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Lydia Pointvogl

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Beschreibung

Als Eva ihren neuen Nachbarn Simon kennenlernt, ist dieser sicher, sie aus dem gemeinsamen Heimatdorf ihrer Kindheit zu kennen. Doch Eva erinnert sich nicht. Simon sucht die Nähe zu Eva und drängt sich zunehmend in ihr Leben, auch beruflich, was sich für sie zunächst als Glücksfall darstellt. Als Simon behauptet, sie hätte in ihrer Jugend etwas Schreckliches getan, macht er ihr ein absurdes Angebot, mit dem er sie regelrecht verfolgt. Sie soll seine Frau töten. Eva kann sich Simon nicht entziehen und gerät immer mehr unter Druck.

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Seitenzahl: 351

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Das Buch

Als Eva ihren neuen Nachbarn Simon kennenlernt, ist dieser sicher, sie aus dem gemeinsamen Heimatdorf ihrer Kindheit zu kennen. Doch Eva erinnert sich nicht.

Simon sucht die Nähe zu Eva und drängt sich zunehmend in ihr Leben, auch beruflich, was sich für sie zunächst als Glücksfall darstellt. Als Simon behauptet, sie hätte in ihrer Jugend etwas Schreckliches getan, macht er ihr ein absurdes Angebot, mit dem er sie regelrecht verfolgt. Sie soll seine Frau töten. Eva kann sich Simon nicht entziehen und gerät immer mehr unter Druck.

Die Autorin

Lydia Pointvogl war im Bereich Kommunikation in einem großen Unternehmen tätig und leitete zuletzt eine Kleinkunstbühne. Sie lebt in München und hat einen Sohn.

Absurdes Angebot ist ihr zweiter veröffentlichter Roman. Mit Falscher Schatten fand sie bereit begeisterte Leser.

Habe keine Angst vor der Kraft der Vergangenheit, auch wenn sie jeden Tag wiederkehrt.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

1. Kapitel

Mitte Januar. Es war eisig kalt und windig. Gefühlte Temperatur mindestens zehn Grad unter null. Eva kaufte sich eine warme Bettdecke und fuhr dann zum Kreisverwaltungsreferat, um ihren Personalausweis verlängern zu lassen.

Sie zog eine Nummer, setzte sich in den Wartebereich und rechnete sich aus, wie lange es dauern würde, bis sie an der Reihe war. Die Leute, die auf diesen unbequemen Stühlen um sie herum saßen, wirkten fahl, grau, müde – oder unruhig, gestresst, wippten mit einem Bein und blickten permanent auf die Anzeigentafel mit der aktuell aufgerufenen Nummer. Eine hübsche Frau, die ihr schräg gegenübersaß, fiel ihr auf, weil sie so verliebt vor sich hinlächelte. Der Mann neben ihr – er trug eine Strickmütze – betrachtete die Frau von der Seite. Anscheinend gefiel sie ihm. Dann sah er hoch und sein Blick traf Eva. Er schien irritiert zu sein und seine Augen wanderten unruhig im Raum umher, bis sie wieder an Eva hängen blieben. Sie hatte den Eindruck, den Mann von irgendwoher zu kennen, als hätte sie mit ihm schon mal was zu tun gehabt. Sie fragte sich, ob das etwas Angenehmes war, aber sie konnte sich nicht erinnern. Sie sah weg – er war ihr nicht besonders sympathisch. Dann wurde endlich ihre Nummer aufgerufen.

Als sie aus dem Antragszimmer kam, saß der Mann immer noch da und beobachtete sie, wie sie mit ihrer großen Einkaufstüte hantierte. Sie hoffte, dass er sie nicht ansprach, denn sie hatte keine Lust, mit diesem Mann in Kontakt zu treten. Sie drehte ihm demonstrativ den Rücken zu und verschwand zügig in Richtung Ausgang.

Es schneite. Schon wieder. Eva mochte keinen Schnee – das Weiß, das in der Stadt nach kurzer Zeit nur noch dreckig braun war; Schnee, der überall in Haufen herumlag und zu nichts nütze war. Sie flüchtete hin und wieder in eine Privatsauna, in der es viele Grünpflanzen gab, Wandgemälde mit Meer und Sonne sowie einen Whirlpool. Am liebsten wäre sie jetzt sofort dort hingefahren, sie hatte aber keine Saunasachen dabei. Frierend fuhr sie nach Hause und hatte das Gefühl, kurz davor zu stehen, in ein psychisches Loch zu fallen. Sie rief, wie schon seit langem – seit sehr vielen Jahren – immer die gleiche Nummer an, wenn es ihr schlecht ging: die Nummer einer psychologischen Praxis, die auch anonyme telefonische Beratungen durchführte. Eva bezeichnete diese Art der Beratung als Telefonseelsorge. Obwohl die Telefonate mit der psychologischen Praxis kostenpflichtig waren, leistete sich Eva diesen Luxus, weil sie sich nach diesen Gesprächen tatsächlich sehr oft besser fühlte. Die Telefonseelsorge der Kirche, die kostenlos gewesen wäre, hatte sie nie ausprobiert, da sie dachte, dass man dort Probleme vorwiegend unter religiösen Aspekten betrachten würde, was natürlich nicht stimmte. Aber das wusste Eva nicht.

„Hallo. Ich bin es. Eva.“

Man kannte sie. Alle Berater – es waren vier Psychologen, zwei Männer und zwei Frauen – hatten mit ihr schon gesprochen.

„Hallo Eva. Wie geht es dir?“ Am Apparat war der Mann mit der dunklen Stimme, der sich Leo nannte. Eva war sich sicher, dass er in Wirklichkeit anders hieß, doch das war unwichtig.

„Ich habe meinen Ausweis verlängern lassen.“

„Gut. Und sonst?“

„Es ist so kalt. Mir ist kalt. Innerlich. Ich könnte mich jetzt ins Bett legen und schlafen, jetzt um zwölf Uhr mittags.“

„Und warum tust du es nicht?“

„Ich bin doch keine alte Frau, die einen Mittagsschlaf braucht. Ich bin sechsunddreißig. Das ist doch abartig.“

„Das finde ich nicht. Du kannst es dir ruhig genehmigen, wenn es dir guttut“, sagte Leo besänftigend.

„Alle Leute arbeiten. Ich habe nichts zu tun. Gestern habe ich zwei Absagen bekommen. Ich habe keine Lust mehr, Bewerbungen zu verschicken. Es frustriert mich, nicht gebraucht zu werden, keine Kollegen zu haben, mich immer selbst beschäftigen zu müssen. Mein Kopf ist leer. Am liebsten würde ich mit diesem Scheißschädel gegen eine Wand donnern.“

„Vor Kurzem hast du mir gesagt, dass du dich hübsch findest. Du darfst deinen Schädel gar nirgends hindonnern lassen, den brauchen wir noch.“

„Wer soll denn dieses Wir sein? Da ist niemand. Ich bin ein einsamer Single, das weißt du. Für meine Freundinnen brauche ich nicht hübsch zu sein“, jammerte Eva und hoffte unbewusst, dass Leo sagen möge, wie schon öfter, sie fände sicher bald einen Mann, der zu ihr passen würde. Er sagte es nicht, stattdessen forderte er sie auf, ihre Bewerbungen kritisch unter die Lupe zu nehmen und mit anderen darüber zu reden. Und sie sollte sich doch mal wieder mit ihren Exkollegen treffen.

