Abenteuer im Sibirien-Express - Lisa Honroth Löwe - E-Book

Abenteuer im Sibirien-Express E-Book

Lisa Honroth Löwe

0,0

Beschreibung

Fürst Theodor von Waldburg-Rodenhausen ist Globetrotter, Gelehrter und manchmal auch Schlossherr auf seinem Besitz in Thüringen. Als der Roman einsetzt, befindet er sich auf der Rückreise aus dem Ural, wo er geologische Studien betrieben hat. Aufgrund seiner weitreichenden Beziehungen gelingt es ihm auf der Fahrt durch das unruhige Russland der Revolutionszeit, sich und die im Abteil mitreisende Astrid Sjöberg vor einem Überfall der Bolschewiki zu retten. Astrid, gerade achtzehnjährige Vollweise, ist Erbe großer Silberbergwerke hinter dem Ural und gerade auf dem Weg zu schwedischen Verwandten. Rodenhausen nimmt sie mit auf sein Schloss, wo seine etwa gleichaltrige Tochter Vicky sowie sporadisch auch sein Sohn, der Diplomat Alexander, und Rodenhausens Frau leben. Alexander ist Witwer und hat einen kleinen Sohn. Alles lebt in Freude und Harmonie, bis der Statthalter der Silberbergwerke, Astrids große Liebe Torsten Reddersen, Alarm schlägt: Aufgrund der Schikanen der Bolschewiki weiß er nicht mehr ein noch aus. Gleichzeitig ist Vicky an ihrem Studienort München in großer Gefahr, einem belgischen Heiratsschwindler in die Netze zu gehen. Rodenhausen und Astrid werden jeder für sich aktiv. Astrid versucht, Vicky zu retten, und Rodenhausen die Silberbergwerke. Ein sowohl spannender wie berührender Roman, den man so schnell nicht wieder vergisst!-

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 292

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Lisa Honroth-Loewe

Abenteuer im Sibirien-Express

Saga

Abenteuer im Sibirien-ExpressCopyright © 2019 Lisa Honroth-Loewe and und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788711593295

1. Ebook-Auflage, 2019 Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit SAGA Egmont gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com

Erstes Kapitel

Grelles Hupen, lautes Rufen, Schreie der Verkäufer warf sich über die Wolke von Hitze und Dunst empor. Rodenhausen stand am Fenster. Unten wurden schon seine Koffer von ein paar herkulischen Kulis auf den Hotelwagen verladen. — Eine halbe Stunde noch, dann ging der Transsibirien-Express. Dann ging es heim.

Rodenhausen nahm hastig den warmen Ulster, der schon auf dem Stuhl bereit lag, und eilte hinunter. In der ersten Etage klopfte er noch einmal schnell. Ein wütendes Schreibmaschinengeklapper übertönte es. Da öffnete er einfach die Tür. In dem Hotelzimmer sass ein kleiner, magerer Mensch mit einem lebhaften, gescheiten Vogelgesicht. Seine Hände flogen über die Tasten der Schreibmaschine, seine Augen liefen wie gejagt über einen Stapel Notizen, die in einer winzigen Krakelschrift neben ihm lagen.

„Moment, Fürst“, rief er und winkte mit der Hand, um sie dann gleich wieder mit Vehemenz auf die Tasten der Maschine sausen zu lassen, „Sie kommen sich verabschieden? Gibt’s nicht! Sie dürfen nicht eher heraus, bis hier mein Bericht fertig ist. Den müssen Sie mir mitnehmen. Die Post ist in diesen Zeitläuften ein unsicheres Beförderungsmittel in unserem lieben Erdenwinkel geworden“, — er sprach alles abgerissen, ruckweise, während er in rasender Eile weiterschrieb.

Rodenhausen musste lachen. Dieser kleine Hopman war immer wie ein überhitzter Motor. „Aber mein Sibirien-Express wird nicht warten, bis Sie mit Ihren Berichten für die Zeitungen fertig sind, lieber Hopman.“

„Bin schon fertig“, der kleine Hopman fegte mit einer rücksichtslosen Bewegung die übriggebliebenen Manuskriptseiten auf den Erdboden, riss die Blätter aus der Maschine, kuvertierte sie — „so, Fürst, nun seien Sie so gut, verstauen Sie. Es ist nicht nötig, dass sich Russland, Japan und China über den Inhalt hermachen. Bei Ihnen wird die Passkontrolle ja gelinde gehandhabt, alter Asienfahrer, der Sie sind. Oder haben Sie Angst Die deutschen Zeitungen warten sehr auf authentische Berichte — und da Bergmann erkrankt ist und nicht berichten kann, bin ich im Augenblick der einzige. Denn ob Stiemer von der Berliner Telegraphenstation noch durchkommt, ist sehr die Frage. Bis dahin kann sich hier auch vieles geändert haben.“

„Ich weiss zwar die Ehre zu schätzen, dass Sie gerade mich ausersehen haben, Hopman“, lachte der Fürst, „aber so ganz glücklich machen Sie mich nicht damit. Diese Kerls da an der Zollgrenze sollen jetzt wenig angenehm sein. Meine Vermessungsgeräte, Karten, Photoapparate werden ihnen schon höchst verdächtig erscheinen. Nun auch noch Geschriebenes! Na, geben Sie her, ist fürs Vaterland, da wollen wir nicht feige sein! — Machen Sie’s gut, Hopman“, Rodenhausen schüttelte dem kleinen Amerikaner kräftig die Hand, „fast beneide ich Sie doch um alles, was Sie hier noch erleben werden, — na, vielleicht gibt’s ein Wiedersehen.“

„Heil und Sieg, Fürst, grüssen Sie Deutschland, das ich sehr liebe!“

Hopman half noch rasch, einige Apparate und sonstige Dinge, die Rodenhausen nicht aus der Hand gab, in der Rikscha verstauen, dann rannte der barfüssige Kuli, der die Rikscha zog, gewandt und eilig durch das Menschengewimmel der übervölkerten Stadt.

