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Ab Yssin - The Abyss within Das ist der Abgrund, der in uns allen steckt. Nach dem Tod tritt das Innere des Menschen zutage und wird zu einer Bedrohung für die Lebenden. Es ist gefährlich geworden, zu sterben. Im endzeitlichen Europa wird deutlich, dass die Überreste der Zivilisation etwas Neuem weichen müssen. Experimente mit den Ausgeburten der Apokalypse beginnen. Und immer wieder stellt sich die Frage: Ist es möglich, sich die Menschlichkeit in so einer Welt zu bewahren? Der Nachfolgeroman von >>Der Tag an dem die Vögel schwiegen<<
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Autor: Jaana Redflower Originalausgabe: April 2020
Covermotiv: Jennifer Klawitter
© Edition Paashaas Verlag
www.verlag-epv.de
Printausgabe: ISBN: 978-3-96174-061-1
Die Handlung ist frei erfunden, Ähnlichkeiten mit realen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.
Ab Yssin Jaana Redflower
Die Welt, in der diese Geschichte spielt, ist anders und fremd. Lesen Sie hier, worauf Sie sich einlassen:
Ab Yssin,der Abgrund, das Dunkle, Der Tod, Teerwesen – entsteht aus einem toten Menschen, maximal eine Minute nach seinem Tod
Blastasen – die Wucherungen der Blastullas
Blastullas – schief gelaufenes Experiment, ansteckende Krebszellen
Cerberus – mutierter Elefant mit drei Köpfen
DiCapids, Hydras – zweiköpfige Amphibien, deren Köpfe alle drei Tage nachwachsen
das Dunkle – s. Ab Yssin
Gossenspinat – Flechtenart
Kakerlaken – stürzen sich auf Menschen, ersticken diese
Kratzasseln – nisten in der Nähe von Gossenspinat, essbar
Kriecher – langes Tier mit Schuppen und Wirbelsäule
Krustentiere – sondern Exkremente als blau-violetten Nebel ab
Leuchtkäfer – Lichtquelle
Megugas – leuchtende, längliche, quallenartige Wesen
Morogs – mutierte Hunde, Haut wird zu Moroben verarbeitet, werden gemolken für Treibstoff
Mutanten-Bären – Maskottchen der Teufel
Nugra – Spinne
Protschis – graublaue Beeren, unter der Borke einer bestimmten Gestrüppsorte zu finden
Schleierfalter – blutsaugender Schmetterling
Schwipp-Schwapp, Kopf ab – kugelige Pflanze mit Stacheln und Geschossen
Singende Ranken – ähneln Knöterich, machen zwitschernde Laute
Speerbüschel – Schnittlauch-Ersatz
Stiche – liefern Fleisch, müssen gepult werden
Teerfelder – Flächen voller Ab Yssin
Teerwesen – s. Ab Yssin
Der Tod – s. Ab Yssin
Warzen – wachsen an Wurzeln in und unter der Erde
Zäher Stock – wird als Kaugummi-Ersatz verwendet
Zeit-Anomalie – Ort, an dem die Zeit langsamer abläuft als in der Umgebung
die Andere Welt – die Welt nach dem Großen Unglück, als der Sturm über die Erde kam und das Leben veränderte
der blaue Ara von Kamith, Azura von Kamith – Symbol der Hoffnung, Symbol des Letzten Volkes und der letzte bekannte Vogel auf der Erde
Bellende Essenz – Droge, verfärbt die Haut gelb, da stark Leber schädigend
Blatschkopf – Idiot
Blau – Desinfektionsmittel
Bohnenkotze – Gericht aus der neuen Welt, enthält Innereien von Tieren, inklusive Mageninhalt der verarbeiteten Spezies
Bracken, Unaussprechliche – Kannibalen, tragen das Symbol mit den fünf leeren Kreisen
Dämmerungskinder – s. Grundis
Drude – Würfelspiel
Dunkle Böden – Untergrund, der von Ab Yssin befallen ist
die Erhabenen – s. The Domed
Ganz-oder-Gar-nicht – Alles-oder-nichts, Einsatz ist in diesem Fall das eigene Leben
Geburtstagsgeschenk – Drogentransport unter der Haut
Gezüchtete Gewehre – aus Pflanzen gezüchtet, werden mit Wandelndem Feuer gezündet
Glutsturm, Glutwetter – heiße Stürme, die alle paar Wochen über die Erde hinweg fegen
Gries-Burger – kleiner, schwarzer Ballen, der aus Innereien der Kriecher hergestellt wird
das Große Unglück – Ursache unbekannt, verursachte einen gigantischen weltweiten Sturm, der Flora und Fauna verändert hinterließ
Grundis, Dämmerungskinder – Leute, die ausschließlich im Untergrund leben
krippeln – töten
das Letzte Volk – lebt an der Atlantik-Küste
das Haar von Uriel – schwarze Wolle, starker Sprengstoff
Misery, Der Rote Nebel – Kästchen mit hellrotem Rauch
Moroben – Mäntel aus Morog-Haut
Pissewasser – gefiltertes, halbwegs bekömmliches Wasser
Der Rote Nebel – s. Misery
Ruhesirup – pflanzliches Schlafmittel
Steriles Pulver – Pulver, das in der Neuen Welt als Desinfektionsmittel dient
Stichpaste – rotbraune Droge, die aus den Stichen hergestellt wird
Stichsaft – Basis für Schnaps
Teufel – menschliche Mutanten
The Domed, Die Erhabenen – elitärer Zusammenschluss, Erschaffer der Teufel
Todessaft – Droge aus Morog-Innereien, nach einmaligem Konsum tödlich
Unaussprechliche – s. Bracken
Unmuts-Kubus – Würfel aus Stahl, wird zur Beruhigung verwendet, soll Glück bringen
Wandelndes Feuer – nicht näher definiertes Lebewesen, das sich bei Stimulation entzündet oder explodiert
»Tschüss meine Lieben,
wie ihr wisst, bin ich jetzt sechzig Jahre alt und werde folgerichtig meinem Sekundärzweck zugeführt: Der Sicherstellung von Essensrationen. Ich hoffe, mein Fleisch schmeckt euch.
Euer Opa
(Kennziffer 16.728 b)«
Kally, gerade mal 17 Jahre alt und bereits Waise, fuhr sich mit zitternder Hand über die Stirn und starrte auf das Blatt Papier. Ihr geliebter Knuddel, letztes übriggebliebenes Mitglied ihrer Familie und selbsternannter Teddybär zum Ausweinen, musste sterben.
