Wie man frisch beobachtet, um neu wahrzugeben - Rolf Arnold - E-Book

Wie man frisch beobachtet, um neu wahrzugeben E-Book

Rolf Arnold

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Beschreibung

Wer nicht erkennt, wie er erkennt, wird das Neue stets durch die alte Brille betrachten. Damit Neues in Erscheinung treten kann, braucht es "frisches Denken" – ein Denken, das fragt, was auch sein könnte, und das diese Alternative zur Grundlage des eigenen Handelns macht. Dieses Buch ist eine Einladung zur Selbstveränderung. Es skizziert die Grundlinien dieses frischen Denkens. Dabei wird deutlich, dass es manchmal eher um eine aktive "Wahrgebung" geht als um passive Wahrnehmung. Rolf Arnold zeigt, wie wir uns in den entscheidenden Fähigkeiten üben können: Eindrücke auf lösungssprachliche Weise beschreiben, Potenziale in den Blick nehmen und die Vielzahl der Möglichkeiten entdecken. Checklisten zur Selbstprüfung und Lösungsalgorithmen helfen, die eigene Veränderungskraft und Lösungskompetenz zu entwickeln. Das Buch wendet sich besonders an Menschen in Veränderungskontexten wie Führen, Lehren, Begleiten und Beraten, die die Wirksamkeit ihres Vorgehens stärken wollen.

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Rolf Arnold

WIE MAN FRISCH BEOBACHTET, UM NEU WAHRZUGEBEN

29 REGELN DER ACHTSAMKEIT

2023

Reihe »Fachbücher für jede:n«

Reihengestaltung: Nicola Graf, Freinsheim, www.nicola-graf.com

Satz: Melanie Szeifert

Umschlaggestaltung: B. Charlotte Ulrich

Umschlagfoto: © Viks_jin – stock.adobe.com

Redaktion: Nicola Offermanns

Printed in Poland

Druck und Bindung: Dimograf Sp.z.o.o.

Erste Auflage, 2023

ISBN 978-3-8497-0484-1 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8438-6 (ePUB)

© 2023 Carl-Auer-Systeme Verlag und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

Alle Rechte vorbehalten

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Carl-Auer Verlag GmbH

Vangerowstraße 14 • 69115 Heidelberg

Tel. +49 6221 6438-0 • Fax +49 6221 6438-22

[email protected]

INHALT

VORWORT

EINLEITUNG – FRISCHES DENKEN UND ENTGRENZUNG

Die Anwendung der Erkenntnistheorie

Die entgrenzende Wirkung einer Transformationskommunikation

1 ERGRÜNDE DIE FUNKTIONSWEISEN DEINES DENKENS, FÜHLENS UND HANDELNS UND VERMEIDE DIE UNMITTELBARKEITSFALLE!

2 ERKUNDE DIE VERTRAUTEN MUSTER DEINES DENKENS, FÜHLENS UND HANDELNS UND ÜBE DICH DARIN, ZU FRAGEN, WAS DIR DAS AKTUELLE ÜBER DICH IN ERINNERUNG RUFT!

3 STELLE DEIN (ER)INNER(T)ES DRAMA AUF UND VERSÖHNE DICH MIT DESSEN DIMENSIONEN!

4 TRAINIERE DIE SELBSTEINSCHLIESSENDE BEOBACHTUNG UND MEIDE DIE BEURTEILENDE BEOBACHTUNG!

5 ÜBE DICH IM ZURÜCKRUDERN, WENN DIR EINE VORSCHNELLE BEURTEILUNG ENTSCHLÜPFT IST!

6 ERFORSCHE DIE PERSPEKTIVEN DEINES GEGENÜBERS UND SPÜRE, OB UND WIE DU DICH MIT DIESEN VERBINDEN KANNST!

Die Dekontaminierung (des beobachtenden Selbst)

Klärung (der Unterscheidungen, die sich im Gegenüber artikulieren)

Wertschätzende Integration

7 WENN DIE MACHT DER ROUTINE ZURÜCKSCHLÄGT UND DU ZU WIEDERHOLEN BEGINNST, ENTWINDE DICH DIESER KRAFT UND VISUALISIERE EINE ANDERE MÖGLICHKEIT DES DENKENS, FÜHLENS UND HANDELNS!

Selbstdistanzierung

Vision eines anderen Selbst

Habitualisierung

8 ENTWICKLE DAS BILD EINES IDEALEN SELBST UND VERLEIHE IHM ALLTAGSWIRKSAMKEIT!

Beschreibung: Wer bin ich (geworden)?

Bilanz: Wie zufrieden bin ich selbst mit den Besonderheiten, die mein Denken, Fühlen und Handeln bestimmen?

Vision: Wer will ich werden?

9 NUTZE DIE EINSICHTEN AUS PHILOSOPHIE, WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG UND VERBINDE DEINE EIGENDREHUNG MIT DIESEN!

10 FÖRDERE DEINE BEZIEHUNGEN, INDEM DU DICH DARIN ÜBST, BEZOGENHEIT AUSZUDRÜCKEN UND NACHFRAGEND ZU KOMMUNIZIEREN!

Bewusste Selbstdistanzierung

Bezogene Kommunikation

11 BEOBACHTE DEINE BEOBACHTUNG – TÄGLICH, STÜNDLICH, MINÜTLICH!

12 ÜBE DICH IN DER WERTSCHÄTZENDEN, PROAKTIVEN UND POSITIVEN LESART DES MÖGLICHEN UND LASSE DAS LAMENTO HINTER DIR!

Der erste Schritt: Aufräumen

Der zweite Schritt: Einräumen

13 ÜBE DEN POTENZIALERSCHLIESSENDEN UMGANG MIT UNANGENEHMEN SITUATIONEN!

14 HANDLE STETS SO, DASS DEINE EIGENEN GRENZEN SPÜRBAR WERDEN!

15 VERMEIDE KRÄNKUNGEN UND ÜBE DICH IN DER EIGENEN UNKRÄNKBARKEIT!

Erste Lektion: Wenn sich in Ihnen (wieder einmal) eine abschließende Beurteilung des Gegenübers aufbaut, suchen Sie Ihr inneres Lesarten-Labor auf und reagieren Sie zunächst nicht unmittelbar!