Rodenhausen sog noch einmal alle Eindrücke in sich hinein, — dort die reiche Chinesin, die, orientalisch gekleidet und schmuckbehangen, ihre Privatrikscha bestieg, wie ein Märchen aus 1001 Nacht! Orient, du bilder- und farbenreicher, wann wird man dich wiedersehen?

Nun, da er für eine lange Zeit Abschied nahm, wurde es ihm doch schwer. Eigentümlich, solange man hier als Europäer war, schimpfte man um die Wette mit den andern über die Hitze, den Staub, den Gestank, die ganze unmögliche Atmosphäre dieser Stadt, dieser russisch-chinesischen Stadt, die von allen Ländern das Schlechteste übernommen zu haben schien; von China die Uebervölkerung: wie ein Ameisenhaufen wimmelte es durcheinander — Rodenhausen musste daran denken, dass man seit Jahren vergeblich versuchte, mal eine Volkszählung vorzunehmen. Keiner der europäisch geschulten Beamten hatte dies Kunststück fertiggebracht, — von Russland die Bestechlichkeit, die sich hier in allen Währungen austoben konnte, von den Ostjuden die Armut, vom Orient die schrecklichen Gerüche. Und von Europa die Ueberzüchtung mit einem Reichtum, der sich in einigen wenigen Vierteln breit machte, und dessen protzende Decke doch das Elend, den Jammer der ausgenutzten Menschenkreaturen nicht zudecken konnte. —

Es gab wohl nichts an Unglück, Elend, Laster, was man hier nicht erleben konnte. Und Rodenhausen hatte mitunter geglaubt, in dieser Atmosphäre nicht existieren zu können. Nur sein verbissener Wissensdrang hatte ihn immer wieder gehalten. Nun aber, da es ernst wurde mit dem Abschied, sah er, wie verwachsen er doch mit allem hier war. Es war das Abenteuerliche dieses Lebens, das ihn als Mann immer wieder anzog. — Mitten aus den Forschungen über die geologische Struktur des Landes hier, gerade vor dem Abschluss seiner Expedition musste er fort. Man sah die Europäer hier nicht mehr gern. Ein plötzliches Misstrauen aller gegen alle hatte die Eingeborenen ergriffen. Dieser latente Kriegszustand, der zwischen Japan und China herrschte, warf seine Schatten auch hierher. Man fürchtete von jedem Europäer, dass er Partei wäre. Vor allem Rodenhausen, in dessen Rasse auch das englische Blut unverkennbar war, mit seiner genauen Kenntnis des Landes, war schon lange Gegenstand aufmerksamer Beobachtungen der Chinesen wie der Japaner. Jetzt fingen auch noch die Russen an, misstrauisch zu werden. Und gute Freunde hatten ihm geraten, sobald wie möglich das Land zu verlassen. Selbst die deutschen Konsulatsbeamten waren unsicher geworden. Man konnte nicht wissen, was die nächste Zeit brachte. Jeder Deutsche, der hier im Lande nicht ansässig und dadurch voll legitimiert war, tat besser daran, heimzugehen, meinte man. Es gab genug Landsleute, die nicht fort konnten, und die den Schutz des deutschen Konsulats brauchten.

Rodenhausen hatte sich zuerst energisch geweigert, das Feld zu räumen. Er hatte gerade eine Expeditionskarawane unter ziemlichen Mühen und Kosten zusammengestellt. Es war nicht leicht gewesen, die Chinesen dazu zu bekommen, in die unwirtlichen Gegenden des Gebirges vorzustossen. Glücklich hatte er nun auch ein paar Generalstabskarten von einem befreundeten russischen Offizier bekommen, sich mit erheblichen Kosten alle Vermessungsgeräte beschafft und was sonst noch zur Ausrüstund eines Geologen gehörte. Und nun sollte das alles vorbei sein? Jetzt, wo es zwar wissenschaftlich immer schwieriger, aber auch allgemein immer interessanter wurde! Nun sollte er heim in die Stille von Rodenhausen, der kleinen Residenz, über die er längst hinausgewachsen war, wie überhaupt über die Kreise seiner Standesgenossen. — Er hatte nie so recht hineingepasst in die begrenzten Anschauungen und Betätigungen eines kleinen Fürstenhauses. Zu sehr rumorten in seinem Blut die englischen Vorfahren mit ihrem Seeräuberblut. Diese Abenteuerlust hatte sich offenbar noch aus der Vorzeit der Norfolks, die in die deutsche Fürstenlinie hineingeheiratet hatten, bis in ihn erhalten. Noch sein Grossvater englischerseits war bei den Kämpfen in den englischen Kolonien gefallen, seine Brüder draussen in der Welt gestorben, er war der letzte — aber auch ihn trieb es immer wieder hinaus. Freilich, es war nicht die unstillbare Forschungs- und Abenteurerlust allein — Rodenhausen seufzte auf, eine harte Falte stand ihm plötzlich zwischen den sehr hellen Brauen, es war noch etwas anderes — Dorothee! Sie verstand es nicht mit ihm. Sie verstand nicht, ihn in der Heimat und ihrem Heim zu halten, sie verstand nicht, was er brauchte. Sie war heute genau so herb und verschlossen wie vor zwanzig Jahren. — An dem jungen Mädchen war es ein Reiz gewesen, der ihn anzog — obwohl mehr Standesrücksichten als Neigung ihn zu dieser Ehe geführt. Aber diese Herbheit war nicht gewichen. Es war oft wie eine Stummheit, wie etwas Drückendes zwischen Dorothee und ihm. Und aus dieser Stummheit floh er öfter und öfter in die Welt. Einmal hatte er gehofft, Viky, die kleine Tochter, würde ihn und Dorothee mehr zusammenführen. Aber auch darin hatte er sich getäuscht. Je mehr Viky heranwuchs, desto mehr schien sie zur Mutter zu neigen, obwohl sie äusserlich und im Wesen seine Tochter war. Vielleicht ahnte sie die Einsamkeit der Mutter, und mit dem Instinkt der Frau, die zur Frau hielt, gab sie dem Vater schuld an der Kühle der Ehe, die sie vor Augen sah.