»Das hat er nicht freiwillig verfasst!«
»Natürlich nicht.« Kallys beste Freundin Yvonne, genannt Yv, sprang herbei und packte ihre Hand. »Er würde dich niemals im Stich lassen; wenn er eine Möglichkeit gefunden hätte, sich dem Befehl zu entziehen, hätte er diese ergriffen. Das weißt du doch!«
Kally schluchzte. Tränen rollten in ihre verfilzten Haare. Sie hatte bereits vor dem Großen Unglück Dreads getragen; mittlerweile ballten sie sich zu einem braunen Knoten.
»Aber dass die ihn zwingen, sich umbringen zu lassen … Die Vorstellung ist genauso schlimm. Und wozu? Wir sind doch nur noch so wenige!«
»Etwa hunderttausend in Europa. Wenn man den offiziellen Zahlen Glauben schenkt. Kaum zu essen, kaum zu trinken. Seit sechs Jahren. Da geht die Menschheit allmählich in die Knie.«
Yv kaute auf einer aschblonden Strähne herum, die ihr glatt und dünn ins Gesicht fiel.
»Denen vom Staat glaub ich kein Wort! Und solange es Pissewasser gibt, kratz ich nicht ab. Darauf kannst du Gift nehmen!«
Pissewasser, das war das gelbe Zeug, das sie nun tranken. Es schmeckte nach Schwefel und war voller Krümel, die in der Brühe trieben. Es war bereits gefiltert, das heißt zumindest halbwegs genießbar. Kally würgte demonstrativ drei Schlucke herunter. Mehr schaffte sie nicht, das wusste Yv, sonst überstieg es ihre Ekelgrenze. Dann sprang Kally auf. Die Wut trieb ihr Unruhe in die Glieder.
»Wo Bosch nur bleibt?« Yv starrte auf die Dreckkruste, die das Fenster bedeckte. Aus alter Gewohnheit blickte sie immer noch in diese Richtung, obwohl es dort nichts mehr zu entdecken gab. »Er ist losgezogen, um Spritzen abzuholen. Hat seine Ration für die Woche noch nicht bekommen. Darum die Flecken in seinem Gesicht.«
Kally schlug mit der Faust gegen einen der Dachbalken. »Verdammt! Das hätte mir auffallen sollen.«
»Du warst zu abgelenkt. Wenn meine Oma verschwunden wäre, hätte ich die Verfärbungen auch nicht bemerkt.«
»Wenn du seine Freundin wärst, hättest du's gesehen, obwohl die Kacke am Dampfen ist!«
»Bestimmt nicht!« Yv schnupperte. Bemüht, ihre Freundin abzulenken, wechselte sie das Thema: »Ich rieche Bohnenkotze. Iss davon, und die Welt sieht gleich etwas freundlicher aus.«
»Oder mir dreht sich der Magen um. Wenn wieder Teile von Was-weiß-ich reingefallen sind.«
Dem Gestank des Essens folgte Yvs Großmutter; sie stand bereits auf der Türschwelle und trug zwei Teller mit dampfendem Eintopf vor sich her: Braune Pampe mit einer Note von Erbrochenem. Das lag am Mageninhalt der darin verarbeiteten Tiere. »Heute halbwegs erträglich. Hab mir Mühe gegeben, was zu zaubern. Der Kadaver reicht bestimmt noch fünf Tage. Delia hat ihn mir erst kürzlich gegeben.«
»Die Endzeit-Tante?« Kally schnaubte.
Die Großmutter nickte. »Sie mag wahnsinnig sein, aber ich vertraue ihr. So gut, wie man jemandem vertrauen kann, der einer Sekte beigetreten ist.«
»Mümmelchen«, so nannte Yv ihre Oma, »was machen die dort unten eigentlich?«
»Sie glauben, wenn sie genug Gutes tun, werden sie erlöst. Darum verkaufen sie ihre Sachen günstiger als die staatlichen Stellen. Aber vor allem beten sie.«
Kally murmelte etwas von »Gehirnwäsche!«
»Mag sein. Ich lebe auch lieber meinen eigenen Glauben. Aber Delia meint, ihr hilft es, Teil von etwas zu sein. Die Last, in einer Welt wie dieser existieren zu müssen, sei dann auf die Gemeinschaft verteilt und besser zu stemmen.«
»Und was ist mit ihrer Familie?«
»Verschollen. Seit mehreren Wochen.«
»Ich wette, bei denen lagen auch so nette Zettel.« Kally deutete auf die angeblich von ihrem Großvater verfasste Notiz.
Mümmelchen umarmte das Mädchen impulsiv, das sich unter ihrer Berührung steif wie ein Brett machte. »Es wird nicht besser, wenn du dagegen ankämpfst!«
Kally riss sich los. »Wenn niemand etwas gegen irgendwas unternimmt, bleibt es für immer so. Wollt ihr das?« Damit sauste sie die Treppen hinunter. Wenige Sekunden später knallte die Tür ins Schloss.
Die Großmutter seufzte. »Es ist wohl besser, du folgst ihr, bevor sie etwas Dummes anstellt.«
»Wird eh passieren. Wie immer.« Und wie jedes Mal schlüpfte Yv in ihre Jacke und rannte hinterher.
Mümmelchen blickte in die Richtung, in der ihre Enkelin verschwunden war. Ihre Hände zitterten, als sie sie in ihre Jackentasche steckte und nach dem Zettel tastete, den sie an diesem Tag erhalten hatte.
»So warte doch!«, rief Yv ihrer Freundin nach. »Du weißt, wie sehr ich es hasse, allein in der Stadt umherzulaufen!«
Kally tat noch zwei Schritte, dann hielt sie inne. Sie tat genervt, aber in Wirklichkeit war sie froh, nicht allein zu sein, das spürte Yv.
»Wohin willst du?«
»In die Vergangenheit!« Kally machte eine Geste, die einen Kreis beschrieb, und tat so, als ob sie in die Richtung tauchen wollte.
Yv verdrehte die Augen.
»Na gut. Zum Schrottplatz will ich.«
»Wie immer …«
»Warum fragst du dann?« Kally hakte sich bei ihrer Freundin ein.
»Reine Höflichkeit.«
»So ein Quark!«
Der Schrottplatz war ein etwa dreißig mal fünfundzwanzig Meter messendes Areal, auf dem sich Autos stapelten. Auch Reifen lagen dort, um die sie einen Bogen machten, denn wer konnte schon sicher sagen, was sich darin verbarg? Zwischen den Wagen türmten sich Altteile von Elektrogeräten: Kabel, Steckdosen, Platinen, Lüfter. Auch Kühlschränke und Staubsauger, aber bei weitem nicht so viele wie früher, als die alten Sachen einfach weggeworfen wurden, ohne dass sich jemand die Mühe machte, sie zu reparieren.
