Falscher Schatten - Lydia Pointvogl - E-Book

Falscher Schatten E-Book

Lydia Pointvogl

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Beschreibung

Marco sieht immer öfter einen seltsamen Schatten direkt vor sich, was ihn anfangs sehr beunruhigt. Sind es Halluzinationen? Wird er psychotisch? Während seine Ehe langsam zerbröckelt, und er auf der Suche nach seiner Traumfrau ist, tritt diese Erscheinung immer mehr in sein Leben. Bald macht auch sein bester Freund Achim ungewöhnliche Erfahrungen, durchaus zu seinem Vorteil. Das Unerklärliche verliert seinen Schrecken, wird fast normal. Doch dann stirbt eine gemeinsame Freundin unter mysteriösen Umständen. Schließlich wird es für Marco schwierig, denn das, was hinter der Erscheinung steckt, ist so unglaublich, dass man es sich nur schwer vorstellen kann - und uns eines Tages alle betreffen könnte.

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Seitenzahl: 443

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Das Buch

Marco sieht immer öfter einen seltsamen Schatten direkt vor sich, was ihn anfangs sehr beunruhigt. Sind es Halluzinationen? Wird er psychotisch? Während seine Ehe langsam zerbröckelt, und er auf der Suche nach seiner Traumfrau ist, tritt diese Erscheinung immer mehr in sein Leben. Bald macht auch sein bester Freund Achim ungewöhnliche Erfahrungen, durchaus zu seinem Vorteil. Das Unerklärliche verliert seinen Schrecken, wird fast normal. Doch dann stirbt eine gemeinsame Freundin unter mysteriösen Umständen.

Schließlich wird es für Marco schwierig, denn das, was hinter der Erscheinung steckt, ist so unglaublich, dass man es sich nur schwer vorstellen kann – und uns eines Tages alle betreffen könnte.

Die Autorin

Lydia Pointvogl war im Bereich Kommunikation in einem großen Unternehmen tätig und leitete zuletzt eine Kleinkunstbühne. Nun widmet sie sich dem Schreiben. Sie hat einen Sohn und lebt in München.

Du weißt, was du denkst. Doch ist das, was du denkst, das, was du weißt?

Inhaltsverzeichnis

Erstes Kapitel

Abschnitt 1

Abschnitt 2

Abschnitt 3

Abschnitt 4

Zweites Kapitel

Abschnitt 1

Abschnitt 2

Abschnitt 3

Drittes Kapitel

Abschnitt 1

Abschnitt 2

Abschnitt 3

Abschnitt 4

Abschnitt 5

Viertes Kapitel

Abschnitt 1

Abschnitt 2

Abschnitt 3

Abschnitt 4

Abschnitt 5

Fünftes Kapitel

Abschnitt 1

Abschnitt 2

Sechstes Kapitel

Abschnitt 1

Abschnitt 2

Abschnitt 3

Siebtes Kapitel

Abschnitt 1

Abschnitt 2

Abschnitt 3

Erstes Kapitel

1

Verdammt noch mal, was ist das? Was ist das für ein Schatten?, fragte sich Marco. Er ging die Zenettistraße entlang nach Hause. Es war ein trüber Tag, so dass es eigentlich keine Schatten geben konnte. Eigentlich. Aber da war was. Ein undurchsichtiger, nebeliger Fleck direkt vor ihm schränkte sein Blickfeld ein. Oder war der Fleck im Auge? Er blinzelte immer wieder, rieb sich die Augen, schloss sie für ein paar Sekunden und öffnete sie dann ganz langsam, in der Hoffnung, dass er wieder klar sehen konnte. Nein. Der Schatten, die Trübung, der Fleck – was es auch war, es ging nicht weg. Er hatte den Eindruck, dass es etwa drei Meter vor ihm war, mindestens ein Meter zwanzig groß und grau wie Rauch.

Er lehnte sich mit der Schulter an eine Hauswand und schloss die Augen. Ihm war schwindelig und er hatte Angst. Sehstörungen sind kein Spaß, dachte er, während er die Hände auf die geschlossenen Augen legte und wartete. Er atmete mehrmals langsam und tief, um sich zu beruhigen.

„Brauchen Sie Hilfe?“, fragte eine Passantin und berührte ihn am Oberarm.

Marco erschrak und drehte sich ruckartig zu der Frau. „Nein. Nein danke, es ist alles gut.“ Sie sah ihn zweifelnd an, während er durch ihr Gesicht hindurchstarrte. Er war einen Moment lang völlig verwirrt. Dann blickte er bewusst an ihr vorbei, um zu kontrollieren, ob der Schatten noch da war. Er war weg. Erst nachdem er mehrmals stark blinzelte, glaubte er es wirklich. Nichts mehr. Kein Fleck, klare Sicht, alles okay.

„Danke“, sagte er zu der Frau. „Meine Augen ... irgendwas war gerade mit meinen Augen.“

Daheim suchte er die Telefonnummer seines Augenarztes. Er hätte seine Augen schon längst untersuchen lassen sollen. Vielleicht brauchte er auch nur eine Brille. Oder es ist der Beginn einer Erblindung.

„In den nächsten sechs Wochen kann ich Ihnen keinen Termin geben, außer es handelt sich um einen Notfall“, leierte die Sprechstundenhilfe ihren Text ins Telefon, „dann könnten Sie auch früher kommen. Oder Sie gehen in die Notaufnahme am Goetheplatz.“

„Alles klar.“ Er legte auf.

Was soll das?, fragte er sich. In sechs Wochen könnte ich schon blind sein, wenn es wieder auftritt – stärker, länger, dauerhaft. Erst ein grauer Schatten, dann ein schwarzer Fleck. Und dann? Die totale Dunkelheit.

Am Freitagabend saß Marco mit Achim in der griechischen Taverne Anesis und erzählte ihm von seiner Sehstörung.

„Es dauerte lange, gefühlte drei Minuten. Vielleicht waren es auch nur zwanzig Sekunden, aber man kommt ganz schnell in Panik, wenn man nicht mehr richtig sehen kann.“

Achim war Marcos bester Freund, sein einzig richtiger Freund, auf den er sich verlassen konnte. Immer. Achim half ihm, wenn er konnte. Immer. Und umgekehrt war es genauso.

„Haben die Augen gejuckt?“ Achim besah sich Marcos Augen genau, konnte aber nichts Auffälliges entdecken.