Rodenhausen hatte versucht, das Kind an sich heranzuziehen — aber da war ein trotziger Widerstand gewesen. Dann hatte er es aufgegeben, ungeduldig, schon wieder der Ferne und dem Leben draussen zugewandt. — Nun sollte es also wieder beginnen. Er fürchtete sich beinahe. Lieber wäre er hier allerlei Gefahren entgegengegangen. Denn das hier war ein Kampf, den Männer führten. Gegen das Weibliche kam er so schwer an. Hier konnte er aktiv sein, auf Gefahren zugehen, sie anpacken. Daheim war es ein leises, unangreifbares Ausweichen. Er wurde in die Passivität gedrängt, ehe er sich’s versah. In die Passivität — und ins Unrecht. — Ein richtiges Frauenregiment war es. Der einzige, der ihm Stütze sein konnte, Alexander, der Aelteste, war im Ausland. Und der kleine Robby, — hier musste er lächeln, dieses kleine Menschlein, war jetzt wohl gerade knapp aus den Windelhöschen herausgewachsen. —

Da war er, weiss Gott, mit seinen Gedanken doch schon zu Hause — verträumte hier die Zeit, indessen er noch Eiliges zu erledigen hatte.

Der Transsibirien-Express stand schon wartend. Durch die Rauchschleier, die die Maschine ungeduldig ausstiess, sah man einen Teil der Landschaft jenseits der Bahngleise hügelig und weiterhin zum Horizonte bergig aufsteigend, Waldlisieren, dann wieder ebene Strecken, — jetzt stumm und öde im Winterschnee. Wie ein Leichentuch breitete sich der Schnee über das unermessliche Land — wie ein Leichentuch, musste Rodenhausen plötzlich denken — wieviele Menschen würde es noch decken, dies dichte, weisse Tuch. Es war doch gut, dass er hier herauskam, ehe der Krieg das Land und die Menschen frass.

Bald hatte er sich in seinem Abteil eingerichtet. Man musste ja viele Tage hier verbringen. Aber der Transsibirien-Express war selbst für europäische Bedürfnisse bequem, hell, sauber. Der chinesische Zug, in dem man den ersten Teil der Reise bis zur Grenze zurücklegte, war zwar nicht ganz so komfortabel wie der dann folgende russische, aber immerhin hatte man seinen behaglichen Platz, sein gutes Bett, seine Verpflegung, den unvermeidlichen Tee, der von lautlos auf weichen Schuhen gehenden chinesischen Kellnern durch die Gänge getragen wurde. Man hatte Bücher und seine Schreibmaschine, auf der man die letzten Aufzeichnungen, die man nicht mehr ausarbeiten konnte, beendete.

Rodenhausen war schon so zum Globetrotter geworden, dass ihm Reisen von wochenlanger Dauer nichts ausmachten. So war er denn bald installiert und legte sich, sowie es dunkel wurde, zum Schlafen hin.

Vom Kriegsgebiet, durch das man fuhr, spürte man nicht viel. Nur dass längs der ganzen Bahnlinie russisches und chinesisches Militär die Strecke bewachte. Hier konnte man Typen der verschiedensten Art sehen. Rodenhausen trat auf die Plattform hinaus und registrierte die verschiedenen Rassen, die aus diesen Gesichtern sprachen. Nur für den Kenner war die russische und chinesische Rasse voneinander zu trennen. Und selbst für Rodenhausens erfahrenes Auge waren die Uebergänge oft genug verwischt. Diese breiten, mongolischen Gesichter mit den platten Nasen, den dicken, aufgeworfenen Lippen, stumpfsinnig teils, oft freundlich grinsend, verschwanden fast unter den grossen Fellmützen. —

Stunden reihten sich an Stunden. Rodenhausen schlief. Die bekannten Stationen, die die Schaffner in monotonem Dialekt ausriefen, flogen schattenhaft an seinen Gedanken vorüber. Er war doch sehr ermüdet und spürte, dass die letzten Tage nicht spurlos an ihm vorübergegangen waren. Er war nicht mehr der Jüngste. Und Forscherjahre zählen, wie er zu sagen pflegte, doppelt, wie Kriegsjahre.

Der Entschluss zur Abreise war ja auch so plötzlich und überstürzt gekommen. In der übergrossen Eile war mit Pässen, Besorgungen, Besprechungen doch noch viel zu erledigen gewesen. Seine letzten Tage waren in einer atemberaubenden Hast vorübergegangen. So leicht konnte man doch nicht die Brücken hinter sich abbrechen. Solange man noch im Schwung war, hatte man die Ueberarbeitung der letzten Wochen nicht gemerkt. Jetzt, da er in Ruhe war, kam die Reaktion. —

Zweites Kapitel

Tage um Tage war man gefahren. Rodenhausen hatte im Zuge mancherlei Bekanntschaften gemacht. Da waren ein paar europäische Kaufleute, die sich vor den Unsicherheiten in der Mandschurei in Sicherheit brachten, russische Pelzhändler, Vertreter europäischer Firmen, die vor Ausbruch der Feindseligkeiten noch Abschlüsse in Sojabohnen, Reis und Getreide gemacht. — Und allerlei Menschen von chinesischem und russischem Typ, deren Lebensberuf nicht klar war.