Zweite Lektion: Um Unsystemischem entgegenzuwirken, hilft Argumentation selten, besser ist der bescheidene Auftritt und die bezogene Kommunikation!

16 FÖRDERE DIE RESONANZ DURCH DIE VERSTÄNDIGUNG AUF GEMEINSAME LESARTEN!

Resonanz der Führung

Aufgeschlossenheit des Kollegiums

17 VERMEIDE FESTLEGUNGEN, PUTZE DEINE BRILLEN UND VERVIELFÄLTIGE SO OPTIONEN FÜR DICH SELBST UND ANDERE!

Lehren und Lernen sind längst nicht mehr das, was sie einmal waren

Das Unangenehme zuerst: Selbstreflexion der eigenen Wahrgebung ist die Basis einer professionellen Begleitung

18 LERNE, DAS UNKRAUT ZU LIEBEN!

Interventionsmodus A

19 BREMSE DEINE ADVOKATORISCHEN IMPULSE MITHILFE DER GEDANKEN EINER NICHTWISSENDEN UND DEMÜTIGEN BEGLEITUNG!

Interventionsmodus B: Nachfrage zur Auftragserweiterung

Interventionsmodus C: Beauftragte Auftragsdelegation

Interventionsmodus D: Kontextveränderung

20 NUTZE DIE GEBOTE EINER SYSTEMISCHEN BEGLEITUNG FÜR DIE KULTIVIERUNG EINER ENTTÄUSCHUNGSFESTEN HALTUNG!

Weitere Anwendungen

Identitätsbalance im Mäandern des Lebensflusses

21 ENTWICKLE DEIN BEWUSSTSEIN DES BEWUSSTSEINS!

Die professionalisierende Kraft der Evidenz

22 ERMÖGLICHE UND RAHME DIE SELBSTBEWEGUNG!

Der Fokus auf Organisationsentwicklung

Der Fokus auf Erwachsenenbildung

23 ÜBE DEINE FÄHIGKEITEN, MIT DISSONANZ UMZUGEHEN!

Ein hilfreicher theoretischer Hintergrund: Die Dissonanztheorie

24 SEI KONSEQUENT: KEIN FALSCHES IM RICHTIGEN!

Erstens ist es anders und zweitens, als du denkst

25 VERMEIDE ES, IN DIE DEFENSIVE ZU GERATEN!

Was tun?

26 ÜBE DEINE FÄHIGKEITEN, MIT UNVERFÜGBARKEIT UMZUGEHEN!

Nicht Technologiedefizit, sondern technologische Unverfügbarkeit

Elemente einer reflexiven Verantwortungsregelung

27 ÜBE DICH DARIN, BESTÄNDIG DURCH DIE POTENZIALBRILLE AUF DAS GEGENÜBER ZU BLICKEN

Eröffne Wege durch das »Tor zum Selbst« und lade zu Individualreisen ein

Verabsolutierung von Eigenverantwortung?

Wir sind verantwortlich für die Angebotsgestaltung von Individualreisen

28 WENN DU GLAUBST, ES GEHT NICHT: ARBEITE AN DEINER INNEREN VERANTWORTUNGS(EIN)BILDUNG, DIE DICH LÄHMT!

29 LASS DAS REGELHAFTE HINTER DIR UND LEBE ACHTSAM!

LITERATUR

ÜBER DEN AUTOR

Vorwort

Das vorliegende 29-Regeln-Buch ist das letzte einer Reihe von Büchern, in denen ich mich in pragmatischer Sicht mit den Möglichkeiten eines wirksamen Handelns in den Bereichen Erziehung, Lehre, Führung, Liebe und Persönlichkeitsentwicklung befasst habe. Die Bücher tragen vielversprechende Titel (z. B. Wie man liebt, ohne [sich] zu verlieren), mit denen sie oftmals mehr in Aussicht stellen, als sie einlösen können. Die Leserinnen und Leser greifen nach ihnen, weil ihnen scheinbar Regelhaftes versprochen wird, müssen aber schon bald erkennen, dass es nicht um Regeln, sondern um Anregungen zur Selbstveränderung geht. In zahlreichen Beispielen habe ich ihnen immer wieder den Sachverhalt nahegebracht, dass wir in der Erziehung ebenso wie in der Liebe nicht das Gegenüber verändern können, da dieses stets selbst entscheidet, wofür es sich öffnet oder wovon es sich gar »beeindrucken lässt« (Willke). Das Einzige, was zu tun bleibt, ist, beständig an unseren gewohnten Sichtweisen und Routinen – die unser Denken, Fühlen und Handeln subtil beeinflussen und an der Vergangenheit festhalten – zu arbeiten.

Auch das vorliegende Buch ist eine solche Einladung zur Selbstveränderung. Gleichzeitig skizziert es die beobachtungs- und erkenntnistheoretischen Grundlinien eines frischen Denkens – ein Begriff, wie ihn insbesondere die Veränderungsforschung des MIT in Boston (Peter Senge, C. Otto Scharmer u. a.) in die Debatte eingebracht hat. Wenn wir nicht erkennen, wie wir erkennen, dann bewegen wir uns in einer Trance, in der wir das Neue stets durch die alten Brillen betrachten und so dafür sorgen, dass auch das Neue so bleibt, wie das Alte für uns gewesen ist: vertraut und wiederholend. Neues kann bloß in Erscheinung treten (»emergieren«), wenn es uns gelingt, frisch zu denken und neue Lesarten dessen, was auch sein könnte, zur Grundlage unseres Denkens, Fühlens und Handelns zu nehmen. Dabei können wir Potenziale in den Blick rücken, für deren Vorhandensein uns zunächst (durch die alten Brillen betrachtet) nichts zu sprechen scheint. Und: Wir können auch die Welt verändern, indem wir uns darin üben, unsere Eindrücke dessen, was uns zu sein scheint, stärker lösungssprachlich zu beschreiben und dabei auch auf die Vielzahl der Möglichkeiten zu fokussieren.