„Mit meinen Exkollegen? Ich habe sie schon Monate lange nicht mehr gesehen.“

„Dann wird es Zeit. Tausch dich mit ihnen aus. Das ist doch besser, als mit dem alten Leo zu quatschen.“

„Gott, bist du heute realistisch.“ Eva wusste, dass er recht hatte.

Sie zog ihre Bettdecke aus der Tüte und roch daran. Gott sei Dank stank sie nicht. Sie hatte vergessen, im Kaufhaus daran zu riechen.

Sie bezog das komplette Bett frisch und legte sich darauf. Sie sah sich um in ihrem Apartment, das gerade mal vierzig Quadratmeter groß war: Ein kleiner Flur, von dem aus es rechts ins Bad ging, dann in die winzige Küche, immerhin mit einem Fenster. Der Rest war der eigentliche Wohnraum mit einer Nische für das Bett. Sie liebte diese Wohnung nicht besonders, hätte gerne noch ein zweites Zimmer gehabt, aber das konnte sie sich momentan nicht leisten.

Eva war seit sieben Monaten arbeitslos. Als sie vor drei Jahren in das Apartment – in einem nicht ganz so guten Viertel Münchens – zog, sollte das nur vorübergehend sein, bis sie wieder eine richtige Wohnung gefunden haben würde. Aus der vorigen Wohnung zog sie aus, da diese komplett renoviert wurde und sie nicht bereit war, die geforderte Mieterhöhung zu zahlen. Nun hockte sie, so empfand sie es, in diesem Apartment fest – zwar mit schöner Einbauküche, aber ohne Bewegungsmöglichkeit. Manchmal fühlte sie sich wie im Gefängnis. Dann musste sie raus und irgendetwas erledigen oder nur um den Häuserblock laufen. Im Internet zu surfen, angeblich eine Lieblingsbeschäftigung von Arbeitslosen, befriedigte sie nicht – im Gegenteil: Das Internet war für sie als Webdesignerin und Softwaretrainerin ihr kreatives Metier. Sie sehnte sich danach, wieder zu arbeiten für Chefs, Kollegen, Kunden – Kunden, die es nicht mehr gab und wohl auch nicht mehr geben würde. An Selbständigkeit hatte sie zwar öfter gedacht, aber dabei blieb es, denn Eigenmarketing und Akquise waren nicht ihre Stärke.

Die nächsten Tage ging sie ihre Bewerbungsaktivitäten mit neuem Schwung an. Leo hatte sie motiviert, wieder ins Leben einzutauchen, anstatt sich sinnlosen Gedanken hinzugeben. Sie rief mehrere Exkollegen an, besprach mit ihnen ihre und deren Situation und erfuhr, dass in ihrer alten Firma mittlerweile niemand mehr mit Festanstellung arbeitete. Es gab nur noch Honoraraufträge und sie war nicht die Einzige, die bislang keinen Job gefunden hatte. Ihr Selbstmitleid relativierte sich ein wenig.

Sie verabredete sich mit zwei früheren Kolleginnen zu einer lustigen Frauenrunde. Und sie traf Robert. Mit ihm verbrachte sie einen besonders netten Abend – ein Kollege, mit dem sie sich intellektuell schon immer gut verstanden hatte. Als Mann war Robert für sie kein Thema, da er verheiratet war, und Eva sich mit keinem verheirateten Mann einlassen wollte. Robert brachte sie mit seinem Auto vom gemeinsamen Restaurantbesuch nach Hause und setzte sie vor dem Hauseingang ab. Sie gaben sich ein Küsschen und beschlossen, sich bald wieder zu treffen.

Gut gelaunt ging sie zum Fahrstuhl. Ein Mann stieg aus. Irgendeiner. Sie kannte ihn nicht, so wie sie kaum jemanden in dem Wohnhaus kannte. Es gab dreißig Parteien mit einer hohen Fluktuation. Ständig zogen Leute ein und aus, was Eva im Grunde unerträglich fand. Sie hätte lieber Nachbarn gehabt, mit denen man auch mal reden konnte. Das war nicht der Fall, alle lebten in der Anonymität.

Der Mann grüßte sie sehr freundlich: „Einen schönen guten Abend“ – und lächelte Eva an. Eva überraschte dies, denn mehr als „hallo“ sagte hier normalerweise kaum einer. Sie betrat ihr Apartment und lüftete. Die Luft empfand sie immer als stickig, wenn die Fenster mehrere Stunden geschlossen waren.

Es war bereits dreiundzwanzig Uhr, aber ihre Freundin Brigitte konnte sie um diese Uhrzeit ohne weiteres noch anrufen.

„Hier ist Eva. Bist du noch telefonfähig?“

„Hallo, du Nachtgeist. Was gibt's? Wie geht es dir?

„Normal. Nichts Besonderes.“

„Noch kein neuer Job in Sicht? Kein Lottogewinn? Keine interessanten Männerbekanntschaften?“

„Nichts dergleichen.“

„Weil du wahrscheinlich nur zu Hause sitzt.“ Aus Brigittes Sicht war Eva zu wenig aktiv und oft blind für das, was sich in ihrer unmittelbaren Umgebung abspielte, nicht offen für Chancen, die sich ihr boten.

„Stimmt nicht“, verteidigte sich Eva. „Ich habe mich gerade mit einem Exkollegen getroffen und ... ein freundlicher Mann ist mir beim Fahrstuhl begegnet.“

„Habt ihr euch unterhalten?“

„Meinst du den Mann vom Fahrstuhl?“

„Ja. Dass du dich mit deinem Exkollegen unterhalten hast, ist mir schon klar.“

„Nein, das nicht. Er hat nur sehr nett gegrüßt. Irgendwie kam er mir bekannt vor.“

„Und?“

„Er sah mich so – wie soll ich sagen? – direkt an.“

„Und weiter?“

„Nichts weiter.“

„Das nächste Mal sprichst du ihn einfach an, im Sinne von ‚kennen wir uns nicht von irgendwoher’?“

„Ich weiß nicht. Wahrscheinlich bilde ich mir das sowieso nur ein.“

„Eine Frage und du weißt Bescheid. Und wenn du dich getäuscht haben solltest ... ja und? Vielleicht ergibt sich ein Gespräch. Ist doch spannend.“

„So spannend nun auch wieder nicht.“

„Seit einer Ewigkeit höre ich von dir, dass du gerne mal wieder einen Mann kennenlernen würdest. Und wenn du die Chance hast, dann lässt du sie dir entgehen.“