Ab und zu wühlten Schrottsammler in den Müllbergen. Meist tummelten sich Yv und ihre Freunde auf dem Platz. Dieser war einer der beliebtesten Treffpunkte für die Jugendlichen des westlichen Ruhrgebiets.
Am anderen Ende jonglierte der langhaarige Justus mit drei Lederbällen; die stopfte er immer in die Taschen seiner weiten Pluderhosen.
Walter saß daneben, ein ehemaliger Punk, bis vor einem Jahr mit Igelfrisur, seit seinem Unfall beim Feuerspucken glatt rasiert. Er pulte Warzen aus dem Holz: essbare Auswüchse, die an den Wurzeln im Untergrund zu finden waren und auf Stöcken und Ästen wuchsen.
Kally winkte ihnen zu, hüpfte dabei auf und ab. Das war ein sicheres Zeichen für Nervosität, wie Yv wusste: Ihre Freundin stand kurz vorm Explodieren. Doch sie wusste nicht, was sie dagegen unternehmen konnte. Beruhigend auf sie einreden? Kam nicht in Frage. Nicht, wo der Großvater gestorben war. In den Arm nehmen? Vielleicht am Abend, zur Schlafenszeit. Auf keinen Fall vor den Freunden vom Schrottplatz.
»Guck mal, ist das nicht Rike?«, versuchte sie abzulenken.
»Kann schon sein. Ja, das ist sie!« Kally sprang ein weiteres Mal auf und ab.
Die andere nickte nur knapp zurück; sie sah auch nicht fröhlicher aus, als die beiden sich fühlten. Ihre Haare standen in Fetzen ab, stumpf und an den Spitzen gebrochen. An der linken Wange prangte ein blauschwarzer Fleck, so groß wie eine Walnuss: Zeichen von Verwahrlosung. Wenn sich heutzutage jemand nicht genug kümmerte, schnappte die Krankheit schnell nach ihm.
»Hey Rike, was ist denn los?«, fragte Justus.
Die beiden waren die meiste Zeit über ein Paar. Yv war sich nicht sicher, ob sie an diesem Tag zusammengehörten.
Das Mädchen schwieg und spuckte gegen eine Tonne. Der Speichel flog durchs größte der Löcher im halb zersetzten Metall.
In dem Moment brannte Kallys Sicherung durch. Sie schoss auf Rike los, ohne dass Yv eine Chance hatte, sie festzuhalten. Dann ging sie dem Mädchen an den Kragen.
»Du spinnst ja!«, schnaubte dieses und zog Rotz in ihrer Nase hoch.
»Du hast nicht geantwortet!« Kally brüllte nur wenige Zentimeter vom Fleck entfernt direkt in Rikes Ohr.
»Mein Tag war gottverdammt beschissen. Was gehst du mich so an, bloß weil ich nichts sage?«
»Weil meiner noch gottverdammt beschissener war!«
»Woher willst du das wissen?«
»Mein Großvater wurde abgeholt.«
Rike lachte. »War Eisbein auch bei euch?«
Da klappte Kallys Kinnlade runter. Das Wort – der Name – schwebte über dem Schrottplatz wie eine Bombe, kurz vor der Detonation. Vollkommene Stille senkte sich auf sie herab. Eisbein – der Kommandant. Mit diesem Namen scherzte man nicht.
Dann schrien alle auf einmal los, wollten wissen, was ihr zugestoßen war. Und noch wichtiger, was zu erwarten war: Justus und Walter stürzten herbei.
»Hat er dir was angetan?«
»Müssen wir fort?«
»Wie bist du entkommen?«
»Ich hab Angst!«
Wer was gesagt hatte, wussten sie später selber nicht mehr. Die Antwort jedoch würde keiner von ihnen jemals vergessen.
Langsam zog Rike einen Zettel aus der Hosentasche. Der war schon so oft gefaltet und auseinander geklappt worden, dass er Risse an den Kanten hatte. Die Schrift war aber immer noch gut lesbar. Da stand:
»Hiermit bewerbe ich mich freiwillig für Ihre lebenslänglich verpflichtende Stelle in der Menschenverarbeitungsanlage. Ich bin mir der dadurch bestehenden Risiken bewusst und verzichte auf jegliche Rechte. Sollte der Arbeitgeber sich aus Effizienzgründen entscheiden, mich umzubringen, stimme ich dem zu.«
Yv war als erste mit dem Lesen fertig. Sie schwieg.
Kally schrie erbost auf: »So ein Quark! Von wegen freiwillig!« Sie trat gegen die Tonne, in die Rike zuvor gespuckt hatte. »Du wirst das doch nicht wirklich unterschreiben?«
Rike zuckte mit den Schultern. »Das soll ich bis morgen unterschreiben, dann wollen sie mich mitnehmen. Dabei habe ich den Test bestanden.«
»Er will jemanden in die Anlage stecken, der fruchtbar ist? So wahnsinnig ist nicht einmal der Eisbein!«
»Vermutlich doch.« Rike holte tief Luft. »Ihr wisst, dass meine Tante ihn kennt? Von früher, vom Amt?«
»Klar, die haben beide die Steuern abgerechnet. Oder auch nicht, wenn sie lieber Kaffee klatschen wollten. Das weiß doch jeder.«
»Was ihr aber nicht wisst, ist, dass sie was miteinander haben. Schon seit Ewigkeiten. Und dass mein Cousin ihr gemeinsamer Sohn ist. War, heißt das.«
»Gibt's nicht!«
»Was meinst du damit, er war ihr gemeinsamer Sohn? Ist er tot?«, wollte Yv wissen.
Rike nickte. »Vorgestern gestorben. Seitdem dreht Eisbein vollkommen am Rad. Will, dass es keinem besser geht als ihm. Der hat kein Interesse mehr daran, die Menschheit zu retten.«
»Dann soll er sich einen Strick nehmen, damit er nicht alle mit in den Abgrund reißt.« Walter traute sich nicht, das laut auszusprechen; er sprach so leise, dass Yv es ihm mehr von den Lippen ablas, als dass sie es hörte.
Justus sog erschrocken die Luft ein. »Sag das nicht in der Siedlung! Wenn der Psycho das hört, bist du als nächster dran.«
»Mach ich schon nicht, keine Sorge. Aber ist doch wahr! Wenn dieser Zwei-Spritzen-Heini so weiter macht, bleibt von uns keiner übrig.« Walter war der nächste, der gegen die Tonne trat. Diesmal brach ein Stück heraus und flog quer über den Platz.
