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Katrin Schön

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  • Herausgeber: Midnight
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2017
Beschreibung

Endlich hat sich Kriminalkommissar Sebastian Loch ein Herz gefasst und führt Lissie Sommer zum Essen aus. Gerade sitzen die beiden so richtig romantisch auf der Terrasse des Edelrestaurants des lokalen Golfclubs, da werden sie Zeugen einer heftigen Auseinandersetzung zwischen zwei Golfern. Und kurz darauf findet Lissie sich nicht in enger Umarmung, sondern an einem Tatort wieder. Eines der Clubmitglieder wurde ermordet. Niedergeschlagen mit dem 7er Eisen, um genau zu sein. Klar, dass Lissie sich da nicht raushalten kann, sie ist ja quasi persönlich betroffen. Gemeinsam mit Sebastian nimmt sie die Ermittlungen auf… Bei Midnight sind von Katrin Schön erschienen: Ausgeplappert Ausgeschifft Abgeschlagen

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Die AutorinKatrin Schön wuchs im hessischen Dörfchen Hochstadt auf. Ihr komödiantisches Talent entdeckte die gelernte Bankkauffrau schon früh im hiesigen Karnevalsverein, wo sie bereits als Teenager vor allem die Lokalpolitik mit spitzer Feder aufs Korn nahm. Nach ihrem Studium der Publizistik in Bochum arbeitete sie als Fachjournalistin in Hamburg, bevor sie ein Angebot als Pressesprecherin annahm und ihren Lebensmittelpunkt nach Köln verlegte. Dort ist sie seit fast 9 Jahren zu Hause und arbeitet aktuell als Projektmanagerin. Mit Ausgeplappert. Lissie Sommers erste Leiche erschien 2015 ihr erster Krimi.

Das Buch

Endlich hat sich Kriminalkommissar Sebastian Loch ein Herz gefasst und führt Lissie Sommer zum Essen aus. Gerade sitzen die beiden so richtig romantisch auf der Terrasse des Edelrestaurants des lokalen Golfclubs, da werden sie Zeugen einer heftigen Auseinandersetzung zwischen zwei Golfern. Und kurz darauf findet Lissie sich  nicht in enger Umarmung, sondern an einem Tatort wieder. Eines der Clubmitglieder wurde ermordet. Niedergeschlagen mit dem 7er Eisen, um genau zu sein. Klar, dass Lissie sich da nicht raushalten kann, sie ist ja quasi persönlich betroffen. Gemeinsam mit Sebastian nimmt sie die Ermittlungen auf…

Bei Midnight sind von Katrin Schön erschienen:AusgeplappertAusgeschifftAbgeschlagen

Katrin Schön

Abgeschlagen

Ein neuer Fall für Lissie Sommer

Midnight by Ullsteinmidnight.ullstein.de

Originalausgabe bei Midnight Midnight ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Juni 2017 (1)  © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2017 Umschlaggestaltung: zero-media.net, München Titelabbildung: © FinePic® Autorenfoto: © privat ISBN 978-3-95819-116-7  Hinweis zu Urheberrechten Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben. In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

Frühjahrsputz

Ein frischer Wind pfeift mir um die Ohren, während ich mich mit Eimer, Spülwasser und Lappen bewaffnet den Biergartenmöbeln vor meinem Lokal mit dem schönen Namen Zum Grünen Kränzchen nähere, um ihnen den Winterstaub vom Holz zu wischen.

Seit rund einem Jahr bin ich, Lissie Sommer, inzwischen Ende 30, nun die Pächterin dieser traditionsreichen Apfelweinwirtschaft inmitten der hessischen Idylle. Der ich eigentlich schon den Rücken gekehrt hatte, um mein Glück in Köln als Reiseverkehrskauffrau zu finden. Aber: Ein Mord und die damit zusammenhängenden Umstände brachten mich nach Jahren in diese meine alte Heimat Traunbach zurück. Und so kümmere ich mich nun um Hausmacherwurst, Bembel und »Gerippte« – wie man das traditionelle Apfelweinglas auch nennt –, und ich muss sagen: Ich habe meine Entscheidung nicht bereut. Ich mag mein Lokal, das Dorf, die neue Nähe zu meinen Eltern und meine Arbeit.

Mich fröstelt es, und so knote ich mir den dünnen Schal etwas fester um meinen Hals und ziehe den Reißverschluss an meiner Daunenweste zu. Noch ist es zu kühl, um seinen Schoppen gemütlich im Freien zu genießen, aber im beginnenden Frühling konnten wir schon einige warme Tage verbuchen. Und prompt standen die ersten Gäste im Hof. Enttäuscht, dass ich im März den Biergarten noch nicht in Betrieb habe. Ich könnte natürlich Heizpilze aufstellen, aber dagegen wehre ich mich. Zum einen, weil die gasbetriebenen Wärmelampen umweltpolitisch eine Katastrophe sind, aber auch, weil alles einfach seine Zeit hat: Eine laue Sommernacht lässt sich auch mit noch so viel künstlicher Hitze nicht erzeugen. Und deshalb ist mein Biergarten nur in der Outdoor-Saison geöffnet. Mal ein paar Tage früher, mal ein bisschen später – manchmal muss man sich eben gedulden. Aber lange wird der Frühling nicht mehr auf sich warten lassen, und so möchte ich gerüstet sein, wenn der erste schöne Sonntag kommt und die Fahrradfahrer den Hof stürmen, um sich mit Ebbelwoi und Handkäs zu stärken.