„Das war doch kein potentieller Partner, sondern nur eine Treppenhausbegegnung. Ich bitte dich!“ Dann erzählte Eva, dass sie ein neues Kartoffelgratin-Rezept ausprobiert hatte und von ihrem Treffen mit Robert. Und stellte dabei fest, dass ihre Erlebnisse kaum erwähnenswert waren, aber etwas Aufregenderes fand in ihrem Leben momentan nicht statt. „Und was gibt es bei dir Neues?“

„Mein lieber Sohn wollte mal wieder nicht in die Schule gehen. Irgendwas stimmt in dieser Klasse nicht. Ich muss mal mit seinem Klassenlehrer reden.“

Brigitte war geschieden und auch Single. Ihr Sohn ging in die erste Klasse. Eva und Brigitte lernten sich in einem Kurs für Bildhauerei kennen. Beide wollten mit ihren Objekten Geld verdienen, indem sie sie im Internet anboten. Doch sie verkauften nichts, gar nichts, nicht eine einzige Figur. Schließlich standen sie mit ihrer wohl doch nicht so großen Kunst auf einem Flohmarkt. In gewisser Weise schmolz sie ihr künstlerischer Misserfolg zusammen und sie wurden gute Freundinnen.

„Bei mir gibt’s nichts Neues“ Brigitte zögert kurz. „Noch nicht. Wir müssen uns bald treffen, dann können wir ausgiebig quatschen.“

„Hast du jemanden kennengelernt?“

„Nicht wirklich, aber … ach das erzähle ich dir, wenn wir uns sehen.“

„Besuche mich doch demnächst. Ich bin neugierig. “

„Ich ruf dich an. Aber jetzt muss ich ins Bett. Gute Nacht.“

Eva hatte den Müll hinuntergetragen. Eigentlich lohnte es sich kaum, aber es war ein Grund, sich ein wenig zu bewegen. Sie lief gerade in den vierten Stock zu ihrem Apartment hoch, da kam ihr wieder der Mann entgegen, der sie neulich so freundlich – ein wenig zu freundlich, so empfand sie das im Nachhinein – gegrüßt hatte, gut gekleidet mit Anzug und Krawatte und einem hellen Schal; einen Mantel im Arm. Sie war sich sicher, dass es sich um denselben Mann handelte. Es war ein kurzer Moment, bevor sie aneinander vorbeiliefen, in dem sie beide ihre Schritte verlangsamten, fast zeitgleich „hallo“ sagten und sich anlächelten. Eva fragte spontan, ermuntert durch Brigittes Motivation, ob es sein könnte, dass sie sich von irgendwoher kannten.

„Wir sind uns schon mal begegnet, in der Tat.“

„Ach ja?“ Eva war erstaunt. Sie hatte sich also nicht getäuscht. „Und wo?“

„Im Warteraum des Kreisverwaltungsreferats. Sie hatten eine riesige Einkaufstüte dabei.

„Im Kreisverwaltungsreferat?“

„Wahrscheinlich erinnern Sie sich nicht. Ich hatte eine dicke Strickmütze auf.“

„Das waren Sie? Der Mann mit der Strickmütze?“

„Ja. Ich hatte keine Lust, sie abzunehmen. Mich fror.“

„Sie haben mich – es tut mir leid, dass ich das sagen muss – etwas eindringlich angesehen.“

„Das war nicht meine Absicht.“

„Nicht so schlimm“, beschwichtigte Eva. Sie betrachtete ihn kritisch und interessiert und wunderte sich, dass sie nun mit diesem Mann hier im Treppenhaus stand. „Entschuldigen Sie, aber darf ich Sie fragen, was Sie hier tun? Sie waren doch vor ein paar Tagen schon mal da. Es war später Abend und Sie kamen gerade aus dem Aufzug, als ich einsteigen wollte. Das waren doch Sie, oder?“

„Ja, das war ich. Ich denke, wir werden uns in Zukunft noch öfter sehen. Ich bin hier gerade eingezogen. Ich heiße Schmidt.“ Er reichte ihr die Hand.

Eva stellte sich als „Hanke“ vor. „Herzlich willkommen. In welchem Stockwerk wohnen Sie?“

„Im vierten, wie Sie.“

„Woher wissen Sie das?“

„Vom Türschild.“

„Ach so?“

„Ich wohne gegenüber von Ihnen“, sagte er. „Aber – sollten wir uns nicht duzen, wenn wir schon quasi Tür an Tür wohnen? Ich bin Simon.“

Eva fühlte sich zwar ein wenig überrumpelt, wollte aber keinen abweisenden Eindruck hinterlassen, zumal sie sich immer gewünscht hatte, mit einem Nachbarn in Kontakt zu kommen. Aber ob es ausgerechnet dieser Mann sein musste? Jetzt, wo sie mit ihm sprach, war er ihr fast ein wenig unheimlich. Er hatte so stechend hellblaue Augen, die einen durchbohrten. Dennoch ließ sie sich auf seinen Vorschlag ein. „Ich bin Eva.“

„Hallo Eva.“ Wieder reichte er ihr die Hand. „Auf eine gute Nachbarschaft.“

Mal sehen, dachte sich Eva und wiederholte seine Begrüßungsformel: „Auf eine gute Nachbarschaft.“

Es dauerte nicht lange, genau zwei Tage, und sie begegneten sich schon wieder. Simon war dabei, mehrere zerschnittene Kartons und anderen Abfall zu den Mülltonnen zu bringen, als Eva mit Einkaufstüten nach Hause kam, und sie im Erdgeschoss aufeinandertrafen.

„Guten Abend Eva. Wenn man umzieht, kann man viel Überflüssiges wegwerfen“, sagte Simon und setzte die Kartons mitten im Durchgang ab, um besser mit Eva reden zu können. „Warst du einkaufen?“ Er sah ihr direkt und tief in die Augen.

„Ja, ich war einkaufen. Hallo.“ Simons Blick war ihr in diesem Moment viel zu intensiv. Sie drehte sich um zu ihrem Briefkasten und sah ihre Post durch.

Er machte keine Anstalten, seinen Müll wegzutragen, sondern wartete bis Eva wieder bereit war, mit ihm zu reden. Das war sie aber nicht.

„Ich muss hoch“, sagte sie. „Darf ich bitte durch?“

„Ja klar.“ Er zog die Kartons beiseite und ließ sie vorbeigehen, wobei er sie von oben bis unten betrachtete.

Eva spürte, als sie zum Aufzug ging, dass sein Blick an ihr kleben blieb und sie dachte: Eigentlich müsste ich es gut finden, wenn mir ein Mann nachschaut. Aber sie fühlte sich unwohl.

Sie sperrte ihre Wohnungstür auf und warf sie mit einem Fuß zu. „Komischer Typ“, murmelte sie und trug ihre Einkäufe in die Küche. Obst, Gemüse, Milch und Brot – das Nötigste für die nächsten Tage.