Wenig Frauen waren im Zuge. Nur als Rodenhausen auf einer Kreuzungsstation gerade wieder aus einem tiefen Schlaf erwachte, es musste kurz vor Manschuli sein, sah er sich gegenüber einen Platz von einem weiblichen Wesen besetzt. — Die halb verdunkelte Lampe warf nur einen spärlichen Lichtschein auf die schmale Gestalt, die ihm da gegenüber in der Ecke sass und die Augen geschlossen hielt. Sie schien zu schlafen. Rodenhausen, der gern wusste, mit wem er da durch die schweigenden Nächte der Mandschurei fuhr, beugte sich leise vor und sah der Schläferin vorsichtig ins Gesicht. — Es war ein sehr schmales, sehr zart gebildetes Gesicht, durchsichtig und sah jetzt in der Stille des Schlafes beinahe ätherisch aus. Sehr weiches, blondes Haar legte sich lind um den mädchenhaften Kopf. Die Nase war fein und stand beinahe klassisch ebenmässig zwischen den hochgeschwungenen, lichten Brauen. Sie musste noch sehr jung sein, soviel erkannte Rodenhausen auch in der halben

Dämmerung. Der Mund war noch wie der eines fast kindhaften Geschöfes, die Oberlippe ein klein wenig zu kurz, dadurch bekam das Ganze einen Zug von rührender Hilflosigkeit. Aus dem schwarzen Wollkostüm sah ein schmaler, blasser Hals heraus, der Kopf lehnte leicht gegen den weichen Pelz eines dunklen Mantels, der in der Ecke hing. Unter dem Rock zeichneten sich die Beine leicht ab, schlank mussten sie sein, und zu ihnen passten die langen, schmalen Füsse, die in englischen Halbschuhen steckten. — Siebenzehn, schätzte Rodenhausen bei sich und sah mit Wohlgefallen in dies feine Mädchengesicht, das im Schlaf seinen Blicken hingegeben war. Eine kleine, schmerzliche Falte zwischen den Brauen passte nicht recht zu der vertrauensvollen Kindlichkeit des jugendlichen Gesichtes, schien von irgendeinem Kummer zu sprechen.

Rodenhausen war durch den Anblick des schlafenden Mädchens irgendwie innerlich gerührt. Es war etwas in der Bildung der hochgeschwungenen Brauen, in der Buchtung des Mundes, was ihm bekannt vorkam. Aber das musste eine Täuschung sein. Wie sollte er hier auf dieser fernen Strecke irgend jemanden sehen, den er kannte. — Es war wohl nur die Lieblichkeit dieses Mädchens, die Erinnerung an seine junge Tochter, die ungefähr im gleichen Alter sein musste, die dies Gefühl des Kennens und der Wärme in ihm aufwachen liess. —

Lichter kamen näher, der Zug machte eine Kurve, der Wagen schlug hin und her — die Schläferin erwachte, sah sich verwirrt um.

„Gleicht kommt die Grenze“, sagte Rodenhausen auf russisch und verneigte sich leicht, „Sie müssen Ihre Sachen zusammenpacken, mein Fräulein, wir müssen aus dem Zug heraus. Gestatten Sie —“

Er grriff nach der Beschirmung der Lampe, schob sie zurück. „Darf ich Ihnen behilflich sein?“

„Danke sehr“ , erwiderte das junge Mädchen gleichfalls russisch und sah Rodenhausen voll an. Der fuhr zurück — dieser Blick, dunkel, fast schwarz unter dem blonden Haar, war von einem frappierenden Kontrast. Wo hatte er dies schon gesehen, diesen dunklen Blick, fast schwarz unter zärtlichem Blond des Haares? Aber das war doch — nein, das war doch unmöglich.

„Manschuli“, dieser Ruf, der plötzlich draussen ertönte, riss ihn aus seinem fassungslosen Erstaunen — aus seinen Zweifeln.

Knirschend und quietschend zogen die Bremsen an und hemmten die Räder — der Zug stand. Schon murden auch die Türen aufgerissen. Die Gepäckträger, meist Chinesen, stürzten herein, bemächtigten sich des Gepäckes, wobei sie unterwürfig und sanft lächelten. Ein allgemeiner Aufruhr war im Zuge. In allen Sprachen schwirrte es durcheinander. Koffer rollten bereits auf niedrigen Karren über den Bahnsteig zum Zollgebäude, ein erregter Wortwechsel zwischen einem Schaffner und einigen Fahrgästen — das junge Mädchen stand hilflos und sah zu, wie einer der Kulis sich ihres Handkoffers bemächtigte.

„Grosser Koffer?“ schrien die Träger und machten wilde Zeichen.

„Schliessen Sie sich mir ruhig an, mein Fräulein“, ermutigte Rodenhausen. „Ich will mich bei den Zollformalitäten gern um Sie kümmern. Verdammter Kerl“, schimpfte er plötzlich unwillkürlich auf deutsch, als einer der chinesischen Träger eins seiner Messgeräte zur Erde fallen liess, und dann wiederholte er den Fluch sogleich auf chinesisch. Aber das junge Mädchen, das schweigend und etwas verängstigt neben ihm den Bahnsteig entlanggegangen war, sah mit einem lächelnden und vertrauensvollen Blick auf: „O, Sie sprechen deutsch, mein Herr“, sagte sie mit einem beinahe fehlerfreien Dialekt, „dann, bitte, sprechen wir zusammen deutsch.“

Ueberrascht blickte Rodenhausen seine junge Begleiterin an, die schmal und schlank neben ihm schritt. „Aber wie gern, mein Fräulein, das ist eine gute Vorbedeutung, dass ich hier schon meine Muttersprache höre. Sind Sie auch Deutsche?“

„Nein, mein Vater war Schwede, aber meine liebe Mutter ist in Deutschland aufgewachsen, obwohl sie —“

Sie vollendete nicht, sondern sprang, von Rodenhausen zurückgerissen, zur Seite, denn ein Kuli rollte mit stumpfsinnigem Gesichtsausdruck einen Reisewagen mit Koffern gerade vor ihnen dem Zollgebäude zu.