„Es hat nichts gejuckt, nichts gebrannt. Ich habe nur den Schatten vor mir gesehen. Es war, als würde er vor mir stehen.“

„Vielleicht war in der Straße Rauch, der gerade vor dir vorbeizog“, überlegte Achim. „Vielleicht hat jemand etwas angezündet.“

„Mitten auf dem Gehsteig? Von einer Sekunde auf die andere? So schnell kann doch kein Rauch oder ein sonstiges schattenartiges Gebilde entstehen. Nein, da war nichts. Sonst hätte ja auch die Frau darauf reagiert, denke ich. Vielleicht ist im Inneren meiner Augen oder in meinem Kopf etwas kaputt – das Sehzentrum, der Sehnerv ... was weiß ich?“

„Du gehst morgen in die Notfallambulanz. Damit darf man in der Tat nicht spaßen.“

Marco wartete fast drei Stunden, bis er endlich an der Reihe war. Die Untersuchung selbst war eher kurz, der Arzt sprach wenig und schien etwas gestresst zu sein.

„Ich kann nichts finden“, sagte er und lehnte sich zurück. „Ihre Augen sind in Ordnung, ein wenig gereizt, aber deshalb sieht man keine Schatten. Weniger Computer würde ich Ihnen raten. Am besten konsultieren Sie einen Neurologen.“

Mit diesem Ergebnis gab sich Marco nicht zufrieden. Er hatte den Eindruck, dass die Untersuchung viel zu oberflächlich war. Obwohl er zu seinem Augenarzt eigentlich nicht mehr gehen wollte, stand er am Montag um acht Uhr in seiner Praxis. Er erzählte sein Anliegen der Sprechstundenhilfe ziemlich dramatisch und dringlich und drohte ihr, dass er sich keinen Zentimeter von der Theke wegbewegen würde, bis er nicht die Zusage hätte, noch heute untersucht zu werden. Und siehe da: Er wurde vorgezogen, obwohl bereits drei andere Patienten im Warteraum saßen. Er bekam wieder Flüssigkeit ins Auge geträufelt, musste die Wirkung abwarten, dann ging die Untersuchung los – und sein Doktor schaute angestrengt.

„Ihre Augen sind okay. Ich kann nichts finden“, sagte er schließlich.

„Wirklich?“ Marco konnte es kaum glauben, obwohl er natürlich froh war.

„Ich denke, es ist eher ein nervliches Problem. Lassen Sie sich mal gründlich durchchecken oder sprechen Sie mal mit einem Psychologen, falls der Schatten wieder auftaucht.“

„Ich hoffe, dass er nicht mehr auftaucht, sondern absäuft!“ Marcos Kommentare waren, wenn er schwierige Situationen mit Humor überspielen wollte, selten lustig – und auch sein Arzt brachte nur ein schiefes Lächeln hervor.

Marco und Achim trafen sich regelmäßig am Freitagabend, um bei Anesis zu essen und Weißbier zu trinken, ins Kino zu gehen, zum Schach- oder Kartenspielen, aber vor allem, um zu diskutieren. Ihre Themen waren die aktuelle Politik, das Geschehen in der Stadt – was für schreckliche Häuser gebaut würden, wie voll es in der U-Bahn sei, wie die alternative Kultur kaputtgemacht würde ... solche Sachen. Und dann gab es auch noch das Thema Frauen – vielmehr: es war Marcos Thema. Sein Dauerthema. Achim konnte es im Grunde schon gar nicht mehr hören, aber Marco war sein Freund – und so litt er mit ihm, zumindest intellektuell. Emotional konnte er Marcos Leid nicht so recht nachvollziehen, denn Marco war mit Natalie verheiratet. Achim hatte den Eindruck, dass die Ehe ganz gut war, bis auf die letzten Jahre, in denen Marco unzufrieden wurde. Diese Unzufriedenheit steigerte sich zunehmend. Bei jedem Treffen jammerte Achim über seine freudloses Eheleben und dass er sich endlich mal wieder leidenschaftlich verlieben möchte.

Marco und Natalie lernten sich vor dreißig Jahren auf einer Studentenparty kennen. Sie waren beide zwanzig Jahre alt, verstanden sich gut, trafen sich oft und heirateten bald. Kinder wollten sie keine, und Natalie wurde auch nie schwanger. Alles passte. Marco gefiel Natalies freundliches Lächeln, ihre Art zu leben: unkompliziert, tolerant, offen für Neues. Doch im Laufe der Ehe verlor ihre Beziehung an Spannung, was Marco lange Zeit gar nicht so besonders auffiel, bis auch sexuell nicht mehr viel passierte. Seit Jahren schliefen sie nur noch an ihren Geburtstagen miteinander, vielleicht an Silvester. Und im Urlaub – aber auch nur ein- oder zweimal. Es war gerade so, als gehörte Sex zum Pflichtprogramm, das abgehakt werden musste. Richtige Lust war etwas anderes.

Natalie reizte ihn nicht mehr. Sie war nicht mehr die, in die er sich einst verliebt hatte, behauptete er. Doch so ganz stimmte das nicht. So richtig verliebt war er in Natalie nie. Sie war damals schlichtweg einfach da, ohne dass er sich groß um sie bemühen musste. Sie stellte keine allzu großen Ansprüche an ihn und an das Leben mit ihm. Er fühlte sich mit Natalie wohl und er konnte sich gut mit ihr unterhalten. Optisch war sie jedoch von Anfang an nicht wirklich sein Typ. Er liebte langbeinige, schlanke Frauen mit dunklen Haaren und einem wippenden, dynamischen Gang. Natalie war blond, rundlich und bewegte sich plump. Oft sagte er zu ihr, „geh doch mal ein bisschen lockerer “, aber sie tat es nicht. Sie versuchte es nicht mal. Im Gegenteil. Marco hatte den Eindruck, dass sie immer behäbiger wurde, auch geistig. Mit der Zeit interessierte sie sich für immer weniger und ausgehen wollte sie quasi gar nicht mehr. Wenn sie von der Arbeit nach Hause kam, widmete sie sich dem Haushalt, kochte – später schlief sie vor dem Fernseher ein.

Marco wollte endlich wieder etwas erleben, sich verlieben, Sex – Sex mit einer Frau, die ihn erotisiert, Sex mit einer Traumfrau, seiner Traumfrau. Schon lange suchte er sie. Das sagte er sich und Achim. Achim war jedoch der Meinung, dass Suchen anders ginge, als Marco es tat. Er unternahm nämlich so gut wie nichts. Im Café zu sitzen und zu warten, bis die Traumfrau erscheinen und ihn ansprechen würde, war aus Achims Sicht nicht zielführend, genauso wenig, wie in der Sauna Frauen zu begutachten, in der Hoffnung, dass die Schönste ihn anlächeln und mit ihm ins Bett steigen würde.