Es klingelte. Sie war sich sicher, dass er es war.

Genervt öffnete sie die Tür, aber da war niemand.

„Wer ist da?“, fragte sie dann in die Gegensprechanlage.

„Hier ist Brigitte.“

Eva hatte vergessen, dass sich Brigitte für achtzehn Uhr angekündigt hatte, und drückte auf den Öffner. Sie ließ die Tür offen, während sie ihre dicken Winterstiefel auszog. Sie hörte Lärm von gegenüber. Vermutlich stellte dieser Simon irgendwelche Sachen auf den Flur. Neugierig und vorsichtig lugte sie durch den Türspalt und beobachtete, wie er einen durchsichtigen Plastiksack mit Kleidung vor die Tür zerrte. Sie identifizierte die Sachen eindeutig als Frauenkleider. Sogar einen BH konnte sie erkennen.

Da kam Brigitte. „Komm rein!“ Eva winkte ihr mit einer Geste, dass sie sich beeilen solle.

„Schau“, flüsterte Eva, „gegenüber ist der Typ eingezogen, der mich so freundlich gegrüßt hat. Er sortiert Frauenkleidung aus. Komisch, oder?“

Brigitte warf einen Blick auf den Sack und zuckte mit den Achseln. „Wahrscheinlich hat er sich getrennt und bringt nun die Sachen seiner Ex weg. Ist das wichtig? Du stehst auf ihn. Habe ich recht?“

„Nein, er ist nicht mein Typ. Aber er schaut mich so intensiv an.“

„Du wirst ihm gefallen. Übrigens: Ich habe eine Flasche Sekt mitgebracht. Die killen wir jetzt.“

„Super.“

Sie öffneten die Flasche und machten es sich auf Evas Bett bequem, das bei guten Freunden auch als Sitzmöbel diente. Für ein Sofa war in dem Apartment kein Platz.

„Was gibt es zu berichten?“, fragte Eva. „Du hast vielversprechende Andeutungen gemacht.“

„Eva, ich glaube – ja ich glaube es wirklich – ich habe mich verliebt.“ Brigitte umarmte ihre Freundin stürmisch mit dem halbvollen Glas in der Hand.

„Pass auf, du verschüttest den Sekt.“

„Ja, ja. Schenk lieber nach.“

Eva nahm einen großen Schluck und füllte die Gläser.

„Er ist Fahrradkurier. Er kam zu uns in die Firma, um einen Umschlag abzugeben, irgendwas für den Chef, der den Empfang persönlich hätte unterschreiben müssen. Aber weder mein Chef noch seine Sekretärin waren da.“

Brigitte verschluckte sich und musste kräftig husten. Hin und wieder wurden in ihrer Abteilung Fahrradkuriere eingesetzt. Brigitte kannte einige von ihnen, aber den Neuen noch nicht.

„Er wollte, dass ich die Empfangsbestätigung unterzeichne, aber ich habe keine Berechtigung. Er sagte, er würde kurz warten … und dann hat er mich so lieb angelächelt. Wir haben uns angesehen. Und wie! Es war Liebe auf den ersten Blick – nun ja Liebe vielleicht nicht, aber eine große Anziehung.“ Brigitte schwärmte noch eine Weile und konnte das bereits geplante private Treffen mit ihrem Fahrradkurier kaum erwarten.

Eva hörte die Geschichte, nicht mit Neid, aber mit einer gewissen Enttäuschung, dass ihr das nie passierte. „Ich werde mich nie mehr verlieben“, jammerte sie wie eine gerade verlassene Frau, die immer verlassen wird.

Dabei war es ganz und gar nicht so. Ihren letzten Freund hatte sie verlassen und den davor auch. Sie konnte ihre Beziehungen meistens nicht lange halten. Entweder langweilten sie die Männer nach kurzer Zeit oder sie empfand sie als zu aufdringlich. Oder die Beziehungen waren oberflächlich und somit uninteressant. Eva tat sich schwer, sich locker, ohne große Ansprüche auf einen Mann einzulassen und abzuwarten, wie es weitergehen würde und wie man sich zusammen entwickelte. Bevor sie sich auf eine engere Bindung einstellen hätte können, war sie schon wieder dabei abzuspringen, wenn dieses oder jenes nicht passte. Sie hatte Angst vor zu großer Nähe, auch wenn ihr das nicht bewusst war. Am längsten und besten funktionierte es mit Männern, die ähnlich ambivalent gelagert waren wie sie, die mit Nähe und Distanz spielten, die letztendlich genau das gleiche Problem hatten, nämlich sich auf einen Menschen nicht wirklich einlassen zu können. Praktisch sah das immer ähnlich aus: Man rief sich regelmäßig an, hatte aber nie regelmäßig Zeit oder Lust, sich zu treffen. Und es achteten beide sehr genau darauf, dass sich die gegenseitigen Zu- und Absagen die Waage hielten. Es durfte nie ganz sicher sein, ob man füreinander da war und wenn, dann musste das Füreinander bald wieder zum Auseinander werden. Ein Spiel mit einem Reiz, der sich aus Bedürfnissen und Zweifeln nährte.

Brigitte beobachtete dieses Arrangement in Evas Beziehungen schon lange und redete wie ein Weltmeister auf sie ein, dass sie sich endlich mal auf einen Mann richtig einlassen sollte. Vergeblich. Eva verstand zwar, was Brigitte meinte, fühlte es aber nicht. Die Forderung klang in ihren Ohren wie ein Vortrag, ein interessanter zwar, aber eben nur wie Theorie, wie Worte, die man versteht, die aber mit dem eigenen Leben nichts zu tun haben.

„Und was tut sich bei dir?“, frage Brigitte.

„Ich habe zwei Bewerbungen weggeschickt. Und ich habe einen komischen Nachbarn. Das weißt du ja schon.“

„Wie sieht er denn aus?“

„Normal.“

„Gut oder eher nicht gut?“

„Das kann ich nicht sagen. Neutral.“

„Neutral? Was soll das denn sein?“

„Ich weiß es nicht. Ich spüre den Sekt“, lallte Eva und kicherte.

„Also dann Prost.“ Auch Brigitte war schon angeheitert.

„Ich habe noch eine Flasche hier. Sollen wir sie noch öffnen?“, fragte Eva.

„Gerne. Ich bin in guter Stimmung.“

Eva holte die Flasche, gab sie Brigitte zum Öffnen und legte flotte Musik auf.

„Noch mal prosit“, lachte Brigitte. „Auf die Liebe und den Sex.“

„Welchen Sex?“

„Na, den hier“, sagte Brigitte, küsste Eva auf den Mund und fasste ihr an den Busen.

