Die Gedankenleserin - Lydia Pointvogl - E-Book

Die Gedankenleserin E-Book

Lydia Pointvogl

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Beschreibung

Sarischa, eine erfolgreiche Gedankenleserin, kommt nach einer Live-Show mit Robert in Kontakt. Es ist eine unangenehme, aber faszinierende Begegnung. Es sollte nicht die einzige sein. Trotz ihrer außergewöhnlichen Fähigkeiten bekommt Sarischa seine Gedanken kaum zu fassen, bis auf einen, der ihr keine Ruhe lässt. Ist Robert, ein angesehener Schönheitschirurg, ein Mörder?

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Seitenzahl: 378

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Das Buch

Sarischa tritt sehr erfolgreich als Gedankenleserin auf Bühnen und im Fernsehen auf. Nach einer Live-Show kommt sie mit Robert, ein angesehener Schönheitschirurg, in Kontakt. Es ist eine unangenehme, aber faszinierende Begegnung. Es sollte nicht die einzige sein.

Trotz ihrer Fähigkeit, die auch in ihrem Metier ausgewöhnlich ist, bekommt Sarischa Roberts Gedanken kaum zu fassen, bis auf einen, der ihr keine Ruhe lässt. Robert scheint ein dunkles Geheimnis zu haben. Es beginnt ein verhängnisvolles Spiel zwischen Nähe und Distanz. Ist Robert ein Mörder? Oder ist alles ganz anders …

Die Autorin

Lydia Pointvogl war im Bereich Kommunikation in einem großen Unternehmen tätig. Nun widmet sie sich ganz dem Schreiben – ihre Lieblingsbeschäftigung neben dem Wandern. Sie lebt in München.

Die Gedankenleserin ist ihr dritter veröffentlichter Roman. Sie setzt damit ihr Genre, das sich zwischen menschlichen Grenzbereichen und psychologischen Tiefen abspielt, fort.

Wer sich der Wahrheit verpflichtet, sucht nicht das Glück, das die Verblendung schenkt.

Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

Mehr von Lydia Pointvogl

1

Sie trat auf die Bühne in einem schwarz-roten, sexy glitzerndem Kleid. Das Scheinwerferlicht war grell, die Musik laut. Das Publikum klatschte stürmisch. Sie verneigte sich mehrmals. Dann erhob sie die Hände zum Gruß, und es wurde still.

„Vielen Dank. Guten Abend meine Damen und Herren. Ich bin Sarischa. Es freut mich, dass Sie zu meiner Show gekommen sind, um zu erleben, ob ich Ihre Gedanken lesen kann.

Normalerweise gehören Ihre Gedanken Ihnen ganz alleine. Sie können denken, was Sie wollen, niemand kann Ihre geheimsten Wünsche und Ängste erfahren, solange Sie sie nicht äußern. Gute Freunde können sie manchmal erahnen, mehr aber auch nicht. Aber kann das überhaupt funktionieren – dass ein Mensch Gedanken eines anderen, noch dazu eines fremden Menschen, präzise wahrnimmt? Ist hier Zauberei am Spiel? Lassen Sie sich überraschen.

Aber keine Sorge, Ihre Geheimnisse werde ich nicht offenbaren. Sie wollen heute Abend schließlich Spaß haben und ein wenig staunen …“

Ach du liebe Zeit, das wird stinklangweilig, dachte sich Robert. Er hatte keine besondere Lust auf diese Veranstaltung, aber Tami, seine Frau, hatte ihn gebeten mitzugehen, und so tat er ihr diesen Gefallen. Aber nun bereute er es. Mit mindestens zweihundert Leuten in einem miefigen Theater zu sitzen und sich Gedankenlesespielchen anzusehen – nicht besonders erquickend. Er hätte lieber Tennis gespielt oder Fußball geguckt nach dem arbeitsreichen Tag. Aber nun gut. Er lächelte Tami zu. Sie bemerkte dies und lächelte zurück.

„Natürlich kann ich nicht von allen hier Anwesenden die Gedanken lesen, das würde zu lange dauern und dafür würden auch meine Kräfte nicht ausreichen“, erklärte Sarischa mit einer sanften, eindringlichen Stimme. „Genug geredet. Nun geht es los.“

Die Bühnenbeleuchtung wurde heruntergefahren, dafür die Saalbeleuchtung heller. Nun konnte sie das Publikum sehen. „Also, meine Damen und Herren: Diejenigen, die möchten, dass ich Ihre Gedanken lese, stehen bitte auf.“

Niemand stand auf. Sarischa wartete. Sie wusste, dass die meisten Menschen das Geschehen lieber erst einmal beobachten wollen, bevor sie sich selbst als Kandidat zur Verfügung stellten. Viele Gäste sahen sich um, und dann stand eine junge Frau auf. Langsam erhoben sich weitere sieben Personen von ihren Sitzen – drei Frauen und vier Männer.

„Trauen Sie sich nur. Keine Angst, es wird Ihnen nichts Böses widerfahren.“ Sarischa hob beide Hände mit den Handflächen nach oben, um das Publikum zum Mitmachen zu bewegen.

Robert gab Tami mit dem Ellenbogen einen sanften Stoß. „Na, was ist? Mach doch mit“, flüsterte er ihr ins Ohr.

„Ich weiß nicht. Mir ist nun doch ein wenig mulmig zumute.“

„Ach was. Ist doch nur Spaß.“

Tami stand zögerlich auf, wie noch zwei weitere Frauen.

„Okay“, sagte Sarischa, „nun sind es genug. Kommen Sie bitte auf die Bühne und setzen Sie sich auf einen der Stühle.“ Es waren bereits zehn Stühle nebeneinander aufgestellt. Tami setzte sich rechts auf den äußersten Stuhl.

Leiste ertönte sanfte Musik; der schwarze Bühnenhintergrund wurde in ein romantisches Blau getaucht.

„Machen Sie es sich bequem, meine Damen und Herren“, sagte Sarischa in einem beruhigend meditativen Tonfall zu den Versuchspersonen, die etwas angespannt wirkten. „Atmen Sie ruhig, stellen Sie ihre Beine etwa hüftbreit auf den Boden, legen Sie ihre Arme locker auf Ihre Oberschenkel ab und entspannen Sie sich. Sind Sie bereit?“

Alle nickten.

„Gut. Denken Sie an eine Zahl zwischen eins und einunddreißig. Schreiben Sie die Zahl auf den Zettel, der unter Ihrem Stuhl liegt, und falten Sie ihn klein. Sie drehte sich weg und wartete kurz.

„Fertig?“ Sie sah in die Runde, wieder nickten alle.

„Ich werde neben Sie treten, und Sie stellen sich die Zahl intensiv vor – in schwarz vor weißem Hintergrund.“ Dann sage ich die Zahl, die Sie ausgewählt haben.“

Sie fing auf der linken Seite bei einer jungen Frau an. „Sie denken an die Zwölf“, sagte Sie zu der Frau, die erstaunt lächelte und die Zahl mit einem Nicken bestätigte. „Öffnen Sie bitte Ihren Zettel und zeigen sie ihn dem Publikum.“

Sarischa ging zur nächsten Person, ein sportlicher Mann. Sie konzentrierte sich kurz und sprach die Zahl Zwanzig laut und deutlich aus. Wieder war es die richtige Zahl, und der junge Mann hob den Daumen zur Bestätigung. So schritt sie von einem zum anderen. Alle Teilnehmer hatten die von Sarischa genannte Zahl notiert. Auch Tami. Sie wählte die Sechzehn, weil sie an einem Sechszehnten Geburtstag hat.