„Du musst jetzt endlich aktiv werden“, sagte Achim, als sie bei Anesis, der Wirt der gleichnamigen Taverne, das zweite Weißbier bestellten. „Geh doch mal zum Tanzen. Oder besser ins Museum. Da rempelst du eine gutaussehende Frau an, entschuldigst dich und fragst, ob ihr das Kunstwerk gefällt. Oder so ähnlich. Und schon seid ihr im Gespräch.“

„Von wegen. Dann sagt sie ‚ja’ oder ‚geht so’ und dreht sich weg. Ende des Gesprächs.“

„Natürlich musst du dich ein bisschen ins Zeug legen. Sei kreativ! Sag zum Beispiel, dass du von dem Bild oder der Skulptur so beeindruckt warst, dass du sie, also die Frau, ganz übersehen hast, wo sie doch so ein schönes Kleid tragen würde, was selbst schon ein Kunstwerk darstellte ... oder so ähnlich.“

„So eine plumpe Anmache funktioniert doch nie. Und wer weiß, wie lange ich überhaupt noch was sehe. Ich habe dir doch erzählt, dass ich einen Schatten gesehen habe. Die Ärzte finden nichts.“

Marco erzählte, dass die Augenärzte meinten, er sollte zum Neurologen oder Psychologen gehen. „Hey! Die denken, ich habe mir das nur eingebildet!“

„Ich kann dazu nichts sagen. Aber bei den Augen wäre ich vorsichtig. Wenn es wieder kommt, musst du dir einen richtig guten Augenarzt suchen. Das ist wichtig.“

„Ich weiß. Mein Opa wurde blind. Es fing mit Sehstörungen an. Wahrscheinlich bin ich familiär vorbelastet.“

„Wie ist es momentan?“

„Alles gut.“

„Immerhin. Wahrscheinlich war es nur eine einmalige Sache. Stressbedingt oder Augenmigräne oder etwas in der Art.“ Achim hätte Marco gerne Ratschläge gegeben, aber mit Augenkrankheiten kannte er sich nicht aus. „Aber unabhängig davon“, ergänzte er, „ein wenig lockerer könntest du trotzdem werden – auch was Frauen betrifft.“

„Du hast ja recht. Wahrscheinlich bin ich zu verklemmt. Ich drehe noch durch, wenn sich nicht bald was tut.“

„Es!“ Achim wurde ernst. „Das Es tut eben gerade nichts. Du musst was tun.“ Er packte Marco bei den Schultern und schüttelte ihn. Marco wehrte sich heftig, so dass ein Stuhl umkippte, und Anesis kritisch die Augenbrauen hochzog und kurz überlegte, ob er eingreifen musste. Das brauchte er aber nicht, denn für die beiden Freunde war die Auseinandersetzung nur Spaß. Sie setzten sich wieder ordentlich an den Tisch und konnten plötzlich herzhaft lachen – über ihr Leben und über das Leben an sich, das selten so lief, wie man es sich wünschte.

Anesis spendierte zwei Ouzos. Schließlich wurden es sechs, und Marco fühlte sich wesentlich besser, als sie über die zunehmende Vermüllung der Städte sprachen, was lange nicht so schlimm sein würde, wie man oft behauptete, gerade in München. Der echte Münchner würde an ganz anderen Sachen leiden, aber, sagte Achim zu Anesis, der hin und wieder gerne kurz mitdiskutierte, darüber dürfe man nicht reden. Das wäre zu gefährlich. Und wieder mussten Marco und Achim lachen, und auch Anesis lachte mit, obwohl er nicht so genau wusste, warum.

Achims Aufforderung, er müsse endlich mal aktiv werden, ging Marco nicht mehr aus dem Kopf. Als er am Sonntagabend Natalie in einem Bademantel eingewickelt aus dem Badezimmer kommen sah, kam ihm spontan die Idee, einen Urlaub in einem Sport- und Wellnesshotel zu buchen – alleine, ohne Natalie. In so einem Hotel wären bestimmt alleinreisende Frauen anzutreffen. Er suchte im Internet nach einem guten Hotel im Berchtesgadener Land, denn die Gegend wollte er schon immer mal kennenlernen. Er fand ein passendes Haus in schöner Lage, nicht gerade günstig, aber das war ihm dann egal. Er buchte für nächsten Sonntag und sagte Natalie vorerst nichts. Erst am Tag vor seiner Abreise, länger konnte er nicht mehr warten, informierte er Natalie.

„Ich fahre morgen für eine Woche in ein Sport- und Wellness-Hotel“, verkündete Marco, als er mit Natalie am Frühstückstisch saß.

„Wie, was? Wellness? Du willst in ein Wellness-Hotel?“, stammelte Natalie.

„Ja, du hast schon richtig gehört.“

„Das ist nicht dein Ernst.“ Sie schmunzelte, denn sie dachte, Marco machte einen Witz.

„Doch, das ist mein Ernst. Ich mache Urlaub in einem Hotel mit Wellnessangeboten. Es ist gebucht und ich sage nicht ab.“

Natalie war einen Moment sprachlos, bis sie realisierte, dass Marco keinen Witz machte.

„Ohne mich und ohne mit mir vorab darüber zu reden?“

„Ja. Das ist ein Spontanentschluss.“

„Was heißt Spontanentschluss? Du kannst doch nicht einfach von der Arbeit wegbleiben.“

„Doch. Ich habe mit einem Kollegen den Urlaub getauscht.“

„Warum? Warum machst du das?“, zischte Natalie. Sie konnte es nicht fassen. „Fährt Achim mit? War das seine Idee?“

„Nein. Das ist meine Idee. Und ich fahre alleine.“

„Warum?“ Natalie schüttelte verständnislos den Kopf. „Du hast doch noch nie alleine Urlaub gemacht. Was soll das?“

Marco sah sie an und verstummte. Er konnte ihr doch nicht die Wahrheit sagen: ich suche Sex mit einer tollen Frau. Stattdessen zuckte er mit den Achseln, und Natalie fragte noch einmal: „Warum?“

„Ich muss mal was für mich alleine machen.“

„Aber Wellness? Das passt doch gar nicht zu dir.“

„Was passt denn deiner Meinung nach zu mir?“

„Eine Studienreise nach Ägypten, zum Beispiel.“

Sie wusste, dass er Probleme mit der Hitze hatte. Nie würde er im April nach Ägypten fahren.