Und nun war keine Zeit mehr zu Privatgesprächen. In einer Schlange standen die Menschen vieler Nationen hier in dem hölzernen, kalten Zollabfertigungsraum und schoben sich, Schlüssel in den Händen, langsam zu dem Tische vor, auf dem die Koffer, Kisten und Taschen zur Revision bereit lagen.

Rodenhausen hatte sich dicht neben seine junge Reisegenossin gestellt. Als er sah, wie ängstlich ihre Brauen zuckten, wie nervös sie wurde, je mehr sie in der Reihe vorrückte, nahm er ihr ganz einfach den Kofferschlüssel aus der Hand: „Ich hoffe, Sie haben keine Kontrebande darin, mein kleines Fräulein“, meinte er lächelnd, „dann werde ich alles für Sie erledigen.“

„O, ich danke Ihnen“, flüsterte das junge Mädchen, „nein, ich habe nichts Verbotenes, bloss, ich habe böse Erfahrungen mit Beamten gemacht, und so fürchte ich mich ein wenig.“

„Kein Grund, ich kenne hier einige der Kommissare, ich sehe manche bekannten Gesichter“, Rodenhausen nickte zu einem älteren Manne mit einem grauen Spitzbart hinüber, der offenbar hier eine Aufsichtsstelle innehatte. „Siehe da“, sagte der höflich und nahm ihn ausser der Reihe heran, „wie geht es Ihnen, glücklich aus dem Hexenkessel zurück?“

Rodenhausen reichte ihm seine und die Schlüssel seiner Reisegefährtin. „Danke, ja, Herr Kommissar, es hört sich alles aus der Entfernung und in den Zeitungen schlimmer an, als es in der Nähe ist, in Harbin ist es noch ganz gemütlich — aber, was nicht ist, kann ja noch werden. — Würden Sie die Liebenswürdigkeit haben, die Koffer dieser Dame gleich mit zu inspizieren? Wir haben das gleiche Abteil, und ich möchte sie dann gern gleich wieder im russischen Zuge verstauen.“

Der Kommissar prüfte rasch das Gepäck.

„Haben Sie Steuerpflichtiges?“ fragte er das junge Mädchen höflich, nachdem er Rodenhausens Gepäck einer oberflächlichen Durchsicht unterzogen, und als das junge Mädchen verneinte, drückte er das Siegel der Sowjets auf die Koffer.

„Können passieren“, rief er, und die Kulis, welche Rodenhausens und die Koffer seiner Unbekannten hierherbefördert, ergriffen das Gepäck und rannten grinsend mit ihm davon, dem russischen Zuge zu, der auf dem Gleise neben dem chinesischen wartend stand.

„Gott sei Dank, das hätten wir hinter uns“, meinte Rodenhausen, als er seine Begleiterin über die Schienen hinweg in das Abteil hineingeleitet hatte. „Aber nun, mein Fräulein, wollen wir uns gleich einen Speisewagenplatz sichern, damit wir das wirklich vortreffliche Essen hier in dem russischen Zuge geniessen können. Sind Sie die Strecke schon einmal gefahren?“

„Nein, ich reise zum ersten Male hier, das heisst, als Kind, als meine Mutter noch lebte, bin ich einmal mit ihr nach Europa gefahren, aber das liegt schon lange zurück. Aber jetzt fahre ich voraussichtlich für immer Europa, denn mein Vater ist auch gestorben.“

Ihre sanfte Stimme schwankte ein wenig, und sie wandte das Gesicht ab.

Rodenhausen schwieg. Armes Ding, dachte er, so jung — und so allein. Er musste an Viky denken, an ihr behütetes Mädchenleben. Sie war sicherlich nicht älter als diese Unbekannte hier, die allein Tage um Tage durch die Welt fuhr. Nun, was an ihm lag, sie sicher bis an die deutsche Grenze zu bringen, das sollte geschehen. Schon wegen dieser Aehnlichkeit, die ihn, je länger er die Kleine beobachtete, immer stärker anrührte und eine Erinnerung in ihm wachrief — eine süsse und schmerzliche Erinnerung, die in ihm geschlafen, jahrelang. Und die nun angesichts dieses zarten, hilflosen Menschenkindes in ihm erwachte.

„Ich habe in all der Umsteigeaufregung noch gar nicht Gelegenheit gehabt, mich vorzustellen“, sagte er bemüht, das trübe Schweigen zu brechen, in das sein Gegenüber versunken. „Gestatten Sie, dass ich es jetzt nachhole: Rodenhausen. Aber damit können Sie noch gar nichts anfangen“, meinte er lächelnd, „nun, wir werden auf dieser Reise noch Zeit und Musse genug haben, miteinander zu plaudern — und ich hoffe, dass Sie, wenn ich Ihnen erst mehr von mir erzählen durfte, Vertrauen zu mir haben werden und mir gestatten, Sie ein wenig zu umsorgen — ich könnte ja schon Ihr Vater sein“, fügte er hinzu, als das junge Mädchen ihn mit einem scheuen Blick musterte. Da war wieder dieser dunkle Augenaufschlag, dieses Scheue und dennoch Feste im Blick, dieses schnelle, flügelgleiche Zucken der hochgestellten feinen Brauen, — er musste wissen, wer diese Unbekannte war mit dem Gesicht, das ihn so bekannt und vertraut anmutete.

„Wollen Sie mir nicht auch sagen, wer Sie sind, mein gnädiges Fräulein?“ bat Rodenhausen und sah die Gefährtin herzlich an, „ich wüsste gern mehr von Ihnen, Sie erinnern mich an jemanden, den ich vor langen Iahren Iahren kannte, und der mir sehr nahegestanden hat.“

Seine Stimme war weich und gütig, und in seinen Augen lag eine ernste Bitte.