Das vorliegende 29-Regeln-Buch zum frischen Denken arbeitet wieder mit Selbst-Check-Listen und Lösungsalgorithmen; es illustriert darüber hinaus in zahlreichen Fällen die Möglichkeiten und Grenzen einer bewussteren Wahrgebung – ein von Gunther Schmidt verbreitetes Kunstwort, mit dem er den konstruktiven Gehalt der Wahrnehmung fokussiert. Diese Beispiele entstammen der Führungskräfteentwicklung sowie der Fort- und Weiterbildung (z. B. von Lehrkräften). Anhand dieser Fälle wird exemplarisch verdeutlicht, welche Veränderungs- und Lösungskraft mit einer frischen Wahrgebung des Geschehens verbunden sein kann.

Prof. Dr. Dr. h. c. Rolf Arnold

Waldshut, im Januar 2023

Einleitung – Frisches Denken und Entgrenzung

»Das Verführerische der kausalen Betrachtungsweise ist, dass sie einen dazu führt, zu sagen: ›Natürlich, – so musste es geschehen.‹ Während man denken sollte: so und auf viele andere Weise, kann es geschehen sein.«

(Wittgenstein 1984, S. 501)

Wissenschaftliches Denken geht mit möglichst präzisen Definitionen zu Werke, es ist also um begriffliche Grenzziehung (lat. definire) bemüht. Entgrenzungen hingegen drohen, die gewonnene Präzision infrage zu stellen und die Begriffe selbst aufzuweichen. Mit »Entgrenzung« kommt ein Begriff ins Spiel, der paradoxerweise alle die Erscheinungen einzugrenzen versucht, welche sich der gewohnten Grenzziehung zu entziehen scheinen. Versucht man, diesem Wechselspiel zwischen Grenzziehung und Entgrenzung im Denken nachzuspüren, so kommt man an sprachphilosophischen und erkenntnistheoretischen Reflexionen nicht vorbei. Solche Reflexionen standen im Zentrum des »linguistic turn« der Bildungs- und Sozialforschung, dem die Vorstellung zugrunde lag, dass z. B. die pädagogischen Sachverhalte, mit denen sich die Erziehungswissenschaften befassen, »sprachlich konstruiert« (Tröhler u. Fox 2019, S. 1) seien – wir es also nicht mit unverrückbaren Gegebenheiten, sondern lediglich mit »Sprachspielen« (sensu Wittgenstein) zu tun haben. Mit diesem Hinweis erschöpften sich allerdings die Anregungen des linguistic turn. Was von ihm übrig blieb, war eine Relativierungsthese, die für die Pädagogik nicht neu war; sie wurde bereits durch die sprachphilosophischen Beiträge von Wilhelm von Humboldt (1767–1835), Herder (1744–1803) sowie die analytische Sprachphilosophie vorbereitet. Die Möglichkeiten einer Nutzung der Sprachgebundenheit und Relativität unserer Beschreibungen für eine proaktive Transformation von Wirklichkeiten wird erst neuerdings thematisiert. Benötigen wir einen linguistic return in der Pädagogik?

Die Anwendung der Erkenntnistheorie

Erkenntnistheorie ist Sprachtheorie. Sie fokussiert auf die sprachliche (Er-)Fassung und Kommentierung der Beobachtung und Beurteilung von Sachverhalten, wobei wir den Streit um die Frage, ob diese Fähigkeit zur Erzeugung von Abbildern der Erkenntnis selbst nachgelagert oder gar vorausgesetzt sei, im Kern bereits seit Ludwig Wittgenstein (1889–1951) als weitgehend geklärt ansehen können. Wittgenstein (1984, S. 60) nahm die »Vorurteile die Verwendung der Wörter betreffend« in den Blick und relativierte den Zugang zur Gewissheit mit den Worten: »Dass es den Menschen so scheint, ist ihr Kriterium dafür, dass es so ist« (ebd.). Sein Biograf, Ray Monk, zeichnet detailliert die Balance zwischen (begriffs)realistischen und idealistischen Begründungen in der Philosophie von Wittgenstein nach und gelangt zu der Einschätzung, dass es Wittgenstein gegen Ende seines Lebens darum zu tun gewesen ist,

»(…) das Interesse der Philosophen von Wörtern und Sätzen abzulenken und auf jene Situationen zu richten, in denen wir sie verwenden – auf den Kontext, aus dem sie ihren Sinn beziehen« (Monk 2021, S. 611).

Dieser Hinweis eröffnet auch einen Zugang zu der Frage, wie Gewissheitsannahmen oder gar die Absicht, technologisch nutzbares sozialwissenschaftliches Wissen zu erreichen, zustande kommen. Der Blick auf den Kontext und die in diesem wirksamen »Einflüsterungen« (Derrida 1976), Interessen und Motive eröffnet einen reflexiven Zugang zu den in einer Diskursgemeinschaft eingeübten Formen der Wirklichkeitskonstruktion und deren jeweils autobiografisch sich verfestigenden Deutungsangeboten sowie Welt- und Selbstbildern. Auch die Grundbegriffe, deren man sich dabei bedient, öffnen nicht nur Wege der Erkenntnis, sondern legen das Denken fest und verschließen es gegen mögliche andere Deutungen dessen, was wirkt. In diesem Sinne lassen sich die etablierten Grundbegriffe auch als – kontingenter – Hintergrund der bevorzugten Sicht auf die Wirklichkeit beschreiben:

»In der Philosophie ist man gezwungen, Begriffe in bestimmter Weise anzusehen. Ich schlage dagegen Alternativen vor, die Ihnen früher nicht in den Sinn kamen. Sie dachten, es gäbe eine Möglichkeit oder höchstens zwei. Ich eröffne Ihnen weitere. Zudem habe ich Ihnen gezeigt, wie absurd es ist zu erwarten, dass sich der Begriff diesen beschränkten Möglichkeiten fügt. So löste sich ihre geistige Verkrampfung, und Sie konnten sich frei im Feld des Sprachgebrauchs umschauen und unterschiedliche Verwendungsweisen beschreiben« (Wittgenstein, zit. n. Monk 2021, S. 532).