Sarischa trat nun an die Seite und ließ ihren Blick über die Gruppe schweifen. „Vier von Ihnen wählten den Tag ihres Geburtstags.“ Sie zeigte nacheinander mit dem Finger auf die vier Personen, auch auf Tami. Alle nickten zustimmend und waren beeindruckt. Das Publikum klatschte.

Als nächstes sollten alle Kandidaten an ein Tier denken. Und wieder hatte Sarischa alle Tiere richtig genannt, mit einer Ausnahme: Aus einem Hahn wurde eine Henne. Das Publikum musste lachen und applaudierte besonders stark, als wäre es froh, dass endlich mal ein Fehler, wenigstens ein kleiner, passierte. Manchen Zuschauern wurden Sarischas präzise Treffer langsam unheimlich, blickten mit fragenden Gesichtern zu ihren Nachbarn.

Sarischa beendete die Raterunde und bat die Teilnehmer, sich wieder auf ihren Platz im Publikum zu setzen, mit Ausnahme von einem Mann und zwei Frauen – eine davon war Tami.

Robert war mittlerweile gar nicht mehr gelangweilt. Auch er war von Sarischas schnellen und fehlerfreien Treffern beeindruckt, zumal sie kein manipulierendes Brimborium – verbundene Augen, wedelnde Tücher, spektakuläre Gestik – einsetzte. Er verfolgte das Geschehen mit Interesse, aber auch mit Skepsis, zumal es nun angeblich ans Eingemachte ging – so kündigte Sarischa die nächste Gedankenleserunde an.

Vorab hielt sie eine Rede über die Bedeutung des Unbewussten und wie selten man frei entscheiden würde. Vielfach machte man das, was einem am einfachsten erscheint. Probleme würde schließlich keiner haben wollen. Doch fast alle Leute hätten Probleme – manche mehr, manche weniger, unwichtige, große oder sogar lebensbedrohliche. Sie fragte nach den Namen der drei Kandidaten auf der Bühne.

„Bernhard, Emma, Tami. Bitte steht auf. Ich schau euch jetzt in die Augen und werde ein Problem, das euch gerade durch den Kopf geht, ansprechen, etwas verschlüsselt, schließlich soll das Publikum nicht zu viel von euch erfahren.“ Sie lächelte. „Datenschutz beim Gedankenlesen – das muss schon sein.“ Das Publikum schmunzelte.

Sie stellte sich vor Emma und sah ihr einige Sekunden in die Augen. „Du denkst an einen Fall in Zusammenhang mit deinem Beruf. Du denkst intensiv darüber nach, denn du musst– ich sage mal – eingreifen, was du schon längst hättest tun sollen.“ Emma schluckte. Sarischa gab ihr den Rat, endlich klar Schiff zu machen. „Wenn du noch länger wartest, könnten weitere Probleme auf dich zukommen. Welche, das kann ich hier nicht sagen, aber du weißt schon, um was es sich handelt.“

Emma nickte. „Ja, das stimmt“, sagte sie sichtlich erstaunt. Sarischa deutete auf ihren Platz im Publikum. Emma verließ die Bühne.

Dann war Bernhard an der Reihe. Er hätte ein Problem mit einer ihm nahestehenden, männlichen Person, meinte Sarischa. „Mit diesem Problem bist du gekommen und damit sitzt du schon den ganzen Abend hier, nicht wahr?“

„Ja“, gab Bernhard zu. „Richtig. Und nun?“

„Gib dir einen Ruck und spreche das Problem offen an. Es wird nicht von selbst verschwinden, das weißt du. Verdrängen ist keine Lösung. Das Thema muss auf den Tisch, sonst zerreißt es dich über kurz oder lang. “ Sarischa nickte aufmunternd. „Danke Bernhard. Du darfst die Bühne verlassen.“

Nun war Tami an der Reihe. Robert war gespannt, was für ein Problem Sarischa bei Tami hervorzaubern wird. Hoffentlich wird die Sache nicht peinlich, dachte er und bereute erneut, sich auf diesen Veranstaltung eingelassen zu haben.

„Und nun zu dir, Tami. Du denkst an eine ganz bestimmte Person. Das ist jetzt für mich nicht ganz einfach, denn ich kann dein Problem hier nicht aussprechen. Du weißt warum. Suche das Gespräch, aber gehe besonnen vor. Mehr kann ich zu dir im Moment nicht sagen. Danke. Du kannst dich wieder setzen.“

Tami verließ schweigend das Podium und setzte sich neben Robert, ohne ihn anzusehen. „An wen hast du gedacht?“, fragte er flüsternd.

„Nicht so wichtig.“

„Sag schon.“

„Nicht jetzt.“

Robert runzelte die Stirn. Diese Sarischa reimte sich Probleme zusammen, die bei jedem Menschen passten. Jeder denkt doch irgendwie an eine bestimmte Person. Und bei vielen Gesprächen muss man besonnen vorgehen, das wäre normal, sagte er sich. Er glaubte nicht, dass es Menschen gab, die die Gedanken anderer lesen können.

Nach weiteren unterhaltsamen Ratespielchen, immerhin mit einer hundertprozentigen Trefferquote, gab es eine Pause.

„Lass uns nach draußen gehen“, sagte Robert zu Tami. „Ich ersticke in diesem Theater.“ Er nahm ihre Hand und führte sie sachte aber bestimmt ins Freie. Sie standen vor dem Eingang. Tami schwieg.

„Schon beeindruckend diese Sarischa“, gab Robert zu. „Trotzdem glaube ich nicht, dass es sich hierbei wirklich um Gedankenlesen handelt, sondern vielmehr um Tricks. Ich bin mir sicher, sie hat sich vorab mit den meisten Kandidaten abgesprochen. Hast du denn tatsächlich an eine bestimmte Person gedacht, mit der du ein besonnenes Gespräch suchen solltest? Und wenn ja, wer ist es?“

„Ich dachte an dich.“ Tami log. Sie dachte an Freddy, eine Jugendliebe. Sie hatte ihn kürzlich zufälligerweise getroffen, und er ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Er hatte ihr einen Job als Mitarbeiterin in seiner Firma für Gewürzhandel angeboten, was sie durchaus reizte.

„Ja? Aber über was solltest du mit mir reden und warum solltest du besonnen vorgehen? Das ist doch Quatsch.“

„Nicht ganz. Wir müssen über unseren Urlaub reden, denn ich habe keine Lust in die Toskana zu fahren.“ Wieder sagte sie nur die halbe Wahrheit, denn der Urlaubsort war ihr ziemlich egal. Sie hatte vielmehr keine Lust mehr auf die stumpfsinnigen Urlaube mit Robert, gelangweilt neben ihm auf teuren Hotelliegen die Zeit totzuschlagen oder ihm zuliebe Tennis zu spielen. Sie wollte vielmehr wieder arbeiten. Sehr gerne bei und mit Freddy. Doch sie war sich nicht sicher, ob Freddy das nicht nur so dahingesagt hatte. Ernsthaft hatten sie darüber noch nicht gesprochen. Und sie wusste, dass Robert dagegen wäre, wenn sie mit einem anderen Mann, noch dazu mit einer Jugendliebe, eng zusammenarbeiten würde.