„Ich — ich bin Ihnen so dankbar“, das junge Mädchen sprach stocken, „Sie sind so gut zu mir, und ich bin es nicht gewöhnt, dass man mir soviel Interesse zeigt. Ich war fast immer allein. Und nun hab’ ich auch noch meinen Vater — —“, ihre Augen füllten sich mit Tränen.

Rodenhausen erschrak: Was hab’ ich da angerichtet! Jetzt erst kam es ihm klar zum Bewusstsein, dass das junge Mädchen in Trauer war. Er ergriff mit aufquellendem Mitleid die kleine, blasse Hand:

„Bitte, sprechen Sie nicht, ich fühle, es wird Ihnen schwer.“

„Nein, nein, Herr — Rodenhausen. Es ist schon wieder vorbei.“

Es hatte etwas Rührendes, dies Bemühen um ein Lächeln, das nicht recht glücken wollte, „ich zeige mich hier als ein ganz anderer Mensch, wie ich in Wirklichkeit bin, o, ich bin wirklich nicht verweichlicht“, unwillkürlich reckte sie sich, als wollte sie beweisen, wie tapfer sie wäre, „das durfte ich auch als meines Vaters Tochter nicht sein. Er liebte es, wenn man tapfer war.

Er hat mich aufgezogen wie ein Junge. Ganze Tage bin ich mit ihm geritten von einem Bergwerk im Ural zum anderen. Bis nach Jekaterinenburg. Dort besass er Steinschleifereien für die Steine, die in seinen Bergwerken gefunden wurden. Auch auf die Jagd hat er mich mitgenommen. Er vergass manchmal ganz, dass ich ein Mädchen war. Für ihn war ich immer ein Junge. Er hatte sich damals nämlich einen Jungen gewünscht. Das hat er mir oft erzählt. Und ich glaube, er hat es die Mutter auch fühlen lassen, dass er enttäuscht war. Das weiss ich von der alten Wasja, meiner Kinderfrau“, sie verwirrte sich plötzlich und wurde rot, „aber das interessiert Sie sicher gar nicht, Herr Rodenhausen. Und es ist auch gar nicht recht von mir, dass ich — wenn Mutter noch lebte, würde ich ganz gewiss immer wissen, was ich sagen darf und was nicht.“

„Also Ihre liebe Mutter ist auch tot?“

„Schon sehr lange. Wohl zehn Jahre. Und Vater, Vater — haben sie vor vierzehn Tagen — erschossen“, endete sie leise.

Plötzlich wurde ihr Gesicht von einer tödlichen Blässe überzogen. Die Augen schlossen sich, der Kopf fiel zurück, der Körper drohte von der Bank zu gleiten.

Rodenhausen griff zu, bettete die Ohnmächtige auf der Bank.

Einen Augenblick ruhte der Kopf des jungen Mädchens auf seinem Arm. In tiefer Rührung, in eindringlichem Forschen schaute er auf das süsse Gesicht. Konnte das Leben so seltsam spielen? Wie vertraut waren ihm doch diese reinen Züge. Vorsichtig bettete er ihren Kopf tief und rieb ihr die Schläfe nit Kölnisch-Wasser, das er schnell seinem Handkoffer entnahm. Nun öffnete er das Fenster einen Augenblick. Von dem kalten Luftzug getroffen, öffnete das Mädchen die Augen.

„Nur eine kleine Ohnmacht, gnädiges Fräulein“, sagte Rodenhausen sofort beruhigend.

Schon richtete sich das Mädchen auf.

„Herr Rodenhausen, verzeihen Sie, ich bin eine sehr unbequeme Reisegefährtin! Mir fällt ein, ich habe in den letzten zwei Tagen kaum etwas gegessen. Es war alles so fürchterlich.“

„Aber, liebes, kleines Fräulein, da brauchen wir uns ja gar nicht zu wundern, meinen Sie, dass ich als Mann das aushalten würde?“ Er verbarg Sorge und Erschütterung unter einem gewollt harmlosen Ton. „Nein, noch nicht aufstehen, so, jetzt legen Sie sich noch ein paar Minuten hin, damit Sie mir nicht etwa umkippen, während Sie allein sind, und ich gehe rasch, uns im Speisewagen zwei Plätze bestellen. Sie sollen einmal sehen, wenn Sie erst etwas Warmes im Magen haben, dann sind Sie gerade wieder so ein tapferes Mädel wie vorher.“

Sie streckte sich gehorsam und dankbar lächelnd auf dem Polster aus, während Rodenhausen in Richtung Speisewagen verschwand.

Er rannte mehr die Gänge der Wagen entland, als er ging — man durfte das junge Mädchen nicht so lange allein lassen. Herrje, habe ich denn beim Einsteigen ganz übersehen, dass wir so weit vom Speisewagen entfernt sind? Das ist dumm, dass das kleine, schwache Mädel nachher so weit rennen muss. Vielleicht kann ich erreichen, dass man uns im Abteil serviert. Rodenhausen merkte selbst gar nicht, wie besorgt er um seine junge Reisegefährtin war. Er war so in den Gedanken an sie befangen, dass er fast zusammenfuhr, als leises Flüstern an sein Ohr drang. Da, wo der Wagen die Biegung machte, rechts zum Waschraum, standen zwei Männer in der Tracht russischer Dörfler, nur ihre Gesichter hatten ausgesprochen mongolische Züge.

„Auf der Brücke, vor dem Viadukt“, hörte Rodenhausen. Als er unvermutet neben ihnen auftauchte, brach das Gespräch ab. Angelegentlich sahen die Männer an ihm vorbei. Nachdenklich ging er zum Speisewagen.

Als er zurückkam, waren die Männer verschwunden.

Endlich war er auch wieder an seinem Abteil angelangt. Das kleine, hilfsbedürftige Fräulein — sie hatte ihm bei allem Erzählen noch nicht einmal ihren Namen genannt — sollte nicht so lange allein bleiben. Ob sie wohl einen nordischen Vornamen hatte?