Yv meinte, ein Rascheln an der Stelle zu hören, wo das Metall auf den Boden traf. Sicher war sie nicht.
»Zwei Spritzen, davon können wir nur träumen«, seufzte Kally.
»Luxus. Und unnötiger dazu.« Justus deutete auf seinen Knöchel; dort prangte ein besonders dicker Fleck. »Wenn du's einmal im zweiten Stadium hast, geht es nicht mehr weg. Ich hab mein ganzes Erspartes für eine Zusatz-Spritze ausgegeben, um das hier rückgängig zu machen. Aber das Ding bleibt, egal, wie viel die reingeballert haben.«
»Die machen das nicht, damit es ihnen besser geht.« Jetzt brüllte Walter doch. »Die gönnen sich die doppelte Menge, um uns ihre Macht zu zeigen. Nichts weiter!«
»Da ist was dran. Und weißt du was? Der Kerl …«, begann Kally.
Yv fuhr dazwischen: »Seid mal still!« Sie zeigte auf die Stelle, an der sie zuvor das Rascheln gehört hatte. »Ich glaube, da drüben hat sich was bewegt.«
»Nicht dein Ernst!« Justus machte zwei Schritte darauf zu.
Ein Klappern ertönte, eine Staubwolke stieg empor. Dann tauchte ein Kopf hinter einem der Autos auf – einem zerfressenen, hellblauen SUV – und ein junger Mann erschien, der Yv allenfalls bis an die untere Rippenkante reichte.
»Babbel!«, stieß Kally hervor.
»Nicht gut«, murmelte Yv. Babbel war bekannt dafür, verquer zu sein. Wenn er ihr Geschimpfe mitbekommen hatte und etwas davon ausplauderte, steckten sie alle in Schwierigkeiten.
Babbel schüttelte die roten Locken und grinste.
»Was guckst du so deppert?«, schrie Walter ihn an.
Babbel zog eine Augenbraue hoch oder vielmehr das, was davon übrig war: Quer durch sein linkes Auge bis zu seinem Haaransatz wucherte eine drei Zentimeter breite, lila verfärbte Narbe. Er hielt etwas in der Hand, hob es nun deutlich hoch, sodass alle es sehen konnten.
»Der Idiot hat ein Tonbandgerät.«
»Das würde er nicht wagen …«
Doch der Kerl schien genau das zu planen, was sie befürchteten. »Hab alles da; der Kommandant wird sich freuen. Wird Babbel belohnen. Ein feiner Tag ist das!«
»Klar, ganz fein. Prima.« Kally versuchte beruhigend auf den Lockenkopf einzureden. »Wir können dir auch was geben. Sagen wir, Mittagessen? Du kommst zu uns?«
»Eisbein wird Babbel bessere Sachen geben. Versprach ihm eine OP.«
»Für deinen Kopf?«
»Babbel will wieder sehen können.«
»Schon klar. Und wir möchten gerne weiter leben. Das verstehst du doch, oder?«
Die Hand mit dem Tonbandgerät sank zu Boden. Der irre Blick jedoch blieb. »Und was soll Babbel jetzt tun?«
»Am besten, du kommst erst einmal mit uns. Bohnenkotze, klingt das nicht lecker?« Kally wollte nach seiner linken Hand greifen. Sie verharrte kurz davor, da diese mit etwas Schmierigem überzogen war. Dann überwand sie sich und schloss ihre Finger um seine.
»Babbel liebt Bohnen. Und Warzen.« Der Lockenkopf zeigte mit dem Tonbandgerät auf den Haufen, den Walter zuvor vom Holz geschabt hatte. »Wenn du ihm dein Essen gibst, gibt dir Babbel sein Tonbandgerät.«
Das Angebot war das Beste, was sie bekommen konnten. Walter tat, was er verlangte.
Erleichtert atmete Yv auf. Das war gerade nochmal gutgegangen!
Da ertönte das Klappern von Töpfen: Dutzende von Löffeln wurden auf Blech geschlagen.
»Alarm!«
»Aber weswegen?«
»Keine Ahnung. Vielleicht ein Erdbeben?«
Rikes Theorie klang zunächst einleuchtend, denn der Boden begann nun zu vibrieren. Ein paar Elektroteile lösten sich und kullerten den Berg aus Kabeln und Steckern herunter.
Doch dann gellte ein Schrei durch die Gassen, brach sich an den Gerippen der rostigen Karren. Kakophonie. Die zum Alptraum verzerrten Laute eines Elefanten.
»Der Cerberus!«
»Der mutierte Elefant? Dann ab in den Untergrund! Wo ist der nächste Deckel?« In der Eile fiel es Walter nicht mehr ein.
Kally deutete auf die Südseite vom Schrottplatz. »Beim Bus. Hab ein lila Kreuz drauf gemalt.«
Babbel wollte seine Warzen aufsammeln und in die Hosentaschen stopfen, aber Yv packte ihn am Arm: »Die kannst du später noch holen. Wenn das Vieh dich erwischt, kannst du nie mehr welche essen.«
»Und wenn die jemand klaut?«
»Besorg ich dir neue.«
Das überzeugte Babbel. Das und der sich auf und ab senkende Boden.
Yv meinte, den Schatten des Ungeheuers bereits an der Ecke der Mauer zu erkennen, die den Platz begrenzte.
Sie schoss los; Babbel folgte ihr. Die anderen waren bereits um das Schaufelrad drei Meter weiter herumgelaufen.
Der Cerberus schrie ein weiteres Mal, dreistimmig. Jeder seiner Köpfe gab einen Laut von sich. Die grau und mit dicker, wogender Haut überzogenen Schädel saßen auf breiten Hälsen. Yv war ihm bereits zuvor begegnet. Damals war eine von Mümmelchens Freundinnen gestorben.
Diesmal stirbt niemand, sagte sie sich selbst, während sie am Schaufelrad vorbei stolperte. Wir haben heute den Untergrund. Und das lila Kreuz.
Es bereitete ihr vor allem Sorgen, dass Babbel zurückfiel. Der hatte sich etwas in den Fuß getreten, vermutlich eine lose Schraube. Als sie am Laternenpfahl vor dem ehemaligen Wärterhäuschen angelangt war, musste sie auf den Jungen warten.
»Beeil dich!«, zischte sie ihm zu. Sie packte ihn wieder am Arm und schleifte ihn am Bagger vorbei. Noch ein knappes Dutzend Meter, schätzte sie.
