Abenteuer-Express (Band 1) - Juwelendiebe im Highland Express - Maya G. Leonard - E-Book

Abenteuer-Express (Band 1) - Juwelendiebe im Highland Express E-Book

Maya G. Leonard

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Beschreibung

"Ein rasanter Rätselspaß, der trotz seines zeitgenössischen Settings an das goldene Zeitalter der Krimis erinnert" – The Guardian, 29.02.2020"Ein rasanter Eisenbahn-Detektiv-Krimi" – The Times, 18.01.2020Henry wird von seinem Onkel eingeladen, an der letzten Fahrt des Highland Falcon Express' teilzunehmen, Großbritanniens berühmtester Dampflokomotive. Doch auf dem Weg nach Schottland verschwindet ein wertvolles Juwel – gestohlen direkt vom Hals der Prinzessin. Alle Passagiere an Bord sind plötzlich Verdächtige. Kann er zusammen mit seiner neuen Freundin Lenny das Rätsel lösen und den Schuldigen fassen, bevor sie die Endstation erreichen?

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Seitenzahl: 278

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Für drei Generationen von Sparlings: John, Sam und Seb, und für Arthur.

M.G. Leonard

Für meine Eltern, die mich großherzig in allem, was ich tue, unterstützen.

Sam Sedgman

INHALT

Die Route des Highland Express

1.Die Fahrkarte

2.Der Highland Express

3.Diamanthunde

4.Großer Bahnhof

5.Hundefutter

6.Phantommahl

7.Der Firth of Forth

8.Ein königlicher blinder Passagier

9.Bahnbeine

10.Der Führerstand

11.Die Elster

12.Die Erfindung der Zeit

13.Der Thronsaal

14.Aufruhr in Balmoral

15.Ein Stockwerk tiefer

16.Geheimnisse und Scones

17.Ein elektrisches Nest

18.Ein kaputter Atlas

19.Grillfleisch zum Frühstück

20.Spione und Alibis

21.Batty Moss

22.Unruhe in Settle

23.Drachendampf

24.Der Schlüssel im Schloss

25.Aufzeichnungen

26.Bild und Ton

27.Schlussfolgerungen

28.Wie man jemanden verhaftet

29.Anschnallen und festhalten

30.Ein Käfig voller Koffer

31.Am Ende des Weges

32.Neben der Spur

33.Nächster Halt

Anmerkungen der Autoren

Danksagungen

Über die Autoren

Über die Illustratorin

DIE ROUTE DES HIGHLAND EXPRESS

Was Züge angeht – was wäre vortrefflicher? Mit dem Zug zu reisen heißt, Land und Leute zu sehen, Städte, Kirchen und Flüsse – es heißt, das Leben zu sehen.

Agatha Christie

KAPITEL EINS

DIE FAHRKARTE

Henry Beck nahm einen Kugelschreiber aus der Tasche seines gelben Anoraks, ließ ihn über seinen Zeigefinger gleiten, damit die Spitze nach unten sah, und kritzelte in der Mittelspalte der Zeitung herum, die auf dem Tisch lag. Die steilen Sorgenfalten auf der Stirn seines Vaters beunruhigten ihn.

Mit einem Seufzer legte Colin Beck den Sportteil der Zeitung beiseite und deutete auf die Bahnhofsuhr. „Er hat gesagt, er würde sich um fünf Uhr mit uns treffen. Wir sind in dem Café, das dein Bruder uns genannt hat, und es ist fünf Uhr.“ Er betrachtete die Leute, die durch den Bahnhof liefen. „Wo ist er, Bev?“

„Reg dich nicht auf, davon bekommst du nur Magenschmerzen“, tadelte Beverly Beck ihren Mann sanft und legte ihm die Hand auf den Arm. „Nat wird schon kommen.“

Henrys Stift zuckte, während er seine Mutter betrachtete. Sie wirkte müde. Dads blauer Mantel war ihr viel zu groß, aber so hochschwanger, wie sie war, sah ihr Bauch trotzdem vorne heraus. Henry hatte niemand gefragt, ob er eine kleine Schwester haben wollte, aber er würde eine kriegen, ob er wollte oder nicht. Er legte den Stift weg.

„Mum, ich will nicht zu Onkel Nat. Ich will bei euch bleiben. Ich mag keine Züge. Die sind langweilig.“

„Ich weiß, mein Schatz“, erwiderte sie und raufte ihm das Haar. „Aber es wird dir guttun, etwas Zeit mit deinem Onkel zu verbringen. Er ist ein interessanter Mann.“

Henry verzog das Gesicht. Wenn ein Erwachsener etwas als gut für einen bezeichnete, bedeutete das, dass es langweilig oder ätzend war, meist gleich beides.

„Du würdest nur im Warteraum des Krankenhauses sitzen, und da willst du doch nicht den Rest deiner Sommerferien verbringen, oder?“ Sie tätschelte ihm sanft die Hand. „Vielleicht macht es dir ja sogar Spaß.“

„Nein.“ Henry sah durch das Glasdach des Bahnhofs in den wolkenverhangenen Himmel. Er hatte keine Lust, eine Zugreise mit einem Onkel zu machen, den er sonst nur an Weihnachten sah. Die hohen Ziegelsteinbögen vom Bahnhof King’s Cross waren mit weißem Lattenwerk verziert, das das Innere aussehen ließ wie einen Bienenkorb, in denen die Passagiere die emsigen Bienen waren. Ein wabernder Schwarm von Menschen mit Koffern und Taschen hastete hin und her. Neben einem Metallständer stand ein Mann, der den Leuten Zeitungen entgegenhielt. Als eine Frau sich eine davon schnappte und unter den Arm klemmte, um sie in Ruhe im Zug zu lesen, erhaschte Henry einen Blick auf die Überschrift „Juwelendieb schlägt wieder zu“. Zwei Tauben mit gewölbter Brust trippelten auf ihn zu und pickten am Boden herum.

