Jorge, Pinguin im Kopf - Jaana Redflower - E-Book

Jorge, Pinguin im Kopf E-Book

Jaana Redflower

0,0
4,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.

Mehr erfahren.
Beschreibung

„Wenn du dich selbst verleugnest, hält die Hölle bei dir Einzug.“ Genau das passiert Per. Als er ins Einkaufszentrum geht, steht dort plötzlich ein Pinguin vor ihm – Jorge. Der kommt aber nicht vom Südpol, wie man annehmen möchte, sondern geradewegs aus der Hölle. Im Einkaufszentrum übernimmt Jorge zum ersten Mal die Kontrolle über Per. Wie dieser quer durch die Welt reist, eine sprechende Aubergine kennenlernt, immerzu verfolgt und drangsaliert von Jorge und dem Geschenke klauenden Rudi, dies schildert diese Geschichte. Ebenso wieso die Killer-Oma eine Atombomben-Explosion im Yellowstone verhindert und dennoch eine Anwärterin für den Posten als oberste Höllenfürstin ist. Das ist etwas für alle, die wissen wollen, wieso manche Pizzerien einen Lieferservice direkt aus der Hölle anbieten und wieso König Artus ein Brokkoli ist.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Edition Paashaas Verlag

Autor: Jaana Redflower

Originalausgabe Juli 2016

Covermotiv: Jaana Redflower

Covergestaltung: Michael Frädrich

Korrektur: Harry Michael Liedtke, Floodland Agency

© Edition Paashaas Verlag

www.verlag-epv.de

Printausgabe: ISBN: 978-3-945725-61-0

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.

JORGE, Pinguin im Kopf

Wieso zur Hölle kennt mein Rechtschreibprogramm nicht das Wort „cthulhoid“?

Nicht mal „Tentakelmonster“ ist eingespeichert.

Ich wittere eine Verschwörung – sie ist grün und riecht nicht gut ...

Teil I Wie der Pinguin in meinen Kopf kam

Der Zwischenfall im Einkaufscenter

Es war achtzig Grad, Sommerabend. Zumindest fühlte es sich so an. Die Luft im Einkaufscenter stand vom Ausgang bis hin zu dem Schalter, der in weiter Ferne lag und den ich vor Ladenschluss noch zu erreichen hoffte. Vermutlich stand die Luft auch noch darüber hinaus, doch das konnte ich nicht mehr erkennen. Ab einer gewissen Entfernung trübt der Dunst die Sicht doch erheblich – zumal in einer derart schwülen Sommernacht.

Gerade beobachtete ich eine ältere Dame dabei, wie sie ihren rosa Regenschirm aus den Klauen eines wild gewordenen Rentieres befreien wollte, als ER mich von der Seite unten rechts ansprach: „Na, du Dummkopf?“

Ich blickte mich einmal um, um sicherzugehen, dass er wirklich mich meinte.

„Hä?“

„Ja, genau dich Döspaddel mein ich!“

Ich schaute genauer hin – nach der Seite, rechts, unten. Ich blinzelte.

„Was machst DU denn hier?“, fragte ich verwundert.

„Na, vermutlich das Gleiche wie du: rumstehen und warten“, gab ER zurück.

„Ja, ja, aber ich meine ...“, stammelte ich. Dann fiel mir noch etwas viel Wesentlicheres ein: „Wieso redest du denn überhaupt?“

„Na, wieso denn nicht?“, erwiderte ER.

„Weil, weil ...“, stotterte ich verwirrt – und etwas nervös – weiter, zumal das Rentier mittlerweile die Oma in den Knöchel BISS. Doch es war nicht zu leugnen! „Weil du ein Pinguin bist!“

Einen Moment herrschte Stille. Dann zuckte ER die Schultern, klapperte kurz mit dem Schnabel und meinte, so abschätzig er konnte (und das war SEHR abschätzig): „Na und? Ich stehe doch genau wie du hier in diesem abgefuckten Einkaufscenter, stehe sogar auf zwei Beinen“, hier warf er mir einen vielsagenden Blick zu, „und hätte gern eine Whiskey-Cola. Oder“, er klapperte wieder mit dem Schnabel. „lieber eine Whiskey-Soda auf Eis.“

Mir klappte die Kinnlade runter. In meinem Kopf arbeitete es. Links von mir klaute das Rentier der Oma die Perücke.