Ich wuchte die Gartenmöbel aus dem kleinen Schuppen hervor und stelle sie zum großen Frühjahrsputz auf. Während ich über die Tischplatten wische und die Stühle von ein paar Spinnweben befreie, denke ich über die letzten Wochen nach.

Mein erster Urlaub, nachdem ich das Lokal im letzten Jahr übernommen hatte, führte mich – dank einer Idee meiner Mutter – zusammen mit meinen Eltern auf ein Kreuzfahrtschiff. Nach anfänglichen Bedenken und zwei Leichen an Bord muss ich trotzdem zugeben: Die Fahrt hat mir schlussendlich wirklich gutgetan. Nachdem der Mord an den beiden Travestiekünstlern auf dem Luxusliner aufgeklärt war, verbrachte ich mit meinen Eltern und Sebastian Loch – seines Zeichens Kommissar und Ermittler in den Mordfällen, in die ich völlig unabsichtlich verwickelt wurde – die restlichen Tage der Reise entspannt und gelöst. Durch die gemeinsame Arbeit an den Mordfällen kamen der Kommissar und ich uns näher – wenn ihm auch nicht gefiel, dass ich meine neugierige Nase immer wieder in seine Arbeit steckte. Aber was konnte ich denn dafür, dass mir die Hinweise auf die Mörder nur so vor die Füße fielen? Ausgesucht hatte ich mir das jedenfalls nicht. Aber wie gesagt: Nachdem die Morde aufgeklärt waren, verbrachten Sebastian und ich noch eine sehr entspannte Zeit auf dem Kreuzfahrtschiff. Mir gefiel es, wie sich Sebastian um mich bemühte, aber ich hielt ihn auf Distanz. Erst musste ich die Geschichte mit Micha – dem Ex von meiner Freundin Doris, der nun an mir interessiert ist – ins Reine bringen. Zweigleisig fahren ist nicht meine Art. Obwohl ich zugeben muss, dass es einige Situationen gab, in denen meine Selbstbeherrschung hinsichtlich eines Tête-à-Tête mit dem hübschen Kommissar schon auf der Kippe stand.

Zum Beispiel am letzten Abend unserer Kreuzfahrt, als wir zu zweit mit einem Gläschen Champagner am Heck des Schiffes lässig an der Reling lehnten und in den Sonnenuntergang schauten. Nur wir zwei. Die meisten Passagiere gaben sich mit dem Sekt zufrieden, der im Reisepreis inbegriffen war, und verzichteten auf die minimale Zuzahlung für den Champagner in der kleinen, feinen Outdoorbar. So auch meine Eltern – meine Mutter wollte sich stattdessen um einen guten Tisch kümmern. Und mein Vater verträgt alle Arten von Schaumwein nicht. (»Des stößt mir immer auf. Da hab ich die ganze Nacht noch was von.«) Und so standen Sebastian und ich praktisch allein an der Champagnerbar, genossen die traumhafte Aussicht, den guten Tropfen und das bisschen extra Exklusivität. Wir waren uns sofort einig, dass uns der letzte Abend die paar Euro für ein Glas Schampus wert sei. Natürlich ließ es sich der Kommissar nicht nehmen, mich einzuladen. Und so freute ich mich umso mehr. Nicht über die paar gesparten Münzen (das Gläschen hätte ich mir auch noch selbst leisten können), sondern darüber, dass sich Sebastian nicht als Geizkragen entpuppte und ebenso wie ich solche Momente schätzte und auch genießen konnte. Außerdem ist gegen gute Manieren und ein bisschen »alte Schule« ebenfalls nichts einzuwenden.

So standen wir also allein an der Reling und schauten aufs Meer. Romantik ist ja eigentlich nicht so meine Sache, aber dieser Moment war wirklich schön, obwohl alle Klischees erfüllt wurden: Die Wellen, die von der riesigen Schiffsschraube erzeugt wurden, rauschten; die Möwen, die über uns kreisten, kreischten um die Wette; der Wind blies angenehm und spielte mit meinen roten Locken; und die Sonne tauchte langsam am Horizont ins blaue Meer. Der Kommissar und ich standen nebeneinander – er im Anzug, ich im leichten Sommerkleid -, nippten an unserem Champagner und genossen schweigend diesen gemeinsamen Augenblick. Sebastian drehte den Kopf zu mir und sah mir tief in die Augen. Und für einen Moment stand es auf der Kippe, ob ich meine guten Vorsätze nicht hier und jetzt über Bord dieses Schiffes werfen und mich von diesem charmanten Mann küssen lassen sollte. Bis meine Mutter ihren Kopf zur Tür herausstreckte und rief: »Lissie, der Kellner gibt uns den allerbesten Tisch direkt am Fenster. Ich glaube, Kapitän Berggrün hat das für uns arrangiert. Aber dazu müssen wir uns jetzt direkt setzen. Kommt ihr?«

»Wir kommen sofort«, rief ich ihr zu und leerte mein Glas in einem Zug, um die peinliche Situation zu überspielen.