Colin Beck trat in ihre Richtung. „Verschwindet, ihr Ungeziefer!“, schnaufte er.

Henry sah ihn stirnrunzelnd an, riss die Rinde seines halb gegessenen Schinkensandwiches ab und duckte sich unter den Tisch, um sie den erschrockenen Vögeln hinzuwerfen. Sie packten das Brotstück und begannen, damit Tauziehen zu spielen. Neben dem Tisch blieben ein paar schwarze Turnschuhe mit drei weißen Streifen stehen. Darüber sah Henry eine braune Hose mit Fischgrätmuster und einer scharfen Bügelfalte. Das konnte nur ein Mensch sein. Bevs Metallstuhl scharrte über den Betonboden, als sie aufstand.

„Nat!“, rief sie, watschelte um den Tisch herum und schlang die Arme um ihren großen Bruder.

„Vorsicht, Bev, du wirfst mich ja noch um!“ Onkel Nat stellte seinen alten Lederkoffer und den Regenschirm ab und umarmte sie. „Wie geht es dir, Kleines? Alles in Ordnung?“

„Nathaniel! Wie schön, dich zu sehen!“ Colin war aufgestanden und schüttelte Onkel Nat die Hand. „Wir freuen uns sehr, dass du Henry übernimmst, wirklich.“

Henrys Blick glitt von seinem Onkel zu seinem Vater. Onkel Nat bestand aus geraden Linien. Er war schlank, hatte einen ordentlichen Kurzhaarschnitt und trug eine Hornbrille mit dickem Rahmen. Der beigefarbene Mantel und der senfgelbe Pullover passten perfekt zu Hose und Schuhen. Henrys Vater wirkte hingegen wie eine Ansammlung von Kreisen. Ein freundliches rundes Gesicht mit einem grau gesprenkelten Haarkranz um eine Halbglatze. Seine Schultern waren nach vorne gezogen, und sein blaues Karohemd steckte im braunen Gürtel seiner Hose, was seinen runden Bauch noch hervorhob.

Zwinkernd wandte sich Onkel Henry an Nat.

„Es wird wohl Zeit, dass ich meinen Neffen mal besser kennenlerne“, sagte er und hielt Henry die Hand hin. „Du bist seit Weihnachten ganz schön gewachsen, Henry. Freust du dich schon auf unser Dampflok-Abenteuer?“

Henry schüttelte seinem Onkel die Hand und nickte. Ja wollte er nicht sagen, denn das wäre gelogen. Eine Reise bis ganz nach Schottland und wieder zurück in einem der langsamsten Züge der Welt mit seinem seltsamen Onkel würde er nicht als Abenteuer bezeichnen.

„Und es macht dir auch sicher nichts aus, dass Henry mit dir fährt?“, erkundigte sich Beverly, nahm Henrys Rucksack und setzte ihn auf seinen Rücken. „Ich habe ihm gesagt, dass er dich in Ruhe lassen soll, wenn du arbeiten musst.“

Onkel Nat war Reiseschriftsteller. Er hatte sich bereit erklärt, Henry auf eine seiner Reisen mitzunehmen, solange Beverly Beck im Krankenhaus war und das Baby bekam.

„Absolut nicht. Mach dir keine Sorgen um uns.“ Onkel Nat legte vorsichtig eine Hand auf den Babybauch mit Henrys Schwester darin. „Konzentrier du dich darauf, dieses Baby gesund auf die Welt zu bringen. Ich erwarte, euch alle drei bei unserer Rückkehr in vier Tagen am Bahnhof Paddington zu sehen.“

„Ja.“ Henry nickte heftig. Sein Mund zuckte, aber er brachte kein Wort heraus.

„Es wird alles gut, Henry“, sagte seine Mutter leise. Sie bückte sich und legte die Hand an seine Wange. „Mach dir keine Sorgen. Dein Vater kümmert sich um mich.“ Sie nahm die Kette um ihren Hals ab. „Hier hast du Großvaters Christopherus als Glücksbringer. Der Schutzpatron der Reisenden wird dich auf deiner Fahrt beschützen.“

Henry nahm die Silbermünze zwischen Daumen und Zeigefinger und fuhr über die Prägung des Christopherus mit Wanderstab und einem Kind auf den Schultern. „Und wenn du ihn brauchst?“

„Du kannst ihn mir zurückgeben, wenn ihr wiederkommt.“ Sie legte ihm die Kette um und fummelte an seinem Anorak herum, dessen Kapuze unter dem Rucksack klemmte. Dann fuhr sie ihm mit den Fingerspitzen durch das aschblonde Haar. „Du wirst schön auf deinen Onkel hören, ja?“

„Ja, Mum.“

„Welche Route nimmt denn der Highland Express?“, erkundigte sich sein Vater.