„Ach Gott!“ Robert verdrehte die Augen. „Darum geht es. Wir können auch gerne woanders hinfahren. Bis jetzt war es in der Toskana doch immer schön. Aber ich bin nicht darauf fixiert.“

„Ich will was trinken. Lass uns wieder reingehen.“ Tami hatte keine Lust, das Thema zu vertiefen.

Der zweite Teil des Abends verlief ähnlich. Sarischa war treffsicher, und das Publikum war fasziniert. Auch Robert war trotz aller Bedenken beeindruckt, obwohl er nach wie vor annahm, dass Sarischa nur eine perfekte Blenderin war. Wie auch immer, die Show war spannend.

Als Tami und Robert den Veranstaltungsraum verließen, gingen sie an Sarischa vorbei, die ihre Flyer und Werbekarten verteilte. Robert nahm einen Flyer, lächelte Sarischa freundlich zu und sagte: „Interessante Darbietung. Hat mir gefallen. Sie sind richtig gut. Kann ich das auch lernen?“

„Ich glaube nicht. Die Frage wird mir oft gestellt. Aber ohne Begabung ... und die ist äußerst selten.“

„Vielleicht bin ich begabt und weiß es nur nicht.“

„Das bezweifle ich sehr. Glauben Sie mir, sie würden es wissen. Ganz sicher.“

„Eventuell schlummert meine Begabung und muss nur geweckt werden. Wahrscheinlich bin ich zu viel mehr fähig, als ich weiß, bin ein unentdecktes Talent. Könnte doch sein, oder?“

„Die Show war wirklich gut“, mischte sich nun auch Tami ein. Ihr war es peinlich, wie selbstherrlich sich Robert präsentierte. „Ich habe schon andere Mentalisten gesehen, die aber alle nicht so überzeugend waren wie Sie.“

„Vielen Dank, das ist ein schönes Kompliment.“

„In der Tat, Sie waren beeindruckend“, lobte nun auch Robert Sarischa und sah in ihre großen Augen, die ihn faszinierten. Sie strahlten etwas Tiefgründiges, fast schon Unheimliches aus.

Sarischa ging es ähnlich. Roberts Blick hielt sie fest. Auch sie war von ihm auf eine ungewohnte Art fasziniert, ganz anders als das sonst der Fall war, wenn nach der Show durchaus interessant wirkende Männer mit ihr zu flirten versuchten. Obwohl sie etwas erschöpft war und keine Lust mehr hatte, sich auf weitere Gedanken fremder Menschen zu konzentrieren, verband sie sich nun doch mit seiner Gedankenwelt, während sie seine Augen fixierte.

Sehr attraktive Frau, diese Sarischa. Tolle Augen, reizendes Lächeln, makellose Figur - sehr sexy.

Nun ja, das Übliche, stellte sie fest. Aber … da war noch etwas anderes, etwas Tiefergehendes, das sie nicht zu fassen bekam. Sie konzentrierte sich intensiver, aber sie konnte keine weiteren Gedanken dieses Mannes lesen, was seltsam war. Normalerweise hatte sie Zugang auch zu verdeckten Gedanken.

Erst gefiel es Robert, wie sie in seine Augen starrte, und er hielt ihrem Blick gerne stand. Aber dann wandelte sich seine Faszination zu einem undefinierbaren Gefühl, das ihn irritierte. Den Blick dieser schönen, großen Augen empfand er plötzlich als zu intensiv. Die gesamte Ausstrahlung von Sarischa wurde ihm immer unangenehmer, obwohl er hätte nicht sagen können, warum. Ihr Starren ging ihm unter die Haut, sodass ihm schauderte. Trotzdem sah er nicht weg.

Auch Sarischa wurde Roberts Blick unangenehm. Sie wurde innerlich nervös und zuckte mit den Brauen. Sie konzentrierte sich noch intensiver auf seine Gedanken, aber sie las nichts mehr. Gar nichts. Trotzdem konnte sie sich von diesem Mann nicht abwenden.

Ihre Blicke hatten sich verkeilt. Die Verbindung dauerte zwar erst einige Sekunden – lang genug, dass Tami spürte, zwischen den beiden lief etwas Seltsames, das sie nicht einordnen konnte.

„Lass uns gehen“, sagte sie zu Robert.

„Ja, gleich“, antwortete er. Damit riss er sich von Sarischas intensiven Blick los. Er lächelte bewusst extrafreundlich und katapultierte sich damit galant wieder in seine normale Gefühlswelt.

„Mich würde noch interessieren“, fragte er Sarischa „ob Sie wissen, was ich gerade eben gedacht habe.“

Sarischa lächelte schräg und brauchte eine Sekunde, bis sie antworten konnte. „Soll ich das tatsächlich sagen?“

Auch Robert lächelte schräg. „Nein, nicht nötig. Sind Sie sich denn immer sicher, dass das auch stimmt, was Sie da so lesen?“

„Ja, bin ich. Echtes Gedankenlesen kann man nicht lernen, wenn man nicht von Geburt an hierfür begabt ist, wie ich schon sagte.“

„Begabung allein dürfte aber wohl kaum reichen. Spezielles Knowhow ist sicher nötig, wenn ich das mal so sagen darf. Wahrscheinlich braucht es sehr viel Übung, bis man soweit ist, dass man Treffer erzielt, und vor allem braucht man auch passende Mitspieler.“ Robert grinste herausfordernd.

„Wie sie meinen. Aber Sie irren sich.“

„Ach ja?“ Robert zog seine Augenbrauen hoch. „Wirklich? So eindeutig sind die Gedanken doch meistens gar nicht. Man denkt zeitgleich an vieles oder springt von einem Gedanken zum nächsten. Da ist es doch sehr praktisch, wenn man ein paar Gäste hat, die genau sagen können, was sie sich denken.“

„Komm, lass gut sein“, unterbrach ihn Tami, „wir sollten gehen.“

„Ja, du hast recht. Gehen wir. Auf Wiedersehen – Sarischa.“

Tami verabschiedete sich noch per Handschlag und zuckte mit der Schulter, quasi als Entschuldigung für die unangebrachten Kommentare ihres Mannes.

Sarischa sah den beiden hinterher, da drehte sich Robert um. Sein Blick war hart und überheblich.

„Was war denn das jetzt?“, fragte Tami, als sie das Theater verlassen hatten. „Was ist da zwischen euch gelaufen?“

Robert antwortete nicht, da er Tamis Frage zwar hörte, aber mit ihr nicht reden wollte.

Tami war langsam genervt. „Hey, was ist?“

„Entschuldige bitte. Diese Sarischa hat mich etwas irritiert. Eine seltsame Frau. Glaubst du, sie manipuliert ihr Gegenüber oder kann sie tatsächlich Gedanken lesen?“

„Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie schon bestimmte Gedanken erfassen kann aufgrund einer ausgeprägten Menschenkenntnis. Der Rest ist vermutlich eine Mischung aus Psychologie und Statistik. An was hast du denn vorhin gedacht, was sie nicht sagen wollte?“

„Ich dachte, dass sie sehr attraktiv ist, ein sexy Outfit trägt … nun ja, das was Männer halt so denken.“

„Ist das alles?“

„Im Prinzip ja.“

„Das ist doch nichts Schlimmes. Warum war dann so eine komische Atmosphäre zwischen euch?“

„Sie macht auf geheimnisvoll, als wäre sie ganz was Besonderes. Ich mag das nicht. Wahrscheinlich ging sie davon aus, du wärst eifersüchtig.“

Tami lachte. „Hellsehen kann sie jedenfalls nicht, sonst hätte sie wissen müssen, dass ich nicht eifersüchtig bin, schon gar nicht wegen eines Gedankens. Was hast du morgen für OPs?“

„Ein verpfuschtes Augenlid und Schamlippen.“

Robert war ein angesehener Schönheitschirurg. Er spezialisierte sich auf Korrekturen im Gesicht und im Intimbereich. Er übernahm am liebsten Fälle, die ihn interessierten und genug Kohle brachten. Das waren eher die schwierigen Fälle, oder Prominente und zwanghafte Selbstoptimierer. Er liebte die Herausforderung und er war gut. Dafür zahlten die Damen – und auch manche Herren – Unsummen.