Sebastian grinste, schaute mir noch einmal vielsagend in die Augen, trank dann ebenfalls den letzten Schluck seines Aperitifs und sagte süffisant: »Na dann: Hungrige Mütter sollte man nicht warten lassen.«

Ich stoße einen lauten Seufzer aus, während ich die nächste Stuhllehne abwische. Denn der Alltag hatte mich danach schneller wieder, als mir lieb war, und mit Micha – der eigentlich in Berlin lebt und was mit Medien macht – Schluss zu machen, erwies sich als schwieriger, als ich es mir vorgestellt hatte …

Vor ein paar Wochen saßen wir gemeinsam in der Pizzeria Calzone, als Micha mich ansah und rumdruckste: »Ich hab gedacht … also… wenn ich in Traunbach bin … also, da könnte ich doch bei dir wohnen.«

Ich schaute Micha an wie ein Auto und hörte auf zu kauen. Wie zum bildlichen Beweis meines Entsetzens klappte die Ecke des Pizzastücks, das ich in der Hand hielt, nach unten, und eine Tomate glitt – nur gehalten von einem Faden Mozzarella – wie in Zeitlupe hinunter auf meinen Teller.

»Du willst was?«, fragte ich, immer noch erstarrt, und wie auf Kommando machte eine zweite Tomate einen Abgang – ohne dass ich meine Handhaltung auch nur einen Millimeter geändert hatte.

Ich war mit Micha in dieser Pizzeria, sozusagen auf neutralem Boden, verabredet und hatte mir fest vorgenommen, ihm heute reinen Wein einzuschenken: Das mit uns würde keine Zukunft haben. Egal, ob aus dem Kommissar und mir was werden würde – mit Micha konnte ich mir eine Beziehung einfach nicht vorstellen. Ja, er war ein gutaussehender Kerl, und auf den Kopf gefallen war er auch nicht. Aber bereits in wenigen Gesprächen hatte sich herausgestellt, dass wir ziemlich verschieden waren: unterschiedlicher Musikgeschmack, anderer Humor, verschiedene Sicht auf den Sinn des Lebens. Micha schien das weniger zu stören, aber bei mir verstärkte es nur mein Bauchgefühl, dass das auf Dauer mit uns nicht gutgehen würde. Und wenn ich in den letzten Jahren etwas gelernt habe, dann ist es, öfter mal auf meine Intuition zu hören. Damit liege ich meist richtiger als mit der angeblich logischen Variante, die mir der Verstand anbietet. Eine weitere Möglichkeit wäre natürlich, sich auf eine kleine Affäre einzulassen. Ohne Verpflichtungen. Nur Spaß. Aber nein: Dafür bin ich einfach zu alt. Oder unser Dorf zu klein. Und der zu erwartende Tratsch zu groß. Nein danke.

Vier Wochen waren seit der Kreuzfahrt vergangen, das Karnevalswochenende stand vor der Tür, und nur deshalb war Micha wieder in Traunbach. Feiern lässt es sich auf dem Land ebenso gut wie in der Stadt – zumal Traunbach eine lustige Enklave im sonst eher unkarnevalistischen Umland darstellt. Er hatte mir zwar beteuert, dass er mich eigentlich schon direkt nach meinem Urlaub hatte wiedersehen wollen, aber just in diesem Monat war ein Auftrag nach dem anderen reingekommen, und diese hatten ihn in Berlin festgehalten. Wenn ich wirklich in Micha verliebt gewesen wäre, hätte ich das nicht akzeptiert. Das Warten hätte mich umgebracht. Aber so war ich gar nicht böse darum, dass er sich mit seinem Besuch ein wenig Zeit ließ.

Da saßen wir also in der Pizzeria, und - nomen est omen – schon überkam mich das Gefühl, dass ich gerade von einem Pizzateig überrollt wurde, der über meinem Kopf zusammenklappte. Der wollte doch jetzt nicht ernsthaft bei mir einziehen?

»Du willst doch jetzt nicht ernsthaft bei mir einziehen?«, sagte ich, während nun auch noch die Tomatensauce von der Ecke meines Pizzastücks tropfte.

»Äh … also …« Micha wurde rot. Er suchte ganz offensichtlich nach den richtigen Worten. Bis er diese gefunden hatte, sah er auf meine Hand und sagte:

»Du tropfst.«

Ich brauchte einen Moment, bis ich begriff, was er meinte, dann legte ich die inzwischen wirklich unansehnliche Pizzaecke auf meinen Teller. Gut, dass es das letzte Stück der köstlichen Pizza Bufalo mit frischen Tomaten und Basilikum war, denn jetzt war mir der Appetit gründlich vergangen.

»Micha, hör mal …«, wollte ich die harte Wahrheit über unsere Beziehung nun endlich aussprechen, aber da fiel er mir schon ins Wort.

»Also zusammenziehen würde ich das nicht nennen. Aber ich müsste nicht immer in mein altes Kinderzimmer, wenn ich in Traunbach bin, und wir könnten bei der Gelegenheit ganz easy testen, ob wir uns auch in gemeinsamen vier Wänden gut verstehen.«

Gemeinsame vier Wände? Was redete der denn da? Wir hatten nichts gemeinsam. Schon gar nicht vier Wände! Das musste er doch inzwischen auch gemerkt haben. Das lief hier in eine ganz falsche Richtung.