„Wir fahren an der Ostküste nach Balmoral, wo wir morgen zu Mittag essen, dann um Schottland herum und an der Westküste wieder zurück.“

Henrys Vater nickte. „In Crewe haben sie schon tagelang dekoriert. Als wir heute Morgen den Zug hierher genommen haben, sah der Bahnhof richtig beeindruckend aus.“

„Ich wette, es gibt jede Menge pompöse Zeremonien“, vermutete Onkel Nat und blinzelte Henry an. „Diese Reise wirst du nie vergessen.“

„Du hast großes Glück, dabei zu sein.“ Henrys Vater klopfte ihm auf die Schulter. „Als ich ein Junge war, habe ich dem Highland Express immer zugewinkt, wenn er durch Crewe kam. Es ist eine wunderschöne Lokomotive.“

„Ich werde dich vermissen.“ Henrys Mutter umarmte ihn. „Tu, was dein Onkel sagt, und wir sehen uns in vier Tagen wieder.“

„Wir werden uns gut amüsieren“, versicherte Onkel Nat. Er nahm seinen Koffer, hängte sich den Schirm über den Arm und fasste nach Henrys Hand. „Gut, dann gehen wir mal. Wir wollen ja nicht unseren Zug verpassen.“

Henry hatte Mühe, zu sprechen. Er hatte noch nicht richtig Auf Wiedersehen gesagt. Seine Eltern traten zurück und winkten lächelnd, als Onkel Nat ihn mit sich zog. Er sah noch, wie sein Vater schützend den Arm um seine Mutter legte, dann drehten sie sich um und verschwanden – einfach so – in der Menge.

„Du brauchst deine Fahrkarte.“ Onkel Nat ließ Henry los und griff in die Tasche seines Regenmantels.

Henry suchte in der Menschenmenge nach seinen Eltern, sah aber nur die nichtssagenden Gesichter von Fremden. Er fühlte sich ganz hohl. Onkel Nat drückte ihm ein weißes Rechteck in die Hand.

„Bist du bereit, Henry?“ Seine Stimme war sanft, wie die seiner Mutter.

Henry warf noch einen Blick über die Schulter, dann sah er seinen Onkel an und nickte.

„Bereit.“

Am Zugang zum Bahnsteig hatte sich eine Menschenmenge versammelt, die sich drängelten, um besser sehen zu können.

„Wir trödeln nicht auf dem roten Teppich“, erklärte Onkel Nat, als er auf sie zuging. „Die Bühne überlassen wir denen, die das Rampenlicht lieben.“

Henry betrachtete seinen gelben Anorak und die verblichenen blauen Jeans und erschrak. Für einen roten Teppich war er nicht richtig angezogen.

„Die Fahrkarte bitte“, verlangte ein uniformierter Beamter. Henry hielt ihm die weiße Karte mit seinem Namen hin. Kameras klickten, und der Beamte lächelte. „Willkommen zur letzten Fahrt des Highland Express, Henry Beck.“

KAPITEL ZWEI

DER HIGHLAND EXPRESS

Das Erste, was Henry sah, war ein glitzerndes Glashaus auf Rädern. Der untere Teil des Waggons hatte eine Holzvertäfelung, die obere Hälfte bestand aus rechteckigen, blitzenden Glasplatten, getragen von goldenen Verstrebungen, die sich über den Zug wölbten. Im Inneren konnte er leuchtend grüne Tropenpflanzen erkennen.

„Was für ein Zug hat denn ein Gewächshaus dabei?“

„Das ist ein Aussichtswagen“, erklärte Onkel Nat grinsend. „Wenn wir über die Gleise schweben, können wir von dort die Farben der britischen Landschaft im Spätsommer erleben oder auf die Nordsee hinausschauen. Vielleicht siehst du ja den Riesenkraken.“

„Den Kraken gibt es nicht.“ Henry glaubte nicht an Seemonster. Schließlich war er fast schon zwölf.

Onkel Nat sah ihn überrascht an. „Wirklich? Nun, dann kannst du ja auf einem der Sofas liegen und dir die Sterne ansehen, wenn es dunkel wird.“

Plötzlich wurde es laut. Henry drehte sich um und sah eine Frau in einem vergissmeinnichtblauen Kleid den roten Teppich entlangstolzieren. Sie sah über die Schulter hinweg in die Kameras, schürzte die roten Lippen und warf lachend den Kopf zurück.

„Sierra Knight! Was macht die denn hier?“, stieß Henry hervor, doch Onkel Nat verließ den roten Teppich, und er musste hinter ihm herrennen. „Sie ist ein berühmter Filmstar!“

„Sierra Knight ist auch ein Gast, sie wird die Grand Tour mitmachen.“

„Sierra Knight fährt mit uns im Zug? Wahnsinn!“ Henrys bester Freund Ben war total verliebt in die Schauspielerin. Er würde vor Neid platzen, wenn er das hörte. „Was passiert eigentlich auf einer Grand Tour, Onkel Nat? Was machen wir da?“

„Wir wohnen, essen und schlafen in einem der schönsten Züge, die je gebaut wurden, und versuchen, keinen Ärger zu bekommen. Zum Glück sind wir völlig unbedeutend und haben keine offiziellen Verpflichtungen. Die Schwerarbeit wird vom Kronprinzenpaar übernommen.“

„Kronprinzenpaar?“

„Hat deine Mutter dir nicht gesagt, dass du mit mir im königlichen Zug fährst?“

„Ich habe nicht zugehört“, gestand Henry. „Ich wollte lieber bleiben und Dad helfen, auf sie aufzupassen.“

Onkel Nat legte Henry eine Hand auf die Schulter und neigte sich zu ihm. „Weißt du, was deiner Mutter am allermeisten helfen würde?“

„Dass ich ihr aus dem Weg bin“, murmelte Henry und sah zu Boden.

„Nein. Dass du eine schöne Reise mit mir machst und ihr einen Haufen Geschichten erzählen kannst, wenn sie sich erholen muss. Wenn wir wieder zurückkommen, wirst du noch viel Gelegenheit haben, auf sie aufzupassen. Was deine Mutter jetzt am glücklichsten machen würde, wäre, wenn du glücklich wärst, stimmt’s?“

Henry nickte widerstrebend.