Sie machte den Fehler zurückzublicken – und erstarrte: Der Cerberus brach gerade durch die Mauer, unweit der Stelle, an der sie zuvor gestanden hatte. Seine Ohrenpaare, schief gewachsen am Rand der Hälse, schlackerten. Eines der Augen blickte sie direkt an. Intelligenz leuchtete darin. Die musste sich das Vieh von früher bewahrt haben. Ein Relikt des aus dem Zoo geflohenen Elefanten, ehe ihm die Neuen Zeiten zugesetzt und ihn zu dem gemacht hatten, was er nun war.
Als das Wesen Yv erblickte, brüllte es ein weiteres Mal, dass sich ihr die Nackenhaare aufstellten.
Jetzt war es Babbel, der an ihr zog. Der sie aus ihrer Erstarrung riss.
Mit weit ausgreifenden Schritten rannte sie um den Bagger herum und auf die anderen zu. Die stiegen bereits in den Schacht. Walter und Rike waren nicht mehr zu sehen, Justus' Kopf verschwand gerade im Loch.
Babbel stolperte über einen Haufen Dosen, sein Fuß verfing sich in einem Kabel.
Der Atem des Cerberus ließ die beiden Schuttberge vor dem Schaufelrad oxidieren und verfärbte das, was vom Metall noch übrig war. Die Ausdünstungen verteilten sich über den gesamten Schrottplatz. Kurz vor dem Deckel, hinter dem Bagger, wurde der Geruch nach Schwefel übermächtig, ließ Yvs Magensäfte nach oben kriechen.
Eilig schob Kally ihren Körper den Schacht hinunter. Yv schwang sich hinter ihr ins Loch.
Der Cerberus schob das Schaufelrad mit dem Kopf vor sich her. Zwei Ecken brachen ab, so viel Kraft wendete der Höllenhund auf. Dann streckte er seinen Rüssel nach vorne. Davon besaß er nur einen; mehr hatte ihm die Neue Welt trotz seiner drei Hälse, Köpfe und Kehlen nicht gegeben.
»Kommst du jetzt?« Yv sah über den Rand des Lochs hinweg. Babbel streckte dem Ungeheuer die Zunge raus, spuckte gar nach ihm. Das trieb das Vieh zur Weißglut. Es packte das Metallteil mit dem Rüssel. Bereits ein normaler Elefant besaß Kräfte, die weit über die eines Menschen hinausreichten. Dieser Mutant packte das Überbleibsel aus dem Bergbau, als wäre es eine Karaffe mit Wasser und pfefferte es gegen die südliche Mauer des Platzes, an der es zerschellte.
Im letzten Moment sprang Babbel ins Loch. Ehe der Cerberus ein weiteres Mal ausholte, wuchtete Yv den Deckel über ihnen auf seinen Platz zurück.
Das Wesen ging wie ein Unwetter auf den Deckel nieder. Die obere Schicht musste unter den üblen Ausdünstungen des Viehs bereits mürbe geworden sein, aber Yv hatte den Mechanismus für die Schutzplatte getätigt, sodass zwischen ihnen und dem Ungeheuer nun eine weitere Barriere ruhte.
Einmal wuchtete der Cerberus seinen Körper derart auf den Boden, dass sogar diese Abriegelung erzitterte. Doch es bildete sich kein Riss.
Erst nach einer gefühlten Ewigkeit senkte sich Stille auf sie herab.
»Ist er weitergezogen?« Justus reckte sich hoch, doch er reichte nicht bis nach oben. Babbel hielt die Leiter besetzt.
»Ich hab nicht gehört, wie sich seine Schritte entfernten«, bemerkte Rike.
»Dann ist er noch da und wartet.« Walter bot seinem besten Freund die Hand zur Räuberleiter. Der stieg darauf und legte ein Ohr gegen die Schutzplatte. Lauschte. Nach einer Weile schüttelte er den Kopf.
»Aber er kann doch nicht einfach so vom Erdboden verschwunden sein, oder?«
»Er könnte schlafen.«
»Der ist viel zu hungrig!«
»Und was, wenn er jemanden gefressen hat?« Rike kratzte sich im Gesicht. Dort, wo der schwarze Fleck saß. »Wenn noch jemand über den Schrottplatz gelaufen ist, den wir nicht bemerkt haben?«
»Auch dann können wir nicht durch den Ausgang. Sobald er uns sieht, wird er angreifen. Vielleicht würde er uns töten, um seine Vorräte aufzustocken.« Walter sprang wieder auf den Boden. »Nein, diesen Weg können wir nicht gehen. Es bleibt uns nur eine Richtung.«
»Und die wäre?«
Die Antwort kannten sie alle: tiefer in den Tunnel hinein. Keine schöne Vorstellung.
»Wie weit ist es bis zum nächsten Deckel?«, überlegte Rike.
»Etwa tausend Meter. Es gibt einen vor der Spielhölle.« Kally war den Weg bereits zweimal gegangen, wie sie Yv berichtet hatte. Beim ersten Mal zum Spaß. Ein weiteres Mal, weil ein Glutwetter aufzog. Nachdem sie ein Mann vor der Hölle zum Ganz-oder-Gar-nicht aufgefordert hatte, hatte sie geschworen, den Weg niemals wieder zu gehen. Aber die jetzigen Umstände erlaubten es nicht anders.
Keiner von ihnen fühlte sich wohl. Im Untergrund hausten die, die sich keine Spritzen leisten konnten: Angehörige der Sekte, Obdachlose, Herumtreiber. So überlebten sie länger, denn je weiter man unter die Erde ging, desto weniger griffen einen die neuen Umwelteinflüsse an. Jedoch machte der Mangel an Tageslicht etwas mit den Menschen. Vielleicht lag es daran, dass die andauernde Dämmerung ihre Stimmung drückte. Vielleicht verloren die Grundis – die Dämmerungskinder, wie manche sie nannten –, auch schneller die Erinnerung an Zivilisation und Menschlichkeit. Selten war eine Begegnung mit einem von ihnen erstrebenswert.
Mit einem flauen Gefühl im Magen beäugte Yv die Überreste derer, die hier hausten. Dort ein Knochen, hier ein Hautfetzen. Halb verrottete Kleidung, etwas, das mal ein Abzeichen gewesen sein mochte. Hätten sie alle nicht so viel Angst gehabt, hätten sie mit Sicherheit darin gestöbert. Sogar Babbel ignorierte die Pilze, die dahinter wuchsen.
Schließlich kamen sie an einer Ecke mit einer weiteren in der Wand verankerten Leiter an.