„Du weißt, dass ich in keine heißen Länder fahre.“

„Ja, stimmt. Das war auch nur ein Beispiel. Wo ist denn dieses Hotel?“

„In den kühlen Berchtesgadener Alpen.“

Nach einer kurzen Schweigepause stand Natalie auf, räumte den Tisch ab und sagte in einem beleidigten Ton: „Okay, mach deinen blöden Wellness-Urlaub.“

„Schön. Dann ist ja alles gut, so wie es ist.“

Das war es keineswegs. Er wusste, nur zu sagen, dass er mal was alleine machen möchte, war zu wenig. Er müsste sich erklären: ... dass er eine Auszeit bräuchte, dass er gestresst sei, und dass er mal raus müsste. Das alles stimmte zwar auch, aber er hatte überhaupt keine Lust, sich zu rechtfertigen sowie weitere Fragen zu beantworten. Und so tat Marco das, was viele Männer tun, um vor Auseinandersetzungen zu flüchten: Er nahm seine Jacke und verließ die Wohnung.

Das Wetter war sehr schön. Er fuhr mit der U3 bis nach Thalkirchen und lief die Isar entlang stadtauswärts. Viele Leute waren unterwegs, kein Wunder bei diesem sonnigen Wetter. Bis jetzt, Mitte April, war es viel zu kalt. Die Menschen sehnten sich nach dem Frühling, nach Wärme und Licht.

Marco stieg über das Gebüsch hinab zu einem kleinen Weg, der zwischen den Bäumen direkt an der Isar entlangführte. Beinahe wäre er ausgerutscht, denn der Boden war glitschig. Er hielt sich an einem Ast fest und ging dann vorsichtig weiter. Der Weg wurde bald wieder etwas breiter und der Untergrund stabiler. Gerade wollte er eine schnellere Gangart einlegen, da geschah es: Der Schatten war wieder da. Urplötzlich von einer Sekunde auf die andere, direkt vor ihm. Grau, wie das letzte Mal, aber größer, etwa menschengroß. Er verdeckte einige Baumstämme.

Marco zuckte zusammen. Unwillkürlich rieb er sich die Augen, hielt sie mehrere Sekunden fest geschlossen, dann öffnete er sie und hoffte, dass der Schatten weg war. Dem war aber nicht so. Er ging langsam und vorsichtig einige Schritte vorwärts, der Schatten gleichsam mit ihm. Er hatte das Gefühl, dass seine Augen brannten, aber es konnte natürlich auch vom Reiben gekommen sein. Wieder schloss er die Augen, diesmal ganz sanft. Dann öffnete er das rechte Auge, das linke hielt er mit der Hand zu. Der Schatten war immer noch sichtbar. Auch allein mit dem linken Auge konnte er ihn sehen. Was war das nur? Er versuchte trotzdem seinen Weg fortzusetzen, was ihm allerdings nicht möglich war. Der Schatten irritierte ihn zu sehr. Wieder schloss er die Augen und zählte bis dreißig. Und als er sie wieder öffnete, war der Schatten weg. Komplett. Nichts mehr war zu sehen. Er konnte es gar nicht glauben, drehte sich um sich selbst, sah in alle Richtungen. Nichts. Die Welt war klar, die Sonne schien, die Leute lachten. Alles war wieder normal.

Normal? Normal war das nicht. Erst ganz langsam und dann mit einer ziemlichen Wucht merkte er, wie sehr ihn dieser Schatten beunruhige. Seine Knie fingen an zu zitterten. Er musste sich an einem Ast festhalten. Um sich stabiler zu fühlen, drückte er seine Füße fest in die Erde. Dann ließ er langsam seine Augen kreisen, schaute in alle Richtungen und beobachtete sehr genau, ob er wirklich alles sehen konnte. Erst als er sich sicher war, dass auch kein winziger Fetzen eines Schattens seinen Blick trübte, stieg er langsam hoch zum breiten Fußweg und setzte sich auf die nächste Bank. Seine Gedanken kreisten um die Frage, was mit seinen Augen los war: Habe ich eine seltene oder gar unbekannte Augenkrankheit? Sollte ich noch einmal zu einem anderen Augenarzt gehen oder tatsächlich zu einem Neurologen oder Psychologen? Bin ich mehr gestresst, als es mir bewusst ist? Hätte ich mit Natalie reden sollen, ehrlich und ohne Umschweife? Sind diese Schatten Symptome eines verdrängten Problems?

Als er wieder zu Hause ankam, war Natalie nicht da. Er war erleichtert. Er hätte, Augen hin oder her, mit ihr nicht reden wollen, und schon gar nicht jetzt, wo er noch ganz durcheinander war. Er wollte wegfahren – sofort. Er rief im Hotel an, fragte, ob er schon heute kommen könnte. Es klappte. Eilig packte er den großen Koffer, nahm viel zu viele Sachen mit und hoffte, nichts Wichtiges vergessen zu haben. Für Natalie hinterließ er eine Nachricht auf einem Zettel. „Bin schon los. Komme nächsten Samstag wieder. Bitte ruf nicht an. Gruß, Marco.“

2

Das Hotel lag an einem Hang mit einem phantastischen Blick in die Berge. Mit den nur etwa sechzig Betten machte es einen behaglichen und idyllischen Eindruck. Sein Zimmer war neu, dezent modern, mit Vollholzmöbeln, was Marco liebte. Er war zufrieden.

Er packte aus, besichtigte das Hotel und machte in der näheren Umgebung einen Spaziergang. Am späten Nachmittag setzte er sich auf die Hotelterrasse und beobachtete, wie nach und nach die Wanderer – und was ihn besonders interessierte: die Wanderinnen! – von ihren Touren zurückkamen. Es waren, so wie er sich das vorgestellt hatte, viele Frauen hier – ohne Männer. Zwei Freundinnen, sie hakten sich ineinander, gingen an ihm vorbei und schauten ihn offensiv an. Das freute ihn. Sehr sogar.

Im Restaurant sah er die beiden wieder. Sie hatten sich hübsch gemacht – nein, sie waren hübsch. Am Buffet reihte er sich hinter ihnen ein. Die mit den dunklen, halblangen Locken sprach ihn auch prompt an, als er etwas unschlüssig vor der Salattheke stand.

„Sie müssen unbedingt den Spinatsalat probieren. Er ist sehr raffiniert zubereitet, wirklich fein.“

„Aha. Dann mache ich das. Sie kennen sich mit dem Essensangebot hier anscheinend schon gut aus?“

„Wir sind bereits ein paar Tage da. Sind sie alleine hier?“

„Ja. Ich bin heute Nachmittag angekommen.“

Sie plauderten ganz ungezwungen, während sie ihre Teller belegten. Ihre blonde Freundin sagte, er solle sich doch zu ihnen setzen. Was er dann auch tat.