Die Frage, was Erkenntnis sei und wie Bewusstsein zustande kommt, verweist auf die dem Denken vorgelagerten Formen der Aneignung und des Umgangs mit der Welt. Dabei sind es nicht allein die überlieferten Formen der Verbindung von Worten und ihren Bedeutungen, vielmehr bestimmt die Grammatik der jeweiligen Sprache, wie diese Bedeutungen zueinander in Beziehung gesetzt werden und welche Sicht auf die Welt dabei eingespurt, beständig wiederholt und »bestätigt« wird. Sprache ist dabei nicht nur ein Werkzeug der Kommunikation, sondern die grundlegende Voraussetzung für abstrahierendes Denken und differenziertes Schlussfolgern (vgl. Chomsky 2017, S. 59). So ist es z. B. von grundlegender Bedeutung, ob wir pädagogische Sachverhalte mit transitiven oder intransitiven Verben beschreiben (können) bzw. überhaupt die Wahl haben, passende Abbilder der Wirklichkeit in anderer Weise als der einer Akkusativsprache zu beschreiben und dadurch bereits in der Subjekt-Objekt-Beziehung kausale Wirkungszusammenhänge konstruieren, die im Handeln zwar beständig unterstellt, aber durchgängig nicht gewährleistet werden können. In diesem Sinne lässt sich von einer »Pädagogik der Sprache« ausgehen, die dem Menschen »evaluative, präskriptiv-iniciative, informative Konzepte für verschiedene Dimensionen seines Verhaltens« vermittelt (Loch 1968, S. 76) – so bereits das Fazit der frühen erziehungswissenschaftlichen Debatte zum Verhältnis von Sprach- und Erkenntnistheorie.

Sprache ermöglicht Geist im Sinne der kollektiven Errungenschaft einer Diskursgemeinschaft, die nicht allein mittels geteilter Ausdrucksformen miteinander zu kommunizieren vermag, sondern sich auch über diesen Sprachgebrauch selbst metakommunikativ zu verständigen vermag (vgl. Apel 1972, S. 41). Es ist jedoch nicht bloß die Metakommunikation, sondern vielmehr eine Anders- bzw. Transformationskommunikation, durch die wir unser Sprechen und Denken und damit auch die Abbilder des Wirklichen absichtsvoll verändern und uns dabei von der wirklichkeitsschaffenden Funktion der Sprache lösen können. Insbesondere die systemisch-konstruktiven Veränderungsstrategien zielen deshalb darauf ab, sich bewusst aus der problemsprachlichen Trance zu befreien und Formen einer – absichtsvollen – lösungssprachlichen Beschreibung der Gegebenheiten zu perfektionieren. In diesem Sinne war es Steve de Shazer (1940–2005), der – beeinflusst von Jacques Derrida (1930–2004), Noam Chomsky (geb. 1928) und Ferdinand de Saussure (1857–1913) – nachdrücklich daran erinnerte, dass Worte und zu Konzepten verdichtete Sätze letztlich lediglich »Illusionen« seien, »die sich uns in den Weg stellen und uns davon abhalten, die ›Realität‹ zu erkennen« (de Shazer 2016, S. 24). Die »Realität«, um die es de Shazer hierbei geht, bezieht sich auf die – vielfältigen – Möglichkeiten jenseits der durchschau- und berechenbaren Alltagsroutinen, mit denen Menschen zu Werke gehen, wenn sie fühlen, denken und handeln sowie darüber reflektieren.

Es ist eine pragmatistische Erkenntnistheorie, die sich hier artikuliert. Ihr geht es nicht um die Frage, wie realistisch menschliches Erkennen zu sein vermag; vielmehr geht es darum zu klären, welche Abbilder funktionierendes Handeln ermöglichen und welche nicht. Immer häufiger beobachten wir dabei, dass unsere Routinen der »Wahrgebung« (vgl. Schmidt 2007) uns nicht mehr länger zu gangbaren Wegen der Problemlösung und Gestaltung von Kontexten befähigen. Der Veränderungsforscher C. Otto Scharmer vom MIT (Boston) schreibt dazu:

»Unser Handeln und Denken basiert häufig auf Gewohnheitsmustern. Ein vertrauter Stimulus löst eine gewohnte Reaktion aus. Wollen wir jedoch zukünftige Möglichkeiten wahrnehmen und aus einer entstehenden Zukunftsmöglichkeit heraus handeln, bildet dieses ›Runterladen‹ ein Hindernis, da es zu einem ständigen Wiederholen von Mustern aus der Vergangenheit kommt« (Scharmer 2009, S. 124).

Eine angewandte Erkenntnistheorie legt deshalb einen Umgang mit der Wirklichkeit nahe, der diese in anderer – frischer – Weise in Erscheinung treten lässt. Indem z. B. pädagogische Professionals sich darin üben, in dem jeweiligen Gegenüber nicht bloß eine Rekonstellierung ihrer eigenen routinisierten Formen des Denkens, Fühlens und Handelns zu erkennen, problemsprachliche Beurteilungen (z. B. »der schwierige Mitarbeiter«, »im Lernwiderstand«, »unmotiviert«) zu überwinden und sich selbst dann stärker im Gebrauch lösungssprachlicher sowie potenzialerschließender Beschreibungen zu üben, wenn den Beobachtern und Beobachterinnen selbst zunächst nichts für diese zu sprechen scheint. Diese Veränderung der eigenen »Wahrgebung« setzt eine andere Sprache voraus, ganz so, wie es sich der bekannte Konstruktivist Heinz von Foerster (1911–2022) gegen Ende seines Lebens selbst ins Aufgabenheft schrieb, indem er feststellte:

»Ich möchte lernen, meine Sprache so zu beherrschen, dass (…) es mir gelingt, meine eigene Person stets als Bezugsquelle meiner jeweiligen Beobachtungen sichtbar zu machen« (von Foerster; zit. nach Pörksen 2001, S. 26).