»Da wären wir. Über uns liegt die Spielhölle. Seid ab jetzt still und bewegt euch unauffällig«, flüsterte Kally.
Die anderen nickten.
Kally schob ihren Haarwust nach hinten, schmierte sich dabei Dreck hinein. Dann setzte sie ihren rechten Fuß auf die unterste Sprosse der Leiter. Prüfte, ob diese hielt. Als nur wenig Sand herabrieselte, verlagerte sie ihr Gewicht darauf. Die anderen warteten unten, denn es war nicht sicher, ob das Gebilde zwei Leute auf einmal tragen konnte.
In viereinhalb Metern Höhe hatte sie die Decke erreicht. Auch dort gab es einen Verschluss aus Beton mit einem dem auf dem Schrottplatz vergleichbaren Mechanismus. Sie biss die Zähne aufeinander, holte tief Luft und schob dann den Hebel zur Seite. Dieser bewegte sich geräuschlos, als hätte ihn jemand vor nicht allzu langer Zeit geölt. Die Platte glitt zur Seite. Kally zog sich hoch, schwang sich in die Mulde darüber. Sie legte das rechte Ohr an den Deckel und lauschte. Schließlich nickte sie und schob ihn zur Seite. Von oben fiel gelbes Licht in den Schacht; es dämmerte bereits.
»So lange waren wir unten?«, überlegte Yv. Sogleich tat ihr Mümmelchen leid. Die musste vor Sorge bereits halb verrückt sein!
Kally verschwand außer Sichtweite. Walter folgte als nächstes.
Dann kam Yv. Erst, als sie den Kopf aus dem Loch streckte, bemerkte sie, dass bereits ein Streit im Gang war. Kally stand vor dem Eingang zur Spielhölle und brüllte eine Gestalt im Inneren des Ladens an. Der Lärm, den sie dabei produzierte, war enorm, sodass bereits einige Köpfe in den Fenstern über ihnen aufgetaucht waren. Von denen war keine Hilfe zu erwarten; allenfalls kontaktierte jemand von ihnen Eisbein oder seine Kumpane. Nicht gut!
Sie lief rasch an die Seite ihrer Freundin. »Was ist passiert?«
»Bosch ist da drin.«
Yv riss die Augen auf. »Das hat er nicht gewagt?«
»Anscheinend doch!« Kally liefen Tränen übers Gesicht, was ungewöhnlich genug war, da sie normalerweise eher die komplette Zimmereinrichtung zerschlug, ehe sie sich auf diese Weise gehen ließ.
Da bemerkte Yv, dass Matsche sie durch die Kruste auf der Scheibe anstarrte. Der hieß so, weil sein Gesicht zu Mus gehauen worden war und die Knochen darin nur noch grob an Ort und Stelle saßen. Sie starrte zurück. Er streckte die Zunge heraus. Wagte es gar, über die innere Dreckschicht auf der Scheibe zu schlecken.
»Der Kerl ist noch irrer als Babbel!«, kommentierte Rike.
»Klar ist er das; ohne Hirnmasse lebt sich's schlecht. Und viel davon kann er nicht mehr haben, so wie die ihn damals verdroschen haben.«
»Genau, dieser Blatschkopf!«, schnauzte Kally. »Aber was machen wir denn jetzt? Ich kann doch unmöglich in die Hölle gehen.«
»Seit wann schert dich, was du darfst und was nicht?«
»Seit Matsche mir gesagt hat, dass er Bosch krippelt, wenn ich die Schwelle überschreite.«
»Halten sie Bosch da drinnen gefangen?«
Kally nickte. »Er hat um Spritzen gespielt und verloren. Dass ich nicht eher bemerkt hab, in was für Schwierigkeiten er steckt!«
»Deshalb muss er nicht gleich in die Hölle. Er weiß doch, dass man dort nicht gewinnen kann.«
»Kann man doch.« Das war Babbel.
Yv blickte ihn ungläubig an. »Wie?«
»Sagen wir … ein wenig Zauberei hier, ein wenig Babbel da!« Babbel versuchte zu zwinkern, aber er tat es mit seinem vernarbten Auge, daher verzog sich sein Gesicht zu einer grotesken Grimasse.
Gerade das gab Yv Hoffnung. Der Lockenkopf war so verrückt, dass er's schaffen konnte. »Das würdest du tun?«
Der Kerl lief rot an und schaute schnell zu Boden. »Du hast Babbel das Leben gerettet. Kein schönes Leben. Aber er hängt daran.«
»Würdest du?« Für einen Moment zögerte Kally, dann überwand sie sich und umarmte ihn. Yv konnte hören, wie sich ihre Haut nur schwer vom klebrigen Film auf seinem Körper löste, aber darauf achtete Kally schon nicht mehr. »Bitte, bitte!«
Da nahm Babbel Haltung an. Er richtete sich so gerade wie möglich auf. In dieser Positur trat er auf die Tür zu, lief zum Türsteher, der dort die Höllenpforte bewachte, und forderte: »Ein Besonderes Spiel!«
Yv glaubte erst nicht, dass der Wächter ihn reinließ. Doch zu ihrer Überraschung blitzten die Augen des Pfortenhundes auf; vages Erkennen lag darin. Er nickte und gab den Weg frei. Babbel schritt forsch durch das Tor, Kally und Yv huschten hinterher.
Die anderen warteten draußen. Yv sah, wie sie ihre Nasen gegen die Scheibe drückten und das Innere durch die Schlieren auf dem Glas beobachteten.
Yv war zum ersten Mal in der Hölle. Mümmelchen hatte sie oft genug gewarnt, diesen Ort nicht zu betreten. Sie betrachtete mit großen Augen die für die jetzigen Umstände geradezu wahnwitzig aufwendigen Dekorationen: Unter der Decke hatte jemand ein Banner aus orangefarbenem Stoff angebracht. In diesen waren Scherben und Schrottteile genäht. Eine Schicht aus lila Farbe prangte auf den Wänden. Wo diese vom Putz platzten, hingen bis zu drei Millimeter dicke Stücke. Der Boden war überzogen mit einer Art Teppich: ockerfarben und so tief, dass Yv darin bis über die Schuhsohlen versank. Es stank, als sei im Inneren eine Familie von Aalen verendet. Der Geruch drang von unten an ihre Nase und war besonders stark an den Stellen, wo braune und braunrote Flecken prangten: Stichpaste. Sie hatte davon noch nicht selbst probiert, aber bereits mehrfach etwas von Dealern auf den Straßen angeboten bekommen. Die Paste wurde geraucht, verkocht und geschnupft oder, wenn einem alles andere egal war, in die Adern gespritzt. Eine weitere Sucht, die die Spieler in der Hölle kultivierten. Aber auch die eine oder andere Hausfrau, die mit der Welt abgeschlossen hatte, stach sich in ihren eigenen vier Wänden tot, wie man dazu heute sagte. Der Goldene Schuss in einer Neuen Welt.