„Fahren Sie mich nach Hause.“

„Und wo ist das?“, fragte der Taxifahrer.

„Wie immer.“

„Ich kenne Sie nicht. Woher soll ich wissen, wo Sie wohnen. Wir sind hier in München, nicht in einem Dorf.“

„Oh! Entschuldigen Sie bitte. Ich wohne im Lehel, in der Adelgundenstraße.“

Die Wohnung – fünf Zimmer, Altbau – hatte ihr vor Jahrzehnten ihr Vater gekauft, als das Lehel, eines der teuersten Viertel von München, noch erschwinglich war.

Als Sarischa endlich zu Hause war, stellte sie ihren Auftrittskoffer ab, in dem sie ihre Utensilien für die Shows – Schminke, Schmuck, Schreibzeug – verstaute. Sie nahm ein Dusche, dann legte sie sich mit einem Glas Rotwein aufs Bett. Sie nahm einen Schluck, aber er schmeckte ihr nicht. Auch der zweite Schluck war nicht besser. Sie stellte das Glas beiseite und dachte an den Mann aus der Show. Warum konnte sie keine weiteren Gedanken von ihm lesen? Hatte er die Kraft, seine Gedanken abzuschirmen? Aber wie machte er das? So etwas hatte sie noch nie erlebt.

Sarischa war eine bekannte Künstlerin, erfolgreich, trat auf kleinen und größeren Bühnen auf sowie in Fernsehshows, gab Interviews und war in den sozialen Medien aktiv. Gelegentlich hielt sie auch Vorträge zu Themen wie „Intuition und Irrtum“, „Gedankenlesen – Wunsch und Wirklichkeit eines Menschheitstraumes“ oder „Wie trainiere ich meine Wahrnehmungsfähigkeit?“ Diese psychologisch-philosophischen Betrachtungen empfand sie als gute Ergänzung zu ihren Shows und forderten sie auch intellektuell heraus, konnten aber kein lukratives Standbein werden, denn ihr Herzblut lag beim Gedankenlesen. Sie wurde gerne von Firmen und gelegentlich auch für Privatevents gebucht; von Letzteren jedoch nur von wohlhabenden Kreisen, da sich ihre Honorare Normalverdiener kaum leisten konnten.

Immer wieder wurde sie auch von verunsicherten oder verzweifelten Menschen aufgesucht, für die sie die Gedanken eines anderen Menschen auskundschaften sollte. Meistens ging es dabei um Eifersucht oder Betrug, wobei man sie zu irgendwelchen konspirativen Treffen einladen wollte, um die Wahrheit herauszufinden. Solche Aufträge nahm sie generell nicht an. Sie widersprachen ihrem Selbstverständnis. Sie war Künstlerin und keine verkappte Therapeutin oder Schnüfflerin. Abgesehen davon, dass ein solches Verhalten juristisch möglicherweise äußerst problematisch sein könnte, hatte sie absolut keine Lust, auf dieser, wie sie es empfand, schmierigen Ebene zu arbeiten, auch wenn ihr hierfür schon viel Geld angeboten worden war.

Außer ihrem Vater, der auch Gedankenlesen konnte und von dem sie die Fähigkeit geerbt hatte, kannte sie niemanden, der die gleichen Fähigkeiten hatte wie sie. Sie war sich ziemlich sicher, dass ihr auf diesem Gebiet, zumal im Showbereich, niemand das Wasser reichen konnte, jedenfalls nicht im deutschsprachigen Raum. Doch durch diese außergewöhnliche Fähigkeit fühlte sie sich anderen oft überlegen. Wer konnte ihr schon etwas vormachen? Sie konnte Lügen enttarnen und sie erfasste die Gedanken derjenigen, die sie reinlegen wollten, oft schneller als es dem Betreffenden selbst bewusst war.

Und nun? Konnte es sein, dass ihre Fähigkeit Risse bekam? Das glaubte sie zwar nicht, vielmehr: sie wollte es nicht glauben, aber dieser Aussetzer ließ ihr keine Ruhe. Sollte Ähnliches auch auf der Bühne passieren, wäre das der Anfang vom Ende ihrer Karriere.

2

„Sarischa tritt demnächst wieder auf“, sagte Tami zu Robert und sah vom Kulturteil der Zeitung hoch. Sie saßen in der Abendsonne auf der Terrasse vor ihrem Haus in Obermenzing – ein Stadtteil, in dem vorwiegend gutsituierte Leute wohnten.

„Wer ist das?“, fragte Robert, der sich mehr für Sport als für Kultur interessierte.

„Die Gedankenleserin.“

„Ach … ach die“, sagte er mit leicht abfälligem Ton.

„Sie war gut. Du warst doch auch begeistert – zumindest von ihrer attraktiven Erscheinung, wenn ich mich recht erinnere.“

Robert schwieg.

„Ich würde sie gerne noch mal sehen. Bei der kommenden Veranstaltung tritt übrigens auch ein Zauberer auf, also doppeltes Programm – bestimmt spannend.“

Robert klappte den Sportteil der Zeitung zu. „Ich gehe da nicht hin. Dieses übersinnliche Getue im Doppelpack – ohne mich!“

„Schon gut. War ja nur ein Vorschlag. Dann gehe ich eben alleine oder mit jemand anders hin.“

„Mach das, wenn du meinst. Solltest du wieder auf der Bühne mitspielen, dann bitte denk daran, ich habe einen wichtigen Beruf.“

„Ich werde laut und deutlich sagen, dass der bekannte Schönheitschirurg Schöner die Vagina seiner Assistentin modelliert hast.“ Tami grinste.

„Blöde Kuh!“ Robert stand auf und ging ins Haus.

Tami nahm ihr Handy und bestellte eine Eintrittskarte. Vierzig Euro. Nicht schlecht. Da durfte man schon etwas Besonderes erwarten.

Freddy hatte leider keine Zeit, also besuchte Tami die Vorstellung alleine. Sie kam früh und ergatterte einen Platz in der ersten Reihe. Neben ihr saß eine Frau, auch alleine, mit der sie ins Gespräch kam, sodass die Zeit schnell verging. Nach einem Gong wurde die Beleuchtung gedimmt und ein Moderator kündigte die Künstler an.

Der Zauberer trat als Erster auf. Seine Darbietung war gut. Schon erstaunlich, wie perfekt manche Tricks funktionierten. Tami war zwar begeistert, aber im Grunde wartete sie auf Sarischa. Das Gedankenlesen fand sie viel spannender als noch so gute Zauberkunststücke.