„Ja, aber, du ...“, hob ich gerade wieder an, als ER mich rigoros unterbrach.

„Ja, aber, ja, aber ...“ Er machte eine verächtliche Bewegung mit der Flosse. „Das zeigt doch schon deine negative Einstellung!“

„Ein...stellung?“

„Sei gechillt, Alter!“ Er wippte mit dem Kopf. „Überhaupt solltest du mal ein bisschen toleranter werden!“

„Aber ich BIN tolerant!“, protestierte ich. „Ich toleriere sogar ...“

Wieder unterbrach er mich: „Die Leier kenn ich zur Genüge! Und das ‚aber‘“, er warf mir einen Tod bringenden Blick aus seinen kleinen, kalten Pinguinaugen zu. „hab ich ebenfalls gehört.“

Mir brach der kalte Schweiß aus. Ich blickte Hilfe suchend nach links zur kahlköpfigen Oma. Doch von der war keine Hilfe mehr zu erwarten. Der Kampf mit dem Rentier schien sie ihre letzten Kräfte gekostet zu haben, denn sie griff sich mit schmerzverzerrtem Gesicht an die linke Brust. Das Rentier lief mit einem breiten Grinsen im Gesicht, der Perücke auf dem Kopf und dem keck übers Geweih gehängten rosa Schirm davon. Ich schluckte. Mein Puls raste. Was hatte dieser kalte, zwielichtige Geselle mit mir vor?

Nun grinste auch ER. Es war kein schönes Grinsen. Überhaupt war sein Schnabel spitz. Viel zu spitz. Ich wollte irgendwas tun, sprechen, handeln – aber ...

Das hab ich ebenfalls gehört!!, dröhnte es in meinem Schädel. Unwillkürlich fasste ich mir mit den Händen an die Schläfe. Massierte. Flehte. War er denn – konnte es denn sein – in meinem Kopf?

Natürlich kann ich das!!, dröhnte es wieder. Weißt du denn überhaupt GAR NICHTS über Pinguine?!

„Sch... schon ...“ Ich überlegte. Verzweifelt. „Pinguine sind, ähm, klein ...?“

Sein Blick wurde stechender. NOCH stechender. Warum nur hatte ich ausgerechnet das erwähnt? Ich wusste doch mehr ... Ich hatte doch mal mehr gewusst über ... Pinguine ...

„Und, ähm, sie leben am ... am Südpol und, äh, manche auch am Äquator ...“

Das gab mir Aufschub. Damit hatte der kleine gemeine Kerl wohl nicht gerechnet, dass ich wusste, dass ...

Kleiner gemeiner Kerl?!

Argh. Er war immer noch in meinem Kopf! Seltsamerweise bewirkte sein neuerlicher Anschlag das Gegenteil von dem, was er damit hatte erreichen wollen. Ich sah ROTE Schleier ... Ich hatte keine Angst mehr... Meine, wie ich fand, ganz herausragenden geografischen Kenntnisse hatten mir neue Kraft gegeben ...

Und dann sah ich es: Unschuldig an den leblosen Körper der Oma gelehnt – mein Freund, mein MG! Blitzschnell schnappte ich es mir und nahm DEN PINGUIN ins Visier. Jetzt hatte ich ihn! Sein Grinsen verzog sich zu einer Grimasse. Seine kalten Äuglein wurden noch kälter. Angst schien er keine zu haben. Ich spannte den Abzug. Der Pinguin trippelte ungeduldig mit dem Fuß. Der dachte wohl, ich schieße nicht! Aber da hatte er sich wohl geschnitten, der elende Kerl! Ich spannte weiter ... Der Pinguin starrte arrogant auf mich herab. Das schaffte er, obwohl er über hundert Zentimeter kleiner war als ich.

Mach schon!

Die Stimme in meinem Kopf konnte auch verführerisch flüstern ...

Und ich MACHTE. Und es GESCHAH. Und es war GEWALTIG!

