Aberglaube Disziplin - Rolf Arnold - E-Book

Aberglaube Disziplin E-Book

Rolf Arnold

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Beschreibung

Wie kann es sein, dass autoritäre Erziehungsparolen heute wieder auf offene Ohren stoßen und Teile der Öffentlichkeit Gefallen finden an Disziplin, Strafe und Gehorsam? Rolf Arnold nimmt die Erziehungsmentalität unter die Lupe, die hinter dem "Lob der Disziplin" steckt. Dabei treten zum Teil erschreckende, vordemokratische Einstellungen zu Tage, mit deren eindimensionalen, mechanistischen Erklärungen der beklagte "Erziehungsnotstand" sicher nicht zu beheben ist. Der autoritätsgläubigen Verlegenheit in Erziehungsfragen stellt der Autor eine "professionelle Balance" gegenüber, die Kinder nicht als Gegner betrachtet, sondern ihnen mit Achtung, einfühlendem Verstehen und persönlicher Authentizität begegnet. Als Grundlage dienen ihm die Annahmen und die Haltung der systemischen Pädagogik. Neben praxistauglichen Diagnose-Instrumenten gibt das Buch ganz konkrete Tipps, Hinweise und Vorschläge, die dem Erziehungsalltag gerecht werden und Eltern wie Lehrern helfen, auch in schwierigen Situationen handlungsfähig zu bleiben. Ein zukunftsweisendes Buch!

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Für die Kinder in meinem Leben

Rolf Arnold

Aberglaube Disziplin

Antworten der Pädagogik auf das »Lob der Disziplin«

2007

Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

Prof. Dr. Dirk Baecker

Prof. Dr. Ulrich Clement

Prof. Dr. Jörg Fengler

Dr. Barbara Heitger

Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp

Prof. Dr. Bruno Hildenbrand

Prof. Dr. Heiko Kleve

Dr. Roswita Königswieser

Prof. Dr. Jürgen Kriz

Prof. Dr. Friedebert Kröger

Dr. Kurt Ludewig

Prof. Dr. Siegfried Mrochen

Dr. Burkhard Peter

Prof. Dr. Bernhard Pörksen

Prof. Dr. Kersten Reich

Prof. Dr. Wolf Ritscher

Dr. Wilhelm Rotthaus

Prof. Dr. Arist von Schlippe

Dr. Gunther Schmidt

Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt

Jakob R. Schneider

Prof. Dr. Jochen Schweitzer

Prof. Dr. Fritz B. Simon

Dr. Therese Steiner

Prof. Dr. Helm Stierlin

Karsten Trebesch

Bernhard Trenkle

Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler

Prof. Dr. Reinhard Voß

Dr. Gunthard Weber

Prof. Dr. Rudolf Wimmer

Prof. Dr. Michael Wirsching

Über alle Rechte der deutschen Ausgabe verfügt Carl-Auer-Systeme Verlag und Verlagsbuchhandlung GmbH Heidelberg

Fotomechanische Wiedergabe nur mit Genehmigung des Verlages

Satz u. Grafik: Drißner-Design u. DTP, Meßstetten

Umschlaggestaltung: Goebel/Riemer

Umschlagfoto: Photodisc

Printed in the Netherlands

Druck und Bindung: Koninklijke Wöhrmann, Zutphen

Erste Auflage 2007

ISBN 978-3-89670-614-0

ISBN 978-3-8497-8452-2 (ePub)

© 2007 Carl-Auer-Systeme, Heidelberg

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Informationen zu unserem gesamten Programm, unseren Autoren und zum Verlag finden Sie unter: www.carl-auer.de.

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Carl-Auer Verlag

Häusserstraße 14

69115 Heidelberg

Tel. 0 62 21-64 38 0

Fax 0 62 21-64 38 22

E-Mail: [email protected]

Inhalt

Vorwort

Verlegenheit als Rezept?

Wir brauchen weniger Wut in der Erziehung

Die Konstruktion des schwierigen Schülers

Ad a) Das Streben nach Aufmerksamkeit

Ad b) Das Streben nach Macht

Ad c) Das Bedürfnis nach Rache

Ad d) Der Umgang mit eigener Unfähigkeit

Der zentrale Fokus: »Kinder werden nicht gekränkt«

Die Überhöhung der Autorität

Die Gesellschaftlichkeit der Erziehung

Wie krank ist unser Bildungs- und Erziehungssystem wirklich?

Selbstdisziplin erwirbt man durch Freiheit

Erziehung zwischen Nachhaltigkeit oder Deformierung

Erziehung ist Beziehung

Disziplin und Disziplinierung können zerstören

Wirksamkeit in der Erziehung braucht Verstehen und Verständigung

Erziehung ist Dialog

Kommunikation kann ermutigen

Gibt es ein Recht auf Disziplinlosigkeit?