Dann kam Sarischa. Sie betrat die Bühne in einem ähnlich sexy Kostüm wie das letzte Mal. Sie begrüßte das Publikum und nach einer kurzen Einführung forderte sie ihre Gäste auf mitzuspielen. Dabei entdeckte sie Tami und lächelte ihr zu. Sarischa hatte sie sofort erkannt. Tami lächelte zurück und verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust, als Zeichen, dass sie diesmal nicht mitmachen wolle. Das war auch nicht nötig, denn es meldeten sich genug Leute, sodass Sarischa die Mitspieler aussuchen konnte.

Die Show war wieder außergewöhnlich. Sarischa war absolut überzeugend, las die Gedanken ihrer Gäste fehlerfrei. Das Publikum staunte so sehr, dass es bisweilen das Klatschen vergaß. Auch Tami war gefangengenommen. Ihre Nachbarin flüsterte ihr gelegentlich zu „wie macht die das?“ oder „das ist ja richtig unheimlich!“

Nach fünfunddreißig Minuten verneigte sich Sarischa und verließ die Bühne. Das Publikum applaudierte stürmisch und lang. Sarischa kam zurück. Sie bat wieder ein paar Gäste auf die Bühne, unter anderem Tami, die nach kurzem Zögern dann doch mitmachte. Sarischa forderte die Mitspieler auf, an den Geburtstag ihrer Mutter zu denken und diesen aufzuschreiben. Tami war froh, dass es sich nur um Zahlen handelte, die letztlich für Außenstehende uninteressant waren. Sarischa lag bei allen Zahlen richtig. Zum Schluss sollten alle noch an etwas denken, was sie sich momentan wünschten. Tami fiel spontan ein, dass sie gerne mit Freddy schlafen würde. Sie erschrak. Das durfte Sarischa auf keine Fall aussprechen. Wer weiß, vielleicht war im Publikum jemand, der sie kannte. Mit Zwang dachte sie an eine wohltuende Gesichtsmassage und schrieb nur dieses Stichwort auf.

„Sie denken an etwas Körperliches“, sagte Sarischa als sie vor Tami stand. „Eigentlich sind es zwei Wünsche, aber einer ist vordergründig. Es ist eine Gesichtsmassage.“

Tami nickte zustimmend, zeigte die Notiz und lächelte Sarischa erleichtert an.

Als die Show zu Ende war, verschwand Sarischa im Backstage. Tami blieb sitzen. Sie hätte sich gerne bei Sarischa bedankt. Aber es schien wohl so zu sein, dass sie nicht mehr in den Zuschauerraum zurückkam. Doch gerade als sie gehen wollte, trat Sarischa noch mal auf die Bühne, um einen Seidenschal zu holen, den sie anscheinend vergessen hatte. Sie entdeckte Tami und kam auf sie zu.

„Hallo. Sie waren erst neulich in meiner Show. Ich erinnere mich. Es freut mich, dass sie heute wiedergekommen sind.“ Sarischa stieg von der Bühne.

„Ich war total beeindruckt. Ich musste sie einfach noch mal sehen.“

„Vielen Dank. Ich hoffe, Sie konnten sich auch heute wieder amüsieren.“

„Oh ja. Sie sind außergewöhnlich. So etwas habe ich von anderen, die in dem Metier tätig sind, noch nie gesehen. Ich würde Sie zu gerne ein wenig ausfragen, aber ich fürchte, da beiße ich auf Granit.“

Sarischa schmunzelte. „Es kommt auf die Fragen an.“ Sie wickelte sich den Schal um den Hals. „Sie sind alleine hier? Ich habe Ihren Mann gar nicht gesehen.“

„Er interessiert sich nicht so besonders für Theater und solche Sachen.“

„Aber schön, dass Sie trotzdem gekommen sind. Viele Frauen gehen nicht alleine aus. Hätten Sie vielleicht Lust, dass wir noch irgendwo ein Glas Wein trinken?“ Sarischa wollte die Gelegenheit nutzen, Tami über Ihren Mann auszufragen, der ihr nicht mehr aus dem Kopf ging.

Tami war von dem Vorschlag überrascht. Nie im Leben hätte sie gedacht, dass sich Sarischa mit ihr, einer fremden Frau, unterhalten wollte, noch dazu direkt nach der Vorstellung.

In einem Lokal um die Ecke fanden sie einen ruhigen Platz. Sie bestellten Wein und gingen zum Du über. Sarischa brauchte noch dringend eine Kleinigkeit zu essen.

„Vor der Vorstellung bringe ich nichts runter.“

„Das glaube ich gerne. Ist das Gedankenlesen sehr anstrengend?“

„Es geht. Man muss sich schon konzentrieren; nebenbei läuft das, zumindest auf der Bühne, nicht. Deinem Mann hat meine Show wohl nicht so gefallen?“

„Doch, doch, aber …“ Tami zögerte, denn sie vermutete, dass sie aufpassen musste, was sie sagte. Möglicherweise las Sarischa während eines ganz normalen Gesprächs die Gedanken ihres Gegenübers mit. Lügen hatte vermutlich keinen Sinn.

Sarischa brauchte keine Gedanken zu lesen, um zu wissen, was in Tami vorging. „Ich muss etwas klarstellen“, sagte Sarischa. „Ich werde heute Abend hier keine Gedanken mehr lesen, von dir nicht und von niemanden sonst. Meine Arbeit ist getan. Es ist Feierabend! Das gibt’s auch für Gedankenleser.“

„Gut, dass du das sagst. Man ist doch etwas verunsichert …“

„Dein Mann war allerdings ganz und gar nicht verunsichert. Denkt er wirklich, dass er das Gedankenlesen lernen kann?“

„Es tut mir leid, dass er so arrogant aufgetreten ist. Manchmal ist er einfach zu selbstherrlich und glaubt, alles zu können.“

„Was macht er denn beruflich?“

„Er ist Chirurg.“

„Hat er ein Spezialgebiet?“

„Er ist Facharzt für Plastische und Ästhetische Chirurgie. Kurz: Schönheitschirurg.“

„Oh, wie praktisch für dich“, rutschte es Sarischa raus und kam sich sogleich total dämlich vor. „Entschuldigung. Das war ein blöder Kommentar. Ich habe das nicht auf dich bezogen.“

Tami nahm diesen Kommentar nicht ernst. Sie war ganz andere Bemerkungen gewohnt, die oft unter die Gürtellinie gingen, wenn der Beruf ihres Mannes zur Sprache kam. „Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Ich habe mich noch nicht unters Messer gelegt und werde es auch nicht tun. Robert, mein Mann, wäre ohnehin dagegen. Er will mich pur, sagt er.“

„Du bist sehr hübsch“, sagte Sarischa und meinte das wirklich so. „Darf ich fragen, wie alt du bist?“

„Natürlich. Ich bin sechsundvierzig.“

„Was?“ Sarischa musterte Tami mit einem schnellen, prüfenden Blick. „Das kann ich nicht glauben. Du siehst wesentlich jünger aus. Du bist in meinem Alter, hätte ich gedacht. Ich bin sechsunddreißig. Und wie alt ist Robert?“

„Einundfünfzig. Er ist noch ganz passabel. Ich hätte dich übrigens auch jünger geschätzt. Ich finde, du schaust perfekt aus.“

Sarischa lachte. „Ich weiß nicht. Frauen sehen sich selbst oft sehr kritisch. Bei Männern ist das nicht so.“