Die erste Salve traf mitten in die Schaufensterscheibe des Spielzeugladens. Die zweite knallte, streifte mein Ohr (wie kam sie nur dahin?). Aus dem Augenwinkel heraus sah ich, wie das Rentier samt Perücke zu Boden ging. Beim dritten Mal hatte ich IHN. Ha! Der Pinguin flog meterweit nach hinten, knallte durch die zersplitterte Scheibe, landete auf dem Tender der Lok einer Spielzeug-Bahn ...

Plötzlich packte mich jemand hart an der Schulter. Für einen Moment schien alles zu verschwimmen. Dann wurde es wieder klar. Und ... irgendwie realer. Ich blinzelte. Rechts von mir lag umgekippt das Rentier auf dem Boden, der Pinguin dahinter in der Auslage des Schaufensters. Nur die Oma mit dem Herzinfarkt blieb, wie sie war: kahlköpfig, die Perücke fort (durchtränkt in einer riesigen Pfütze) – und ein bisschen zu leblos, selbst für eine sehr alte Oma. Als ich mich umdrehte, um zu gucken, wer mich so hart an der Schulter gepackt hielt, starrte mir ein übellauniger Ordnungshüter entgegen und bellte: „Würden Sie bitte unterlassen, mit der Wasserspritzpistole die Deko nass zu spritzen?!“

Betreten senkte ich den Lauf meiner Plastik-MG. Dann leistete ich der Aufforderung des Polizisten, doch bitte mitzukommen, widerstandslos Folge.

Und ich schwöre, einige Tage später, in der Psychiatrie, war der kalte Kerl auf einmal wieder da. Er saß gegenüber auf dem Bett und zischte mir zu: „Hey Kumpel, lass uns den Zwischenfall im Einkaufscenter lieber vergessen.“ Diesmal nuschelte er etwas, weil er eine Zigarre im Schnabel hatte. „ABER ... ich wette, du traust dich nicht, die Portokasse zu klauen ...“

Der Pinguin ist wieder da

Da war er also wieder, der Missetäter. Der Stifter von Unfrieden und Chaos. Saß frech und fröhlich auf dem Bett meines verschollenen Zimmergenossen und wippte mit den Flossen. Ein wenig hatte ich ihn ja doch vermisst. Seine Boshaftigkeit und das Bestreben, mich dominieren zu wollen. Sein spitzer – WIRKLICH spitzer! – Schnabel, seine kleinen, kalten Psycho-Augen.

Irgendwo in meinem Hinterkopf erklang ein dämonisches Räuspern.

Ähem!

Natürlich hatte ich auch das überaus bewundernswerte Talent zur Telepathie vermisst, das Talent dieses großartigen, intelligenten, wohlproportionierten ...

„Halt die Klappe, Schleimscheißer!“, bellte der Pinguin. „Willst du nicht lieber mal endlich meinen Namen erfahren? Immerhin scheine ich ja nun als dein ständiger Begleiter eingeteilt worden zu sein. Zumindest, wenn du endlich aufhörst, diese kleinen, bunten Dinger zu schlucken. Die machen mir 'nen üblen Schädel ...“

„Du meinst meine Pillen, oder?“

„Nein, die Gummibärchen, die du jeden Morgen in dich reinstopfst!“ Er schüttelte mitleidig den Kopf. „Natürlich die Pillen, du Pappnase!!“

Ich schluckte. Ich war noch nicht ganz daran gewöhnt, ständig beleidigt zu werden.

„Und, äh, was meinst du mit ‚eingeteilt‘?“, wagte ich schließlich vorsichtig zu fragen. „Von wem denn?“

Der Pinguin zog eine Augenbraue hoch (er hatte natürlich keine Augenbraue, denn Vögel besitzen so etwas nicht, aber hätte er eine gehabt, so hätte er sie hochgezogen) und deutete unheilvoll mit der Flosse nach unten. Nach GANZ unten. Ich stieß einen Pfiff aus.

„Und was haben DIE davon?“

Er zuckte die Schultern und wackelte mit dem Kopf.