Er nahm meine von der Pizza noch fettige Hand in seine und sah mir in die Augen. »Lissie, ich mag dich wirklich und wäre gerne in deiner Nähe.«

Ich schluckte trocken. So ein Mist. Ich bin nicht gut darin, anderen Menschen wehzutun. Und schon gar nicht denjenigen, die ich wirklich mag – wenn auch anders als sie mich.

»Hör mal, Micha«, sagte ich und zog meine Hand zurück, was dank des Olivenöls an meinen Fingern geschmeidiger vonstattenging, als ich befürchtet hatte.

»Ich mag dich ja auch, aber …«

»Aber?«

Dackelblick.

Ich nahm all meinen Mut zusammen und sagte zögerlich, in der Hoffnung, dass er meinen Wink mit dem Zaunpfahl direkt verstehen würde: »Ich glaube nicht, dass das gutgehen würde.« Weit gefehlt.

»Na gut«, sagte er und seufzte. »Dann wohne ich eben weiterhin in der Bude meiner Eltern. Vielleicht hast du Recht.« Ein verschmitztes Grinsen huschte über sein Gesicht. »Dann bleibt die Beziehung aufregender«, sagte er triumphierend.

Verdammt.

»Nein, Micha, ich meinte …«, aber bevor ich den Satz beenden konnte, piepte sein Smartphone, das neben seinem Teller auf dem Tisch lag. Er schaute auf das Display, leckte sich seinen pizzafettigen Zeigefinger ab, strich über den Bildschirm und grinste. Dann nahm er das Handy in die Hand und hielt es mir lachend entgegen.

»Schau mal. Wir haben ein Gruppenkostüm im Internet bestellt. Schneewittchen und die sieben Zwerge. Wir haben ausgelost, wer das Schneewittchen sein muss. Karsten hat verloren …«

Ich sah mir das Foto auf dem Smartphone an. Darauf war Karsten – einer der vielen Jungs aus meiner damaligen Dorfjugendclique – zu sehen, verkleidet mit einer schwarzen Zopfperücke, einer weißen Bluse, deren Ausschnitt er mit irgendetwas zu einem üppigen Dekolletee ausgestopft hatte, und einem roten, bodenlangen Rock. Noch konnte man seiner Miene nicht entnehmen, dass er sich vorstellen konnte, in diesem Kostüm an Karneval Spaß zu haben, denn auf seinem Gesicht war nicht der Ansatz eines Lächelns zu sehen. Aber mit ein paar Schoppen würde es schon werden.

»Willst du mal meins sehen?« Micha blätterte in dem digitalen Fotoalbum seines Smartphones und hielt es mir dann erneut unter die Nase. Ein männliches Karnevals-Katalog-Model, das in einer grünen Dreiviertelhose und einem gelben T-Shirt steckte, strahlte mich unter einem langen, künstlichen Zwergenbart an.

Ich nickte und sagte süffisant: »Sehr schön. Steht dir bestimmt ganz hervorragend. Und du kannst dich nächstes Jahr ohne Bart dafür mit roter Perücke als Pumuckl recyclen.«

Micha sah mich zufrieden an. »Ja, und damit wir morgen für die große Party fit sind, sollten wir jetzt schnell in die Heia.« Sein Grinsen verriet mir, dass er nicht vorhatte, das Bett zum Schlafen aufzusuchen.

Ich nickte. »Genau. Wir brauchen beide unseren Schlaf. Du zum Feiern, ich zum Arbeiten. Lass uns zahlen.«

Ich konnte ihm die Enttäuschung ansehen, aber er blieb wie immer ein Gentleman, nickte und fragte nach der Rechnung.

Und ich beschloss in diesem Moment, ihn einfach zu »ghosten«. Wenn er meine Andeutungen nicht verstand, musste ich mich einfach so rarmachen – quasi wie ein Geist -, dass er irgendwann doch selbst draufkommen würde, dass es mit uns vorbei war. Wer will schon eine Freundin, die nie da ist?

Da kam mir das Karnevalswochenende gerade recht und der Zufall zu Hilfe: in Form einer sexy Krankenschwester namens Michaela, die mit einigen Freundinnen meinen Maskenball im Grünen Kränzchen besuchte. Ich kannte die Mädels flüchtig. Sie waren ein paar Jahre jünger als ich und deshalb gefühlt für mich noch Kinder. Aber das ging mir mit allen Jüngeren so – man vergisst, dass die Kids von früher auch älter werden, plötzlich den Führerschein machen und auf Partys gehen. Einige von ihnen sind inzwischen schon verheiratet und haben selbst Kinder. Aber für mich bleiben sie weiterhin »die Kleinen« – wie ich wahrscheinlich für viele, die wiederum nur ein paar Jahre älter sind als ich, immer »die kleine Sommer« bleiben werde.

Die Kneipe war rappelvoll, das Geschäft brummte. Offenbar hatte ich mit dem Revival eines klassischen Maskenballs den Nerv des feierfreudigen Teils der Gemeinde getroffen. Im Saal spielte eine Band, und wirklich alle Gäste waren verkleidet gekommen – einige sogar klassisch mit einer Maske, die um Mitternacht feierlich fallen gelassen werden würde. In der Kneipe selbst tummelten sich diejenigen an den zahlreichen Stehtischen, die eine kurze Auszeit vom Tanzen und Singen brauchten. So auch Micha und seine Truppe. Mir entging nicht, dass die Zwerge – inklusive des Schneewittchens – keinen Hehl daraus machten, dass sie sich von den Krankenschwestern in ihren kurzen Röckchen gerne ein bisschen pflegen lassen würden. Für die, die auf skurrile Geschichten stehen, wäre das ein prima Plot für einen Softporno gewesen: »Heiße Schwestern mit großen Zwergen«. Oder so.