Es ist diese Aufforderung zur »behutsamen Rede«, von welcher letztlich auch eine erkenntnis- und begriffstheoretische Revitalisierung des Denkens, aber auch des Fühlens und Handelns ausgehen könnte. Voraussetzung dafür ist allerdings eine Überwindung der verbreiteten korrespondenz- oder kohärenztheoretischen Erklärungen zu der Frage, wie »wirklich« die Wirklichkeit sei (vgl. Watzlawick 1997). Solange jedoch der korrespondenz- oder kohärenztheoretisch inspirierte »Kampf um die Wirklichkeit« (vgl. Simon 2006) sich nicht seiner eigenen Konstruktivität bewusst wird, werden auch die Diskutanten es vermeiden, tatsächlich »in den Unterschied zu gehen«, d. h., andere Beobachtungen als das zu nehmen, was sie sind: Bemühungen um eine »angemessene« Beobachtung bzw. Rekonstruktion der Konstruktion der Akteur:innen (vgl. Arnold 2018) – eine Perspektive, die auch für die Praxis in Beruf und Alltag in vielfältiger Weise anregend und dynamisierend sein kann, wie folgende Fragen zur pädagogisch-professionellen Konstruktion der Erziehungs- und Bildungswirklichkeit zeigen:

»Wie gelangen wir zu Beschreibungen von Beziehungen mit Kindern, Jugendlichen, Eltern, die weniger festschreiben, sondern immer wieder neu Potentiale in den Blick nehmen und die Integrität jedes Einzelnen wahren? Wie werden unsere Beschreibungen institutionalisiert und wie wirken die Institutionen auf unsere Beschreibungen? In der systemischen Pädagogik engagieren sich PädagogInnen in Theorie und Praxis dafür, starre Begriffe und Festschreibungen zu verflüssigen, denn ›(…) Begriffe sind wie Spachtelmasse – man kann sie zu vielen verschiedenen Gestalten formen‹ (Feyerabend 1998, S. 163)« (Jäpelt u. Schildberg 2011, S. 8).

Diese Überlegungen markieren einen Wandel des professionellen Blickes, der nicht bloß die Beobachtungs- und Mustergebundenheit der eigenen Wirklichkeitskonstruktion der Akteur:innen in den Blick nimmt, sondern sich auch um eine Genealogie der verwendeten begrifflichen »Spachtelmasse« (Feyerabend 1998, S. 163) bemüht. Bei dieser Bewegung kommen unterschiedliche Brillen zum Einsatz, die den Gegenstand frisch in den Fokus rücken und bislang ausgeblendete Tiefenstrukturen sowie neue Aspekte in Erscheinung treten lassen können. Begriffe sind jedoch nicht allein Ausdruck eingespurter und überlieferter Deutungsmuster, sie können auch als verfremdende Konstrukte erfunden und zur Neuvermessung des Vertrauten sowie zur Erweiterung des Bewusstseins genutzt werden. Kritische Theorie und Konstruktivismus nutzen dieses Verfahren gleichermaßen, um Veränderungsperspektiven durch eine »negative Dialektik« (Adorno 1966) oder den tastenden »Gang in den Unterschied« (vgl. Arnold 2022) auszuloten und zu erproben – ein Vorgehen, das nicht nur zu einem erweiterten Verständnis, sondern auch zu neuen Formen einer inklusiven und sozial gerechteren Gestaltung von Kommunikation und Organisation führen kann. In diesem Sinne plädiert Otto Scharmer vom MIT in Boston für eine »selbstreflexive Wende auf die eigenen Muster von Aufmerksamkeit und Bewusstsein« und schreibt:

»Die neue Synthese, die wir von einer Forschung brauchen, die sich auf der Höhe der sozialen Entwicklungsprobleme der Gegenwart befinden würde, müsste alle drei Blickrichtungen verknüpfen: die der Wissenschaft (lass die Daten sprechen), die der Aktionsforschung (man kann ein System nicht verstehen, solange man es nicht verändert) und die der Evolutionsgesetzlichkeit von Bewusstsein und Selbst (erkenne und erhelle den blinden Fleck)« (Scharmer 2009, S. 40).

Tragfähige sowie veränderungsoffene Deutungen dessen, was uns der Fall zu sein scheint, sind ohne eine Beobachtertheorie nicht zu haben. Wer sich in diesem Sinne darum bemüht, frisch zu beobachten, muss dabei mit dem – ärgerlichen – Sachverhalt umzugehen lernen, dass auch seine bzw. ihre Wirklichkeitsbeobachtungen, -deutungen oder gar -messungen Ausdrücke der Konstruktion des eigenen Gehirns sind, über deren sprachgebundene Substanz man sich häufig wenig Gedanken, über die Aussagekraft und Generalisierbarkeit ihrer Ergebnisse demgegenüber allzu oft viele Illusionen macht.

Die gute Botschaft der angewandten Gehirnforschung, wie sie von Francisco Varela und Kollegen (1992) vorbereitet und von Joe Dispenza (2016) in den letzten Jahren aufgegriffen wurde, ist:

Wir müssen nicht so bleiben, wie wir haben werden können, sondern können die Versteifungen unserer eingeschliffenen Muster des Denkens, Fühlens und Handelns hinter uns lassen – durch einen reflexiven und konzentrierten sowie übenden Umgang mit unserem Bewusstsein.

Diese Aufgeschlossenheit und Offenheit des eigenen Beobachtens, Denkens und Beurteilens wird dabei meist durch die Trägheit unserer Erfahrungen gebremst, die uns zwar in die Lage versetzen, uns relativ schnell ein Bild von dem zu machen, worum es sich in einer gegebenen Situation zu handeln scheint; es ist aber genau diese dereinst überlebenssichernde Fähigkeit unserer Hirnfunktionen, die uns festlegt und uns das Neue, Ungewohnte und Innovative einer veränderten Sicht der Dinge verpassen lässt. Wir erstarren dann in den Funktionsmechanismen einer »Neurorigidität« und sind kaum in der Lage, uns von diesen früh eingespurten und synaptisch dicht verwobenen Wahrnehmungsmustern zu lösen.

Die entgrenzende Wirkung einer Transformationskommunikation

Prinzipiell ist unser Gehirn zu einer Transformation der eingeschliffenen Formen unserer sprachlichen Konstruktion der Wirklichkeit in der Lage: Es kann erkennen, in welchen frühen Gegebenheiten die Strukturbesonderheiten unserer Wahrgebung dereinst entstanden sind und ihre Berechtigung hatten, und diese Muster des Denkens, Fühlens und Handelns hinter sich lassen. Zu dieser neuroplastischen Chance einer Umprogrammierung schreibt Joe Dispenza:

»Wir müssen lernen, uns von diesen Programmen zu distanzieren, dann können wir sie auch beherrschen. So erlangen wir schließlich die Kontrolle über unsere Gedanken. Damit unterbrechen wir neurologische Verknüpfungen, die sich verfestigt haben« (Dispenza 2016, S. 67).