Sie unterhielten sich über die Wandermöglichkeiten in der Gegend, über Yoga und die anderen Angebote des Hotels inklusive der biologischen Kosmetikbehandlungen und Massagen. Marco fühlte sich in der Wellness-Welt angekommen, die ihm bislang absolut fremd war und über die er auch etwas schmunzeln musste. Aber er genoss es, sich so unbeschwert unterhalten zu können. Und besonders genoss er die Anwesenheit der dunkelhaarigen Ina. Nelly, ihre blonde Freundin, fand er auch nett, aber Ina war genau sein Typ. Sie hatte schlanke, lange Beine und diesen beschwingten Gang, den er bei Frauen so liebte.

Er schlief gut die erste Nacht. Und als er am Morgen aus dem Fenster sah und die großartigen Berge betrachtete, freute er sich auf den Tag. Seine Augenprobleme hatte er fast vergessen. Und er wollte sie auch vergessen, nicht darüber nachdenken, sondern nur entspannen.

Im Frühstücksraum hielt er Ausschau nach den beiden Frauen. Leider waren sie nicht da. Es war neun Uhr. Er fragte an der Rezeption, ob die zwei schon unterwegs waren, aber das konnte man ihm nicht sagen. Er machte sich wanderfertig und ging dann los. Da er nicht oft in den Bergen war und nicht allzu viel Wandererfahrung hatte, ließ er es langsam angehen. Ein Stück vom Hotel entfernt gab es einen Weg zu einer Alm – zwei Stunden Gehzeit stand auf dem gelben Wegweiser. Das war optimal. Er hoffte, obwohl er nicht daran glaubte, Ina und Nelly zu treffen.

Bereits nach zwanzig Minuten schwitzte er. Er zog die Sportjacke aus und trank die halbe Wasserflasche leer. Ihm war klar, er hatte viel zu wenig zum Trinken mitgenommen. Der anfangs gemütliche Weg wurde steiler, die Sonne heißer. Seine Kondition war eher schlecht. Gut war, dass er nun eine Woche lang trainieren konnte – er hatte es bitter nötig. Endlich kam er an der Hütte an. Einige Wanderer saßen auf den Bänken vor der Hütte und genossen bereits ein kühles Bier. Er hielt Ausschau nach Ina und Nelly, doch sie waren nicht da. Ein klein wenig enttäuscht trank er, aber mit Genuss, ein alkoholfreies Weißbier und aß dazu einen Wurstsalat. Mit seinen Tischnachbarn wechselte er ein paar Worte und freute sich, dass er hier war, weg von Natalie und auch weg von der Arbeit. Er war Jurist in einer Sachversicherung, bearbeitete Kundenbeschwerden und schrieb Gutachten. Die Tätigkeit forderte ihn nicht allzu sehr heraus, obwohl er stets viel zu tun hatte, nicht selten zu viel, aber die Kollegen waren nett und die Bezahlung gut.

So saß er nun unter einem Sonnenschirm und entspannte. Er bestellte schließlich ein „richtiges“ Weißbier und fühle sich nach einem kräftigen Schluck gleich noch entspannter. Da es erst Mittag war, und der Tag so herrlich, peilte er ein weiteres Ziel an. Zum nächsten Berg waren es weitere zwei Stunden. Das sollte er doch locker schaffen. Und in der Tat, festen Schrittes marschierte er dahin, trotz des Weißbiers und seiner mäßigen Kondition. Ein kühler Wind wehte um seinen Kopf, was er als angenehm empfand. Was für ein schöner Urlaubstag, dachte er und fotografierte mit dem Handy – seine Systemkamera hatte er leider vergessen – den Watzmann, der sich plötzlich vor ihm auftat. Aber da tat sich noch was anderes auf und das gefiel ihm ganz und gar nicht.

Nein, nicht schon wieder! Der Schatten. Bitte nicht! Marco blinzelte, rieb sich die Augen, presste die Lider ganz fest zusammen und öffnete dann vorsichtig die Augen. Es nützte nichts, er war da. Das Gebilde hatte sich verändert, es hatte eine menschliche Form angenommen. Eindeutig. Er sah einen Kopf, einen Rumpf, ein paar Beine mit Füßen, wenn auch sehr plumpe, wie Holzscheite. Nur Arme fehlten. Gebannt blickte er auf den Schatten. Sein Atem stockte. Sein Herz fing an zu klopfen. Dieses Gebilde sah aus wie ... ja, wie ein Geist! Verdammt, ich sehe einen Geist, dachte er. Das darf doch nicht wahr sein!

„Verschwinde“, fauchte er, obwohl er wusste, dass es dämlich und sinnlos war.

Dann nahm er das Handy und fotografierte die Erscheinung, die, so kam es ihm vor, einige Meter vor ihm stand. Auch das war sinnlos. Auf den Fotos war nichts zu sehen.

„Lass mich in Ruhe, hau ab!“

Marco hatte den Eindruck, dass der neue Schatten – dieser Geist! – auf ihn reagierte, zumindest wackelte er ein wenig hin und her, als er ihn anschrie. Aus purer Verzweiflung nahm er einen Stein und warf ihn nach dem Schatten, um ihn zu vertreiben, aber er blieb natürlich. Marco drehte sich um, doch er war wieder vor ihm. Egal, in welche Richtung er blickte, der Schatten – er sah tatsächlich wie ein Geist aus – ging mit seinem Blick mit, nicht ganz synchron, sondern ruckelig. Manchmal stand er mehr rechts, dann wieder mehr links. Es war auch egal, ob Marco den Boden vor seinen Füßen oder die Berge in weiter Ferne fixierte, das Gebilde war immer in seinem Gesichtsfeld.

Jetzt nur nicht durchdrehen, sagte er sich. Ganz ruhig bleiben, Augen schließen und durchatmen. Es wirkte, er wurde langsam ruhiger. Doch dann hörte er plötzlich Stimmen. Andere Wanderer, zwei Männer und eine Frau, näherten sich ihm und sein Herz klopfte erneut heftig. Er wusste, er musste die Augen öffnen und so tun, als wäre nichts. Aber vielleicht, ja vielleicht trat nun der zwar unwahrscheinliche, aber doch nicht ganz auszuschließende Fall ein, dass die Wanderer diesen Schattengeist auch sehen konnten. Dann wäre dies nicht sein Problem, sondern eine objektive Erscheinung. Er öffnete die Augen. Der Geist war noch da. Die Wanderer kamen näher, redeten miteinander, lachten.