Im hinteren Bereich des Ladens standen die Maschinen. Es gab vierzehn Spielautomaten; manche von ihnen gefüllt mit alten Arcade-Games, andere boten klassisches Glücksspiel an. Betrieben von Morog-Saft. Abgesehen davon war das Besondere jedoch der Einsatz: das eigene Leben.
»Worum möchtest du spielen?«, fragte ein weiterer Aufpasser den Lockenkopf.
»Matsche hat Probleme mit Bosch. Wenn ich den Affen besiege, kommt die Prinzessin frei … Bosch, meine ich.«
»Um seine Freundin spielt er?« Der Aufseher grinste.
»Für seine Freunde.«
»Für seine Freunde also. Einmal Affen besiegen. Schön.« Der Aufpasser wies ihm den Weg.
Yv und Kally blieben im Schatten des Lockenkopfes und hockten sich neben den rotbraunen Automaten. Der Affe war samt Fass und Leitern darauf abgebildet. Jemand hatte einen Schwanz in die Hand des haarigen Ungetüms gesprayt; ein Pfeil zeigte darauf. Daneben war geschrieben: »Keine Chance«.
»Wetten, das haarige Vieh hat schon mehr Menschen auf dem Gewissen als der Cerberus eben?«, kommentierte Kally.
Yv zuckte mit den Schultern. »Mag schon sein. Zumindest haben an dieser Stelle schon einige ihr Leben gelassen. Und in den Hinterzimmern der Hölle.«
Babbel jedoch machte nicht den Eindruck, als ob er gleich den Löffel abgeben würde. Er brachte sich in Positur – Gewicht leicht aufs rechte Bein verlagert, die beiden Hände locker an den Joysticks und Knöpfen. Seine Zunge fuhr unablässig über die Unterlippe. »Kann losgehen. Bis zum Killscreen, in Ordnung?«
»Gut. Du hast deinen Einsatz gemacht. Drei, zwo, eins …«
Bei »Los« begannen die Fässer zu rollen. In diesem Moment wurde Babbel eins mit dem Spiel. Yv hatte noch nie jemanden am Automaten gesehen, jedoch wurde auch ihr sofort klar, dass sie keinen gewöhnlichen Spieler vor sich hatte. Babbel reagierte schneller, als das Spiel Fässer generierte. Er ahnte deren Bewegungen voraus, noch ehe die KI diese berechnet hatte. Flammen verprügelte er mit einem Hammer. Wie dumm, dass das Männchen keinen Wassereimer trug, dachte Yv. Ein ums andere Mal erblickte die schnauzbärtige Figur eine Prinzessin, nur um wieder und wieder mitansehen zu müssen, wie der riesige Affe diese weiter nach oben schleppte.
Als Babbel es schaffte, das Tier in den Abgrund zu kicken, war es draußen bereits dunkel.
Merkwürdigerweise ging es danach immer noch weiter, aber nicht lange: Ohne erkennbaren Grund brach das Männchen schließlich auf einer der Rampen zusammen. Yv hielt die Luft an. Hatte Babbel nun sein Leben verwirkt?
Der jedoch wirkte überaus zufrieden und guckte den Aufpasser auffordernd an. »Bis zum Killscreen. Wie vereinbart. Nun zu Bosch …«
»Wie vereinbart. Da wäre dann noch eine Kleinigkeit …«
Weil es mittlerweile dunkel war, konnte Yv die Silhouette, die sich aus den Schatten am Boden erhob, nur vage ausmachen. Die Fistelstimme jedoch erkannte sie sofort: Nur Matsche sprach so, als hätte man seine Stimmbänder durch eine Käsepresse gejagt – nachdem man ihm zuvor die Eier abgeschnitten hatte. Er selbst roch auch wie Käse. Überreifer Harzer Roller. Den hatte Yvs Großvater früher, vor den Anderen Zeiten, im Kühlschrank gelagert und damit sogar Mümmelchens Nerven überstrapaziert.
»Was gibt es noch zu besprechen?«, fragte Babbel. Nun, da er nicht mehr an der Maschine saß, wirkte er nicht mehr halb so selbstbewusst.
Matsche kam dahergewalzt wie ein Riese, baute sich nun vor dem Lockenkopf auf. »Wir haben nicht verhandelt. Die Vereinbarung galt nur für dich und Grotz.« Er zeigte auf den Aufpasser.
Babbel schüttelte den Kopf. »Er ist ein Höllenhund. Deals werden grundsätzlich mit Angestellten des Ladens abgeschlossen.«
»Bloß, dass Bosch mein persönlicher Gefangener ist. Mein Deal, mein Gewinn.«
Babbel warf dem Leiter einen verzweifelten Blick zu. Der zuckte mit den Schultern und grinste. »Da müssen wir den Gewinn wohl ändern. Sagen wir, ihr kommt mit dem Leben davon?«
Der Lockenkopf blinzelte – mit dem blinden, vernarbten Auge. Ein nervöses Zucken, das nicht zu seiner Stellung in dieser Verhandlung beitrug. Dann jedoch straffte er sich. »Nein! Deal ist Deal. Bosch muss her.«
»Oder was?«
»Sagen wir, dann bekommt ihr Babbels Zorn zu spüren.«
Sowohl Matsche als auch Grotz starrten den Lockenkopf einen Moment lang ungläubig an. Das war zu absurd, um wahr zu sein! Als Babbel nicht zurückruderte, begannen sie zu lachen. Der Aufseher wieherte geradezu und schlug sich dabei auf die Schenkel. Matsches Falsett-Stimme brachte ein irres Staccato hervor.
Yv brach der kalte Schweiß aus. So lachten nur Wahnsinnige! »Babbel …«, flüsterte sie, »lass uns von hier verschwinden. Wir finden einen anderen Weg.«
Aber Babbel verzog keine Miene. Er starrte die beiden anderen an, bis diese wieder still wurden.
»Bosch«, wiederholte er.
Matsche grinste. »Jetzt sag ich dir mal was: Es gibt sieben Höllenhunde. Sieben! Ihr seid, wenn ich das richtig gezählt habe, zu sechst. Nur die Hälfte von euch ist hier drin. Ihr habt also nicht den Hauch einer Chance. Nicht – den – Hauch!« Die letzten drei Worte blies Matsche dem Lockenkopf ins Gesicht.