„Hey, was wird das?“

„Was es wird.“

„Lass das. Ich bin nicht lesbisch.“

„Ich auch nicht. Aber man kann doch auch mal unter Frauen Spaß haben.“

„So siehst du das.“

„Genau.“ Brigitte trank ihr Glas leer und kicherte. „Du darfst auch meinen Busen anfassen, wenn du willst. Ich trage heute nicht mal einen BH.“

Eva stellte ihr Glas ab und griff mit beiden Händen nach Brigittes Brüsten und befühlte sie kurz.

„Hast du es schon mal mit einer Frau gemacht?“, fragte Brigitte.

„Nein. Und du?“

„Ich auch nicht.“

„Hättest du Lust?“

„Oh Gott, nein! Du willst damit hoffentlich nicht sagen, dass du jetzt mit mir ... oder?“, fragte Eva, nicht wirklich entsetzt, denn dazu war sie bereits zu betrunken.

„Nein, ich steh wirklich nicht auf Frauen, auch nicht auf dich?“

Sie leerten die zweite Flasche nur noch zur Hälfte. Brigitte fuhr nicht mehr nach Hause.

Der nächste Morgen war für Brigitte bitter und für Eva ernüchternd – nicht nur weil der Alkohol seine Spuren hinterließ. Brigitte schlief nicht besonders gut neben Eva, ihr war kotzübel vom Alkohol. Trotzdem stand sie um sechs Uhr auf, als der Wecker klingelte. Sie musste noch heim, frische Klamotten anziehen, bevor sie zur Arbeit fuhr. Ihr Sohn war bei ihrer Mutter, sonst wäre sie die Nacht über nicht weggeblieben.

Eva schlief bis acht Uhr, empfand ihre Situation – wieder allein in der Wohnung zu sein, sich um Abwechslung und um Arbeit bemühen zu müssen – nur noch trostlos. Am liebsten wäre sie gar nicht aufgestanden. Wozu auch? Nichts und niemand wartete auf sie. Ein Abend, wie mit Brigitte, war zwar ein netter Spaß unter Alkoholeinfluss, änderte aber nichts an ihrem Leben, das ihr momentan leer und sinnlos erschien.

Dann klingelte es an der Tür. Sie quälte sich hoch. Sie vermutete, dass ein Paket kommen würde, denn sie hatte bei EBay eine Tasche ersteigert. Sie zog sich einen Bademantel über und öffnete die Tür. Vor ihr stand Simon frisch gestylt im Nadelstreifenanzug.

„Oh! Guten Morgen. Habe ich dich aufgeweckt? Das wollte ich nicht. Es tut mir leid.“

„Schon gut. Ich war schon wach. Was gibt’s?“

„Könntest du mir bitte Kaffee borgen? Mein Haushalt ist noch nicht perfekt.“ Er streckte ihr einen Kaffeefilter entgegen.

„Natürlich. Warte.“ Sie ließ Simon an der Tür stehen und füllte den Kaffeefilter mit vier Teelöffeln Pulver.

„Hier, bitte.“

„Danke. Wenn du mal was brauchst ...“

„... dann melde ich mich. Schönen Tag.“ Sie drückte ihm die Tür vor der Nase zu. Es war ihr unangenehm, dass er sie in diesem verschlafenen und zerzausten Zustand sah.

Eva duschte. Dann fühlte sie sich besser. Sie bereitete sich das Frühstück. Während sie das Kaffeepulver in ihren Filter schüttete, überlegte sie, ob das mit dem Kaffee eben nicht nur ein Trick war, um sie zu belästigen – aber warum sollte er das? – oder hatte er tatsächlich ein Auge auf sie geworfen? Letzteres glaubte sie jedoch nicht wirklich. Männer, die sich für eine Frau interessieren, strahlen etwas anderes aus, sind ein wenig unsicher, werden rot oder plustern sich übermäßig auf, überlegte sie. Simon war aber ganz entspannt.

Es klingelte erneut, als sie zu frühstücken begann. Unwillkürlich schreckte sie hoch und stieß dabei ihre Kaffeetasse um.

„Mist verdammter. Wenn das schon wieder dieser Scheiß Simon ist ...“, murmelte sie, während sie den sich auf ihrem Tisch ausbreitenden Kaffee mit dem Spültuch aufzufangen versuchte.

Wieder klingelte es. Mit dem Spültuch in der Hand und ziemlich verärgert lief sie zur Tür. Wie sie es sich dachte: es war Simon.

„Was brauchst du jetzt? Vielleicht Milch? Wegen dir habe ich die Kaffeetasse umgeschüttet“, fauchte sie.

„Wegen mir?“

„Ja genau. Weil du noch mal geklingelt hast!“ Eva merkte, dass ihre Aggression unangemessen war und korrigierte sich. „Nein, entschuldige. Natürlich kannst du Milch haben. Ich bin nur erschrocken.“

„Ich wollte dich gewiss nicht erschrecken“, sagte Simon besänftigend. „Ich brauche keine Milch und auch sonst nichts. Ich will dich vielmehr fragen, ob du nicht Lust hättest, heute Abend zu mir zu kommen, auf ein Glas Wein, damit wir uns nachbarschaftlich ein bisschen kennenlernen können. Ich würde mich freuen.“

„Hm.“ Eva hatte wenig Lust, war aber von der Einladung trotzdem positiv überrascht. „Wann hast du denn gedacht?“

„Um acht?“ Simon zog die Augenbrauen fragend hoch.

„Gut. Aber nur auf ein Glas.“

Der Tag verlief, wie sie es befürchtet hatte: Ein Unglück kommt selten allein. Im Briefkasten fand sie zurückgesandte Bewerbungsunterlagen von genau der Firma, von der sie dachte, dass ihr Profil zur Ausschreibung perfekt gepasst hätte. In Momenten wie diesen, wo die Frustration ihren Körper überzog wie eine Hülle aus Zellophan, wo ihr das Atmen schwerfiel und sie kurz davor war, deprimiert zusammenzuklappen, musste sie etwas tun, das sie ablenkte. Zum Beispiel Telefonjoker spielen. Als Telefonjoker diente irgendjemand in der Stadt und der war dann fällig. Hierzu wählte sie eine x-beliebige Nummer und erzählte dem Menschen am anderen Ende der Leitung eine ihrer Geschichten – Geschichten, die sie sich vor langer Zeit für diese Telefonate ausgedacht hatte, um das Leben zu spüren, wie sie das nannte, zu spüren, dass jemand auf sie reagierte, möglichst betroffen oder wenigstens verunsichert, auf ihre Phantasien und Lügen, die für die Angerufenen stets Unangenehmes bedeuteten.

Sie wählte 3 5 8 0 2 1. Da keine Verbindung zustande kam, setzte sie noch eine 5 nach. Und tatsächlich, die Nummer existierte.

„Morawitz“, meldete sich eine Frau.

Eva schätzte, dass sie etwa zwischen vierzig und fünfzig Jahre alt war.

„Polizeiinspektion vierzehn. Guten Tag Frau Morawitz. Hier spricht Hauptkommissarin Burgbender“, sagte Eva ernst und betont.

„Guten Tag“, sagte die Frau zögerlich.