„Servus. Na, schon ein bisschen müde?“, fragte ihn einer der Männer.

„Ja, ein wenig. Ich bin die Berge nicht gewöhnt, da kommt man schon außer Atem“, antwortete Marco und sah zum Geist, der zwar etwas abseits der Wanderer, aber noch in deren Blickfeld stand. Sie müssten ihn sehen, dachte er sich, falls sie ihn sehen können. Sie konnten es nicht.

„Pausen sind wichtig“, sagte der andere Wanderer. „Viele rennen wie die Irren durch die Berge und nehmen überhaupt nichts wahr. Dabei ist es so schön hier.“

„Da haben Sie recht“, bestätigte Marco. „Eine wunderbare Gegend.“

Sie wünschten sich gegenseitig noch einen schönen Tag und die Wanderer gingen direkt am Schatten vorbei weiter den Weg nach oben.

Marco wollte keinen Schritt mehr gehen, solang er noch da war, zumindest nicht nach oben. Um sich abzulenken, holte er seine halbleere Wasserflasche aus dem Rucksack und trank einen Schluck. Was sollte er jetzt machen? Wieder die Augen schließen und warten und hoffen? Oder einfach ins Tal zurückgehen – mit ihm? Er war kurz davor in Panik zu geraten. Er setzte sich auf einen Holzstumpf, klopfte sich auf den Kopf und rieb seine Augen. Er schloss sie, er öffnete sie, er blinzelte bis er nur noch Blitze sah, wie man es vom Stroboskop kannte und schüttelte dabei seinen Kopf hin und her. Er schloss wieder die Augen und wollte bis hundert zählen, jede Zahl ganz bewusst und langsam.

Er war bei siebzig. Irgendwas knallte in seiner Nähe. Er kannte das Geräusch nicht, war sich aber sicher, dass es nichts mit ihm zu tun hatte und hielt die Augen geschlossen. Er zählte weiter. Bei zweiundneunzig spürte er etwas am linken Unterarm. Unwillkürlich blickte er dort hin. Es war Vogelkacke. Er musste fast lachen und genau in diesem Moment vergaß er für einen Bruchteil einer Sekunde den Schatten. Er sah hoch. Und tatsächlich war das ersehnte Wunder geschehen: der Schatten war weg. Er wischte sich den Arm ab und dankte dem Vogel, den er noch wegfliegen sah, wie einem Gott im Himmel, dass er den Schatten vertrieben hatte. Da Marco nicht religiös war, blieb es beim Dank an den Vogel.

Endlich im Hotel angekommen – der Rückweg kam ihm unendlich weit und beschwerlich vor – duschte er lange und setzte sich dann wieder auf die Hotelterrasse. Er musste Menschen um sich haben. Er konnte nicht mehr mit sich allein sein, denn er hatte das Gefühl, dass er ein ernstes Problem hatte. Er sah etwas, was andere Menschen nicht sahen. Etwas, das sich verändert hatte. Und sich weiter verändert? Und wieder auftaucht? Plötzlich irgendwo? Mittlerweile glaubte auch er, so wie die Augenärzte, um eine Augenkrankheit handelte es sich bei diesem Phänomen wohl nicht.

Das Handy klingelte – es war Natalie. Er fühlte einen leichten Stich im Bauch. Ausgerechnet jetzt. Er fühlte sich noch ziemlich mitgenommen. Was wollte sie? Er hatte sie doch gebeten, nicht anzurufen. Nach mehrmaligem Klingeln nahm er das Gespräch an, obwohl er absolut keine Lust hatte, mit ihr zu reden. Aber sein schlechtes Gewissen war größer, schließlich hatte er sich nicht mal verabschiedet.

„Hallo Natalie. Was gibt’s?“

„Hallo Marco Ich wollte nur wissen, ob du gut angekommen bist.“

„Das bin ich.“

„Ist das Hotel okay?“

„Ja, es ist okay. Warum rufst du an?“

„Da du schon gestern abgereist bist, haben wir uns nicht mehr gesehen, nicht mehr gesprochen. Du bist einfach abgehauen, hast nur einen Zettel hinterlassen. Ich weiß überhaupt nicht, was eigentlich los ist.“

„Nichts ist los. Ich will mich einfach nur erholen.“

„Das glaube ich nicht. So überarbeitet warst du doch gar nicht. Bist du wirklich in Berchtesgaden?“

„Ja, so ungefähr. Ich bin nicht direkt in der Stadt, sondern ... das ist doch wirklich nicht wichtig!“, entgegnete Marco vehement und musste aufpassen, dass er nicht laut wurde. Seine Nerven waren gerade nicht besonders stabil. „Ich will ein paar Tage was anderes erleben. Das ist alles.“

„Ohne mich, ist schon klar.“ Natalie fühlte sich übergangen und vernachlässigt. „Du hättest mich doch wenigstens fragen können, ob ich mitfahren will.“

„Ja, das hätte ich.“

„Warum hast du es dann nicht getan?“

„Mein Gott, Natalie. Bitte ...“

„Was heißt hier ‚bitte’? Ich finde dein Verhalten nicht okay. Du behandelst mich total abweisend.“

„Lassen wir das jetzt. Ich möchte nicht mehr weiterreden, das macht keinen Sinn, schon gar nicht am Telefon.“

„Gut. Jetzt macht das wirklich keinen Sinn. Wann kommst du zurück?“

„Am Samstag. Das habe ich doch geschrieben.“

„Dann müssen wir reden“, sagte Natalie in einem sehr ernsten Ton.

Allerdings, dachte sich Marco und spürte zugleich, dass er vor diesem Gespräch Angst hatte. Er wusste nicht, ob er sich von Natalie trennen wollte. Er wusste auch nicht, ob er der Beziehung noch eine Chance geben konnte oder ob er innerlich schon abgeschlossen hatte. Das, was er jetzt wusste, war, dass er das Telefonat sofort beenden musste.

„Also dann bis Samstag. Tschüss.“

Er hörte noch das „Tschüss“ von Natalie, legte sofort auf und schaltete das Handy aus. Er atmete mehrmals kräftig durch und blickte vor sich hin – auf die Fließen der Hotelterrasse. Sein Herz klopfte. Das Gespräch hatte ihn aufgeregt.