Wir können uns auf diesem Wege »selbst neu erfinden« (ebd., S. 68), wie Joe Dispenza aus seinen Erfahrungen sicher zu wissen scheint, indem wir »konsequent am Denken neuer Gedanken festhalten«. Eine solche Selbstbildung entspringt einer angewandten Hirnphysiologie. Diese geht davon aus, dass es letztlich innere Prozesse sind, die uns die Bilder von der Wirklichkeit zeichnen lassen, die wir zeichnen – nicht zu hundert, aber wohl zu 80 % (vgl. Arnold 2019b). Indem wir nicht länger ausschließlich darauf fokussiert sind, was wir beobachten, sondern wie wir beobachten, können wir auch verstehen, warum wir z. B. dazu neigen, bestimmte Situationen bevorzugt zu dramatisieren oder gar als ausweglos zu empfinden. Dabei erfahren wir letztlich mehr über uns selbst, d. h. unsere Lebenserfahrungen und Lebensprägungen, als über die jeweilige Situation, die uns an- oder aufregt, und wir kommen mehr und mehr in die Lage, uns in anderer Weise von diesen Situationen an- oder aufregen zu lassen. Gleichzeitig verstehen wir auch, dass es meist keine zwingenden Wenn-dann-Bezüge zwischen einer Situation und deren Erleben gibt. Dies bedeutet: Menschen erleben gleiche Lagen sehr unterschiedlich: Selbst, wenn alle gleichermaßen die Lage als bedrängend oder gar bedrohlich empfinden, triggert dieses Erleben recht unterschiedliche Denk- und Gefühlsprogramme bei den jeweiligen Akteur:innen; einige gleiten in Enttäuschung, Trauer oder überwertiges – lähmendes – Entsetzen, während andere im selbstaktiven Modus zur Gegenwehr greifen, Auswege finden und nutzen.

Indem es Menschen gelingt, ihre bevorzugten Reaktionsformen zu identifizieren, zu studieren, zu durchspüren und mögliche alternative Denk- und Verhaltensweisen zu üben, können sie auch so weit gehen, frische Sicht- und Verhaltensweisen zu erproben und gegen die bisherigen Spontandeutungen auszuwechseln. Dabei machen sie sich auf den Weg, »das Bild ihres eigenen neuen Selbstausdrucks im Leben« (Dispenza 2016, S. 69) möglichst deutlich zu imaginieren und allmählich als ein neuronales Netzwerk zu verfestigen. Dieses ermöglicht ihnen letztlich auch einen anderen Blick auf ihr Leben – selbst dann, wenn sie an dessen äußeren Bedingungen nichts verändern (können oder wollen). Dadurch verbessert sich zugleich die Fähigkeit, Situationen immer wieder »frisch« im Sinne von Peter Senge und Kollegen zu sehen bzw. vor dem eigenen inneren Auge in Erscheinung treten zu lassen. Dabei gilt »Different ways of thinking lead to different ways of action« (Senge et al. 2011, S. 43). Deshalb können sich auch die eigenen Möglichkeiten in dem Moment ändern, in dem es dem Einzelnen gelingt, in veränderter Weise auf das vertraute Geschehen zu blicken. Dabei ist es nicht erforderlich, die eigene Lage im Außen durch schmerzhafte Veränderungen, Trennungen und auch Entfremdungen zu verändern; es langt meistens der neue – frische – Blick.

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ERGRÜNDE DIE FUNKTIONSWEISEN DEINES DENKENS, FÜHLENS UND HANDELNS UND VERMEIDE DIE UNMITTELBARKEITSFALLE!

Wie Menschen sich selbst und ihre Umwelt wahrnehmen und mit anderen darüber kommunizieren, ist nicht vergleichbar mit einer Fotografie dessen, was ist und was auch das jeweilige Gegenüber in derselben Weise zu erkennen, zu beschreiben und zu beurteilen vermag. Wäre dies so, dann würde es bloß an der Unfähigkeit oder der mangelnden Bereitschaft liegen, die Dinge so zu sehen, wie diese tatsächlich »sind«, wenn es uns nicht gelingt, uns zu einigen und unterschiedliche Sichtweisen oder gar Konflikte zu überwinden, um übereinzustimmen. Der Neurobiologe Martin Korte charakterisiert diese – stets in einer unhintergehbaren Weise selbstbezogene – Besonderheit unserer Wahrnehmung mit dem Satz:

»Wir sehen dabei die Welt nicht, wie sie ist, wir nehmen sie auch nicht wahr, wie sie scheint, wir erleben sie so, wie Verschaltungen in unserem Gehirn dies vorgeben, und diese Verschaltungen sind in einem starken Maße durch Erfahrungen – was wiederum Gedächtnisprozesse sind – geprägt« (Korte 2021, S. 543).

Die Hinweise der Hirn- und Wahrnehmungsforschung auf den Sachverhalt, dass wir nicht in der Lage sind, äußere Gegebenheiten nüchtern in ihrer So-und-nicht-anders-Beschaffenheit zu erkennen, sind zwar bekannt, doch haben sie oft noch kaum Niederschlag in unserer bevorzugten Art des kommunikativen Austauschs gefunden. Wir kommunizieren weiterhin meistens auf der Basis der Abbildillusion. Diese unterstellt, dass die Welt so sei, wie wir sie – unmittelbar – erkennen, und übersieht, dass wir sie nur durch bzw. »mittels« der besonderen Strukturprägungen unserer Wahrnehmung zu erkennen vermögen.