Erziehung in der Mediengesellschaft

Hartmut von Hentig und das Lob der Disziplinlosigkeit

Was tun? Elemente einer professionellen Erziehung

Literatur

Über den Autor

»Tatsächlich kann man bei Kindern und bei Erwachsenen jene, welche nur ›Milch‹ bekommen haben, deutlich von denen unterscheiden, die ›Milch und Honig‹ erhielten.«

Erich Fromm

»Wenn es so ist, dass wir nur einen kleinen Teil von dem leben können, was in uns ist – was geschieht mit dem Rest?«

Pascal Mercier

Vorwort

Das vorliegende Buch wendet sich grundsätzlich und engagiert gegen das Bild von Erziehung, welches Bernhard Bueb in seinem Bestseller Lob der Disziplin gezeichnet hat. Dabei sind es nicht so sehr die buebschen Positionen allein, die eine kritische Beachtung rechtfertigen, sondern vielmehr die öffentliche Resonanz, die seine Reise in die Erziehungswelten der Vergangenheit ausgelöst hat. Wie kann es sein, dass autoritäre Erziehungsparolen des 19. Jahrhunderts in unserer modernen Gesellschaft noch immer auf offene Ohren stoßen und weite Teile der Öffentlichkeit ganz offensichtlich Gefallen an einer Auffassung finden, die einer »vorbehaltlosen« Anerkennung von Autorität sowie von Strafe und Gehorsam das Wort redet? Was sagt der Bucherfolg von Bernhard Bueb über die deutsche Erziehungsmentalität?

Um diese ist es nicht zum Besten bestellt: Sie ist in vielem noch vordemokratischen Grundhaltungen verbunden und durch Einschätzungen geprägt, die mehr mit dem Rechthaben und dem Durchgreifen der Älteren gegenüber den Jüngeren zu tun haben als mit wirklich sachgemäßen und auch wirksamen Formen des erzieherischen Umgangs zwischen den Generationen. Dort, wo sich der gesamte Erziehungssachverstand in Forderungen nach einem »Mut zur Erziehung« bündelt, sind die Vorgaben zumeist Ausdruck einer zutiefst ängstlichen pädagogischen Autorität, welcher es in einem starken Maße um sich selbst, d. h. ihre Geltung bei denjenigen und ihre Anerkennung durch diejenigen, die man diesen Vorgaben unterwerfen will, zu gehen scheint. Die nüchterne Frage, welches Verhalten angesichts der »Probleme« und »Schwierigkeiten«, mit denen es Erziehung in der modernen Gesellschaft zu tun hat, angezeigt ist, tritt hinter einem solchen erzieherischen Dominanzstreben zurück. Die Frage nach der Wirksamkeit wird nicht wirklich gestellt, das erzieherische Auftreten allein ist es, auf welches geblickt wird. Und es sind Einzelfälle, die berichtet und allzu bruchlos verallgemeinert werden.

Doch warum müssen wir recht behalten gegenüber den Kindern und Jugendlichen? Warum ertragen wir es so schwer, dass diese eigene Vorstellungen haben, uns bisweilen nicht folgen und wir sie in ihrem Verhalten oft als »schwierig« empfinden? Sind Kinder und Jugendliche »schwierig«, oder befinden sie sich nicht oft auch – wenn wir genau hinschauen – in schwierigen Lebenssituationen? Diese haben sie sich nicht aussuchen können. Berücksichtigen wir das, indem wir ihnen menschlich und liebevoll begegnen? Behandeln wir sie angesichts ihrer Kontextprägungen wirklich als »unschuldig« im Sinne unserer pädagogischen Anklage? »Schuld« ist eine untaugliche pädagogische Kategorie, und die pädagogische Anklage ist eine Haltung, die der Ungeduld und Verärgerung darüber entstammt, dass es Eigensinn und Widerstand im Miteinander zwischen den Generationen gibt. Wer diesem Sachverhalt nicht gelassen begegnet, neigt zu Pauschalrezepten. Das Buch von Bernhard Bueb ist voll davon. Bei ihm hat alles eine einzige Ursache: Es fehlt den Kindern und Jugendlichen heute an Disziplin, und hierfür weiß er alle möglichen Verweichlichungsfaktoren haftbar zu machen (von der 68er-Bewegung über die überforderten Lehrer bis hin zum Medienkonsum). Er weiß aber auch, wie diesem Missstand abzuhelfen ist, wofür er einige wenige Vorschläge bereithält, die funktionieren können, aber nicht müssen. Es ist dieses »Nichtmüssen«, das Bernhard Bueb nicht thematisiert, weshalb er weit hinter den erziehungswissenschaftlichen Forschungs- und Erkenntnisstand zurückfällt. »Der Mensch ist erziehbar, kann aber nicht erzogen werden!«, so ließe sich dieser Forschungs- und Erkenntnisstand zusammenfassen – oder, in den Worten von Jürgen Oelkers (2001): »Wenn alles erzieht, kann nichts ausgeschlossen werden.« Doch wie will ich dann mein Erziehungshandeln dosieren? Weiß ich, in welche inneren und äußeren Kontexte ich mich da hineinbewege, wenn ich »interveniere«? Und mit welcher Berechtigung kann ich die beobachtbaren Effekte auf meine Intervention zurückführen? Wie verhalte ich mich als Elternteil, als Lehrer und Erzieher, wenn »nichts ausgeschlossen werden« kann?

Zu diesen Fragen moderner systemische Pädagogik dringt Bernhard Bueb nicht vor. Seine Überlegungen enden dort, wo das aktuelle pädagogische Denken überhaupt erst beginnt. Er untersucht nicht, wie Lehrerinnen und Lehrer zu den Bewertungen und Beurteilungen gelangen, zu denen sie gelangen. Es ist ihm auch kein Anliegen, zu untersuchen, ob der »schwierige Schüler« wirklich schwierig ist, seit wann er schwierig ist und wer ihn als Erster so bezeichnet hat. Er fragt auch nicht, woher die Lehrerinnen und Lehrer sowie die Erzieherinnen und Erzieher ihre Muster nehmen, mit denen sie Kinder und Jugendliche typisieren. Es könnte doch alles auch ganz anders sein: Der schwierige Schüler könnte sich als über- oder unterfordert darstellen, als Jugendlicher, der im häuslichen Milieu viel auszuhalten hat, oder als jemand, der nicht gelernt hat, dass Leistungsanforderungen keine Bedrohung sind, sondern auch Möglichkeiten zur Erlangung von Anerkennung sein können etc. Es ist oft die unerwartete Reaktion, die gewachsene Ängstlichkeiten, Überheblichkeiten oder Verhaltensauffälligkeiten zu stören vermag. Die »enttäuschte« Erwartung – insbesondere dort, wo das Erwartete ablehnend, korrigierend oder gar nötigend und zurechtweisend ist – kann Türen zu einem anderen Verhalten öffnen.