Er bemühte sich, die Erregung seiner Gedanken zu meistern.

Leise näherte er sich der Tür. Vielleicht war das kleine, junge Ding wieder eingeschlafen. Aber eine harte Stimme tönte ihm entgegen. Das junge Mädchen stand mit dem Rücken zur Tür. Vor ihr ein Mann, der seine kleinen, dunklen Augen mit frecher Neugierde über die zarte Schönheit des Mädchens gleiten liess. Jetzt trat der Mann näher. Angstvoll wich das Mädchen zurück. Aber schon war Rodenhausen neben ihr. Barsch trat er an den russisch sprechenden Menschen heran.

„Sie wünschen, mein Herr?“

Das überraschte Gesicht des Russen wurde feindlich.

„Ich bin Beamter. Hier mein Ausweis. Zeigen Sie Ihr Gepäck.“

„Unser gesamtes Gepäck ist bereits in Manschuli revidiert worden. Ich denke, das genügt. Seit wann werden denn die Reisenden zweimal belästigt? Sollte das vielleicht nicht dienstliche, sondern private Gründe haben?“

Dabei ging sein nicht misszuverstehender Blick von dem Gesicht des Russen zu dem lieblichen des jungen Mädchens, das angstvoll von einem zum anderen sah.

Rodenhausen machte sich in seiner Erregung die Unvorsichtigkeit seines Handelns nicht klar. Der ganze Kerl da vor ihm reizte ihn. Die Art, in der er das Mädchen und nun auch ihn musterte, trieb ihm die Zornesröte ins Gesicht.

Statt einer Antwort riss der Kommissar die sorgfältig verpackten Vermessungsinstrumente aus dem Gepäcknetz.

„Was bedeutet das?“ fuhr er Rodenhausen an.

„Das sind meine Vermessungsgeräte, ich bin geologischer Forscher, wenn Sie wissen, was das ist. Seit drei Iahren treibe ich unbehelligt meine Forschungen in der Mandschurei, Bodenbeschaffenheit, Bodengehalt usw. interessieren mich. Mit ihrem Krieg hier habe ich nichts zu tun. Ich reise jetzt nur nach Deutschland zurück, weil mir durch den Kriegszustand das Innere des Landes versperrt ist.“

„Wo das ist, wird noch mehr Verdächtiges sein“, sagte höhnisch und unverschämt der Kommissar, als ob er Rodenhausens Worte überhaupt nicht gehört hätte. „Handtasche aufmachen!“ Er riss Rodenhausen den Schlüssel aus der Hand und durchwühlte rücksichtslos den Handkoffer.

Am Boden der Tasche in Futter hatte Rodenhausen die Papiere verwahrt, die der kleine Amerikaner ihm im letzten Moment mitgegeben hatte. Ihr Knistern machte den Kommissar aufmerklam.

„Ah —“, er hielt triumphierend die Papiere in der Hand —, „Ihre Aufregung ist mir jetzt durchaus begreiflich, mein Herr.“

„Was erlauben Sie sich mit dieser Andeutung?“

„Das wird Ihnen sehr bald klar sein, wenn Sie an der nächsten Station mit mir aussteigen.“

Das junge Mädchen schrie auf. Ein Pfeifen, ein jäher Ruck, Bremsen knirschten, der Zug stand, — Dunkelheit, Geschrei, Schüsse, Menschen stürzten, Koffer flogen, — das junge Mädchen flog auf die Bank, der Kommissar zu Boden, Rodenhausen auf ihn. Mit einem Griff entriss der Fürst dem Russen seine Papiere und barg sie unter dem Hemd auf der Brust.

Der Kommissar erhoh sich, rannte in das Dunkel hinaus.

Rodenhausen zog seine Gefährtin aus dem Abteil, — „alles stehen lassen, bücken“, flüsterte er ihr zu, dann riss er mit der einen Hand jene Tür auf, die auf der anderen Seite der Bahnstrecke ins Dunkel führte. Mit der anderen Hand griff er nach seinem Revolver in seiner Tasche.

Kaum waren sie draussen, als sich in den Gängen des Zuges ein ungeheurer Tumult erhob. Man sah durch die erleuchteten Fenster ein Gedränge von Menschen, erhobene Revolver, hörte Schüsse knattern.

Rodenhausen und das Mädchen lagen in nachtschwarzer Dunkelheit draussen neben dem Zug an Boden.

„Kriechen“, flüsterte Rodenhausen, „dort bis an die Böschung kriechen.“

Atemlos, lautlos schoben sie sich, auf dem Bauche liegend, bis zum Abhang vorwärts.

„Herunterrollen, langsam, vorsichtig, bleiben Sie dicht neben mir, so, geben Sie mir Ihre Hand, dort bis zum Gestrüpp.“

An dem Unterholz machten sie halt, Rodenhausen hob ein wenig den Oberkörper vom Boden, um Umschau zu halten, soweit es bei dem begrenzten Blickfeld und der Finsternis möglich war. Verdammt, dass es zum Abend ging.

„Können Sie aufstehen, sind Sie verletzt?“ flüsterte er immer noch dem Mädchen zu.

„Nein“, gab sie flüsternd zurück.

„Also vorwärts ―“, Rodenhausen ergriff ihre Hand und rannte mit ihr bis zu dem nahen Walde. Dort, durch die ersten Bäume verdeckt, blieben sie erschöpft stehen.

„Armes Kind“, er fuhr ihr zart über das Haar, „keine Angst haben, ich schütze Sie. Können Sie noch?“

Sie zitterte vor Kälte und Uebermüdung. Rodenhausen zog seinen Rock aus und hing ihn ihr trotz ihres leisen Wehrens um.