Ich will nicht lügen: Einen kleinen Stich verspürte ich doch im Herzen, als ich sah, wie Micha und Michaela miteinander zu flirten begannen. Ja, ich wollte Micha nicht mehr. Dass er aber so schnell eine andere fand, gefiel mir auch nicht so richtig. Aber man konnte nicht alles haben. Ich seufzte in mein geringeltes Matrosenhemd hinein, zog den 10er-Bembel unter dem Zapfhahn hervor und sah auf. Und in ein vertrautes Gesicht.

»Bekommt ein Bulle hier ein Bier?«, fragte mich Kommissar Loch und lächelte verschmitzt.

Er hatte sich wahrhaftig ebenfalls in ein Karnevalskostüm geworfen. Offensichtlich konnte er aber nicht ganz aus seiner Haut, denn er hatte ein Polizistenoutfit gewählt. Style: US-Cop. Das dunkelblaue Hemd saß wie angegossen und betonte seine durchtrainierte Brust, und auch die Hose hätte nicht enger sein dürfen, saß aber perfekt. Auf dem Kopf trug er eine passende Mütze, und an seinem Gürtel hingen lässig ein paar Spielzeughandschellen. Ich schluckte trocken und merkte, dass ich rot wurde. Ihn hatte ich heute Abend hier nicht erwartet, und er sah auch noch verdammt sexy aus in seiner Uniform. Meistens finde ich Männer, die nach allgemeiner Meinung als »schön« gelten, eher langweilig. Dagegen kann ich nicht verhehlen, dass ich Kerle in Uniform ziemlich attraktiv finde. Weniger Matrosen oder Piloten. Aber Polizisten … Und dabei hatte ich den Kommissar noch nie in Berufskleidung gesehen – weder in seiner richtigen Uniform noch in diesem US-Verschnitt. Und jetzt sah er darin so unverschämt gut aus, dass ich ihn am liebsten direkt hinter den Tresen gezerrt hätte.

»Hallo? Erde an Lissie? Ist was? Du, ich bin nicht im Dienst. Ich darf ein Bier trinken. Oder auch zwei – sollte ich denn heute noch eins von dir bekommen …« Sebastians Stimme riss mich aus meinem Tagtraum.

»Äh … ja, klar … Hallo erstmal. Irgendwie … Entschuldige, hier ist heute Abend ganz schön was los«, stammelte ich unbeholfen vor mich hin und fragte schnell nach: »Kölsch? Pils? Weizen?«

»Kölsch, bitte.«

»Kommt sofort.«

Ich hatte mich wieder einigermaßen gefangen, trat einen Schritt zur Seite und zapfte Sebastian ein Kölsch. Der Getränkehändler hatte mich damals ziemlich ungläubig angeschaut, als ich bei meiner Übernahme des Grünen Kränzchens darauf bestand, Kölsch ins Sortiment aufzunehmen. Ich schätze, er hätte keinen Pfifferling darauf gegeben, dass ich auch nur ein Fass in der hessischen Provinz verkaufen würde. Aber weit gefehlt. Das leichte, frische Bier kam auch bei den Hessen gut an, und so hatte ich es seitdem dauerhaft im Ausschank. Auch der Getränkehändler hatte inzwischen das Kopfschütteln gegen ein freudiges Grinsen getauscht, wenn er mir die Fässer brachte.

Ich stellte Sebastian sein Kölsch auf einen Deckel, nahm mein Wasserglas und prostete ihm zu. Er griff nach der Bierstange, trank einen großen Schluck, setze das Glas ab und grinste mich mit einem kleinen Bierbärtchen auf der Oberlippe an. Ich starrte ihn an und trank beherzt einen weiteren Schluck Wasser. Wie gerne hätte ich …

Ich drehte mich schnell um, da ich merkte, wie ich schon wieder die Gesichtsfarbe zu wechseln begann, und tauchte kurz hinter der Theke ab. Geschäftig tat ich so, als suchte ich irgendetwas im bodennahen Gläserschrank.

»Kann ich dir helfen?«, fragte eine Stimme von oben. Ich erschrak, schnellte hoch und knallte mit meinem Kopf gegen einen vollen Bembel, den Peter – mein bester Mann hinter der Theke – in der Hand und leider auch über meinem Kopf gehalten hatte. Ein heißer Schmerz durchzog meinen Schädel.

»Autsch. Verdammt!«, fluchte ich und griff mir an den Kopf.

Peter sah mich zerknirscht und besorgt an. »Ach herrje. Lissie, hast du dir wehgetan?«

Ich rieb mir immer noch den Kopf. Ich konnte schon spüren, wie sich die Haut wölbte. Das würde eine schöne Beule geben. Ich tastete noch einmal über den Haaransatz. Immerhin fühlte ich kein Blut. Das hätte mir jetzt gerade noch gefehlt, wenn ich wegen einer Platzwunde von einem vollen Bembel am Karnevalswochenende ins Krankenhaus gemusst hätte.