„Also, Kopf hoch! Fang an, dich zu freuen. Sieh dir mal diesen Balkon an!“ Sein Onkel deutete mit der Schirmspitze auf einen Vorsprung am Aussichtswagen. „Welch kunstvolle Schmiedearbeiten. Siehst du die Blütenmotive um das königliche Wappen herum? Fantastisch!“

Henry betrachtete das Metall und fragte sich, ob sein Onkel nicht ganz dicht war. „Äh, ja – ganz tolle Schmiedearbeit.“

„Wenn das Kronprinzenpaar in Balmoral zugestiegen ist, wird der Highland Express nur noch im Schritttempo durch die Bahnhöfe fahren. Dann werden der Prinz und die Prinzessin auf diesem Balkon stehen und den Leuten zuwinken, die ihnen alles Gute für ihre kürzlich geschlossene Ehe wünschen.“ Nat hob einen Finger, und ein Träger kam diensteifrig zu ihnen.

„Ja bitte?“

„Abteil neun bitte.“ Onkel Nat nahm Henry den Rucksack ab und stellte ihn neben seinen eigenen Koffer. „Nun, Henry, bevor wir unter Dampf stehen, pflege ich die Lok zu besuchen – das ist die Kurzform von Lokomotive.“ Er hob die Schirmspitze. „Zur Maschine!“ Als sie am Bahnsteig entlanggingen, deutete Onkel Nat nach rechts. „Sieh mal! Pullman-Waggons. Absoluter Luxus!“

Henry hatte noch nie einen Erwachsenen gesehen, der so vernarrt in Züge war, und musste unwillkürlich lächeln, während sein Onkel begeistert mit irgendwelchen Fakten um sich warf.

Plötzlich blieb Onkel Nat abrupt stehen, sodass Henry gegen ihn stieß.

„Siehst du dieses Rot? Das ist Bordeaux – die Farbe der königlichen Livreen. Es gibt keinen anderen Zug in dieser Farbe.“

Henry starrte den Waggon an. Das tiefe Rot zeugte von Reichtum und Macht.

„Dieser Waggon“, fuhr sein Onkel fort, „ist der König-Edward-Salon. Er wurde vor dem Krieg für König George V. gebaut und enthält eine wunderbare Bibliothek sowie Kartenspieltische und ein Dartboard.“

„Ein Dartboard? Ist das in einem fahrenden Zug nicht gefährlich?“

„Natürlich. So macht es viel mehr Spaß. Das hier ist der Speisewagen, wo wir frühstücken, zu Mittag und zu Abend essen werden und wo wir durch diese Doppeltüren in den Zug einsteigen“, sagte er und zeigte darauf.

Ein großer Mann in einem weinroten Anzug mit goldenen Knöpfen, goldgesäumten Taschen und Jackenaufschlägen trat vor.

„Mr. Bradshaw, Sir“, grüßte er und zog seine spitze Mütze. „Es ist immer wieder eine Freude, Sie an Bord begrüßen zu dürfen.“

„Hallo, Gordon. Das ist mein Neffe Henry Beck. Henry, das ist Gordon Goulde, der Chefsteward im königlichen Zug.“

„Willkommen, junger Herr Beck.“ Beim Lächeln zeigte Gordon Goulde eine Reihe von Pferdezähnen.

„Gordon, ich würde Henry gerne die Lok zeigen. Wir haben doch noch Zeit, oder?“

„Wenn Sie sich beeilen, Sir.“

„Wir sind in zwei Minuten wieder zurück“, versprach Onkel Nat, legte Henry die Hand auf den Rücken und schob ihn vom Speisewagen fort. „Unser Schlafabteil wird irgendwo in diesen Gästewaggons sein.“

„Was ist das für ein Waggon?“, erkundigte sich Henry, als sie an einem Wagen mit goldgerahmten Fenstern vorbeikamen.

„Das ist der königliche Waggon“, erklärte Onkel Nat. „Der ist für gewöhnliche Sterbliche tabu. Bis Balmoral wird er leer bleiben.“

Henry erhaschte einen Blick auf sein Spiegelbild in einem der Fenster – lockiges blondes Haar, ein gewöhnliches Gesicht und ein gelber Anorak.

Der Vorhang des Fensters zuckte.

„Ah!“ Er sprang zurück, als er Finger, eine Stupsnase und grüne Augen erblickte – dann waren sie wieder weg.

„Alles in Ordnung?“, erkundigte sich Onkel Nat amüsiert.

„Ja.“ Henry wurde rot. „Äh, wie kommt es denn, dass der Chefsteward deinen Namen kennt?“

„Das ist nicht meine erste Fahrt mit dem Highland Express“, erklärte Onkel Nat. „Ich bin Reiseschriftsteller, habe mich aber auf Züge spezialisiert. Ich liebe diese wundervollen Maschinen.“ Er tippte sich mit dem Finger an die Schläfe. „Ich kann alle historischen Strecken auswendig. Wenn ich nicht schlafen kann, sage ich die Stationen auf, und bevor ich am Ziel bin, bin ich meist eingeschlafen“, berichtete er erfreut.

„Ist das denn ein richtiger Job, über Züge zu schreiben?“, wollte Henry wissen.