Wo Bernhard Bueb allein die Disziplin hochhält – und mehr hat er nicht zu bieten! –, verfügt die moderne Erziehungswissenschaft über eine ganze Palette von möglichen Reaktionsweisen derer, die Erziehungsverantwortung tragen. Ihre Toolbox ist aus Reflexionsweisen geflochten, die sich auch auf den beobachtenden Erzieher (»Wie komme ich zu meinem Bild des erzieherischen Gegenübers?«) sowie auf die möglichen Eskalationsfallen, in die ein erklärender Pädagoge stolpern kann, beziehen. Erst durch Distanzierung schärfe ich den Blick auf das tatsächliche Geschehen und erwerbe die Voraussetzungen, die ich benötige, um nicht aus meinen eigenen Mustern heraus, sondern aus einem Verständnis der möglichen Wechselwirkungen im konkreten Fall heraus zu handeln. Erst, indem ich mich als Erziehungsperson selbst von der lebensgeschichtlichen Zufälligkeit meiner bevorzugten Wahrnehmungen löse und diese als das sehe, was sie sind, nämlich Produkte meiner eigenen biografischen Erfahrungen, kann ich mich auf das Gegenüber wirklich beziehen. Dies macht Bernhard Bueb nicht: Seine Erfahrungen sind ihm heilig, und sie liefern ihm immer wieder neue Bestätigungen dafür, dass seine Sicht der Dinge die weiterführende ist. Sein Buch kennt keine Selbstkritik, kein Scheitern, keine Behutsamkeit oder kein Wissen über die unbeabsichtigten Nebenwirkungen unserer wohlgemeinten Erziehungshandlungen. »Man kann in bester Absicht etwas Verheerendes auslösen« – so eine der Lehren der Systemik. Es gilt aber auch das Gegenteil: »Selbst die stümperhafteste erzieherische Reaktion kann wirksam sein, wenn die Beziehung im intergenerationalen Verhältnis stimmt.«

Das vorliegende Buch setzt sich mit den Grundannahmen sowie den Vorschlägen der buebschen Erziehungslehre auseinander. Basis dieser Auseinandersetzung ist die systemische Pädagogik. Als solche bezeichnet man eine Richtung der Pädagogik, die die Vielfalt und Wechselbezüglichkeit des Erzieherischen kennt und deshalb mechanistischen Kurzschlüssen (nach dem Motto: »Man nehme …!«) skeptisch gegenübersteht. Stattdessen gilt es, die Professionalität der Erziehung in Deutschland zu stärken. Dabei spielen – wie in diesem Buch gezeigt werden soll – die Selbstreflexion von Eltern, Lehrern und Erziehern sowie die Erweiterung ihrer pädagogischen Vielfalt eine große Rolle. Erst wenn diese sich mehr vorzustellen vermögen, als sie ihre Erfahrungen lehren, können stabile Erwartungen enttäuscht und festgefahrene Eskalationsmuster auf beiden Seiten überwunden werden. Am Anfang jeder Erziehung steht die dem Gegenüber zugewandte Liebe– im pestalozzischen Sinne –, ihr folgen die Selbstreflexion, die nicht enden wollende Geduld und die Vielfalt der angebotenen Möglichkeiten.

Das vorliegende Buch basiert auf zahlreichen Erfahrungen, die ich als Vater, systemischer Berater, Erziehungswissenschaftler sowie Lehrerbildner in den letzten Jahrzehnten habe sammeln können. Hierfür bin ich unzähligen Menschen zu Dank verpflichtet. Insbesondere danke ich meinen Studierenden, die sich mir in systemischen Seminaren mit den Grundlagen ihres eigenen Denkens geöffnet haben und in einer oft bewegenden Form zu neuen Fundamenten ihres pädagogischen Weltbildes vorgestoßen sind. Ihnen verdanke ich viele Einblicke. Ähnliches gilt für die Familientherapeuten sowie Lehrkräfte, mit denen ich in zahlreichen Seminaren sowie Vortragsveranstaltungen im In- und Ausland zusammengetroffen bin. Doch auch von den eigenen Kindern lernt man viel über Erziehung, ihre Wirkungsunsicherheit sowie auch die – oft fragwürdigen – Grundlagen des eigenen erzieherischen Impulses – wenn man sich dem selbstreflexiven Erziehungslernen öffnet und es sich gestattet, bisweilen auch ganz anders zu sein, um Vielfalt und Leichtigkeit zu tanken. Selbstreflexion, Vielfalt und Leichtigkeit sind die Stoffe, aus denen sich in den letzten Jahren das Bild einer systemischen Pädagogik entwickelt hat, die mit weniger Planung, Empfehlung und Rigorismus auskommt und stattdessen den Kräften des Lebendigen zum Ausdruck verhilft.