Dies ist deshalb so erstaunlich, weil wir eigentlich seit vielen Jahren wissen, dass wir – während wir wahrnehmen, agieren und reagieren – »neurobiologisch gesprochen, vor allem mit uns selbst beschäftigt (sind)« (Spitzer 2007, S. 54), weshalb der amerikanische Hirnforscher Daniel J. Siegel (geb. 1957) von einer »erinnerten Wahrnehmung« spricht, die dem Mechanismus folgt:

»Erinnerungen modulieren momentane Wahrnehmungen, indem sie einen Filter erzeugen, mit dessen Hilfe wir automatisch antizipieren, was gleich geschehen wird« (Siegel 2010, S. 227).

Im Alltag bleiben diese Hinweise weitgehend wirkungslos. Wenn wir auf Dissens, Widerspruch oder gar Widerstand stoßen, folgen wir meist der Mutmaßung, das jeweilige Gegenüber liege einfach falsch und sei (noch) nicht in der Lage, die Dinge so zu sehen, wie diese »tatsächlich« sind. Unsere spontanen Bemühungen folgen dann dem Impuls, den anderen zu überzeugen, zu überreden oder – dann, wenn uns dies nicht gelingt – ihm ein Defizit in seiner Wahrnehmungs- und Urteilsfähigkeit zuzuschreiben. »Das weiß doch wirklich jeder!« oder »Du bist wirklich begriffsstutzig!« sind dabei noch die harmloseren Formulierungen, mit denen wir dann die anderen abstempeln, um uns selbst treu bleiben und an unserer Wahrnehmung festhalten zu können. Wir merken dann aber meist nicht, wie wir wieder einmal in die Unmittelbarkeitsfalle geraten sind und dort festhängen.

In der Unmittelbarkeitsfalle folgen wir unwillkürlich einer Vorstellung, dass die Welt auch für andere tatsächlich so sei, wie wir sie wahrnehmen. Diese Vorstellung ist falsch (und auch anmaßend). Sie lässt sich vielleicht noch bei einfachen Gegenständen (Baum, Tisch etc.) mit einiger Berechtigung unterstellen, schwieriger ist dies bei komplexeren Zusammenhängen, wie z. B. der Qualität einer Beziehung, der Beurteilung eines Verhaltens oder der Interpretation eines Konfliktes. Die Wahrnehmung solcher Zusammenhänge hängt unmittelbar davon ab, was für eigene Erfahrungen ein Beobachter des jeweiligen Geschehens macht. Wir sind in diesem Sinne alle bloß Beobachter und blicken durch unsere Erfahrungen bzw. »Erinnerungen«, wie Siegel sagt, auf die Welt. Dabei nutzen wir diese Erfahrungen wie Brillen, die uns stets bloß die Eindrücke vermitteln, die wir mit Ihrer Hilfe zu sehen vermögen. »Eindrücke« ist dabei ein klärendes Wort: Wer bereits mit Eindrücken durch die Welt geht, dem schmiegen sich die neuen Lagen in die bereits eingedrückten Formen seines Denkens, Fühlens und Handelns ein. Das jeweilige Gegenüber kann eigentlich nichts dafür, dass es sich mit der Art und Weise, in der es sich uns eindrückt, für uns Wirklichkeit wird.

Dieser Blick auf die Wahrnehmung ist nicht neu. Die ganze Philosophiegeschichte kreist letztlich um diese Frage nach der Wirklichkeit, d. h. nach dem, was auf uns wie zu wirken vermag. Der abendländischen Philosophie schrieb bereits der griechische Stoiker Epiktet (50–135 n. Chr.) den berühmten Satz ins Stammbuch: »Nicht die Dinge selbst beunruhigen die Menschen, sondern ihre Urteile und Meinungen über sie« (Epiktet 1992, S. 5). Und die buddhistische Lehre von der »Nichtigkeit der Welt« geht sogar davon aus, dass die Welt »in der Weise, wie sie erscheint, nicht existent ist«. Etwa zeitgleich mit Epiktet legte Nagarjunda (ca. 200 n. Chr.) der Begründung seines »mittleren Weges« die Erkenntnis zugrunde: »Was abhängig entstanden ist, das ist als Leerheit erklärt; es ist (auch) metaphorisch bezeichnet. – Das ist der mittlere Weg« (zit. n. Tauscher o. J.). Wer sich auf ihn einlässt, weiß, dass Erkennen eine »Konvention bzw. Verhüllung« ist, wie Helmut Tauscher, der Buddhismusexperte an der Universität Wien, diese Lehre nachzeichnet.

Diese Erinnerung der Gegenwart stellt uns alle vor große Aufgaben. Sie fordert von uns nicht bloß eine nüchterne Klarheit, sondern drängt uns auch dazu, immer gekonnter, d. h. in anderer Weise als der, zu der es uns spontan drängt, zu reagieren.

Wenn das aktuelle Erleben uns stets an etwas erinnert, aus dessen Substanz heraus sich unsere emotionale und kognitive Reaktion konstruiert, die wir dann auch im konkreten Fall für berechtigt und angemessen halten, dann sind wir in der Regel gut beraten, wenn wir uns darin üben, diesen ersten Impulsen nicht zu folgen, sondern vielmehr die Tatsache, dass wir diese haben, zum Anlass des Nachdenkens und Nachspürens zu nehmen. Der erste Schritt einer achtsamen Lebenshaltung ist deshalb der, mit dem wir uns von unseren – intuitiven – Spontandeutungen lösen und misstrauisch gegenüber unserer eigenen, bloß vermeintlich unmittelbaren Wahrnehmung werden.

Auch die Überlegungen des Nobelpreisträgers Daniel Kahneman (geb. 1934) sind von einem tiefen Misstrauen gegenüber unserer intuitiven Wahrnehmung geprägt. So räumt er u. a. gründlich mit der Illusion der Unmittelbarkeit zwischen einem Satz und seiner Bedeutung auf, indem er seinen Leser darauf hinweist, dass

»(…) in diesem Sinne die Bedeutung eines Satzes das (ist), was sich in Ihrer assoziativen Maschinerie ereignet, während Sie ihn verstehen« (Kahneman 2012, S. 447).