Onkel Nat lachte. „Ich habe schon einmal über den Highland Express geschrieben, deshalb wurde ich eingeladen, es noch einmal zu tun.“ Er sah am Zug entlang zu den taubengrauen Dampfwolken, die über den Schornsteinen der Maschine standen. „Ich bin froh, dass ich die Gelegenheit habe, diesem Zug Lebewohl zu sagen. Er ist etwas ganz Besonderes.“ Er gab sich einen Ruck. „Komm, wir müssen uns beeilen. Die letzten Wagen sind für die Zugbesatzung, und das hier ist der Kohlenbunker.“

„Ein Kohlenbunker?“

„Hier werden Kohle und Wasser gelagert.“.

Henry betrachtete den Waggon, der so groß war wie ein Lastwagen, und sah eine kleine Tür an der Seite. Er blinzelte, als sie sich einen Spaltbreit öffnete und der obere Teil eines Gesichtes erschien – dunkles Haar und grüne Augen –, ihn ansah und dann wieder verschwand. Es war dasselbe Gesicht, das er im Fenster des königlichen Waggons gesehen hatte.

„Kohle?“

„Natürlich Kohle. Was glaubst du denn, mit was eine Dampflok fährt?“

„Mit Dampf?“

„Und wie macht man Dampf, Henry?“

„Mit Kohle?“

„Exakt. Mit Kohle.“ Onkel Nat winkte ihn weiter. „Komm, sehen wir ihr mal ins Gesicht.“

Die stolze Lokomotive war glänzend bordeauxrot und das Dach strahlend weiß. Die stromlinienförmige Nase senkte sich wie ein Falkenschnabel. Zu beiden Seiten hob sich die Verkleidung wie ein Lächeln und zeigte drei große schwarze Räder. Aus verborgenen Rohren entwich Dampf mit drohendem Zischen. Die ganze Maschine war von Wasserdampf umgeben. Am liebsten hätte Henry sie gezeichnet, doch er hatte kein Papier dabei.

„Man muss schon lange suchen, bis man eine Maschine findet, die so beeindruckend und geradezu schön ist wie diese.“

Onkel Nat ging zur Spitze der Lok und tätschelte sie, als wäre sie ein Pferd.

Henry tat es ihm nach und stellte überrascht fest, dass das Metallgehäuse warm war und vibrierte. Die Lokomotive stieß einen dampfenden Seufzer aus, als wäre sie lebendig – wie ein Drache: alt, mächtig und bereit, loszufliegen.

KAPITEL DREI

DIAMANTHUNDE

Neben ihnen tauchte ein Zugbegleiter auf und verkündete: „Meine Herren, in sieben Minuten werde ich zur Abfahrt pfeifen.“

„Vielen Dank, Graham“, bedankte sich Onkel Nat.

Als sie über den Bahnsteig zurückeilten, wurde Henry von einem Blitzlichtgewitter geblendet. Auf dem roten Teppich stand eine silberhaarige Frau mit einem Robin-Hood-Hut, auf dem eine lange Fasanenfeder steckte. Um ihren Hals hingen unglaublich viele Perlenketten über einem Jagdsakko aus Tweed. Sie machte eine kreisförmige Bewegung mit der Hand und lächelte die Paparazzi eisig an.

„Komm!“, rief Onkel Nat, als er den Speisewagen betrat und dem Chefsteward seinen Mantel und seinen Schirm gab.

Henry lief rückwärts zum Zug, denn er konnte den Blick nicht von den fünf flauschig weißen Hunden mit diamantbesetzten Halsbändern wenden, die der silberhaarigen Dame folgten. Ein Mann mit rotem Gesicht und mausbraunen Haaren hielt sie an der Leine und versuchte, sie zu lenken.

Henry liebte Hunde. Zu jedem Geburtstag und jedem Weihnachtsfest bettelte er darum, doch seine Eltern lehnten es immer ab. Sie meinten, Hunde seien teuer und brächten eine sehr große Verantwortung mit sich. Als sie ihm erzählt hatten, dass er eine kleine Schwester bekommen würde, hatte er sie gefragt, wie sie sich einen weiteren Menschen leisten könnten, besonders, da Kinder noch größere Verantwortung mit sich brächten als Hunde. Er hatte nicht frech sein wollen, aber er war trotzdem auf sein Zimmer geschickt worden.

Beim Betreten des Speisewagens fühlte sich Henry wie in eine andere Zeit versetzt. Zu beiden Seiten des Ganges standen Tische mit weißen Leinentischdecken und hochlehnigen Stühlen, wie in einem besonders engen Restaurant. In der Luft lag der Geruch von Möbelpolitur.

„Was ist denn so interessant“, erkundigte sich Onkel Nat.

Henry deutete aus dem Fenster. „Stell dir mal vor, so reich zu sein, dass du dir fünf Hunde leisten kannst!“

„Das ist die Gräfin von Arundel, Lady Elizabeth Lansbury – eine der reichsten Frauen von England. Ich habe sie kürzlich auf der Gala der Herzogin von Kent kennengelernt. Eine beeindruckende Frau.“

„Glaubst du, dass sie die Hunde mit in den Zug nimmt?“

„Ich hoffe nicht“, erklärte eine raue Stimme. „Ich bin allergisch gegen Hunde.“

„Ernest White!“ Onkel Nat ging zu einem alten Mann, der in einem grauen Wollanzug an einem der Tische saß und durch eine Halbbrille die Zeitung las, und schüttelte ihm die Hand. „Wie schön, Sie zu sehen!“

„Das Vergnügen ist ganz meinerseits, Nathaniel. Was für ein Aufruhr da draußen!“ Ernest White sah über den Brillenrand zu Henry. „Ist das Ihr Junge?“

„Mein Neffe Henry.“

„Mein Enkel heißt auch Henry.“ Ernest schüttelte Henry die Hand. „Er arbeitet im Caledonian Sleeper Express. Er ist der Sohn meiner jüngeren Tochter – sie fährt oben in Schottland Güterzüge.“

„Ich wusste nicht, dass Sie auf der königlichen Reise dabei sind, Ernest. Ich hoffe, es ist nicht beruflich.“ Onkel Nat ließ sich auf dem Sessel ihm gegenüber nieder.