„Frau Morawitz, wissen Sie, wo sich ihr Mann befindet?“

„In der Arbeit nehme ich an.“

Bingo, dachte sich Eva. Sie ist verheiratet. Nun kann es losgehen.

„Ihr Mann ist bei uns in der Polizeiinspektion vierzehn. Wir haben ihn aufgegriffen. Er war – wie soll ich sagen – in einer nicht so guten Verfassung.“

„Um Gottes Willen, was ist denn passiert?“

„Hat er öfter mal Orientierungsschwierigkeiten, Kreislaufprobleme oder andere Beeinträchtigungen?“, fragte Eva sachlich mit neutraler Stimme.

„Nein, warum? Jetzt sagen Sie schon, was mit ihm ist.“

„Das wird Ihnen nicht gefallen, Frau Morawitz. Eine Thailänderin hat ihn wahrscheinlich ausgenommen und ihm vielleicht eine Substanz verabreicht und ihn irgendwie auf die Straße befördert. Jedenfalls stand er vor einer Haustür und ist etwas lautstark geworden, deshalb hat man uns geholt. Als wir mit ihm reden wollten, merkten wir, dass er leicht torkelte und etwas verwirrt war. Er sagte, dass die Chicheng, eine Thailänderin, ihn am – sie wissen schon – könne und noch einige andere negative Dinge. Sagt ihnen der Name Chicheng etwas?“

„Nein. Nie gehört. Also ich kann mir das nicht vorstellen, dass Peter ... mitten am Tag ... das muss eine Verwechslung sein.“

„Frau Morawitz, am besten wäre es, wenn sie herkommen könnten, um die Sache aufzuklären. Leider haben wir in dem Haus keine Frau Chicheng ausfindig machen können und ihr Mann hat die Tür leicht beschädigt, nur ein paar Kratzer, aber wir würden den Fall gerne abschließen. Ich bin mir nicht sicher, ob ihr Mann richtig auskunftsfähig ist.“

„Glauben Sie, er braucht einen Arzt? Wenn es denn wirklich mein Mann ist. Kann ich ihn sprechen?“

Scheiße, dachte sich Eva. Immer wollen sie mit ihren geliebten Göttergatten sprechen. Da gibt’s nichts zu sprechen, du Tussi.

„Er ist gerade auf der Toilette. Ich frage mal meinen Kollegen. ‚Anton, schau mal bitte nach Peter Morawitz, wie lange der noch braucht. Seine Frau ist am Telefon und möchte ihn sprechen‘.“ Eva tat so, als ob jemand im Hintergrund gehen würde. Das imitierte sie, indem sie mit der Hand auf den Tisch klopfte, immer sachter, so dass es sich anhörte, als würde sich jemand aus dem Zimmer entfernen. Um das zu üben, hatte sie sich selbst angerufen und die Versuche auf den Anrufbeantworter aufgenommen, so lange, bis es sich wirklichkeitsgetreu anhörte.

„Hallo Frau Morawitz, sind Sie noch dran?“

„Ja.“

„Bitte kommen Sie für das Protokoll vorbei. Dann können sie sich auch um Ihren Mann kümmern?“

„Gut. Es bleibt mir wohl nichts anderes übrig.“

Eva öffnete ihre Tür zum Bad.

„Mein Kollege gibt mir gerade ein Zeichen. Ihr Mann braucht wohl noch ein wenig länger auf der Toilette.“

„Hm“, seufzte Frau Morawitz.

„Sie wissen, wo die Polizeiinspektion vierzehn ist? In der Beethovenstraße Hausnummer fünf, in der Nähe der Theresienwiese.“

„Ja, ich weiß, wo das ist. Mit wem spreche ich gleich wieder?“

„Mit der Hauptkommissarin Frau Burgbender. Bitte vergessen Sie nicht, ihren Ausweis mitzubringen. Wie lange werden sie in etwa brauchen?“

„Eine halbe Stunde.“

„Gut. Dann bis gleich, Frau Morawitz. Auf Wiederhören.“

„Wiederhören“ hörte Eva und ein „Äh“ hinterher, aber sie legte auf. Die Mission war erfüllt.

„Hei, ja, super!“, jauchzte Eva und boxte mit der Faust in die Luft, als hätte sie bei einer Verlosung den Hauptgewinn gezogen. Die werden alle ganz schön blöd schauen auf der Polizeiinspektion. Das hat perfekt geklappt, dachte sie sich. Sie war immer wieder erstaunt, wie gutgläubig die Menschen waren, wenn es um ihre Liebsten ging, wenn sie sich Sorgen machten. Schade, fand Eva nur, dass sie den Fortgang der Geschichten meist nicht mitbekam. Vielleicht käme in diesem Fall an den Tag, dass der Mann fremdging. Könnte ja sein, wenn Frau Morawitz überlegte, wer die Anruferin gewesen sein könnte: vielleicht eine Geliebte? Das Vertrauen wäre dann dahin.

Eva fühlte sich besser. Sie warf die an sie zurückgeschickten Bewerbungsunterlagen auf den Stapel ihrer nicht erledigten Vorgänge, zog sich ihre wärmste Winterjacke an, die gefütterten Stiefel und machte einen Spaziergang. Manchmal fuhr sie nach solchen Telefonaten an den Ort des Geschehens, um die Szenerie zu beobachten und ihre Darsteller zu erleben. Besonders spannend war das, wenn sie jemanden irgendwo hinbestellte, um fingierte Briefe abzuholen. Bei dem jetzigen Fall jedoch lohnte sich kein persönliches Erscheinen. Vor einem Polizeigebäude zu warten bis eine verärgerte Frau herauskam – das war uninteressant.

Die Gegend, in der sie wohnte, unweit der Justizvollzugsanstalt, gefiel ihr nicht. Eine Wohnsiedlung für weniger gut Betuchte, mit reihenweisen Wohnblöcken, dazwischen Grünflächen mit ein paar Bäumen. Die Häuser einfach, ordentlich, die Straßen sauber; keine asoziale Gegend, das nicht, aber langweilig, öde. Man wohnte hier nicht, man war untergebracht. Es gab einen Supermarkt, eine Apotheke, einen Back-Shop, einen Frisör und ein paar dunkelrustikale Gaststätten, die sie niemals betreten würde. Die Umgebung hier hatte auf sie eine bedrückende Wirkung. Es gab keine Kunst und Kreativität, nichts Intellektuelles. Sie fühlte sich dort fremd und isoliert. Da gehörte sie nicht hin.