„Och, vielleicht haben die was davon, weil du durch mich ein anerkannter Psychopath, Massenmörder und Balletttänzer wirst ... Oder vielleicht wollten die sich auch einfach nur amüsieren ...“

„Ein Balletttänzer?!“ Meine Stimme überschlug sich. „Warum um alles in der Welt sollte ich denn ein Balletttänzer werden wollen?“

„Schön, dass du das auch so siehst. Ich steh nämlich nicht so auf den ganzen Scheiß mit Tutu und Pling-Pling und dieser klassischen Musik.“

Er rülpste bekräftigend. Ich hinderte mich im letzten Moment daran, den Gedanken zu formulieren, klassische Musik und Pinguine passen doch eigentlich ganz gut ...

„Willst du mich nicht allmählich nach meinem Namen fragen, du Graupe?“

Ich zuckte zusammen.

„Natürlich, äh ...“

„Mein Name ist Jorge von und zu und überhaupt.“

„Von und zu und überhaupt?“

„Genau. Was dagegen?!“

„N-n-n-nein!“, beeilte ich mich zu versichern.

„Gut.“ Er paffte zwei-, dreimal an der Zigarre, bevor er weitersprach. „Und nun ... widmen wir uns der Leiche im Wandschrank!“

Ich hatte das Gefühl, mir quollen die Augen aus dem Kopf. Und definitiv triefte mir etwas Sabber vom Kinn auf den Kittel.

„Ja, aber ...“ brachte ich schließlich zustande.

Jorges Augen wurden stechender. Das kannte ich noch von dem Zwischenfall im Einkaufscenter.

„Ich meine, ja, und ...?“ korrigierte ich hastig.

„Was gibt's da groß zu sagen?“, meinte Jorge, als sei das Erklärung genug. „Dein Zimmergenosse hat halt das Zeitliche gesegnet. Den Löffel abgegeben. Kannst ja nachgucken.“

„Wieso weißt du das denn und ich nicht, wenn ...“

Ich geriet ins Stocken.

„Ja?“, bohrten sich Jorges Augen tiefer in meine Schädeldecke.

„Wenn du doch nur in meinem Kopf existierst ...?“, beendete ich zaghaft.

„Ha!“, brüllte Jorge. Die Zigarre fiel ihm aus dem Schnabel und kollerte auf den Boden. Und noch einmal: „Ha!“ Schließlich fixierte er mich wieder. „Weil ich in deinem Unterbewusstsein existiere. Ich weiß ALLES über dich. Sogar ...“

Ich schluckte.

„... das mit dem rosa Schlüpfer ...“

Ich zuckte zusammen.

„Bitte nicht!“, flehte ich. „Bitte sprich's nicht aus!“

„Keine Sorge.“ Jorge sprang vom Bett und begann, davor auf und ab zu marschieren. „Das werde ich schon nicht. Aber“, er deutete auf den Wandschrank, „bald ist Mittagszeit. Dann kommt doch immer dieser Penner, um dich abzuholen. Bevor das geschieht, musst du deinen Zimmergenossen hier rausbringen.“

Ich kratzte mich am Kopf.

„Na los, wird's bald?!“, fauchte Jorge. „Oder willst du unbedingt, dass sie dich in die Geschlossene verfrachten?“

„Jaja, jaja ...“, beeilte ich mich, seinem Befehl nachzukommen, und wankte zum Wandschrank. Ich öffnete. Innen stand mein toter Mitbewohner und starrte mich vorwurfsvoll an. Ich glotzte zurück.

„Findest du's denn nicht etwas unhöflich, die Tür so einfach aufzureißen? Wenigstens anklopfen hättest du können ...“, nuschelte mein toter Zimmergenosse.

Ich wusste nichts darauf zu entgegnen.

„Überhaupt, ich find das nicht so schön, dass du mich umgebracht hast ...“

„Lass dir von dem Kerl nix einreden!“, fuhr Jorge dazwischen und rupfte an seinem Arm, der sich sogleich vom Rest des Körpers löste. „Siehst du? Keine Qualitätsware! Erleichtert uns aber immerhin, ihn im Klo runterzuspülen.“

„Im Klo sollen wir ihn entsorgen?“

„Na, wie denn sonst? Meinst du, wir können ihn einfach nehmen und mit ihm zur Vordertür rausspazieren?“

„Mir wär die Vordertür lieber ...“, warf die Leiche ein.