„Soll ich Sie ein Stück tragen? Hinsetzen einen Augenblick? Nein, nein, Kind, das geht nicht. Sie könnten sich den Tod holen. Wir müssen weiter! Wer weiss, welchen Rückweg diese Räuberbande, die den Zug überfallen hat, nimmt. Wir müssen uns sichern.“

Er unterbrach sich, er fühlte, wie der Kopf des Mädchens an seine Schulter gesunken war. Sie war völlig ermattet. Schlief sie? Behautsam nahm er sie auf die Arme, ― für den grossen, kräftigen Mann war das zarte Wesen keine schwere Last, wenn er auch mit seinen 53 Jahren nicht mehr der Jüngste war ― alles, was an väterlichen Gefühlen in ihm lebte, und was durch die Verhältnisse unnatürlich zurückgedrängt worden war, strömte zu diesem jungen Geschöpf hin. Die verschiedensten Empfindungen stritten in ihm. Karen? Wieder übermannte ihn die Erinnerung, und seine Lippen formten lautlos den einst geliebten Namen. Ja, du bist es, Karen ― vor fünfzehn Jahren warst du es, und jetzt bist du es genau so wieder ―

Sie rührte sich und rieb sich etwas erfrischt die Augen. Er stellte sie vorsorglich hin.

„Können Sie nun wieder ein kleines Stück gehen, mein Kind? Sehen Sie, nur bis dorthin, wo die Lichter sind, es wird nicht weiter als zehn Minuten sein. Stützen Sie sich nur fest auf mich.“

„Es geht schon wieder“, sagte sie beinahe munter, „Herr Rodenhausen, was wäre ohne Sie mit mir geschehen?“

Kind, jetzt mal gar nicht rückwärts denken, das hat eben alles so sein sollen. Wir wollen nur froh sein, dass wir überhaupt noch leben und sogar mit heilen Knochen ― diese kleinen, lieben, aufgerissenen Hände machen wir auch ganz rasch wieder heil“, dabei nahm er sie ganz zart und vorsichtig in die seinen, „und nun überlassen Sie mir auch erst mal die weitere Sorge für alles. Das dort scheint ein Bauerngehöft zu sein. Sie wissen ja, der russische Bauer ist gutmütig, man wird uns sicher gern beherbergen.“

Aber sie waren kaum eine Viertelstunde gewandert, als Rodenhausen fern auf dem Bahngleise einen Gegenzug in rasender Eile herankommen sah. Er bestand nur aus einer Maschine und zwei Wagen.

Rodenhausen nahm den Feldstecher vor die Augen:

„Tatsächlich, ein Militärzug, ich sehe Maschinengewehre, die Banditen scheinen die Telegraphenlinie nicht zerstört zu haben, und einer der Zugbeamten hat Hilfe signalisieren können. Wir werden noch ein wenig abwarten, dann können wir uns langsam wieder an die Eisenbahnlinie heranpirschen. Mut, bald kommen Sie zur Ruhe, Fräulein ―“ er stockte.

„Astrid“, ergänzte das junge Mädchen, „Ich heisse Astrid Sjörberg.“

Rodenhausen blickte sie voll und so erstaunt an, als ob er sie zum ersten Male sähe, dann aber nickte er langsam mit dem Kopf, als hätte er diese Worte erwartet. „Karen?“ er flüsterte es fast lautlos, ohne dass er es musste.

„Karen?“ Astrid sah ihn erschreckt an. „So hiess meine Mutter. Woher wissen Sie es?“

„Ich habe Ihre Mutter ― ― das erzähle ich Ihnen später, wenn wir erst zur Ruhe gekommen sind.“

Rodenhausen riss sich zusammen: hier galt es, eine junge Seele zu schützen und ihr die Ereignisse der Vergangenheit zu schildern, dass man sie nicht erschreckte.

„Nun kommen Sie, mein Kind ―.“ Er führte sie sorgsam wieder der Bahnstation entgegen.

Dort war alles, wie er vermutet. Die Behörden hatten von dem Ueberfall auf den Sibirien-Express erfahren und einen bewaffneten Zug gesandt. Die Banditen hatten daraufhin die Flucht ergriffen, und nach einigem Schiessen, Lärm und Tumult war der Transsibirien-Express zur Aufnahme der Reisenden bereit.

Drittes Kapitel

Wenige Stunden später fuhr man bereits wieder, als wäre nichts geschehen, dem europäischen Russland entgegen.

In Astrids Seele brannten die Fragen nach dem Zusammenhang zwischen Rodenhausens Leben und dem ihrer Eltern. Es war, als ob sie während der letzten Stunden an nichts anderes gedacht hätte.

„Sie sprachen von meiner Mutter, Herr Rodenhausen?“

„Ja, ich habe Ihre Eltern gekant, Astrid. Ich habe Ihnen erzählt, dass ich Forscher bin, es hat mich merkwürdig oft nach diesem Land hier gezogen, weiter hinein nach China mit seinen geheimnisvollen Menschen. Vielleicht ist es dem Forscher eigen, alles Geheimnisvolle ergründen zu wollen ― so zogen mich ausser dem Land hier auch dessen Bewohner an in ihrer Undurchdringlichkeit. Vor fünfzehn Jahren war es, ich war damals zwei Jahre lang in der Mandschurei, da hatte ich von den Bergwerken Jhres Vaters gehört und hatte ihn schriftlich gebeten, sie besichtigen zu dürfen. Er antwortete mir freundlich und lud mich ein. Er zeigte wohl immer mit Stolz seinen Besitz?“

Astrid nickte.

„Aber am ersten Tag gleich, als ich mit Ihrem Vater von dem einen Werk zum anderen ritt, stürzte ich mit dem Pferd und erlitt einen Knöchelbruch. Es war mir sehr peinlich ― zum erstenmal bei fremden Menschen. Ihre Mutter hat mich rührend gepflegt, Astrid ― Sie waren damals ein ganz kleines Mädchen, so zwei oder drei Iahre. Sie müssen jetzt siebzehn oder achtzehn Jahre sein ― stimmt es?“