Er bestellte ein Glas Wein, trank es zügig, dann ging es ihm etwas besser. Die Sonne stand schon tief und die dunklen Berge wirkten mächtig und majestätisch. Er hörte, wie sich am Tisch nebenan ein Pärchen über die beeindruckende Kulisse unterhielt. Er betrachtete die Bergkette und musste dem Pärchen rechtgeben: es war schön hier, viel zu schön, um sich aufzuregen. Er zwang sich, wieder das Hier und Jetzt wahrzunehmen und den Schatten und Natalie ab sofort zu vergessen. Nach einem weiteren Glas Wein konnte er sich endlich einigermaßen entspannen.

Ina kam auf ihn zu. Alleine. Marco freute sich, winkte ihr, und sie setzte sich zu ihm.

„Wie war dein erster Tag? Bist du gewandert?“, frage Ina.

„Ja, klar. Und in einer Almhütte eingekehrt. Wann seid ihr denn los? Ich dachte, wir würden uns vielleicht beim Frühstück sehen.“

„Wir sind heute schon um acht Uhr mit den Mountainbikes aufgebrochen und waren am Königssee. War schön, aber anstrengend.“

„Wo ist Nelly?“, fragte Marco und hoffte, dass sie sagte, Nelly hätte noch etwas vor, sodass er mit Ina allein sein konnte.

„Sie besucht in Bad Reichenhall eine Bekannte und kommt erst spät zurück, sodass ich heute Abend alleine bin. Wir könnten zusammen essen, wenn du willst.“

„Gerne, sehr gerne. Soll ich dich abholen?“

„Ich hole dich ab“, sagte Ina. „Deine Zimmernummer?“

„Neunundzwanzig.

Ina sah Marco mit einem ernsten Gesichtsausdruck an. „Das ist keine gute Zahl.“

„Wieso das denn?“

„Das darf ich dir jetzt eigentlich gar nicht sagen, denn es klingt verrückt. Bist du abergläubisch?“

„Nein, bin ich nicht. Sag schon, was hat es mit der Zahl auf sich?“

„Meine Großmutter und meine Mutter sind an einem Neunundzwanzigsten gestorben. An einem Neunundzwanzigsten habe ich mir mal den Arm verbrannt. Siehst du die Narbe? Das war nicht lustig.“

Ina hatte eine etwa sechs Zentimeter lange Brandnarbe unterhalb des Ellenbogens, was Marco noch gar nicht aufgefallen war.

„Und eine Kollegin von mir“, fuhr sie fort, „wurde an einem Neunundzwanzigsten am Geldautomaten zusammengeschlagen und am selben Tag starb ihre Mutter an einem Herzinfarkt. Verrückt oder?“

„Schon. Hm. Aber was mir auffällt, es waren nur Frauen betroffen. Mir wird schon nichts passieren, da ich doch ein Mann bin.“ Er schmunzelte und dachte: Hoffentlich. Wer weiß, was noch auf mich zukommt.

„Glaubst du an Geister?“ Marco musste diese Frage jetzt einfach stellen.

Ina lachte. „An Geister? Du meinst Tote, die irgendwo ihr Unwesen treiben? Bestimmt nicht. Ich bin zwar, logischerweise bei meinen Erfahrungen, skeptisch, wenn es um sogenannte Zufälle geht, aber an Geister glaube ich nicht. Aber wer weiß, vielleicht gibt es sie ja. Ich habe jedenfalls noch keinen gesehen. Du vielleicht?“

„Ja, heute am Berg.“

„Und du hattest ganz große Angst. Simsalabim! Er hätte dich womöglich in einen Frosch verzaubern können.“ Sie stand auf, um zu gehen. „Wir sehen uns heute Abend – aber nicht erst zur Geisterstunde. Ist neunzehn Uhr okay?“

„Ist okay“, sagte Marco und sah Ina hinterher, als sie beschwingt die Terrasse verließ.

Er trank den letzten Schluck Wein und dachte über die Neunundzwanzig nach. War da mal was? Es fiel ihm nichts Besonderes ein. Zum Glück.

Das Abendessen lief perfekt. Marco und Ina unterhielten sich prächtig, sie waren auf derselben Wellenlänge. Er berührte mehrmals vorsichtig und zart ihre Hand, sie die seine. Es knisterte. Marco fand Ina sehr erotisch, sehr sexy.

Nach dem Essen wankten sie leicht beschwipst zu Zimmer neunundzwanzig. Er konnte es nicht fassen: Sie kam einfach mit in sein Zimmer, ohne zu zögern, ohne Fragen, ohne Spielchen. Im Zimmer küssten sie sich. Aber der Kuss war für beide nicht gut. Sie waren irritiert, küssten sich noch mal, aber das änderte nichts. Im Gegenteil: Zunge, Lippen, Geschmack – es passte nicht, ganz und gar nicht. Der Nachgeschmack löste bei beiden sogar leichten Ekel aus.

Ina sagte: „Es tut mir leid, aber du schmeckst nicht gut.“

„Du auch nicht.“ Marco wischte sich dezent den Mund ab.

Sie standen sich peinlich berührt gegenüber.

„Und nun?“, fragte Ina.

„Wir müssen uns nicht küssen“, sagte Marco. „Ich finde dich trotzdem sexy.“

„Kann sein, aber Sex ohne Küssen? Das funktioniert nicht. Und ich merke, dass ... dass es mit uns nichts wird. Vielleicht sind es unsere Körpergerüche, die nicht zusammenpassen.“

Auch Marco spürte, dass ihre gegenseitige Anziehungskraft für Sex nicht reichte, ob nun mit oder ohne küssen. „Du hast recht“, sagte er. „Das wird wohl nichts zwischen uns, dabei hätte ich es mir so gut vorstellen können, denn ...“

„Ist schon gut“, unterbracht ihn Ina. „Lass dich noch mal umarmen, aber ich denke, mehr geht nicht.“

Als sie ihre Arme um ihn schlug, ihr Gesicht seines streifte und ihr Atem an ihm vorbeizog, merkte er, dass ihr Atem scharf roch, wie Kümmel oder Putzmittel. Das war ihm beim Küssen gar nicht aufgefallen.

„Gute Nacht“, sagte Marco und drückte Ina sanft von sich. Das konnte wirklich nichts werden.

Marco war enttäuscht. Er legte sich aufs Bett und starrte zur Decke. Nach einiger Zeit bemerkte er, wie eintönig weiß sie war, ohne Flecken, ohne Risse, ohne irgendwas. Genauso fühlte er sich: leer und farblos – frustriert. Er dachte sich: Wenn jetzt wieder der Schatten – ich sollte ihn wohl mittlerweile nur noch als Geist bezeichnen – erscheinen würde, wäre es mir auch schon egal. Das stimmte natürlich nicht. Er hatte Angst, einfach nur pure Angst, dass mit ihm etwas geschah, dem er ausgeliefert war. Um sich abzulenken, zappte er durchs Fernsehprogramm, blieb bei einer Diskussion über Immobiliengeschäfte hängen, war jedoch zu müde, um dem Inhalt zu folgen. Er ging schlafen und träumte von neunundzwanzig Vögeln, die über ihm kreisten.

