem Treffen nach Hause. Es würde spät werden. Und ohne Portemonnaie hätte er das Büro sowieso nicht verlassen, das weiß ich.«

Schweigend überlegten alle drei, wo der Rucksack sein könnte, bis Madeleine sich wieder meldete. »Ich werde bei Granitelock nachfragen. Vielleicht hat Sven den Rucksack im Büro zurückgelassen. Ist ja jetzt auch nicht das dringendste Problem. Morgen kontaktiere ich die Bank wegen den Konten. Dann steht mir noch das Schlimmste bevor. Beerdigung, Trauerfeier. Davor fürchte ich mich am meisten. Mit Svens Eltern haben wir beschlossen, dass sie im engsten Familienkreis stattfinden werden. Nur meine Eltern, Svens Eltern und ich werden dabei sein. Meine Eltern wollten natürlich die Hautevolee von Genf einladen, aber ich konnte es ihnen zum Schluss ausreden. Trotzdem sind noch so viele Entscheidungen zu treffen. Aber ja, es ist nun mal so. Ich lasse euch für heute in Ruhe. Herzlichen Dank fürs Zuhören, ihr beiden.«

»Rufe jederzeit an, Madeleine. Wir sind immer für dich da und in Gedanken ständig bei dir«, sagte Nina.

»Lass uns wissen, wenn wir dir bei den Aufgaben helfen können, die du jetzt anpacken musst«, ergänzte Mike.

»Ich danke euch beiden von Herzen, ihr seid wahre Freunde. Wir sprechen uns morgen.«

Nina legte das Handy weg, und sie und Mike blickten auf den stumm geschalteten Fernseher, ohne die Sendung zu verfolgen.

Plötzlich drehte sich Mike zu ihr um. »Etwas stimmt einfach nicht. Sven ist ein glücklicher junger Mann, mit einer tollen Frau verheiratet, die ihn liebt, zufrieden am Arbeitsplatz. Dann soll er ohne Grund, ohne irgendwelche Anzeichen von Problemen, von der Münsterplattform gesprungen sein? Und dazu soll jetzt noch sein Portemonnaie, ja sein ganzer Rucksack verschwunden sein? Nein, da stimmt doch etwas definitiv nicht.«

»Wo ist denn sein Handy?«, fragte Nina.

»Sein Handy … eine gute Frage. Darüber haben wir noch gar nicht gesprochen. Er trug es immer auf sich, also nicht im Rucksack. Es war nicht unter den Gegenständen, die wir gestern abgeholt haben. Kein Rucksack, kein Handy, kein Portemonnaie. Das sind mir zu viele Ungereimtheiten.«

Kapitel 6

Die Schüler und Schülerinnen der ersten bis dritten Klasse rannten bereits kreischend aus dem Klassenzimmer, während die Glocke im Schulhaus den Pausenbeginn noch laut ankündete. Für seine Artikelserie hatte Mike an diesem Morgen zwei Lektionen besucht, eine in Mathematik und eine in Französisch, und sich auf seinem Tablet dabei rege Notizen gemacht. Der Besuch eines Journalisten war für die Kinder eine willkommene Abwechslung von der täglichen Routine. Viele äußerten ihr Unverständnis darüber, dass ein Erwachsener die Schule freiwillig besuchte, besonders zwei unter ihnen nicht besonders beliebte Fächer. Sie hatten Mike aber mit Begeisterung in ihre Arbeiten eingebunden.

»Ich muss kurz überprüfen, ob auf dem Pausenplatz alles in Ordnung ist. Geben Sie mir bitte einige Minuten Zeit, dann stehe ich Ihnen für das Interview zur Verfügung. Dies war meine letzte Lektion des Morgens, wir haben also reichlich Zeit. Wir treffen uns im Lehrerzimmer«, sagte die Lehrerin, nahm ihre Unterlagen unter den Arm und verließ das Klassenzimmer. Für Mike war das der erste ruhige Moment des Morgens, an dem er alleine war. Er zog sein Handy aus der Jeanstasche und wählte.

»Guten Morgen, Frau Siegenthaler, da ist Honegger. Als wir am Montagmorgen Sven Olsens Sachen abholten, sagten Sie, wir könnten uns bei Fragen an Sie wenden.«

»Ja, das ist so. Ob ich sie beantworten kann, ist eine andere Frage. Aber schießen Sie los.«

»Madeleine Olsen vermisst Svens Rucksack, Handy und Portemonnaie. Sie waren nicht unter den Gegenständen, die Sie ihr zurückgegeben haben.«