Danken möchte ich auch Bernhard Bueb für die Vorlage seiner Streitschrift Lob der Disziplin. Er hat mich zu einem Widerspruch angeregt, der bisweilen auch Formen eines Ärgers annahm. Nach meinem Eindruck sind seine Positionen falsch – bzw., konstruktivistisch gesprochen: wenig viabel – und in ihren Wirkungen für die deutsche Erziehungsmentalität verheerend. Dies habe ich in meinem Buch pointiert zum Ausdruck gebracht, wobei ich mich vielfach auf Originalzitate aus dem buebschen Buch beziehe. Dabei ist hoffentlich nicht nur eine weitere Streitschrift entstanden, denn ich habe mich auch bemüht, dort konkret zu werden, wo Bueb vage bleibt, und dort vielfältig, wo Bueb mit seinem eindimensionalen Autoritarismus aufwartet.

Rolf Arnold

Kaiserslautern, im August 2007

Verlegenheit als Rezept?

Erziehung ist schwierig, sie war es stets. Und immer schon gab es Vereinfacher, die ratsuchenden Eltern, Lehrern und Erziehern schlichte Rezepte aufzudrängen versuchten – nach dem Motto »Man nehme …!«. Solche Rezepte geben zunächst das Gefühl, zu wissen, was zu tun ist, doch funktionieren tun sie nur selten. Was aber noch schlimmer ist: Sie sind mit unbeabsichtigten Nebenwirkungen für das Individuum und die Gemeinschaft verbunden, die verantwortliche Menschen weder wollen noch gutheißen können.

»Disziplin« ist zudem ein traditionsbelasteter Begriff, und es ist eine durchaus problematische Tradition, die in ihm fort- und wieder auflebt. Er entstammt dem Kasernenhof und der Vorstellung des »unbedingten« Gehorsams, möglichst eines blinden Gehorsams. »Disziplin« hat zudem den Vorzug, dass jeder weiß oder zu wissen scheint, was damit gemeint ist. Es ist ein Erleichterungsbegriff – gerade für gestresste Erzieher, Eltern und Lehrer. »Disziplin« geht nämlich mit einem heimlichen Versprechen einher, dem Versprechen, endlich Handlungsgewissheit, Wirksamkeit und Ruhe zu schaffen. »Ein Lob der Disziplin« rennt deshalb offene Türen bei denen ein, die überfordert und ratlos sind. Doch erliegen sie einer Illusion, der Illusion eines pädagogischen Passepartouts, so als gäbe es für alle Erziehungsprobleme nur eine einzige Lösung: die »Wiederherstellung der Disziplin«.

Diese Vorstellung ist naiv und Ausdruck tiefster Verlegenheit. Wer sie unter das Volk bringt, ist ein pädagogischer Scharlatan. Er verkauft eine Substanz, die wirkungslos bleiben wird, für bares Geld. Denn die wohlfeile Forderung nach »Disziplin« steht für leicht steuerbare und machtstrukturierte Kontexte: Einer sagt, was zu tun ist, und die anderen haben ihm zu folgen. Nach diesem einfachen Modell funktionierten autoritäre Gesellschaften. Demokratische Gesellschaften hingegen bedürfen der Auseinandersetzung und des Ausgleichs. In ihnen müssen die jungen Menschen lernen, sich zu artikulieren, aber auch zugleich, sich zu arrangieren. Und sie müssen dabei auch eine Einsichts-, Konflikt- und Verantwortungsfähigkeit entwickeln, die ihnen jeweils neu die Maßstäbe ihres Handelns erschließt. Folgt man dem ersten nationalen Bildungsbericht für Deutschland, so geht es der Erziehung und Bildung um eine in dreifacher Hinsicht hochkomplexe Aufgabe: um die Herausbildung einer »individuelle(n) Regulationsfähigkeit«, die Entwicklung der »Humanressourcen« in unserer Gesellschaft sowie um die Förderung der »gesellschaftlichen Teilhabe und Chancengleichheit« (Konsortium 2006, S. 2). Um diese komplexe Aufgabe zu bewältigen, benötigt man eine komplexere Antwort, als sie Bernhard Bueb (2007b) mit seinem Lob der Disziplin gibt. Der Bildungsbericht stellt fest (Konsortium 2006, S. 2):

»Individuelle Regulationsfähigkeit meint die Fähigkeit des Individuums, sein Verhalten und sein Verhältnis zur Umwelt, die eigene Biografie und das Leben in der Gemeinschaft selbständig zu planen und zu gestalten. Diese umfassende und allgemeine Zielkategorie für das Bildungswesen als Ganzes wie für jeden seiner Teile beinhaltet unter den Bedingungen der Wissensgesellschaft in besonderem Maße die Entfaltung der Lernfähigkeit von Anfang an und deren Erhalt bis ins hohe Alter. Der Bericht greift damit bewusst den – in anderen Sprachen so nicht vorhandenen – Bildungsbegriff auf, der den Erwerb vertretbarer Qualifikationen einschließt, aber darüber hinaus mit der Idee der Selbstentfaltung, mit Aneignung und verantwortlicher Mitgestaltung von Kultur verbunden ist […]«