„Oh Gott, nein. Für so etwas bin ich zu alt.“ Ernest sah Henry an. „Ich war siebenundvierzig Jahre lang der Chefsteward im königlichen Zug“, seufzte er. „In diesem Zug habe ich einige der glücklichsten Momente meines Lebens erlebt. Sie wussten, dass ich ihm gerne Lebewohl sagen wollte. Ich habe mich sehr gefreut, als ich die Einladung bekommen habe. Das bedeutet mir sehr viel“, fügte er mit Tränen in den Augen hinzu.

Henry wollte ihn nicht anstarren und senkte seinen Blick daher auf die Zeitung, die er gelesen hatte.

Hinter ihm wurde es unruhig, als Lady Lansbury in den Waggon kam.

„Was für schreckliche Menschen!“, beschwerte sie sich und warf die Hände hoch. „Mit einem Foto sind sie nie zufrieden!“ Damit verschwand sie durch die Tür am anderen Ende des Waggons und ließ den Mann mit ihren Hunden zurück, der sichtlich Mühe hatte, sie alle an Bord des Zuges zu bringen.

„Das sind Samoyeden!“, rief Henry aufgeregt und hielt einem von ihnen die Hand hin, die dieser prompt leckte.

Schwanzwedelnd steckten die flauschigen weißen Hunde ihre neugierigen Nasen in die Ecken des Zuges, um interessanten Gerüchen nachzugehen. Der Hundeführer wurde in unterschiedliche Richtungen gleichzeitig gezerrt. Henry versuchte zu helfen und zog einen der Hunde unter einem Tisch hervor. Der Hund sprang an ihm hoch und leckte ihm das Gesicht.

„Bei Fuß!“, rief ihr Betreuer, und die Hunde kamen wieder zu ihm. Schließlich bugsierte er sie durch die Tür und folgte Lady Lansbury.

„Ich wüsste gerne, wie sie heißen“, meinte Henry.

„Baron Wolfgang Essenbach“, bemerkte Ernest White, „und sein jüngster Sohn Milo.“

Henry dachte zuerst, der alte Mann meinte die Hunde, bis er sah, wie ein stattlicher Herr mit grau meliertem Haar und einer mitternachtsblauen Weste den Zug betrat. Ihm folgte eine große, finstere Gestalt, die nur aus Ellbogen und Schultern zu bestehen schien. Gordon Goulde begrüßte die beiden Männer und geleitete sie in Richtung des Aussichtswagens.

„Der Baron ist ein alter Freund seiner Königlichen Hoheit des Prinzen“, flüsterte Ernest White, „und ein großer Eisenbahnfan.“

Den nächsten Gast erkannte Henry. Steven Pickle war ein reicher Unternehmer, der eine Zuggesellschaft namens Grailax betrieb, war aber durch eine Reality-Fernsehshow bekannt geworden. An seinem Arm hing eine kurvenreiche Rothaarige mit falscher Sonnenbräune. Henry nahm an, dass sie seine Frau war.

Er spielte mit dem Stift in seiner Tasche. Es juckte ihn in den Fingern, die beiden zu zeichnen. Steven Pickles Haut war wie die eines Würstchens, seine Arme waren wie Fleischwürste, seine Finger wie Currywürste.

„Ich fasse es nicht“, zischte Ernest White. „Wer hat denn diese Parasiten eingeladen?“

„’n Abend!“, begrüßte Steven Pickle sie mit einem Kopfnicken. „Gar nicht mal schlecht für so eine Antiquität, was?“ Seine Knopfaugen glitten durch den Waggon. „Könnte aber wohl eine Modernisierung vertragen.“

Onkel Nat legte Ernest beruhigend eine Hand auf den Arm.

„Ich bin Lydia Pickle“, strahlte seine Frau, wobei sich ihre roten Lippen wie ein Theatervorhang hoben und blendend weiße Zahnkronen enthüllten. „Sehr erfreut.“

Mr. Pickles Handy klingelte. Er nahm es aus der Hosentasche und rief hinein: „Hallo? Nein, ich bin beschäftigt. Rufen Sie später noch einmal an.“

„Schön, Sie kennenzulernen, Lydia“, erwiderte Onkel Nat und schüttelte ihr die Hand, während sie mit ihren falschen Wimpern klimperte. „Ich bin Nathaniel Bradshaw, und das ist mein Neffe Henry.“

Gordon Goulde schloss die Doppeltür zum Speisewagen und legte einen Riegel vor. Dann ließ ein schrilles Pfeifen alle aufsehen.

„Vierunddreißig Minuten nach“, verkündete Ernest White mit einem missbilligenden Blick auf seine Uhr. „Wir haben schon vier Minuten Verspätung.“

Als der Zug sich mit einem Ruck in Bewegung setzte, verspürte Henry eine gewisse Aufregung. Die Fotografen auf dem Bahnsteig winkten ihnen zu.