„Klappe halten!“, schnappte Jorge. „Und nun hilf mir mal, den Schrank hochzuheben. Unter dem Gewicht werden wir ihn wohl klein kriegen ...“

Es dauerte ein wenig, bis wir Marvin im Klo runtergespült hatten. Dass Marvin in Wirklichkeit Kevin hieß, bemerkte Jorge, war wohl auf mein schlechtes Namensgedächtnis zurückzuführen. Aber immerhin, so fand er, hatte meine Tat den Grundstein für eine Marvin-freie Welt gelegt. Schließlich klopfte es an der Tür.

„Mittagessen!“, brüllte die Krankenschwester.

Mittagessen mit Jorge (Vol.1)

Ich schnupperte. Zum Mittagessen gab es Kohlsuppe. Jorge war in die Küche rübergeschlichen und hatte es geschafft, fünfundzwanzig Schüsselchen Schokoladenpudding zu vertilgen. Bei der Erwähnung des Wortes „Kohlsuppe“ war er auf und davon gewesen. Wohin, hatte er nicht gesagt.

Mir war kotzübel. Kohlsuppe mochte ich ebenfalls nicht. Vielleicht lag es aber auch daran, dass ich soeben Marvins Leichnam im Klo hinuntergespült hatte. Die Krankenschwester warf mir einen Blick zu, der dem Jorges nur um eine Winzigkeit an Boshaftigkeit und Kälte nachstand. Sie musterte mich von oben bis unten, bevor sie in vorwurfsvollem Ton bemerkte: „Herr Rotakil, haben SIE etwa den ganzen Schokoladenpudding aus der Küche geklaut und aufgegessen?“

„W-welchen Schokoladenpudding?“, bemühte ich mich, möglichst unschuldig zu klingen.

Irgendwie hatte ich das Gefühl, es sei nicht gut zu erwähnen, dass Jorge, mein unsichtbarer Pinguin, den Nachtisch verschlungen hatte.

„Vielleicht meint sie ja den, der in deinem Mundwinkel klebt“, bemerkte Olli, der links neben mir saß. „Oder den vorne auf deinem Pulli ...“

Olli war auch kein guter Name ...

„Ähem ...“, begann ich, da kam die zweite Stationsschwester angelaufen, die vom zweiten Stock, und verkündete mit einem leichten Hauch von Panik in der Stimme: „Gisela, der zweite Stock steht unter Wasser. Es muss einen Wasserrohrbruch gegeben haben!“

Wenn man bedachte, dass ich im dritten Stock wohnte und das Wasser von oben nach unten floss ... war Marvin wohl stecken geblieben.

Bei diesen Worten war Jorge wieder da. Trotz Kohlsuppe. Er thronte sogar mitten auf dem Deckel vom Topf, diesmal ohne Zigarre im Schnabel.

„Junge, Junge, das ist vielleicht eine Scheiße!“, keifte er. „Komm, lass uns schnell von hier verschwinden!“

Die Stationsschwestern eilten aufgebracht zur Wurzel allen Übels. Es konnte nur noch kurze Zeit dauern, bis sie herausfanden, dass der verschwundene Schokoladenpudding heute nicht das Hauptthema bei der Dienstbesprechung sein würde. Ich nickte Jorge kurz zu, entwand mich Ollis Griff („Bleib hier, du dreckiger Puddingdieb!“) und sprang aus dem ersten Stock in die Begonien. Die Begonien waren dann wohl das zweite Opfer, dessen frühzeitiges Ableben auf mein Konto ging. Zumindest heute.

Jorge stand neben mir. Er hatte sich teleportiert. Und er trug nun einen Hut – einen Fedora wie Al Capone – auf dem Pinguinschädel. Ich war verblüfft.

„Woher kommt denn der auf einmal?“

„Stell keine Fragen, lauf lieber! Die sind uns schon auf den Fersen.“

Er wetzte in Richtung des Waldstücks davon. Von oben klang bereits, bedrohlich anschwellend, der Lärm streitender Leute. Noch schnappte ich zwar einige Male das Wort „Schokoladenpudding“ auf, doch war ich mir ziemlich sicher, dass sie bald auf den Trichter kamen, WIESO das Klo verstopft war. Und Marvin würde bestimmt nicht die Klappe halten! Schnell wetzte ich hinter Jorge her.