„Das ändert sich“, wandte Tami ein. „Immer mehr Männer unterziehen sich operativen Behandlungen. 2017 waren es in Deutschland noch fast 4100 Eingriffe, 2018 bereits über 8600, ein Zuwachs von 111%. Die Lidstraffung steht übrigens ganz oben in der Beliebtheitsskala.“

„Interessant. Könnte dein Mann auch einen schiefen Mund korrigieren?“, fragte Sarischa. „Ich habe einen Bekannten, der sich eine Korrektur überlegt. Eventuell ein schwieriger Fall.“

„Mein Mann liebt schwierige Fälle. Aber, das muss ich gleich sagen, seine Honorare sind nicht gerade bescheiden.“

„Egal“, sagte Sarischa. Den Bekannten gab es nicht. Sie wollte nur hören, was Tamis Mann alles so macht. Und sie wollte noch etwas wissen: „Wo arbeitet dein Mann? Kann ich meinen Bekannten zu ihm schicken? Er sucht nämlich einen wirklich guten Chirurgen.“

„Klar. Er soll sich in der Bestbeauty-Klinik melden und einen Termin bei Dr. Robert Schöner vereinbaren. Ja ‚Schöner‘, ich weiß. Sein Name ist sein Schicksal.“

Endlich, dachte Sarischa, weiß ich, was ich wissen wollte. Die Bestbeauty-Klinik – bekannt für hervorragende Schönheitskorrekturen.

Dann wechselte Tami das Thema. Sie versuchte, von Sarischa wenigstens ansatzweise zu erfahren, wie sie es machte, die Gedanken ihrer Teilnehmer so zielsicher zu erraten. Sarischa kannte diese Fragen und hatte darauf eine Standardantwort: „Du musst verstehen, dass ich mein Berufsgeheimnis nicht verraten kann. Nur so viel: Ich habe eine ausgeprägte Wahrnehmungsfähigkeit. Das kleinste Zucken, minimale Haut- und Geruchsveränderungen sagen mir was. Jeder Gedanke, den ein Mensch denkt, manifestiert sich körperlich irgendwo. Und ich habe eine besondere Begabung, die ist die Basis. Mehr Auskunft gibt es nicht.“

Tami war zwar nicht zufrieden, akzeptierte aber diese kurze Information. „Okay, ich frage nicht weiter.“

Sie plauderten noch ein wenig und verließen dann alsbald das Lokal.

„Treffen wir uns mal wieder?“, fragte Tami.

„Ja, gerne.“ Sarischa freute sich über die Frage, die ihr somit erspart blieb. Denn, das wurde ihr während des Abends klar, sie wollte Robert unbedingt noch mal sehen, um zu überprüfen, ob sie seine Gedanken nicht doch lesen konnte. Es wäre perfekt, überlegte sie, wenn mich Tami zu sich nach Hause einladen würde und auch Robert da wäre. Tami sagte jedoch nichts dergleichen.

„Wo wohnt ihr denn?“, fragte Sarischa – vielleicht ein wenig zu auffällig.

„In Obermenzing.“

„Wie schön! Dort gibt es beschauliche Ecken.“

„Ja, wir haben ein sehr schönes Haus. Magst du uns mal besuchen? Wir können uns in den Garten setzen.“

„Das klingt super. Ich habe nur einen Balkon.“

„Wir telefonieren“, sagte Tami.

Schon ein paar Tage später rief Tami an und lud Sarischa zu Kaffee und Kuchen ein. Sie schlug Samstagnachmittag vor. Sarischa passte der Termin zwar nicht besonders, denn am Abend hatte sie einen Auftritt, aber sie wollte Tamis Einladung keinesfalls verschieben.

Der Samstag war ein herrlicher, spätsommerlicher Tag. Sarischa stand eine viertel Stunde vor ihrem Kleiderschrank und überlegte, wie sie sich privat bei Tami und ihrem selbstherrlichen Robert zeigen wollte. Jugendlich in Jeans und T-Shirt, mädchenhaft im kurzen Glockenrock, damenhaft im Wickelkleid oder unauffällig in einem naturfarbenen Pulli mit einer schwarzen Hose. Sie entschied sich für ein rotbuntes Wickelkleid.

Sie packte eine Flasche Prosecco ein und konnte direkt vor dem Haus der Schöners parken. Ihr war mulmig zumute, obwohl es objektiv keinen Grund gab. Am liebsten wäre sie wieder umgedreht, aber der Drang herausfinden, wer dieser Robert war und ob sie seine Gedanken wirklich nicht knacken konnte, war stärker. Hoffentlich war er zu Hause. Denn den ganzen Nachmittag nur mit Tami zu quatschen, dazu hatte sie wenig Lust.

Das Gartentor zum Grundstück auf der Rückseite des Hauses war offen. Sie klingelte an der Haustür, aber niemand öffnete. Sie klingelte mehrmals. Nichts rührte sich. War sie zu früh? Nein, drei Uhr war ausgemacht. Es war fünf nach drei. Sie entschied, sich durch ein paar Büsche, die einen lockeren Zaun bildeten, zu zwängen, um die Vorderseite des Hauses in Augenschein zu nehmen. Dort befand sich der Garten – wunderschön, mit bunten Blumen und verschiedenen Sträuchern. Auf dem Rasen waren zwei Liegestühle und auf der Terrasse stand ein Tisch mit vier Stühlen. Sie betrat das Grundstück. Nachdem sie niemanden sah, ging sie weiter bis zur Terrassentür, die geschlossen war. Sie spähte durch die Glastür; auch im Haus sah sie niemanden. Seltsam. Sarischa kam sich vor wie bestellt und nicht abgeholt – und ärgerte sich. Sie war gerade dabei, zurück zum Zaun zu gehen, da wurde die Terrassentür geöffnet und jemand rief ihr zu: „Hallo Sie, was tun Sie hier?“

Sarischa drehte sich ruckartig um. Da stand Tamis Mann, der Chirurg, mit beiden Armen an den Hüften, wie ein Cowboy, der gleich seinen Revolvern ziehen würde.

„Oh, ich ... ich bin mit Tami verabredet. Es tut mir leid, dass ich mich herangeschlichen habe, aber an der Haustür hat niemand aufgemacht, obwohl ich mehrmals geklingelt habe.“

„So? Ich habe nichts gehört.“

Robert hatte sie nicht erkannt – ohne Schminke, ohne engem Minirock und mit hochgesteckten Haaren und Sonnenbrille. Sarischa schaltete sofort auf Empfang, als sie Robert sah, aber es funktionierte nicht. Sie war wohl zu aufgeregt.

„Wer sind Sie? Mir ist nicht bekannt, dass Tami heute jemanden erwartet.“

„Hat sie nichts gesagt?“

„Nein. Hat sie nicht.“ Robert ging auf sie zu. „Sie kommen mir irgendwie bekannt vor. Waren Sie schon mal hier?“

„Wir kennen uns“, sagte Sarischa lächelnd.

Robert zuckte mit den Schultern und musterte Sarischa. Er versuchte sich zu erinnern, woher er sie kannte, jedoch vergeblich. Eine Patientin war sie jedenfalls nicht, da war er sich sicher.