„Schnell, Henry“, forderte ihn sein Onkel auf und erhob sich. „Gehen wir in den Aussichtswagen und winken zum Abschied.“

KAPITEL VIER

GROSSER BAHNHOF

Henry folgte seinem Onkel durch den King-Edward-Salon, die Bibliothek und den Spielwagen bis zu dem gläsernen Waggon am Ende des Zuges. Draußen liefen Leute auf dem Bahnsteig entlang und winkten. Sierra Knight stand auf dem Balkon und warf Kusshände in die Menge. Als es zwei Mal pfiff und King’s Cross hinter ihnen verschwand, machte sie auf dem Absatz kehrt und kam hinein. Eine freundliche blonde Frau reichte ihr einen Drink. Henry mochte sie auf Anhieb, denn abgesehen von einem glitzernden Armband trug sie eine ganz normale Bluse und einen Rock, während alle anderen außer ihm angezogen waren, als würden sie auf eine schicke Party gehen. Neben einem Wägelchen stand eine Kellnerin und verteilte Getränke.

„Nathaniel, mein alter Freund!“ Ein großer Mann mit kahl rasiertem Kopf und einer Kamera um den Hals kam auf sie zu und schüttelte Onkel Nat die Hand.

„Isaac!“ Onkel Nat lächelte. „Was für eine Freude! Henry, das ist Isaac Adebayo. Er ist königlicher Fotograf. Wir kennen uns seit Jahren, seit wir über die Reise der Königin zu ihrem goldenen Jubiläum in der Duchess of Sutherland berichtet haben.“

„Also das war mal ein großartiger Zug“, stellte Isaac fest.

„Aber nicht mit dem Highland Express zu vergleichen“, fand Onkel Nat, woraufhin die beiden Männer begannen, über ihre Lieblingslokomotiven zu fachsimpeln.

Henry sah sich um. Alle Gäste hatten sich im gläsernen Waggon versammelt, und Henry wurde ganz traurig, als er feststellte, dass es alles Erwachsene waren. Er betrachtete den Baron und seinen Sohn und bemerkte, dass Milo Essenbach eine Narbe hatte, die von seinem Nasenflügel bis zu seiner Lippe verlief und ihm ein ewiges, spöttisches Lächeln verlieh. Der Mann bemerkte Henry und sah ihn an, woraufhin er verlegen den Blick senkte.

„Onkel Nat, ich hole mir einen Orangensaft“, verkündete er, und Onkel Nat nickte.

Auf dem Weg durch den Waggon dachte Henry an das Gesicht, das er hinter dem Fenster des königlichen Waggons gesehen hatte. Das hatte nicht erwachsen ausgesehen. Lächelnd reichte ihm die Kellnerin ein Glas Saft.

KLING! KLING! Baron Essenbach trat mit einem Glas Champagner in der Hand vor und hielt mit leichtem deutschem Akzent eine Rede.

„In Abwesenheit seiner Königlichen Hoheit des Prinzen schlage ich vor, dass wir unsere Gläser auf dieses herausragende Beispiel von Design und Ingenieurskunst erheben, das der Highland Express darstellt. Wir feiern die Stellung, die die Lokomotive in der industriellen Revolution eingenommen hat, und ihre Auswirkung auf die wirtschaftliche Infrastruktur dieses großartigen Landes.“ Er hielt inne, um Luft zu holen.

„Oh ja, absolut!“ Sierra wirbelte herum, bis sie zwischen dem Baron und seinem Sohn stand, und hielt ihr Glas hoch. „Auf einen ganz entzückenden Zug und die wunderbare Gesellschaft auf unserem Abenteuer um die Britischen Inseln.“ Sie klimperte erst den Baron mit ihren Wimpern an und dann seinen Sohn, bevor sie sich wieder den anderen zuwandte, doch noch bevor sie den Mund aufmachen konnte, um weiterzureden, rauschte Lady Lansbury herein. Sie marschierte geradewegs auf Henry zu, und ihre langen, schwarzen Ohrringe schwankten hin und her, als sie über ihn hinweg nach einem Champagnerglas griff und es erhob, um ihre eigene Rede zu halten.

Henry fühlte sich neben Lady Lansbury allen Blicken ausgesetzt, daher zog er sich zurück und ließ sich in einen Sessel sinken. Er fragte sich, was die Erwachsenen so toll an Reden fanden.

„Zum Gedenken an all diejenigen, die ihr Leben der Eisenbahn gewidmet haben, wie mein geliebter, verstorbener Gatte George, Graf von Arundel. Möge die letzte Reise dieses historischen Zuges die Dampflokomotive in den Löwenherzen des britischen Volkes anfeuern, denn als die Menschheit die Dampflokomotive erfand, hat sie etwas Großartiges erschaffen. Sie hat die Welt für immer verändert.“ Sie hob ihr Glas. „Auf den Highland Express.“

„Auf den Highland Express!“, wiederholten die anderen.

„Runter damit!“, rief Lydia Pickle und stürzte ihr Glas in einem Zug herunter.

Henry blinzelte. Von seinem Platz aus konnte er sehen, wie sich das weiße Tuch über dem Getränkewagen hob. Er erblickte braunes Haar, braune Haut, grüne Augen und dann das ganze Gesicht eines Mädchens in ungefähr seinem Alter. Er erstarrte, aus Angst, dass eine Bewegung sie wieder verschwinden lassen würde. Sie sah sich im Raum um, und als sich ihre Blicke trafen, streckte sie ihm die Zunge heraus und ließ das Tuch wieder fallen.

Henry sprang auf und stieß mit Steven Pickle zusammen, der gerade vorbeikam.

„Oh, sorry!“, entschuldigte sich Henry.