Dies sind allesamt Anliegen, die eine komplexe Antwort und eine professionelle Vielfalt der pädagogischen Reaktionen und Interventionen erfordern. Universalrezepte helfen hier nicht. Sie sind Alles-Fänger-Versuche und offenbaren sich im Erziehungsalltag häufig als Bauernfängerei. Ähnlich wie wir ja auch von einem Arzt erwarten, dass er sich zunächst die Krankheit genau anschaut und zu einer Diagnose gelangt, um dann eine auf unsere individuelle Konstitution abgestimmte Therapie vorzuschlagen, können wir auch bei unseren Erziehungsfragen und -problemen eine differenzierte Therapie erwarten. Komplexe Probleme benötigen auch in den Bereichen der Erziehung und Bildung komplexe und differenziert begründete Antworten. So wie wir bei unserem Arzt ja auch nicht für alle unsere Gesundheitsfragen die Verschreibung ein und desselben Medikamentes erwarten, dürfen wir uns auch bezüglich der Möglichkeiten eines erfolgreicheren Umganges mit unseren Kindern oder Schülerinnen und Schülern nicht mit einem »Lob der Disziplin« abspeisen lassen. Und schließlich werden wir uns auch nicht dauerhaft bei einem Arzt in Behandlung begeben, der uns mit einem Lamento darüber konfrontiert, dass es so viele Kranke gibt. So wie der Arzt seine Berechtigung aus der Krankheit ableitet, so leiten Erzieherinnen und Erzieher sowie Lehrerinnen und Lehrer ihre Berechtigung auch aus dem Sachverhalt ab, dass Erziehung nicht leicht ist.

Erziehung ist schwierig, sie erfordert Nachdenken, Reflexion und Aufklärung; ein Rückgriff auf die Erziehungslehren vergangener Zeiten hilft weder den Eltern noch den Lehrerinnen und Lehrern, die es mit heutigen Jugendlichen, heutigen gesellschaftlichen Erwartungen, aber auch heutigen Einsichten und Hilfestellungen von Erziehungswissenschaft und Pädagogik zu tun haben. Moderne Gesellschaften sind unübersichtliche Gesellschaften. Sie sind Gesellschaften, in denen Menschen mit unterschiedlichsten Orientierungen und Lebensstilen zusammenleben. Die Wissenschaft spricht in diesem Zusammenhang von Milieus. Die Kinder und Jugendlichen wachsen in solchen Milieus heran, begegnen anderen Milieus und versuchen, sich zu orientieren. Ihre Identität hat nicht zu wenige, sondern sehr viele Bezugspunkte. Sie benötigen niemanden, der sie mit eindeutigen Richtig-falsch-Aussagen konfrontiert, sie brauchen vielmehr jemanden, der ihnen zu zeigen vermag, wie man im Wechselspiel von Erproben und Sichdefinieren Klarheit, Richtung und Struktur in seinem Lebenslauf entwickelt. Dies ist ein riskanter Prozess. Und notwendig sind dafür Begleiter, die selbst diese komplexe Aufgabe ihrer Identitätssuche bewältigt haben, ohne in einer rigiden Ichbezogenheit erstarrt zu sein. Solche Menschen zeigen uns, dass es nicht um Disziplin und Disziplinierung, sondern um Identität und Verantwortung geht. Aus beidem kann eine Strukturiertheit der Person entstehen, die man, wenn es denn sein muss, mit »Selbstdisziplin« grob umschreiben kann.

Wie erwirbt man diese? Wie können Eltern, Erzieher und Lehrer diese Haltung in sich entwickeln? Und wie kann diese in der Auseinandersetzung mit suchenden und auch schwierigen Kindern so ins Spiel gebracht werden, dass Kinder nicht gekränkt, gedemütigt oder gar zerbrochen werden? Haben wir nicht voller Bewunderung lernen müssen, dass eines der wesentlichen Geheimnisse der skandinavischen Bildungssysteme darin liegt, dass diese vielfach nach dem Grundsatz »Wir kränken keine Kinder« handeln? Und mussten wir nicht zugleich erkennen, dass diese Haltung zu einem ruhigen und fast entspannten Umgang in den Schulen beiträgt? Es bedarf keines »Lobes der Disziplin«, sondern eines Lobes des respektvollen Umgangs mit den kleineren, jüngeren und unerfahrenen Menschen. Erziehung darf nicht länger als »organisierte Verteidigung der Erwachsenen gegen die Kinder« – so ein zum Bonmot gewordener Ausspruch von Mark Twain – verstanden werden, sie muss vielmehr als entwicklungsförderlicher Service der Erwachsenen für die Kinder organisiert werden, wenn wir uns erzieherisch wirklich intelligent und den komplexen Verhältnissen, in denen Kinder und Jugendliche heranwachsen, entsprechend verhalten wollen.

Wer über Erziehungsfragen öffentlich nachdenkt, muss dies verantwortlich tun. Dabei ist nicht zu übersehen, dass ein »Lob der Disziplin« gerade angesichts der deutschen Gesellschafts- und Schulgeschichte ein doch fragwürdiges Unterfangen ist. Wer die Disziplin lobt, muss auch etwas zu den historischen Situationen sagen, in denen es die Deutschen zu einer vorbildlichen Disziplin gebracht haben. Es lief alles »wie am Schnürchen« in den Schulen, auf den Kasernenhöfen, aber auch in den Konzentrationslagern. Wer diszipliniert wird, ist mundtot. Wer einer Disziplin unterworfen wird, handelt nicht aus Überzeugung. Disziplin ohne Selbst führt zu einer Entfremdung vom Selbst. Das Ergebnis sind Menschen, die sich nicht wirklich in eine Beziehung setzen können zum Gegenüber, die mechanischen Regeln und Vorgaben zu folgen gelernt haben, die »vorbehaltlose Anerkennung von Autorität und Disziplin« (S. 11)1 akzeptieren und nicht gelernt haben, selbst nach dem Sinn und der Berechtigung dessen zu fragen, was sie tun oder tun sollen.