Ich winkte ab. »Schon gut. Wird wohl nur ne Beule. Ich geh mal kurz raus und packe etwas Schnee drauf.«

Ich ließ den Kommissar und meine schusselige Thekenkraft stehen und ging durch die Küche hinaus in die Kälte und in den angrenzenden Biergarten. Denn wie es sich zur fünften Jahreszeit gehörte, hatte Petrus für eisige Temperaturen und ein wenig kaltes Weiß gesorgt. Ich trat ein paar Schritte in den dunklen Biergarten, um mir aus einem Blumenkübel eine Hand voll Schnee für meine pochende Stirn zu holen, als ich merkwürdige Geräusche hörte. Ich blieb stehen und lauschte. An der Hauswand stand eine alte Bierbank, auf der sonst gerne die Raucher Platz nahmen, um eine Zigarette wegzuatmen. Während weite Teile des Biergartens wenigstens schwach durch das Licht der Kneipe erhellt wurden, lag diese Ecke in tiefer Finsternis. Und von dort kamen die Geräusche.

Mein Herz pochte plötzlich laut. Ich lauschte noch einmal. Ich hörte ein Schmatzen und Stöhnen. Ob sich vielleicht ein Tier etwas getan hatte und nun mit Schmerzen in der Kälte lag? Ach, so ein Quatsch. Wahrscheinlich hatte mir der Stoß mit dem schweren Bembel das Hirn vernebelt. Das Stöhnen wurde jetzt lauter. Und irgendwie … lustvoller? Meine Neugier gewann die Oberhand. Ich musste wissen, was da in meinem Biergarten los war. Ich trat vorsichtig einen Schritt näher. Langsam hatten sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt. Jemand atmete schwer, stöhnte. Ich machte einen weiteren Schritt. Jetzt konnte ich erkennen, was sich dort in der Dunkelheit abspielte. Oder besser: wer hier mit wem spielte. Micha saß mit halb heruntergelassener Zwergenhose auf der Bierbank, sein Gummizug-Bart baumelte an einem Ohr, und auf ihm saß Michaela, die Krankenschwester. Beide waren in eine heftige Knutscherei vertieft. Das kurze Stück Stoff des Krankenschwesterkostüms gab von Michaelas Hinterteil mehr frei als es verbarg. Aber ob die beiden schon komplett bei der Sache waren, konnte ich gottlob nicht erkennen. Dunkelheit sei Dank.

»Na, da schau her. Da hat er sich ja schnell getröstet«, dachte ich. Und merkte im gleichen Moment, dass ich es nicht nur gedacht, sondern laut ausgesprochen hatte.

Die innig ineinander vertieften M&Ms sahen erschrocken zu mir herüber.

»Lissie … ich …«, begann Micha unbeholfen zu stammeln.

Ich sah ihn böse an. »Wenn du jetzt sagst, ›Es ist nicht so, wie du denkst‹, beleidigst du mich noch mehr als mit der Tatsache, dass du hier mit nem Teenie rummachst!«

»Ich bin schon 21«, quiekte Michaela kleinlaut.

»Lissie … bitte … also …«, stammelte Micha, dem noch immer sein Bart auf halb acht am Ohr hing.

»Damit hätte sich dann ja geklärt, wo du künftig schläfst, wenn du in Traunbach bist«, sagte ich trocken und drehte mich um. Im Davongehen rief ich noch: »Vielleicht solltet ihr dort besser jetzt schon hingehen. Ihr holt euch hier ja noch den Tod. Das ist das bisschen Spaß nicht wert.«

Ich wartete die Antwort der beiden Liebenden nicht ab, öffnete die Hintertür, ging in die Küche und blieb stehen. Ich atmete einmal tief durch. Dann nahm ein breites Grinsen mein Gesicht ein. Ich machte die Becker-Faust und rief laut und erleichtert »Tschakka!«.

Peter kam herein und sah mich verwundert an. »Lissie, geht’s dir gut? Es tut mir wirklich leid, das mit dem Bembel.«

Freudestrahlend ging ich auf ihn zu, nahm seinen Kopf in beide Hände, küsste ihn auf die Wange und sagte: »Du hättest mir gar keinen größeren Gefallen tun können.«

Ich ließ den immer noch verwirrten Peter in der Küche stehen, ging fröhlich wieder in den Gastraum zurück und grinste Sebastian keck an, der immer noch an der Theke lehnte. »Trinkst du noch ein Kölsch? Ich glaube, jetzt trinke ich mal eins mit.«

Das Problem mit Micha war damit endgültig gelöst.

Natürlich ließ es sich Micha nicht nehmen, mich noch ein paar Mal anzurufen. Ich drückte ihn weg oder ließ die Mailbox drangehen. Nach seinem abendlichen Tête-à-Tête bekam mein Ghosting-Versuch mehr Schwung, als ich zu hoffen gewagt hatte. Ich glaube, er war wirklich zerknirscht, aber als ich auch nach seinem fünfzehnten Versuch nicht zurückrief, gab er auf.