Sarischa wunderte sich, dass er so ein schlechtes Personengedächtnis hatte – ein Mann, der Frauen verschönerte. Sarischa lächelte nun besonders freundlich und nahm die Sonnenbrille ab. Da fiel es ihm wieder ein. Misstrauisch und ganz und gar nicht erfreut, fragte er: „Sind Sie die … die Gedankenleserin? Ich weiß Ihren Namen nicht mehr.“

„Sarischa Tämlin. Guten Tag Herr Schöner.“

„Guten Tag. Ich bin mehr als überrascht.“

„Tami hat mich eingeladen.“

„Aha.“ Robert verschränkte die Arme.

„Ist sie denn überhaupt da? Wir waren um drei Uhr verabredet.“

„Sie dürfte im Keller sein, räumt irgendwas um. Soll ich ihr Bescheid sagen?“ Sein ernster Gesichtsausdruck entspannte sich nun etwas.

„Ich habe keine Eile. Wenn Tami noch was erledigen will …“

Er musterte Sarischa erneut. „Sie sehen heute ganz anders aus. Normaler.“

„Ich bin ja auch privat hier.“

„Privat? Soll das heißen, Sie lesen dann keine Gedanken?“

„Nein.“

„Nein?“

„Sie dürfen denken, was sie wollen.“

„Wie schön. Ich bin begeistert. Nehmen Sie Platz.“ Er deutete auf einen der Stühle und wandte sich um zur Terrassentür.

Sarischa blieb stehen.

„Ich hole Tami. Sie hat wahrscheinlich keine Uhr bei sich.“

„Ist nicht unbedingt nötig“, sagte Sarischa halblaut.

„Wie bitte?“ Robert war verwirrt. „Was ist nicht nötig? Haben Sie nun ein Date mit meiner Frau oder nicht?“

„Wir sind verabredet. Ich habe den Eindruck, das passt Ihnen nicht. Habe ich recht?“

„Hören Sie, Sie können sich gerne mit Tami treffen, aber ich finde es nicht akzeptabel, dass sie durch die Büsche in unserem Garten eindringen. Für was gibt‘s Mobiltelefone! Und ich mag es auch nicht, wenn man mir zu nahekommt, genauer gesagt, wenn Sie mir zu nahekommen.“

„Es tut mir leid, das ist nicht meine Absicht. Obwohl es mich etwas verwundert, dass Sie diesen Eindruck haben, nachdem Sie doch gar nicht ans Gedankenlesen glauben. Oder bin ich Ihnen körperlich unangenehm?“

„Nein, das sind Sie nicht, aber …“ Robert starrte Sarischa an.

„Aber was?“

„Sie haben eine eigenartige Ausstrahlung.“

Er hatte wieder diesen überheblichen Blick, wie damals im Theater. Sie konzentrierte sich auf seine Gedanken. Was ging dem Mann durch den Kopf? An was dachte dieser Robert, wenn er sie so tiefgründig ansah? Obwohl sie hochkonzentriert war, bekam sie keinen einzigen konkreten Gedanken zu fassen. Sie nahm nur wirres Durcheinander wahr, aber sie spürte, dass er an etwas Bestimmtes, etwas Wichtiges dachte. Oder bildete sie sich das nur ein?

„Sie sind wie …“ Er suchte nach einem passenden Begriff. „… wie eine moderne Hexe.“

„Oh. Das höre ich zum ersten Mal.“

Robert drehte sich um. „Ich sage Tami Bescheid, dass Sie da sind.“

Nach einigen Minuten erschien Tami freundlich lächelnd in einer ausgeleierten Jogginghose. „Hallo Sarischa, sorry, sorry. Ich habe total die Zeit vergessen. Schön, dass du da bist. Bitte nimm doch Platz. Warte einen kleinen Moment. Ich muss mich nur schnell umziehen. Dann gibt’s Kaffee und Kuchen.“

Sarischa reicht ihr den Prosecco.

„Vielen Dank. Den trinken wir später. Ich stelle ihn in den Kühlschrank.“

Weg war sie. Sarischa hörte, dass Tami mit Robert sprach, aber sie konnte nichts verstehen. Nun setzte sie sich tatsächlich und wartete. Es dauerte nicht lange, bis Tami in Jeans und Sommerpullover erschien. Sie balancierte ein Tablett mit Kuchen und Kaffeetassen.

„Magst du mit ins Haus kommen? Ich muss noch den Kaffee aufsetzen. Entschuldige bitte, dass ich nicht rechtzeitig auf die Uhr geschaut habe. Normalerweise bin ich nicht so unhöflich.“

„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Dein Mann hat mich unterhalten.“

„Bestimmt hat er mit dir geflirtet.“

„So würde ich das nicht bezeichnen.“

Sie gingen gemeinsam ins Haus, direkt in die Küche. Der Kaffee wurde aufgesetzt, Robert war nicht zu sehen.

„Trinkt Robert keinen Kaffee mit uns?“, fragte Sarischa, als sie den Tisch auf der Terrasse deckten.

„Ich denke nicht.“

„Warum nicht? Wäre doch nett.“

„Findest du? Okay.“ Tami rief ins Haus: „Rooobert. Kaffee ist fertig. Magst du zu uns kommen?“

Er kam tatsächlich. Sarischa wunderte sich. Er wirkte lockerer als vorhin, als sie alleine waren. Sie konzentrierte sich sofort wieder auf seine Gedanken – vergeblich. Sie plauderten über das Haus, den Garten, über ihre Berufe und Hobbies. Robert bot Sarischa sogar das Du an. Jetzt, hier zu Dritt, war alles wie ein ganz normales Beisammensein. Sie führten nette Wir-lernen-uns-kennen-Gespräche, die Sarischa jedoch zunehmend langweilten.

Als Tami ins Haus ging, um die Flasche Prosecco zu holen, brach die lockere Atmosphäre sofort in sich zusammen. Robert und Sarischa warfen sich einen flüchtigen Blick zu – und sie schwiegen.

Tami kam mit dem Prosecco und den Gläser. Sie schenkte ein, und sie prosteten sich zu.

„Du erfährst ja bei deinen Shows vermutlich sehr viele und unterschiedliche Gedanken“, fing Tami an. „Sind da nicht auch welche dabei, die du lieber gar nicht wissen möchtest?“

„Doch, natürlich. Das kommt vor“

„Auch schlimme Sachen?“

„Ja. Aber die spreche ich nicht aus.“

„Um was handelt es sich da zum Beispiel?“

„Hass, Eifersucht Schuldgefühle, Angst … solche Sachen. Ich konnte mal bei einer Frau lesen, dass sie mit einem sexsüchtigen Mann zusammen war. Sie wollte sich von ihm trennen, aber er drohte ihr, sie umzubringen, falls sie das tun würde. Sie hatte Angst vor ihm.“

„Was hast du dann gemacht?“

„Nichts.“

„Aber wenn du dich beim Gedankenlesen nicht irrst, so habe ich dich jedenfalls verstanden, dann hättest du doch davon ausgehen müssen, dass in diesem Fall ein Mensch bedroht wurde. Da hättest du doch etwas tun müssen“, meinte Tami.

„Was denn?“

„Mit der Frau reden, ihr Hilfe anbieten. Oder warst du dir doch nicht so sicher?“

„Doch. Ich war mir absolut sicher. Aber die Gedanken sind frei. Ich greife nicht ein.“

„Ich verstehe nicht, wie du die Sache einfach so wegschieben konntest. Okay, die Gedanken sind frei. Aber in so einem Fall? Ich weiß nicht. Was meinst du, Robert?“

„Da ich nicht ans Gedankenlesen glaube – für mich ist das nach wie vor ein Trick – sage ich dazu nichts. Allerdings hat Sarischa in einem Punkt recht: Die Gedanken sind frei. Auch ihre Gedanken (der ironische Tonfall war deutlich) sind frei.“

„Unterstellst du Sarischa, dass sie sich das Beispiel nur ausgedacht hat – wozu? Um uns zu beeindrucken?