Wollen wir sie wirklich, diese »vorbehaltlose Anerkennung von Autorität und Disziplin«, die uns Bernhard Bueb in seinem Bestseller Lob der Disziplin schmackhaft zu machen versucht? Sind es nicht gerade die »Vorbehalte«, aus denen die Freiheit, der Mut und auch die Solidarität der Menschen sich speisen? Benötigen wir nicht ein »Lob des Vorbehaltes«? Möchten wir wirklich den gesellschaftspolitischen Rückfall in Zeiten, in denen die Erziehungskultur der »vorbehaltlosen Anerkennung von Autorität und Disziplin« uns in Situationen einer vorbehaltlosen moralischen Verrohung gleiten ließen? Waren es nicht gerade die Gralshüter der deutschen Tugend Disziplin, welche dieser historischen Verrohung nichts entgegenzusetzen hatten, sondern sie vielmehr begeistert mitgestalteten? Ist es angesichts dieser historischen Erblast wirklich die Aufgabe eines deutschen Pädagogen, die Disziplin hochleben zu lassen, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, dass uns damals gerade eine kollektive Fähigkeit zur Disziplinlosigkeit hätte aufrecht gehen lassen können? Es ist das Kennzeichen demokratischer Gesellschaften, dass sie den »Vorbehalt« und nicht die »Disziplin« kultivieren. In diesem Sinne wies bereits Alexander Mitscherlich (1996, S. 27) darauf hin, dass

»Erziehung in sich selbst eine dialektische Funktion erfüllen (muss): Sie muss in die Gesellschaft einüben und gegen sie immunisieren, wo diese zwingen will, Stereotypen des Denkens und Handelns zu folgen statt kritischer Einsicht.«

Diese Dialektik der Erziehung ist dem Lob der Disziplin fremd. Bernhard Bueb vertritt ein eindimensionales Konzept der Anpassung. Deshalb bedauert er den »Missbrauch« der »Werte und Tugenden, die das Herz der Pädagogik ausmachen […] durch den Nationalsozialismus« (S. 12). Es ist für ihn keine Frage, ob und inwieweit es hier möglicherweise eine weitreichende Affinität gegeben hat; die Werte und Tugenden der Anpassung, von denen er redet, haben doch auch das geistige Klima markiert, in welchem ein rassistischer und sich selbst überhöhender Nationalismus überhaupt erst hatte entstehen können. Es ist – einmal ganz abgesehen von der dahinterstehenden rückwärtsgewandten Ideologie – eine echte Schwäche der buebschen Argumentation, dass er »Werte und Tugenden«, die ja für ihn »das Herz der Pädagogik« (ebd.) ausmachen, nicht gehaltvoll definiert oder charakterisiert. Der interessierte Leser erfährt nicht, um welche Werte es dem ehemaligen Internatsleiter da wirklich geht. Indem er dies weitgehend im Unklaren lässt, gewinnt man den Eindruck (der sich durch die Auftritte des Autors z. B. in Talkshows verfestigt), dass sein alles überstrahlender Wert die Disziplin selbst ist. Aber Disziplin um der Disziplin selbst willen ist kein Wert, der auch nur in Ansätzen einer ethisch-philosophischen oder gar moralpädagogischen Reflexion standhielte. Disziplin als Selbstwert ist vielmehr Ausdruck eines Rigorismus, der das Individuum einem formalen Prinzip unterwirft – wahrscheinlich der Ruhe im Klassenzimmer oder auf dem Pausenhof zuliebe – und sich in Wahrheit nicht darum kümmert, was aus dem Subjekt, aus seiner Widerständigkeit, seiner Aufsässigkeit und seiner Kampfbereitschaft wird – alles Eigenschaften oder gar »Tugenden«, auf die eine vielfältige demokratische Gesellschaft nicht verzichten kann.

1 Bei den in Klammern gesetzten Zitaten ohne Namensnennung handelt es sich um Zitate aus Bueb (2007b).

Wir brauchen weniger Wut in der Erziehung

Bernhard Bueb ist ein ganz offensichtlich frustrierter Pädagoge, jedoch einer, der gewinnen will bzw. einen Rat zum Gewinnen im Erziehungsdschungel geben will. Für ihn ist der »Bildungsnotstand in Deutschland […] die Folge eines Erziehungsnotstandes« (S. 13) – eine Feststellung, mit welcher er das erste Kapitel seines Buches – mit dem befremdlichen Titel Wir brauchen wieder Mut zur Erziehung – eröffnet. Damit schließt er einerseits bewusst an eine erziehungskonservative Parole der 1970er Jahre an (Bausch et al. 1978), hängt sich aber auch an den effektheischenden Titel eines Beststellers (Gerster u. Nürnberger 2001) an. Was dann folgt, ist eine Aneinanderreihung von allen möglichen Bedrohungen, durch welche nach seiner Meinung das Zusammenleben und Überleben in unserer Gesellschaft in Frage gestellt ist. Da ist die Rede vom Fernsehkonsum, den Verführungen der Konsumgesellschaft, der Arbeitslosigkeit, der Vergreisung der Gesellschaft – alles Krisentendenzen, welche Bueb in einen unmittelbaren Zusammenhang mit dem bringt, was er »Erziehungsnotstand« (S. 13) nennt:

»Wem die Zukunft verloren geht, der wird nicht an sich arbeiten, sich nicht mehr anstrengen und keinen Idealen nachstreben. Den mangelnden Zukunftsaussichten treten wir nicht durch Erziehung entgegen.«