Yv konnte den üblen Atem riechen, der aus dem laufenden Harzer Roller hervorquoll.
Babbel verzog keine Miene. Dann, ohne jede Vorwarnung, trat er dem Riesen in den Unterleib. Anscheinend besaß dieser doch noch empfindliche Weichteile, denn er krümmte sich vornüber und brach zusammen.
Kally schrie laut und schrill auf: Aus den Schatten lösten sich weitere Gestalten und bauten sich vor ihnen auf.
Aber auch darauf war Babbel vorbereitet. Er holte etwas aus seiner Hosentasche und warf es den Höllendienern entgegen. Ein Kästchen. Als es auf dem Boden aufschlug, platzte es. Sofort strömte hellroter Rauch daraus hervor.
»Misery!«, schrie Grotz. »Der Kerl ist ja irre!«
Ausnahmsweise musste Yv ihm beipflichten: Misery mit sich zu führen – ein unkalkulierbares Risiko. Den Roten Nebel im Inneren eines Gebäudes freizusetzen grenzte an Selbstmord, war im Augenblick jedoch ihr letzter Ausweg.
Babbel schoss davon und schlüpfte durch die Tür neben dem Spielautomaten. Leider schien diese nicht zum Ausgang zu führen. Dahinter erstreckte sich ein langer, dunkler Gang, an dessen anderem Ende eine weitere Tür war.
Hinter sich hörte Yv Entsetzensschreie und das Röcheln von Erstickenden. Auch Rufe nach der Brigade wurden laut.
»Hier lang!«, zischte der Lockenkopf.
Keiner stellte Fragen. Yv hoffte, dass Babbel sich auskannte. Dass er einen Plan hatte oder zumindest halbwegs wusste, wohin sie liefen.
Zwei Türen weiter, und sie gelangten in eine Küche – ein heruntergewirtschaftetes, schmuddeliges Etwas, das kaum diese Bezeichnung verdiente. Die Arbeitsflächen starrten vor Dreck. Es gab ein paar ausgebeulte Töpfe, beschädigte Kochplatten und einen Kühlschrank, der unruhig vor sich hin brummte. In einem Käfig dahinter lag ein toter Morog. Der Gestank war unbeschreiblich. In der linken Wand gab es eine weitere Tür. Geradeaus schloss sich ein weiterer Raum an; hier lagerten Fässer und Kisten. Auf einer davon lagen Ampullen mit schwarzer Flüssigkeit.
»Die haben hier nicht nur Stichpaste.« Kally machte große Augen. »Das hier muss Todessaft sein.«
Gerüchte über dieses Zeug waren auch Yv zu Ohren gekommen. Erzählungen über eine neue Droge, die man sich spritzte. Der Trip des Lebens war garantiert; danach starb man. Das war etwas für solche, die nichts mehr vom Leben zu erwarten hatten.
Aus der Ecke dahinter drang ein Laut zu ihnen.
Kally erkannte die Stimme sofort. »Bosch!« Dann sprang sie an den Kisten vorbei ins Dunkel.
Yv folgte, jedoch weitaus vorsichtiger.
Der Freund lag direkt auf dem Boden, beschmiert mit etwas, das wie Öl aussah. Eine Prise Fischgeruch mischte sich in die Schwaden, die der verrottende Morog ausdünstete. An Boschs Schläfe saß ein Schleierfalter und trank gierig. Er konnte das Insekt nicht wegwischen, denn man hatte ihm nicht nur einen Knebel in den Mund gedrückt, sondern auch Hände und Füße gefesselt.
Kally schlug das Tier in die Flucht. Dann beugte sie sich hinab, um die Knoten zu lösen, aber Babbel hielt sie zurück: »Der Rote Nebel kriecht auch auf Babbels Gruppe zu; er kann ihn bereits am Kücheneingang sehen. Du solltest Bosch erst nach draußen tragen.«
»Na gut; aber ich schaff das nicht allein. Pack du ihn bei den Füßen. Yv, kannst du uns die Tür aufhalten?«
Yv nickte und lief los. Hinter sich hörte sie, wie die beiden anderen den Gefesselten hochwuchteten und dann über den Boden zerrten.
Als sie die Tür näher betrachtete, wurde ihr klar, wie massiv diese war, schwer und mit Eisen beschlagen. Die Klinke war von Yvs Schatten verborgen. Sie tastete danach. Als sich das Biest keinen Millimeter rührte, stiegen ihr Tränen in die Augen. »Ich glaube, sie ist verschlossen. Oder sie klemmt derart, dass ich sie nicht aufbekomme.«
Der Lockenkopf kam herbei, wühlte ein weiteres Mal in einer seiner Hosentaschen und beförderte ein Stück Draht zutage. Damit rückte er dem Schloss zu Leibe.
Yv bückte sich und packte Boschs Füße. Zerrte daran, so gut sie konnte. Sie hörte ein Kratzen hinter sich, dann ein Klacken.
Durch die Öffnung strömte frische Luft.
»Geschafft!«, murmelte der Lockenkopf und trat ins Freie. »Jetzt kommt, ehe die Wachen uns entdecken!« Babbel fasste mit an. Seinem sehnigen, in sich zusammengestauchten Körper wohnten überraschende Kräfte inne.
Sie zerrten den Gefesselten gemeinsam über die Schwelle, bis sie halbwegs frische Luft atmeten. Dann nahm Kally ihrem Freund den Knebel aus dem Mund.
»Wurde auch Zeit!«, schnaufte dieser, sichtbar erleichtert. »War ja klar, dass ihr mir erst mal den Mund gestopft lasst. Damit ihr eure bescheuerten Pläne durchziehen könnt, ohne dass jemand was dagegen sagt. Was sollte das mit dem Nebel?«
»Sei still, oder ich schieb dir das Ding wieder rein!« Kally schnaubte und sah sich nervös um. Sie schienen im Innenhof zu sein. Noch ließ sich niemand blicken, aber das würde nicht lange so bleiben.
»Was ist dir überhaupt eingefallen, um dein Leben zu spielen? Niemand, der bei klarem Verstand ist, setzt sich an einen der Automaten!«
Babbel räusperte sich.
»Außer Babbel. Ähm …, also, wenn man weiß, dass man es bis zum Kill Screen schafft, ist das natürlich was anderes …« Yv stotterte, bemüht, ihn nicht vor den Kopf zu stoßen.
Bosch unterbrach sie. »Ich brauchte die Spritzen, darum musste ich spielen. Eisbein ist durchgeknallt. Er gibt keine Rationen mehr raus.«