Sie brach den Spaziergang ab und fuhr nach Haidhausen – ein besseres Viertel mit Boutiquen, Cafés, Schuhläden und was der gepflegte Mensch so brauchte. Sie betrachtete den Schmuck im Schaufenster eines modernen Ladens. Dabei fiel ihr auf, dass sie schon sehr lange keinen neuen Schmuck mehr gekauft hatte, auch nicht, als sie noch ganz gut verdient hatte. In ihrem Kopf drängte sich das Wort „schmucklos“ und so fühlte sie sich auch plötzlich: reduziert, sachlich, auf das Notwendigste beschränkt – farblos, unauffällig. Genau. Ich bin richtig uninteressant geworden; ich habe nichts mehr zu bieten, stellte sie fest. Ich trage Allerweltsklamotten, wohne in einem kleinen, doofen Apartment in einer trostlosen Wohngegend. Alles passt zusammen. Rein äußerlich. Aber eigentlich bin ich doch jemand anderes – war jemand anderes.

Und das war sie auch. Als uninteressant hätten sie ihre, zugegebenermaßen nicht allzu vielen Freunde nicht bezeichnet, vielmehr als introvertiert, mit einer gelegentlichen – wenn sie gerade gut drauf war – charmanten, aber nie übertriebenen Selbstdarstellung, die auch kippen konnte in spitze Bemerkungen. Sie war hübsch, hatte eine gute Figur, lange Beine und braune, schulterlange Haare. Ihre dunkelgrauen Augen konnte sie, wenn sie dazu Lust hatte, vortrefflich schminken.

Eva wäre am liebsten in den Laden hineingegangen und hätte sich eine der schönen Ketten oder Ringe, die sie im Fenster betrachtete, gekauft. Das tat sie nicht, denn sie war vernünftig. Dafür hatte sie nun wirklich kein Geld. Stattdessen sah sie durch die Glastür ins Innere des Ladens. Ein Mann stand mit dem Rücken zu ihr vor dem Verkaufstresen. Er drehte sich zur Seite und Eva konnte ihn erkennen. Das war doch – sie konnte es kaum glauben – ihr letzter Freund: Stefan. Kaufte er etwa Schmuck für seine Neue? Eine gewisse Neugier konnte sie sich nicht verkneifen. Deshalb wartete sie, bis er das Geschäft verließ.

„Hey! Eva. So ein Zufall.“ Stefan war freudig überrascht, als Eva vor ihm stand.

„Allerdings. Ein außergewöhnlicher Zufall. Hallo Stefan. Du kaufst Schmuck?“

„Ja. Nur eine Kleinigkeit für eine Freundin. Wolltest du auch gerade in diesen Laden?“

„Nein. Ich habe nur die Auslage betrachtet. Ist diese eine Freundin deine Freundin?“

„So genau weiß ich das noch nicht. Jedenfalls hat sie Geburtstag und da dachte ich mir ... Egal. Hast du Zeit für einen Kaffee? Wir haben uns doch schon seit Monaten nicht mehr gesehen.“

„Ja, ich habe Zeit.“

Sie plauderten über ihre momentane Lebenssituation – Stefan schien in seine Neue verliebt zu sein. Sie diskutierten über Politik und über die wirtschaftliche Situation im Land. Mit Stefan hatte sie schon immer viele Themen diskutieren können. Es war sein kritisches Denken, das ihr an ihm gefiel, auch jetzt noch. Das war es dann auch. Mehr Interesse hatte sie an ihm nicht mehr. Sie war weder eifersüchtig auf ihre Nachfolgerin noch auf sein anscheinend positives Gefühls- und Sexualleben.

Sie war mit Stefan ein Jahr zusammen gewesen, bis er anfing, sie zu nerven – eigentlich nur mit Kleinigkeiten. Die Kleinigkeiten wurden mit der Zeit ziemlich groß und häuften sich irgendwann zu einem Berg, der nicht mehr zu übersehen war. Sie trennte sich. In Wirklichkeit war es so – das hatte Eva jedoch gar nicht bemerkt –, dass auch Stefan sich von ihr distanzierte, bis es schließlich so weit war, dass sie beide immer weniger Lust hatten, sich zu sehen und schließlich übereinkamen, die Beziehung zu beenden. Wenn Eva nicht eines Tages gesagt hätte „lassen wir es sein“, hätte es über kurz oder lang Stefan gesagt.

„Ich muss nach Hause“, sagte sie plötzlich. „Ich habe noch eine Einladung.“

„Von einem Mann?“

„Ja. Aber nicht was du denkst. Ich habe einen neuen Nachbarn.“

„Was nicht ist, kann ja noch werden.“

„Wohl eher nicht.“

Sie spürte plötzlich eine Abneigung, Simon zu besuchen, diesen fremden Mann, der ihr immer so tief in die Augen schaute. Noch während sie neben Stefan saß und auf die Bedienung wartete, um zu zahlen, nahm sie sich vor, nicht lange bei Simon zu bleiben, ihm aber offen zu begegnen, abzuwarten, was passierte. Dann sagte sie zu Stefan: „Es ist gar nicht so leicht, fremden Menschen ohne Vorbehalte zu begegnen.“

„Da hast du recht“, sagte er mit einem zustimmenden Kopfnicken. „Wenn man sich noch nicht gut kennt, ist es zwar spannend zu erleben, wie der andere so ist, aber man weiß nie, ob noch was Unangenehmes nachkommt, Eigenheiten, an die man sich vielleicht nie gewöhnen kann, die man vielleicht sogar ganz furchtbar findet.“

Stefans Worte verstärkten Evas ungutes Gefühl, Simon zu besuchen. Warum nur, fragte sie sich, irritiert mich dieser Mann so sehr? Er ist doch nur ein neuer Nachbar, ein freundlicher noch dazu. Und doch: Irgendwas stimmte nicht. Oder bildete sie sich das ein? Hätte sie seine Telefonnummer gehabt, hätte sie ihm jetzt abgesagt. Sie schaute an Stefan vorbei ins Nichts.

„An was denkst du?“, fragte Stefan, dem Evas Abwesenheit nicht entging.

„Ich denke über deine Worte nach. Und ich bin froh, dass bei uns nie etwas Furchtbares nachgekommen ist.“

Stefan lachte. „Sonst würden wir hier nicht sitzen.“

Bis zum Abend verflüchtigte sich ihr schlechtes Gefühl Simon gegenüber. Trotzdem hatte sie keine Lust, sich für ihn schön zu machen. Allerdings hatte sie auch nicht vor, in ihren gemütlichen, alten Heimklamotten bei ihm aufzutauchen. Ein bisschen Stil musste sein, schon gleich, um ihrer langweiligen Aura entgegenzuwirken. Sie wählte ihre gutsitzende Jeans, ein weißes T-Shirt und ein eng anliegendes hellgrünes Jäckchen, das gerade bis zu den Hüften reichte.

Um Punkt acht Uhr klingelte sie. Simon führte sie in sein Apartment, das den gleichen Grundriss hatte wie ihres, nur war es insgesamt mindestens zwei Meter breiter, so dass in der Küche ein richtiger Tisch Platz hatte. Er hatte das Apartment spartanisch, aber geschmackvoll möbliert, modern, mit einem großen Fernseher und mehreren, so schien es Eva, teuren Stehleuchten.