Stimmt diese Diagnose? Und ist das, was Bueb glaubt unternehmen zu können, überhaupt möglich? Kann man mit der Erziehung die Zukunftsaussichten des Einzelnen und der Gesellschaft wirklich verbessern, oder handelt es sich bei dieser pädagogischen Hoffnung um eine »notorische Überschätzung der eigenen Möglichkeiten« (Brumlik 2007b, S. 53)? Diese Frage ist so alt wie die Pädagogik selbst. Aber ist sie deshalb bereits gelöst? Indem Bueb seine Ausführungen mit einem Versäumnislamento beginnt, schürt er die pädagogische Illusion, Erziehung sei machbar, und ihre Erfolge seien wirkungssicher. Er beschwört eine Entschiedenheit (Stichwort: »entgegentreten«) und erweckt an vielen Stellen seines Buches den Eindruck, der von ihm beklagte »Erziehungsnotstand« sei Ausdruck einer Laxheit, mangelnder Sicherheit und Werthaftigkeit. »Erziehung« bezeichnet für ihn nicht das überaus komplexe Phänomen, mit dem junge Menschen in eine Gesellschaft hereinbegleitet werden und im Wechselspiel von Anleitung und Selbsterprobung ihre Einstellungen, Haltungen und Kompetenzen selbst formen, »Erziehung« markiert für ihn vielmehr letztlich ein Gegenprogramm gegen die Verwahrlosung, ein Maßnahmenbündel, mit dem Eltern, Lehrer und Erzieher einer verhängnisvollen Entwicklung »entgegentreten« (S. 13) können. Sie dient ihm der Herstellung eines von ihm als sinnvoll erachteten Modells von Gesellschaft und Zusammenleben, nicht der Entwicklung der ihm anvertrauten Subjekte. Es ist letztlich eine Anpassungs- und Unterordnungslehre, welche er vertritt. Es ist eine Wut, die ihn leitet, nicht ein Mut.

Mutig wäre es, das Erziehungsthema so zu erörtern, wie dies die beteiligten Wissenschaften, über deren Ergebnisse Bueb in falscher Selbstgewissheit hinwegsieht,2 nahelegen. Erziehung ist Teil eines mehrfach komplexen Zusammenspiels individueller und gesellschaftlicher Faktoren, sie ist prinzipiell wirkungsunsicher, und letztlich sind eingetretene Erziehungserfolge kaum eindeutig zuordenbar. Der – junge – Mensch wächst in einem Sozialisationsuniversum vielfältigster äußerer Anforderungen, Vorbilder, Reaktionen und Ungesichertheiten heran. Diese prägen ihn nicht einfach, vielmehr verarbeitet er diese Vielfalt entsprechend seinen bereits sehr früh angebahnten emotionalen und kognitiven Kompetenzen im Kontext seiner Bindungserfahrungen. In seiner Entwicklung folgt er seinen internen Möglichkeiten und den für ihn überzeugenden, anschlussfähigen und nicht nur verneinenden Reaktionen seines Umfeldes. Es gibt kaum eine Instanz, die eine wirklich dauerhaft herausgehobene »Gewalt« über diese innere Entwicklungslogik des Subjektes hat. Man kann diese Entwicklung beobachten, verstehen, begleiten, kommentieren und auf sie reagieren, doch diese Reaktion muss weniger entschieden bzw. »entgegentretend« als systemisch klug sein. Und dies ist wirklich schwierig. Wer systemisch klug in Erziehungsfragen reagieren will, muss sehr viel wissen über die Entwicklungslogiken kognitiver und emotionaler Reifung sowie über die Möglichkeiten und Begrenzungen pädagogischer Interventionen. Er muss die Unübersichtlichkeit erzieherischer Kontexte, die Begrenztheit der eigenen Möglichkeiten sowie die ungewollten Nebenwirkungen einer ungeduldigen Entschiedenheit kennen und akzeptieren. Erst dann kann man zu einem erzieherischen Stil finden, der gewissermaßen von innen heraus wirken kann – aber nicht muss.

Wer in dieser Weise erzieherisch handeln möchte, der muss zudem über ein breites Spektrum von Reaktionsmustern verfügen und darf keineswegs von allen dasselbe oder in ähnlichen Lagen stets Ähnliches verlangen. Und es ist die orientierende Selbstdisziplin des sich entpuppenden Subjekts, um die es geht, nicht eine pauschale »Unterwerfungsdisziplin« (Koch 2007, S. 127), welcher das Subjekt sich »vorbehaltlos« unterzuordnen hat. Gefragt ist eben nicht

»der Erziehungsingenieur, welcher die Kunst, Kinder zu kneten (Palla 1997), perfekt beherrscht, sondern der Professional, der nicht nach Zuschreibungen sucht, sondern Vielfalt und Entwicklungsoptionen zu offerieren vermag« (Arnold 2007, S. 20).