Jorge verhilft mir zur Flucht

Jorge hatte sich bereits in einer alten Bretterbude im Wald verschanzt und zog an etwas, das verdächtig nach einem Joint aussah – allerdings eher nach einem Joint für Eisbären.

„Woher kommt DER so plötzlich?“, fragte ich Jorge und nahm die gigantische Tüte entgegen.

„Hör mal ...“ Jorge blickte mich ernst an. „Du redest mit dem Pinguin in deinem Kopf und fragst dich, woher der 'nen Joint hat ...“

„Ist ja schon gut!“ Ich nahm einen tiefen Zug, hustete ausgiebig und versuchte, es mir dann so gemütlich wie möglich auf einem mit Schneckenschleim überzogenen Klotz zu machen. „Und was tun wir jetzt?“

„Nach dem Kiffen, meinst du?“

„Yup.“

„Erst mal müssen wir dir was anderes anziehen. Nach 'nem käsegesichtigen Irren in weißen Kitteln suchen die doch.“

„Und wie?“

Er deutete auf eine unscheinbare Kiste in einer Ecke der Holzhütte.

„Diesmal hast du tatsächlich vorgesorgt ...“

Ich war verblüfft über meine eigene Intelligenz und Weitsicht. Die Kiste enthielt meinen Pass, etwas Kleingeld, einen falschen Bart und diverse andere Klamotten. Stutzig wurde ich erst, als ich auf dem Boden der Kiste einen rosa Schlüpfer fand. Ich warf Jorge einen verwirrten Blick zu.

„Guck mich nicht so an!“, blaffte er, davon gänzlich unbeeindruckt. „Den hast du selbst da deponiert. Mir scheint, du hast da noch was aufzuarbeiten, Kumpel ...“

Ich rümpfte die Nase und zog mir die Klamotten über. Bis auf den rosa Schlüpfer natürlich.

An die nächsten Minuten hatte ich keine Erinnerung mehr. Fest steht nur, dass ich plötzlich auf einem Fahrrad mit Raketenantrieb saß und Jorge mit seinem Jet-Pack neben mir herflog. Ich wunderte mich auch nicht mehr, woher er die Pilotenbrille hatte und ich die Raketen. Aber wir waren halt ein super Team, und da lernt man, solche Sachen als selbstverständlich zu erachten. Links von uns schwebte das Rentier am Himmel. Es trug immer noch den rosa Schirm am Geweih. Plötzlich durchbrach Jorge die Stille und fragte: „Mensch, aber bevor wir uns ins Ausland absetzen, musst du's der Schlampe noch mal heimzahlen!“

„Heimzahlen?“ Ich wiegte den Kopf hin und her, während unter mir die Rakete knatterte. „Das klingt aber ein wenig gemein, findest du nicht?“, fragte ich schließlich.

Jorge bekam einen Lachflash, der ihn so aus der Bahn warf, dass er beinahe mit einer Kuh auf der Weide zusammenstieß.

„Du bist vielleicht gut“, brachte er schließlich mit Mühe hervor. „Knallst mal so eben zwei Polizisten ab und sprichst von Gemeinheit, wenn wir uns an deiner Ex rächen wollen. Und was DIE dir angetan hat, hast du ja hoffentlich noch nicht vergessen ...“

„Polizisten? Abgeknallt?“

Ich begann auf der Straße zu schlingern. Bis ich es schließlich fertigbrachte zu bremsen. Ich stieg ab und betrachtete das Raketenfahrrad etwas genauer. Es war blau-weiß und hatte einen Schriftzug an der Seite. „P-O-L-I-Z-E-I“, buchstabierte ich. Weiße Buchstaben mit roten Spritzern drauf. Ich war schockiert.

„Du willst mir sagen, wir fahren hier auf einem GESTOHLENEN Polizei-Motorrad durch die Pampas und ...“

„Auf einem BLUTBESPRITZTEN gestohlenen Polizei-Motorrad, ja!“, ergänzte Jorge mit einem Lächeln im Gesicht. „Cool, nicht?“

Ich hatte das starke Bedürfnis, mir mit einem Hammer auf den Kopf zu hauen. Das konnte doch alles nur ein böser Albtraum sein! Und Jorge tat so, als handle es sich um eine Vergnügungsfahrt ...