Mr. Pickle sah ihn an, als wolle er ihn anschnauzen, aber dann klingelte sein Telefon, und er wandte sich ab, um das Gespräch anzunehmen. „Hallo? Nein! Ich habe doch gesagt, ich bin beschäftigt!“

„Schon gut, Kleiner.“ Lydia Pickle zog die Nase kraus und zwinkerte Henry lächelnd zu. „Das passiert mir auch ständig.“ Sie deutete auf ihre High Heels mit Leopardenmuster. „Die sind ein Albtraum!“ Dann griff sie nach Steven Pickles Arm und presste das leere Glas an die Brust. Beim Davonstaksen klimperte es gegen eine große Schleife aus blitzenden Diamanten.

Henry sah an ihr vorbei zu dem Getränkewagen. Lady Lansbury ging auf Baron Essenbach zu, der sich gerade in der Wagenmitte mit Onkel Nat unterhielt. Die Pickles gesellten sich zu ihnen. Henry ergriff die Gelegenheit und lief um die Gruppe herum.

„Möchtest du noch mehr Orangensaft?“, fragte die Kellnerin.

Henry nickte.

„Ja bitte.“ Dann sah er nach unten. „Oh, mein Schnürsenkel ist offen.“ Er tat so, als müsse er seine Turnschuhe neu binden, und hob die Ecke des weißen Tuches an. Doch das Mädchen, das er zu sehen erwartet hatte, war nicht da. Er stand auf und sah sich um. Wohin konnte sie verschwunden sein?

„Da bist du ja“, erklang Onkel Nats Stimme. „Sollen wir gehen und uns zum Dinner umziehen?“

„Fürs Dinner umziehen?“ Henry dachte an die Kleidung, die er in seinen Rucksack gesteckt hatte, und wusste instinktiv, dass Jeans, Turnschuhe und Pullover nicht gut genug sein würden.

„Und wir haben uns auch noch nicht unser Abteil angesehen“, meinte Onkel Nat, der aufgeregt wirkte wie ein kleines Kind.

„Gut.“ Henry folgte seinem Onkel zur Tür.

„Oh, sie ist weg!“, kreischte Lydia Pickle, ließ sich auf alle viere fallen und krabbelte auf dem Boden herum. „Meine Brosche! Ich habe sie verloren!“

Steven Pickle grunzte und setzte sich neben Ernest White, der sich abwandte und aus dem Fenster sah. Im Glas zuckte ein Blitz auf, als Isaac ein Foto von Sierra schoss. Am anderen Ende des Waggons unterhielt sich Lady Lansbury fließend auf Deutsch mit Baron Essenbach, während Milo Essenbach mit finsterem Gesicht danebenstand.

Onkel Nat verdrehte die Augen und sagte leise: „Lass uns gehen.“

Als Henry den Aussichtswaggon verließ, sah er sich noch einmal zum Getränkewagen um.

Egal, wer sie ist, ich werde sie finden, nahm er sich vor.

Im King-Edward-Salon, fern vom Lärm der Party, konnte Henry das rhythmische Klopfen der Räder auf den Schienen hören. Er strich mit den Fingern über den Stoff des Billardtisches und betrachtete das Dartboard. Ob das Mädchen wohl Darts spielt? Er wollte gerne versuchen, Dartpfeile in einem fahrenden Zug zu werfen.

Onkel Nat ließ den Blick über die Buchtitel in den Regalen der Bibliothek gleiten. Dahinter gab es eine Lounge mit Kartentischen, auf denen je zwei Kartenspiele lagen. Henry glaubte, dass die Zugfahrt vielleicht nicht so langweilig werden würde, wenn er nur jemanden in seinem eigenen Alter zum Spielen hätte. Er fragte sich, warum sich das Mädchen versteckte.

Im Speisewagen sah er die Zeitung, die Ernest White hatte liegen lassen, und nahm sie im Vorbeigehen mit, weil ihn die Überschrift über den Juwelendieb neugierig gemacht hatte. Am Ende des Waggons befand sich eine kleine Küche, und dahinter lagen die Gästeabteile.

„Nummer neun, das ist es“, erklärte Onkel Nat.

Henry schob die schmale Holztür auf und betrat ein wunderschön eingerichtetes Abteil. Auf der rechten Seite befand sich eine Ablage mit meerblauem mit Goldfäden durchzogenem Lederbezug, auf der sein Rucksack und Onkel Nats Koffer und Mantel lagen.

„Wo sind denn die Betten?“

„Zugabteile sind die reinen Wunderkisten“, erklärte Onkel Nat und deutete auf ein winziges Porzellanwaschbecken in der linken Ecke hinter der Tür. Über der Schüssel hing ein schmaler goldener Wasserhahn. „Fließend kaltes und warmes Wasser und ein Rasierspiegel für den Herrn an einem ausziehbaren Halter.“ Er zog ihn wie eine Ziehharmonika auf. „Ein Glasregal für Toilettenartikel. Eine Kleiderstange mit sieben goldenen Bügeln für Hemden und Jacketts und drei Schubladen für Kleinkram“, schloss er und deutete nach unten.

Onkel Nat trat einen Schritt nach rechts. „Hier haben wir ein weiteres wichtiges Möbelstück.“ Er löste einen Hebel und klappte einen hölzernen Schreibtisch aus der Wand, der mit dem gleichen blauen Leder bezogen war wie der Sitz. Onkel Nat stellte seinen Koffer auf den Schreibtisch und schob den Stuhl darunter.

„Ich schlafe hier“, erklärte er und deutete auf die Couch. „Und du …“ Er zog die Turnschuhe aus und stellte sich auf die Polster. „… du schläfst hier.“ Er löste einen Haken und ließ ein Klappbett herunter, das von zwei in die Wand geschraubten Lederriemen gehalten wurde.

„Klasse“, grinste Henry.