Sicherlich, jeder Lehrer oder jeder Elternteil ist erfreut über konkrete Tipps und Erfolgsstorys, die zu zeigen scheinen, wie Erziehung möglich ist. Buebs Buch ist voll davon,3 und stets beruft er sich dabei auf seine jahrelange Erfahrung als Internatsleiter. Aber was zeigen seine Erfolgsgeschichten wirklich? Ist er sich der Tatsache bewusst, welch privilegierter Ausschnitthaftigkeit er seine Erfahrungen verdankt? Gibt er sich selbst und seinen Lesern Rechenschaft darüber, wie selektiv seine Wahrnehmung als Leiter eines Internats für Kinder wohlhabender und in der Regel gebildeter Eltern notwendig sein muss? Lässt er seine Leser nicht im Unklaren darüber, dass er seine Erfahrungen mit einer Klientel gesammelt hat, aus der – nach allem, was uns die Bildungsforschung sagt – nicht die eigentlichen Erziehungs- und Bildungsverlierer unserer Gesellschaft stammen, weshalb er mit seinen Statements an den zentralen Erziehungsfragen unserer Zeit vorbeizielt? Kennt er nicht die Untersuchungen der neueren Bildungsforschung, welche uns ein sehr differenziertes Bild vom Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Schul- und Bildungserfolg einerseits sowie Schulversagen und jugendlicher Delinquenz andererseits zeichnen (vgl. Hurrelmann et al. 2006, S. 65 f., 169 f.)?

Bueb scheint diese Ergebnisse nicht zu kennen oder – was wir zu seinen Gunsten ausschließen wollen – verschweigen zu wollen. Sein solchermaßen durch Ignoranz und Naivität gezeichnetes Bild eines »Erziehungsnotstandes« ist deshalb für eine treffende Zeitdiagnose in Sachen Bildung und Erziehung völlig ungeeignet. Seine »Streitschrift« dient auch gar nicht der Klärung, sondern einem wütenden Bekenntnis. Nur wer wütend ist, schreibt »Streitschriften«. Doch welche Wut leitet den Internatsleiter i. R.? Es ist letztlich die Wut über das Abhandenkommen überschaubarer erzieherischer Wirkungszusammenhänge. Seine Wut entspringt somit einer professionellen Resignation. Sie veranlasst ihn zu einem »Salto mortale in die Erziehungsprinzipien der fünfziger Jahre«, wie M. Altenburg (2006) in der Zeit feststellte, und kommt mit »Vorschlägen für eine Welt daher, die es nicht mehr gibt und nie mehr geben wird«. Es ist letztlich der sehnsuchtsvolle Entwurf einer gesellschaftlichen Realität, die Bernhard Bueb seinen Lesern vermitteln möchte. Das Thema Erziehung ist hierfür nur sein Aufhänger. Er benutzt es – wie ein trojanisches Pferd –, um seine kulturpessimistischen Deutungen zu verbreiten. Dies ist der eigentliche »Missbrauch der Erziehung«, von der Brumlik u. a. sprechen (Brumlik 2007a).

Statt die eigenen Handlungskonzepte der Komplexität und Unübersichtlichkeit der erzieherischen Wirkungszusammenhänge anzupassen, führt ihn seine »intellektuelle Verlegenheit« (Andresen 2007, S. 77) in eine rigide Emotion: Wut statt Mut! Wut jedoch braucht ein Gegenüber. Dieses findet Bernhard Bueb in allen Ansätzen einer dialogischen Erziehungspraxis – einer Praxis, in der für sein Empfinden zu viel diskutiert wird. Diese »Diskussionskultur« (S. 82) bringt er immer und immer wieder in Zusammenhang mit den antiautoritären Entwicklungen der Pädagogik der 1960er und 1970er Jahre. Diese habe mit dazu beigetragen – so Bueb –, »Erziehung bis in die letzten Winkel der Kinderzimmer zu demokratisieren« (S. 80) – eine Tendenz, welcher er entschieden entgegentritt: »Man muss nicht immer über alles diskutieren« (S. 78) – so seine anmaßende Parole, mit der er zudem den Eindruck erweckt, als habe er damit eine naive Position der demokratischen Erziehungstheorie aufgegriffen, womit er aber diese karikiert, nicht zitiert.

Bernhard Bueb zeichnet jedoch nicht nur ein Zerrbild der Erziehungsrealität in unserem Lande, er arbeitet auch mit schlichten Ursache-Wirkungs-Annahmen. So berichtet er z. B. von einem Jugendlichen, der »trotz guter Begabung drohte in der neuen Klasse erneut sitzenzubleiben« (S. 69). Bueb berichtet, wie er ihn für ein Jahr auf eines der strengsten englischen Internate schickte und wie er danach vollständig verwandelt und befreit von seinen Aufmerksamkeitsstörungen und Alkoholproblemen zurückkam. Worauf dieser Erfolg zurückzuführen ist, ist für Bueb klar (S. 70):

»Was er in England antraf, war eine hierarchisch geordnete Gemeinschaft, es herrschten Disziplin und Ordnung, Gehorsam galt als selbstverständlich, Schuluniform war verpflichtend, auf Regelübertretungen folgten Strafen, die Autorität der Erwachsenen, aber auch der Funktionäre der Schülermitverwaltung war unbestritten. Alle Aktivitäten in der Freizeit waren verpflichtend, der Tag begann mit einer Morgenandacht, an der alle teilnehmen mussten, ob christlichen, jüdischen oder islamischen Glaubens oder atheistisch.«

Ohne dass er den Beweis im Einzelnen wirklich antreten könnte, ist für Bueb die erzieherische Wirkungskette hier eindeutig. Der Erfolg ist in dem von ihm berichteten Fall auf diese Elemente einer autoritären Pädagogik zurückzuführen, in der »Disziplin und Ordnung« (ebd.) über allem stehen. Was Bueb unterschlägt, ist, dass der wohl nachhaltigste Wirkungszusammenhang bereits allein durch den Umgebungswechsel angebahnt werden konnte und alles auch ganz anders hätte kommen können.4