„Steig mal lieber wieder auf!“, drängte Jorge. „Ich meine, ich höre da einen Helikopter in der Ferne ...“

Ich lauschte angestrengt.

„Also, ich hör nix ...“

„Ihr Menschen seid echt bescheuert! Jedes andere Tier kann besser hören als ihr. Nu ja, für die südostafrikanische Unterwasserente möchte ich mich nicht verbürgen ...“

„Südostafrikanische Unterwasserente? Noch nie gehört!“

Jorge seufzte.

„Wie ich soeben sagte ...“ Er warf mir einen bedeutenden Blick zu, bei dem mir ein Schauer den Rücken hinab lief. „Vertrau mir einfach ...“

Genau damit hatte ich so meine Probleme.

„Yup, genau da liegt dein Problem!“ Er rückte seine Pilotenbrille zurecht. „Und jetzt mach endlich, dass du hier wegkommst!“

In der Kanalisation gibt es keine Fische

Die eisenbeschlagene Tür unter der Brücke roch nicht gut. Doch das war das geringste Problem an dieser Stelle. Wie bekam man so eine dicke Tür am besten auf? Ein Brecheisen hatte ich nicht, Dynamit noch weniger. Obwohl sich der spitze Schnabel eines Pinguins eventuell dazu benutzen ließe ...

„Denk nicht mal dran!“, unterbrach mich Jorge scharf. „Im Übrigen“, er watschelte zur Tür, „ein Angehöriger eurer Spezies, deren Kopf ganz offensichtlich mit Marmelade gefüllt ist ...“ Jorge unterbrach sich und schüttelte seinen mit bestem Pinguinhirn bestückten Schädel. „Jedenfalls, der Depp hat vergessen, die Tür abzuschließen!“

Ich blinzelte.

„Ich frage mich ja manchmal, wie ihr es schafft, euch auf zwei Beinen zu halten.“

Ich zog am Türknauf. Tatsächlich. Die dicke, metallbeschlagene Tür schwang ohne weitere Probleme auf. Dahinter befand sich ein kleiner Raum mit einer kreisrunden Öffnung im Boden.

„Und jetzt vergiss bloß nicht das Motorrad da draußen!“

Die Leiter mit runternehmen konnte ich das gestohlene, BLUTBESPRITZTE Polizei-Motorrad (es wurde auch nicht besser, wenn man das öfter sagte) zwar nicht, aber immerhin dem direkten Blick von der Straße entziehen. Ich machte die Tür hinter uns zu. Als ich mich wieder umdrehte, bot sich mir ein grotesker Anblick: Jorge hatte seinen spitzen Schnabel in die Schrauben des Fahrzeugs gesteckt und begann, es auseinanderzunehmen.

„Super Idee, Kumpel!“, rief ich aus.

Er kniff ein Auge zu und grinste selbstgefällig. Ich riss ein gelockertes Schutzblech ab und warf es durch die Öffnung im Boden. Nach und nach folgten weitere Teile. Wenn man sie im richtigen Winkel durch die Öffnung warf, machte es „Blubb“. Ich hatte lange nicht mehr so viel Spaß gehabt! Gefühlte Stunden später – und mit einem ominösen Schlüsselbund in der rechten Hand – blieb ich schließlich unter einem Kanaldeckel stehen, über den in rhythmischen Abständen Autos fuhren. Ich nahm die Taschenlampe des Kanalarbeiters, um den Plan der Kanalisation zu beleuchten. Ich hielt inne.

„Sag mal, Jorge ...“

„Hmm?“

„Gibt es irgendwas, worüber du mich aufklären möchtest ...?“

„So zum Beispiel ...?“

„So zum Beispiel, wo die Taschenlampe in meiner Hand herkommt oder der Plan ...?“, flötete ich.

„...oder das neue Paar Schuhe?“, ergänzte er. „Steht dir übrigens überraschend gut!“

Ich blickte nach unten.

„Oder das neue Paar Schuhe, ja.“

Jorge trippelte mit dem Fuß.

„Hast wohl wieder einen Aussetzer gehabt, hm?“

„Um Gottes willen, rück endlich mit der Sprache raus!“, rief ich verzweifelt.