Simon hatte einige kleine Häppchen mit Lachs, Käse und Schinken vorbereitet, dekorativ auf einem großen Teller angerichtet, und diesen in die Mitte des Tisches gestellt.

„Bitte, setz dich doch“, sagte er. „Was willst du trinken? Ich habe Rotwein, aber auch Bier, Wasser, Orangensaft und Batida de Coco.“

„Orangensaft bitte.“

„Keinen Wein?“

„Nein danke, ich hatte gestern zu viel Alkohol.“

„Ich nehme Wasser.“

Natürlich spartanisch, dachte sich Eva, sein Getränk passend zur Wohnung. Dafür sind die Häppchen sehr appetitanregend.

„Hast du Hunger? Greif zu.“ Simon deutete auf den Teller und nahm sich eine Käseschnitte. Eva nahm eine Schnitte mit Lachs.

„Hast du dich schon eingewöhnt?“, fragte sie.

„Nun ja. Soweit das in zwei Wochen möglich ist. Wie lange wohnst du schon hier?“

„Drei Jahre.“

„Gefällt es dir hier?“

„Geht so.“ Eva erzählte, wo sie vorher gewohnt hatte und warum sie damals umgezogen war. „Die geforderte Miete nach der Renovierung war viel zu hoch. Leider.“

„Ah ja“, sagte Simon und sah sie wieder eindringlich an. „Und früher, wo hast du da gewohnt?“

„Wann früher?“

„Als Kind und Jugendliche. Wo bist du aufgewachsen?“

„In einem Dorf.“

„In welchem Dorf?“

„Kennst du nicht.“

„In der Nähe von München?“

„Nein. Etwas weiter weg.“ Mehr wollte sie dazu nicht sagen. Sie fühlte sich ausgefragt. Sie aß lieber die Häppchen, die ihr gut schmeckten, anstatt weiter von sich zu erzählen.

„Und wo bist du aufgewachsen?“, fragte sie schließlich, um das Gesprächsthema von ihr wegzulenken.

„Ich bin auch in einem Dorf groß geworden und dann zum Studieren nach Augsburg.“

„Was hast du studiert?“

„Betriebswirtschaft.“

„Aha. Wo arbeitest du?“

„Bei der Firma TEILCOR. Wir entwickeln elektronische Bauelemente. Ich arbeite im kaufmännischen Ressort als Abteilungsleiter.“

Er erzählte ihr, dass seine Firma nicht weit von hier ihren Sitz hätte, darum wäre er auch hierhergezogen – vorübergehend. Er wäre gerade in einer Umbruchphase. Warum, sagte er nicht, und Eva fragte nicht danach. Es war ihr nicht wichtig. Im Gegenteil: Ihr war es gerade recht, dass er das Persönliche ausklammerte. Sie selbst hätte sowieso nichts erzählen wollen.

Dann fragte er, was sie beruflich machte. Sie erzählte, dass sie Krankenschwester sei, aber gegen Ende der Ausbildung gemerkt hätte, dass ihr der Beruf auf Dauer wohl keinen Spaß machen würde, so dass sie sich dann in Richtung EDV umorientierte, Schwerpunkt Software-Schulung und Webdesign. Sie erzählte auch, dass sie seit sieben Monaten arbeitslos sei und dass sie dieser Zustand langsam deprimierte.

Simon blickte ihr intensiv in die Augen. „Möchtest du vielleicht jetzt ein Glas Wein?“

„Also gut. Aber nur ein kleines Glas.“

Während er die Flasche öffnete, lächelte er vor sich hin. In diesem Moment fragte sie sich, ob er versuchen würde, ihr näher zu kommen und ob sie sich für ihn interessieren könnte. Sie begutachtete ihn – unauffällig aber genau. Er war nicht ihr Typ. Er hatte so gar nichts Besonderes, abgesehen von seinen schlanken, gepflegten Händen. Aber sonst? Für Eva war er ein Mann, wie es sie zu Tauenden gab: Mittelgroß, schlank, schütteres, dunkelblondes Haar. Mit Ausnahme der hellblauen Augen. Die waren etwas Besonderes, aber nicht im positiven Sinne. Diese Augen, die sie immer so durchdringend ansahen, so intensiv, als würde er mit seinem Blick in sie hineinkriechen, etwas in ihr suchen. Das irritierte sie. Das passte nicht zu seiner sonstigen, normalen, netten und freundlichen Art.

„Jetzt müssen wir endlich auf eine gute Nachbarschaft anstoßen“, sagte Simon.

Schon wieder kommt die gute Nachbarschaft, dachte sich Eva. Dazu haben wir uns doch neulich schon die Hände geschüttelt. Sie empfand diese Wiederholung ein wenig übertrieben. Trotzdem hob sie ihr Glas.

„Auf eine gute Nachbarschaft“, sagte sie mit einem schiefen Lächeln.

Und sie ließen die Gläser klingen.

Der Wein schmeckte ihr gut und sie wurde ein bisschen lockerer. Sie erzählte von ihrem früheren Job und vom schwierigen Leben als Arbeitslose ohne feste Tagesstruktur.

Simon hörte aufmerksam zu. Aber plötzlich wurde sein Gesichtsausdruck ernst und er blickte nachdenklich vor sich hin.

„Was ist?“, fragte Eva. „Droht dir auch die Arbeitslosigkeit? Geht eure Firma Pleite?“

„Nein, nein. Ganz und gar nicht. Ich überlege nur etwas. Würdest du auch eine andere Arbeit machen? Präsentationen und Tabellen ausarbeiten, den Vorgesetzten unterstützen, Kleinkram erledigen?“

„Ja, vielleicht. Warum?“

„Bei uns in der Firma könnten wir jemand mit vielfältigen Kenntnissen gut gebrauchen. Es ist eine Stelle frei als Assistentin, die sich nebenbei um unsere Intranet-Seiten kümmern sollte. Du könntest dich bewerben.“

Eva setzte sich schlagartig kerzengerade hin und dachte, sie hörte nicht recht. „Ist das wahr?“

„Natürlich, sonst würde ich es nicht sagen.“

„Warum wird die Stelle nicht intern besetzt?“

„Es gab keine passenden Bewerber.“

„Wirklich nicht? In so einer großen Firma?“

„Entweder waren sie über- oder unterqualifiziert. Niemand hat gepasst.“

„Das heißt, ich hätte eine Chance?“

„Ja, ich denke schon. Ob es klappt, kann ich natürlich nicht garantieren. Die Stelle ist in einer anderen Abteilung. Es kämen wohl verschiedene Aufgaben auf dich zu. Eine gewisse Flexibilität müsstest du schon mitbringen.“

„Kein Problem.“

„Gut. Du kannst mir deine Unterlagen gerne mitgeben. Ich reiche sie dann weiter.“

„Das freut mich. Super! Das freut mich sehr.“

Es waren noch zwei Häppchen da, die ihr Simon mit einem tiefgründigen Lächeln reichte. „Nimm. Ich bin satt.“