In seinen Forschungen untersuchte Kahneman, in welcher Weise die Frames (Erfahrungen und emotionale Präferenzen) unserer »assoziativen Maschine« (ebd.) unsere Wahrnehmungen und Entscheidungen beeinflussen und letztlich auch – bis hin zu komplexartigen Routinen – verzerren. Wir wittern dann z. B. grundsätzlich in jeder Kritik eine persönliche Infragestellung oder vermuten hinter jeder Annäherung ein opportunistisches Motiv – nicht etwa, weil dem tatsächlich so ist, sondern, weil unser Erkennen stets (auch) ein Wiedererkennen ist. Menschen, die diesen Sachverhalt tief verstanden haben, sind deshalb in aller Regel zurückhaltend und beobachtend; selten erlebt man sie in einem engagierten Streit um die Wirklichkeit. Sie wissen, dass auch ihre eigene Wahrnehmung stets ein aktiver Prozess ist, bei dem sie es sind, die der Wirklichkeit ihre Bedeutung geben. Es ist dieser unhintergehbare Selbstbezug unserer Wahrnehmung, der den Psychotherapeuten Gunter Schmidt dazu veranlasst hat, den Begriff der Wahrnehmung durch das Kunstwort der Wahrgebung zu ersetzen (vgl. Schmidt 2000) – ein starkes Wort, um das zu kennzeichnen, worum es beim Erkennen unserer Erkenntnis- und Wahrnehmungsfähigkeit geht. In unserer alltäglichen Kommunikation sind wir gut beraten, wenn wir nicht alles glauben, was uns als vermeintliche Gewissheit angeboten wird, noch besser beraten sind wir allerdings, wenn wir zudem nicht alles glauben, was wir selbst (spontan) denken, sondern lernen, uns selbst ins Wort zu fallen, unsere spontanen Beurteilungen zu suspendieren und uns insgesamt darin zu üben, »langsamer« zu denken.

Daniel Kahneman unterscheidet in seinem bekannten Buch Schnelles Denken – langsames Denken zwei Modalitäten des Erkennens und Denkens – er nennt sie »Systeme«. Während das erste System, das System der Intuition, »automatisch und schnell, weitgehend mühelos und ohne willentliche Steuerung (arbeitet)« (Kahneman 2012, S. 33), lenkt das zweite System »(…) die Aufmerksamkeit auf die anstrengenden mentalen Aktivitäten, die auf sie angewiesen sind, darunter auch komplexe Berechnungen« (ebd.). Der Mensch verfügt aus guten Gründen über diese zwei Wahrgebungssysteme, da er in seinen Lebenssituationen in der Lage sein muss, sowohl rasch als auch gründlich prüfend zu erkennen und zu handeln – einmal intuitiv, oft aber gerade auch kontraintuitiv.

Es ist also bei Weitem nicht so, dass das erste System der intuitiven Gewissheit »falsch« und das zweite »richtig« sei, vielmehr kommt es darauf an, beide Systeme mit ihren Vor- und Nachteilen zu würdigen. Gleichwohl kann man dann zu der Auffassung gelangen, dass das System der intuitiven Gewissheit sich in einer Welt der Umbrüche und rasanten Veränderungen zunehmend als untauglich erweist, da »Intuition« – wie Kahneman schreibt – »nicht mehr und nicht weniger als Wiedererkennen (ist)« (ebd.).

Die zentrale Erkenntnisfrage ist deshalb in dynamischen Kontexten zunehmend die nach den Möglichkeiten, sich von wiedererkennenden Formen des Denkens zu lösen und immer wieder neu nach möglichen anderen Lesarten dessen, was gemeint und geboten ist, zu forschen.

Insbesondere Führungskräfte, aber auch Beraterinnen und Berater sehen sich deshalb immer wieder gehalten, innezuhalten und nicht in erster Linie über das Problem, welches ihnen begegnet, nachzudenken, sondern darüber, wie sie sich dieses selbst zurechtlegen, mit welchen Fragen sie sich diesem nähern, welche Fragen sie nicht stellen und welche Blickwinkel sie ausblenden, obgleich diese ein anderes – neues – Verständnis der Lage ermöglichen könnten. Kahneman schreibt:

»Es wäre unerträglich mühsam, ständig sein eigenes Denken zu hinterfragen, und System 2 ist viel zu langsam und ineffizient, um bei Routineentscheidungen als Ersatz für System 1 zu fungieren. Wir können bestenfalls einen Kompromiss erreichen: lernen, Situationen zu erkennen, in denen Fehler wahrscheinlich sind, und uns stärker darum bemühen, weitreichende Fehler zu vermeiden, wenn viel auf dem Spiel steht« (ebd., S. 42).

Um unsere Wahrgebung zu verlangsamen und vermehrt in »Stop & Think«-Schleifen einzutauchen, ist eine Art Selbstdisziplinierung unseres Denkens nötig. Diese lässt sich üben und perfektionieren, indem wir immer besser darin werden, unsere Spontandeutungen als Ausdruck unserer eigenen Strukturbesonderheiten zu verstehen, innezuhalten und zurückzurudern, uns zu korrigieren oder gar zu entschuldigen. Diese Fähigkeit ist Ausdruck einer »Umprogrammierung« unseres üblichen Denkens, aber auch Fühlens und Handelns. Denn gewohnte und biografisch gut eingespielte Muster führen uns in immer gleiche Lagen und Unausweichlichkeiten; sie legen uns fest und lassen unser Leben zu einer Wiederholung verkommen. Anders die bewusste Entscheidung zu einer verlangsamten, relativierenden und eine Vielfalt der Deutungen generierenden Form des Erkennens. Dieses kann, wie Siegfried Essen in seinem Buch Metanoia – sich selbst und die Welt neu denken schreibt, ein neues Denken und Sehen anbahnen:

»Ein von Konzepten und vorgefassten Meinungen freies Denken bedeutet neue Sicht auf sich selbst, auf die anderen und auf die ganze Welt. Auf dem Boden dieser Selbsterneuerung entsteht natürlich auch neues Fühlen, Glück, Zufriedenheit und Selbstwert« (Essen 2021, S. 20).

Diese Veränderung der eigenen Wahrgebungsroutinen erfordert ein Innehalten sowie die achtsame Fokussierung auf das, was uns – z. B. in einem Konflikt – der Fall zu sein scheint. Um diese verlangsamte und selbstreflexive Bewegung zu üben, können Sie den im Folgenden beschriebenen Schritten auf dem Metanoia-Pfad folgen.