„Gott hat damit nix zu tun, das kann ich dir versichern. Der ist in Urlaub.“ Jorge lachte dreckig und deutete wieder verheißungsvoll mit der Flosse nach unten. „Aber ...“

„Würdest du mir bitte endlich verraten, was nun schon wieder passiert ist?“

„Junge, Junge ...“ Jorge steckte sich einen weiteren Joint an. „Du verpasst ja die besten Augenblicke deines Lebens!“

„Hngh!“

„Ich kann dich beruhigen“, paffte Jorge. „Der Kanalarbeiter liegt jetzt in etwa dort, wo das Motorrad auch liegt. Es werden Wochen vergehen, bis die ihn gefunden haben. Wenn überhaupt. Mach dir da mal keine Sorgen. Bis dahin sind wir schon längst in den Bergen von Peru, wo uns niemand findet.“

„Ich will aber nicht nach Peru!“

„Dann halt woanders. Aber bedenke, wie gut man in Peru an Mescalin ...“

„Was mach ich denn jetzt?“

Ich fuchtelte wild mit der Taschenlampe.

„Also erst mal ...“, er hielt mir seinen Joint hin, „brauchst du was zum Runterkommen.“

Ich nahm einen tiefen Zug.

Schock und ein grüner Pinguin im Bett

Nach zwei, drei Joints sah die Welt schon besser aus. Sofern die Welt gut aussehen konnte, wenn man sich in der Kanalisation unterhalb der Hauptstraße befand, mit der Karte eines toten Kanalarbeiters in der Hand und auf einem Rachefeldzug gegen seine Ex. Ich schaute mir den Lageplan des Toten noch mal genauer an, um mir einen Ausstieg in einer weniger befahrenen Straße zu suchen. Von dort aus war ich nur noch zwei Häuserblocks von Sofias Wohnung entfernt.

Sofia ...

Ich klingelte bei der Nachbarin, von der ich wusste, dass sie sowieso immer öffnete. Ich hatte vor, Sofia (mal wieder) zu überraschen. Als sie vor mir stand, prallte mir die gesamte Wucht der vergangenen Ereignisse entgegen.

Es war ein wunderschöner Sommertag gewesen, etwa drei Tage vor dem Zwischenfall im Einkaufscenter und noch bevor die nahenden Sommergewitter unsere Innenstadt in eine Waschküche verwandelt hatten. In meinem rechten Arm hielt ich einen riesigen Blumenstrauß. Es waren Gladiolen, Sofias Lieblingsblumen. Ein wahrhaft riesiger Blumenstrauß. Ich rückte meine Krawatte zurecht, strich den Anzug glatt. Einen Tisch hatte ich ebenfalls reserviert. Ich wollte sie überraschen. Mal romantisch sein. Nicht immer so langweilig sein, wie sie sich so oft beschwert hatte. Eigentlich war es ein Beziehungsrettungsversuch. Der reichlich misslang.

Ich klingelte. Innen hörte ich die Waschmaschine rumpeln. Zumindest dachte ich da noch, dass es die Waschmaschine war. Doch niemand öffnete. Vermutlich war sie kurz noch mal nach unten in den Supermarkt, weil sie etwas vergessen hatte – Milchpulver oder Gecko-Eier oder ein Gewehr Kaliber soundso. Was man halt so im Supermarkt bekommt. Na gut, dann würde ich sie schon erwarten, wenn sie mit ihren Einkäufen nach Hause kam. Ich wechselte die Gladiolen in den linken Arm. Kramte den Zweitschlüssel aus der Hosentasche. Der Blumenstrauß fiel zu Boden, als ich das Schlafzimmer erreicht hatte. Für einen Moment stand mein Herz still. Da thronte dieser spindeldürre Typ über ihr. Wie oft hatte sie sich beschwert, ich solle doch etwas abnehmen! Aber anscheinend hatte sie nicht so lange warten können und sich einfach Ersatz gesucht. Den erstbesten spindeldürren Ersatz. Ich kannte den Typen. Es war der Verkäufer vom Kiosk. Der mit dem Schnauzbart. Dabei hatte sie sich doch immer über Männer mit Schnauzbart lustig gemacht! Sie hatte kein Waschprogramm gestartet. Ich kam ins Schleudern.

---ENDE DER LESEPROBE---