„Nein, das unterstelle ich ihr nicht.“

„Es hat sich aber fast so angehört“, entgegnete Tami.

„Was regst du dich auf? Wenn sie sich bei ihren Auftritten Sexgeschichten ausdenkt, auch wenn sie dramatisch sind, dann ist doch nichts dabei. Viele Menschen denken an Sex, wo man es am wenigsten vermuten würde.“

Sarischa schmunzelte und warf Robert einen herausfordernden Blick zu. „Denkst du jetzt an Sex?“

„Das müsstest du doch wissen – als professionelle Gedankenleserin.“

„Du darfst Roberts Kommentare nicht so ernst nehmen“, sagte Tami. Sex ist Teil seines Alltags, denn die meisten seiner Patienten denken zu viel an Sex. Sie lassen sich aufhübschen, weil sie glauben, dann begehrenswerter zu sein und besseren Sex zu haben. Sex spielt bei Schönheitsoperationen fast immer eine Rolle.“

„Schon gut, Tami. Ich habe damit kein Problem.“

„Noch mal zu den Gedanken der bedrohten Frau“, sagte Tami. „War sie zusammen mit dem Mann in der Vorstellung?“, fragte Tami.

„Ich denke ja. Ein Mann schmiegte sich an ihre Seite.“

„Hoffentlich passiert das nicht zu oft“, sagte Tami. „Wenn ich mir vorstelle, dass in einem Theater ein potentieller Mörder sitzt, vielleicht sogar neben mir … richtig unheimlich. Gut, dass man es nicht weiß.“

„Was sind das für hanebüchene Unterstellungen?“ Roberts Miene war plötzlich ernst. „Da gehen zwei Leute ins Theater, um einen schönen Abend zu erleben und dann wird plötzlich einer als potentieller Mörder bezeichnet.“ Er blickte zu Sarischa. „Das geht zu weit. Das kannst du nicht machen.“

Es war wie ein kurzer, aber ein deutlich wahrnehmbarer Stich, der Sarischas Augen traf, als sie Roberts Blick erwiderte. Sie spürte eine unangenehme, aber intensive Nähe. Unwillkürlich versuchte sie wieder, sich mit seiner Gedankenwelt in zu verbinden. Sie konzentrierte sich.

Und sie hatte Kontakt. Was sie wahrnahm, waren nicht nur Worte, sondern es war ein Bild – klar und deutlich:

Ein junger Mann mit längeren, blonden Haaren. Sein Mund weit geöffnet, verzerrt. Der Kopf nach hinten geneigt. Nackter Oberkörper. Er liegt auf einem Boden mit Holzdielen. Bewegungslos. Fleckige Haut – Wunden?

Was war mit dem Mann? War er krank? Wurde er gequält, hatte er Schmerzen? War er tot?

Ein schreckliches Bild. Es bohrte sich in ihren Kopf. Sie erhielt keine weiteren Gedanken oder Bilder. Keine sonstigen Informationen.

Sarischa war irritiert und verkrampfte sich innerlich. Warum dachte Robert jetzt an einen nackten, vielleicht toten Mann? War das Absicht? Will er mich provozieren? Nein, das war es nicht. Das wusste sie. Diese Gedanken hatte er nicht unter Kontrolle, sie bewegten ihn.

Robert stand abrupt auf und sagte: „Ich lasse euch alleine.“ Ohne eine Erklärung, warum und ob er wieder zurückkäme, ging er ins Haus.

„Robert, bleib doch. Das war nur eine Überlegung“, rief Tami ihm nach. Aber er ignorierte sie.

Tami zuckte mit den Schultern. „Es tut mir leid, ich weiß nicht, was er hat.“

Sarischa lächelte angespannt. Sie fühlte sich unwohl und hätte sich am liebsten sofort verabschiedet, was aber Tami gegenüber unhöflich gewesen wäre. Doch das war nicht der eigentliche Grund, warum sie noch blieb. Sie musste erst Roberts Gedanken verdauen, bevor sie aufstehen und sich freundlich verabschieden konnte.

„Willst du noch einen Schluck Prosecco?“, fragte Tami, die auch spürte, dass die Atmosphäre gekippt war.

„Nein danke.“

„Oder ein Glas Wasser?“

„Ja, das wäre prima.“

Während Tami im Haus war, sah sich Sarischa den Garten an und entspannte sich wieder.

„Schöner Garten“, sagte sie zu Tami und trank das Wasser, das ihr guttat.

„Wir haben einen hervorragenden Gärtner, wie du siehst. Falls du mal einen brauchst …“

„Nein danke, brauche ich nicht. Ich werde jetzt dann gehen. Ich habe heute Abend eine Vorstellung.“

„Bleib doch noch ein bisschen. Dann können wir uns noch zu zweit unterhalten.“

„Das müssen wir nachholen. Ich muss noch etwas vorbereiten.“ Sarischa sah auf die Uhr. „Es ist schon später als ich dachte.“

„Schade. Aber bevor du gehst, noch eine Frage. Vielleicht kommt es mir auch nur so vor, aber ich habe den Eindruck, dass zwischen dir und Robert irgendetwas – wie soll ich sagen? – Ungutes läuft. Oder bilde ich mir das nur ein?“

„Wir sind nicht auf der gleichen Wellenlänge. Kommt ihr gut miteinander aus?“

„Im Allgemeinen schon. Wir haben selten Konflikte.“

„Das ist doch schon mal was.“

Gerade als Tami ihre neue Freundin zur Tür begleiten wollte, kam Robert nochmal zurück. Er stand ihm Türrahmen. „Gehst du?“

„Ja. Ich muss los.“

Robert beobachtete Sarischa, wie sie ihre Handtasche nahm und nach irgendwas suchte. Sie spürte seinen Blick. Nachdem sie ihren Autoschlüssel gefunden hatte, sah sie zu ihm; ihre Blicke trafen sich. Wieder diese Intensität, diese seltsame verquere Nähe. Sie versuchte ein letztes Mal seine Gedanken zu erfassen. Es funktionierte, obwohl sie gar nicht mehr damit gerechnet hatte. Aber das, was sie las, irritierte sie nur noch mehr:

Wenn du wirklich meine Gedanken lesen kannst, dann könntest du etwas wissen, das du nicht wissen solltest. Das ist gar nicht gut. Nimm dich in Acht!“

„Tschüss“, sagte sie mit ernster Miene und ging an Robert vorbei, ohne ihm die Hand zu reichen.

„Tschüss Sarischa“, sagte er mit breitgezogenen Lippen. „Viel Erfolg weiterhin. Oder sollte man das einer Gedankenleserin lieber nicht wünschen?“

3

Julian holte Sarischa nach ihrem Auftritt ab. Sie fuhren zu ihm. Sarischa hatte eine Flasche Champagner mitgebracht, denn Julian konnte sich das teure Getränk nicht leisten, liebte es aber, genau wie sie.

„Gibt’s was zu feiern?“, fragte er und legte sich längs auf seine Couch.

„Der Abend ist gut gelaufen.“

„Deine Abende laufen immer gut. War was Besonderes?“