Zufrieden betrachte ich mein Werk. Ich habe den letzten Stuhl abgewischt, und der Biergarten erstrahlt in neuem, frühlingsfrischem Glanz. Dann schaue ich auf die Uhr. Halb fünf. Jetzt muss ich mich aber beeilen. Um halb sieben holt mich Sebastian ab. Er will mich an meinem Ruhetag endlich mal zum Essen ausführen. Mein Herz klopft ein wenig schneller, wenn ich daran denke. Ich freue mich wie ein kleines Mädchen, das auf das Christkind wartet. Nur um mich abzulenken, habe ich heute schon das Bierkühlhaus geschrubbt, die Buchhaltung für diesen Monat erledigt und jetzt eben auch noch den Biergarten auf Vordermann gebracht. Ich bin etwas kaputt, aber froh, nicht den ganzen Tag darüber gegrübelt zu haben, was ich anziehen soll, wohin er mich ausführen wird und ob das nun heute mit mir und dem Kommissar was wird. Hoffentlich habe ich mir nicht zu viel zugemutet, so dass ich heute Abend am Tisch vor Erschöpfung einschlafe. Jetzt überlege ich doch, wohin wir zum Essen gehen werden. Er hat gesagt, ich soll mich »ein bisschen schick« machen. Was, bitte schön, ist denn »ein bisschen schick«?

Ich beschließe, darüber unter der Dusche nachzudenken, schließe die Kneipe ab und mache mich auf dem Weg nach Hause. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht.

Ein Date – ein Toter

Ich atme noch einmal tief ein und ziehe mit einem Ruck die Spanx-Unterhose über Bauch und Hüften. Dann atme ich aus und betrachte mich im Spiegel. Sexy ist anders. Aber die hautfarbene Stretchhose tut ihr Werk. Als ich das Grüne Kränzchen vor einem Jahr übernahm, hatte ich die Hoffnung, dass ich vor lauter Arbeit und Herumgerenne das Essen vergessen und mich – ganz nebenbei – des einen oder anderen lästigen Pfündchens entledigen würde. Allerdings hatte ich die Rechnung ohne unseren Koch gemacht, der mir Abend für Abend vor Dienstbeginn ein wunderbares Essen zauberte. Und da nicht nur die Tage mit den Vorbereitungen anstrengend waren, sondern auch der abendliche Service, hatte ich es nach kurzer Zeit aufgegeben, dazu »nein« zu sagen. Hauchzartes, krosses Schnitzel mit scharfer Chili-Paprika-Sauce und hausgeschnitzten Wedges. Lachsfilet auf frischem Stangenspargel mit neuen Kartoffeln und Zitronenbutter. Gegrillte Minihaxe mit selbstgeschnittenem Rieslingkraut und Kartoffelstampf. Zartes Roastbeef mit original hessischer Grüner Sauce und Bratkartoffeln.

Nein, man muss nicht nur zu dem stehen, was man seinen Gästen verkauft – man muss es auch selbst kosten und vor allem: lieben! Und ich liebe die Kreationen unseres Kochs. Abgenommen habe ich also nicht viel, dafür aber das Gefühl, dass das ständige Auf-Achse-Sein meinen Körper wenigstens etwas straffer gemacht hatte. Und so habe ich irgendwann beschlossen, dass ich so, wie ich bin, ganz o.k. bin. Nichtsdestotrotz: Für Sebastian will ich heute perfekt aussehen – da darf die Bauchweg-Unterwäsche gerne noch einen Zentimeter wegschummeln. Und außerdem beschützt sie mich vor mir selbst und vor übereilten Dummheiten. Wer einmal Bridget Jones – Schokolade zum Frühstück gesehen hat, weiß, was ich meine: Miederhöschen sind eben der Keuschheitsgürtel des 21. Jahrhunderts.

Fröhlich steige ich erst in eine schwarze Strumpfhose, dann in meinen roten Rock – den ich so liebe, da er perfekt den Farbton meiner roten Locken trifft -, ziehe mir ein schwarzes Blusenshirt über und schlüpfe in meine Pumps, die nur noch selten zum Einsatz kommen. In meinem Job könnte ich auf High Heels keinen Abend überstehen. Ich bewundere die Frauen, die ihren Tag durchgehend auf hohen Hacken bewältigen. Ich gehöre definitiv nicht dazu. Da ich aber davon ausgehe, dass ich den größten Teil des Abends gemütlich sitzend an einem Tisch verbringen werde, darf es heute mal das schickere Schuhwerk sein.

Gerade als ich den letzten Zug Lippenstift auf meinem Mund verteilt habe, klingelt es. Ich sehe auf meine Armbanduhr. Es ist eine Minute nach halb sieben. Perfekt. Wie heißt es so schön? Ein Gentleman kommt nicht zu spät, aber auch auf keinen Fall zu früh. Ich werfe einen zufriedenen Blick in den Spiegel und freue mich auf den Abend.

Wir sitzen auf der Terrasse des Golfclubs Zum alten Graben im Nachbarort Gundelheim. War der Golfsport früher nur den Reichen und Schönen – oder wenigstens den Reichen – vorbehalten, sprießen nun auch in der hessischen Idylle die Golfplätze wie Apfelbäume aus der Streuobstwiese. Vor zwei Jahren eröffnete diese schmucke Sportstätte, auf deren zugehöriger Restaurantterrasse Sebastian für uns einen Tisch reserviert hat. Im Gegensatz zu mir haben die Besitzer weniger Skrupel vor dem gemeinen Heizpilz, so dass der Außenbereich der Gastronomie an diesem Frühlingsmontag angenehm warm und somit bereits gut gefüllt ist. Und ich muss zugeben: Auch ich genieße es, diesen gemütlichen Abend dank Außenheizung an der frischen Luft verbringen zu können. Die Mehrzahl der anwesenden Gäste in ihren bunten Sportdressen kommt augenscheinlich gerade von einer Golfrunde und lässt den Tag mit Speis und Trank ausklingen.

»Ich hätte ja mit vielem gerechnet. Aber dass du mich in den Golfclub ausführst … Ich muss sagen, du überraschst mich immer wieder«, sage ich anerkennend zu Sebastian und nippe an meinem Glas hervorragendem Winzersekt, den mein Gastgeber uns als Aperitif bestellt hat.

Sebastian schaut mich zufrieden und ein bisschen erleichtert an – nun in der Gewissheit, die richtige Entscheidung für unser erstes richtiges Date getroffen zu haben.

»Na ja, ich hatte gehofft, dass es dir gefällt. Ein Kumpel hat mich mal hierhergeschleppt. Erst wollte ich nicht, aber dann war ich doch positiv überrascht: Ich fand das Essen lecker und die Atmosphäre entspannter als gedacht.«

Ich will gerade zustimmend nicken, als die Stimmen am Nachbartisch deutlich lauter werden.

»Beschissen hast du! Mir hätte der Sieg gehört. Das weißt du ganz genau! Hab doch wenigstens so viel Anstand im Leib, und gib es zu!«, schreit ein etwa zwei Meter großer Mitsechziger, der in einem – für meinen Geschmack – etwas zu grell-orangen Poloshirt und dunkelblauen langen Sporthosen steckt. Seine Kritik gilt wohl dem Herrn, der ihm gegenübersitzt. Marke Angeber. Das sehe ich sofort. Teures Lacoste-Polo mit passender Golfhose, Brilli-besetzte Uhr – könnte sogar eine Rolex sein -, Goldkettchen am Handgelenk und um den Hals. Ich schätze, er dürfte ungefähr im gleichen Alter sein wie sein Gegenüber, das ihn gerade anschreit. Er grinst nur schief, sieht seinen verbalen Gegner abfällig an und sagt im gleichen herablassenden Ton: »Harald, mach hier keinen Aufstand. Es war alles korrekt. Beruhige dich, trink noch ein Bier. Geht auf mich. Ein zweiter Platz ist doch auch nicht schlecht!«

»Pfff. Dass ich nicht lache! Von wegen alles korrekt!« Seine Stimme wird noch ein wenig lauter. Ganz offensichtlich möchte er, dass nicht nur sein Tisch, sondern auch die anderen Gäste hören, was er zu sagen hat.

»Du kannst mir doch nicht erzählen, dass der Gerlach 48 Nettopunkte gespielt hat! Selbst wenn der einen guten Tag hatte: Der hat doch niemals acht Birdies gespielt. Das wäre ja fast Profi-Niveau. Ich weiß nicht, was du damit bezwecken willst, Hans-Herrmann, dass er das Turnier gewinnt, aber rechtens war das nicht. Du hast ihn gezählt. Der Beschiss geht ganz allein auf deine Kappe! Und gerade du als unser Club-Präsident solltest doch darauf achten, dass es auf dem Platz fair zugeht. Das ist wirklich unfassbar!«

Während seiner Anschuldigungen ist der schreiende Harald aufgesprungen und fuchtelt wild mit den Armen vor dem Gesicht des von ihm beschuldigten Hans-Herrmann herum. Dieser sitzt nach wie vor ruhig am Tisch und sieht sich das Schauspiel scheinbar regungslos an, während er immer wieder gelassen an seinem Hefeweizen nippt. Dann sagt er mit einem leicht gereizten Unterton in der Stimme:

»Harald, du bist doch nur sauer, weil du knapp verloren hast. Und: Solange du nichts beweisen kannst, würde ich dir raten, besser dein Schandmaul zu halten. Das ist Rufmord, und ich werde mich zu wehren wissen.«

Er lässt seine Worte kurz im Raum stehen, bevor er in lapidarem Tonfall fortfährt: »Lieben wir das nicht an unserem Sport? Wenn er einen guten Tag hat, haut jeder mal ein super Ergebnis raus – selbst Dieter. Pech für dich, dass er eben gestern noch etwas besser war als du. Er hat das Turnier verdient gewonnen. Und jetzt Schluss damit.«

Der Club-Präsident nimmt erneut sein Weizenglas in die Hand und leert den Rest in einem Zug. Für ihn scheint die Diskussion damit beendet zu sein. Er hält das leere Glas weiter in der Hand und sieht sich suchend nach der Kellnerin um. Diese kommt soeben mit zwei Tellerchen auf die Terrasse und steuert geradewegs auf unseren Tisch zu.

»Süße, bringst du mir noch eins«, ruft er der Bedienung zu, die ihm im Vorbeigehen mit einem »Sehr gerne« antwortet. Ich kann ihr ansehen, dass sie sich über ein »Bitte« gefreut hätte, es aber andererseits von ihrem Club-Präsidenten auch nicht erwarten würde.