Als er am nächsten Tag den Frühstücksraum betrat, sah er Ina und Nelly schon am Tisch sitzen. Am liebsten wäre er an einen anderen Tisch gegangen, doch das kam ihm kindisch vor. Also steuerte er auf die beiden zu. Ina kam ihm entgegen und sagte das einzig Richtige: „Ich denke, es ist besser, wenn wir heute nicht zusammen frühstücken. Schließlich haben wir alle Urlaub und sind frei, in dem was wir tun.“

„Danke Ina. So sehe ich das auch.“ Marco lächelte sie verständnisvoll an und setzte sich alleine an einen kleinen Tisch. Er schrieb eine WhatsApp:

„Hallo Achim, Zwischenbericht: Der Urlaub ist schön, die Berge sind hoch und einige Frauen ganz nett. Hatte noch keinen Sex. Wird wohl auch nichts. LG Marco.“

„Mein lieber Marco, genieße deinen Urlaub und bleibe locker. Sex ist nicht alles. Schöne Grüße“, schrieb Achim zurück.

Marco sah das anders. Er ging davon aus, dass Achim und Anne ein befriedigendes Sexualleben hatten, zumindest so einigermaßen. Achim hatte Marco zwar schon oft gesagt, Sex wäre ihm nicht so wichtig, in seinem Leben ginge es vorrangig um seine Band, die Rabencools, und um seine künstlerische Verwirklichung. Aber Marco glaubte das nicht. Er nahm an, Achim würde das nur sagen, um ihn abzulenken. Vermutlich hätte er sich an seiner Stelle längst von Natalie getrennt. Marco hingegen träumte von seiner Traumfrau. Irgendwann würde er sie finden und dann hätte er auch die Kraft, sich von Natalie zu trennen. Zumindest glaubte er das.

Er dehnte das Frühstück in die Länge. Er hatte keinen Plan, wie er den Urlaubstag gestalten sollte. Schon wieder wandern? Das gestrige Erlebnis hatte er noch nicht verdaut. Was, wenn dieser Geist, oder was auch immer das war, wieder kommen würde? Was sollte er dann tun? Er wusste, er konnte nichts tun. Oder hatte er sich das alles nur eingebildet? Gab es nur eine vorübergehende Fehlschaltung in seinem Gehirn? Oder hatte er einen Tumor? Krebs? Nein, das konnte nicht sein. Nicht er. Nicht jetzt.

Nach der dritten Tasse Kaffee entschied er sich, zum Königssee zu fahren und eine Bootstour zu unternehmen – eine ganz normale touristische Aktivität, da momentan schon sonst nichts normal war.

Der Ausflug hatte ihm besser gefallen, als er dachte. Der dunkelgrüne Königssee hatte ihn beeindruckt, die Bootsfahrt war lustig. Er hatte das Salzbergwerk besucht und noch kurz Berchtesgaden besichtigt. Alles lief unspektakulär – kein Schatten, kein Geist. Und doch: So sehr er den Tag genoss, richtig entspannt war er nicht. Eine Frage begleitete ihn auf Schritt und Tritt: Was war das? Da er keine Antwort fand, fasste er den Entschluss, das Ereignis als Halluzination zu bezeichnen. Halluzinationen können bei Belastungen oder Stress – und das langweilige Leben mit Natalie stresste ihn durchaus – schon mal vorkommen, haben aber keine tiefergehende Bedeutung und müssen auch nicht wiederkommen.

Am späten Nachmittag fuhr er ins Hotel zurück und freute sich auf das Abendessen. Als er gerade eingeparkt hatte, kamen auch Ina und Nelly an. Er war froh, bekannte Gesichter zu treffen und fragte spontan, mit einem fragenden Blick Richtung Ina, ob sie auf ein gemeinsames Abendessen Lust hätten. Sie hatten. Er freute sich, dass er am Abend Gesellschaft haben würde und dass der misslungene Sexversuch mit Ina kein Hindernis für ein gemütliches Zusammensein darstellte.

„Hattest du einen schönen Tag?“, fragte Ina, nachdem sie das Essen bestellt hatten. „Warst du in den Bergen unterwegs?“

„Nein, ich war am Königssee und im Berchtesgadener Salzbergwerk.“

„Da waren wir auch schon“, sagte Nelly. „Hast du schon gehört, was passiert ist?“

„Nein. Was ist denn passiert?“

„Auf dem Toten Mann hinter der Bezoldhütte ist ein toter Mann gefunden worden“, sagte Ina. „Wir waren heute dort.“

„Ein toter Mann lag auf einem toten Mann?“ fragte Marco irritiert. „Was geht denn hier ab?“

„Toter Mann ist ein Berg. Der heißt so. Oben steht die Bezoldhütte, eine unbewirtschaftete Schutzhütte“, erklärte Nelly. „Mir ist noch ganz schlecht. Wir waren kurz vor der Hütte, da hörten wir plötzlich eine Frau schreien. Wir dachten, sie wäre hinter der Hütte – gesehen haben wir niemanden – und hätte sich verletzt. Wir sind sofort hingelaufen. Ja, und dann lag da der Tote hinter der Hütte zwischen den Brennnesseln. Seine Augen waren weit aufgerissen. Er sah gruselig aus, panisch, angstvoll ... ich weiß nicht. Es war unheimlich.“

„Ein Mann um die Vierzig, schätze ich“, ergänzte Ina. „Er lag auf dem Rücken. Er sah nicht verletzt aus, nur der Gesichtsausdruck war entsetzlich, vielleicht ein Herzinfarkt. Die Frau rief die Polizei. Wir haben dann noch zwei andere Wanderer kommen sehen und haben uns schlagartig aus dem Staub gemacht. Hätten wir vielleicht nicht tun sollen. Aber wir hatten einfach keine Lust, in so eine Sache hineingezogen zu werden.“

„Das kann ich verstehen“, sagte Marco. „Was hättet ihr der Polizei auch sagen sollen? Außerdem hat die Frau den Mann gefunden, nicht ihr.“

„Ja schon“, sagte Ina zerknirscht, „aber wenn uns die Polizei als Zeugen gebraucht hätte und uns jetzt vielleicht sogar sucht? Vielleicht haben wir uns strafbar gemacht.“

„Quatsch. Ihr habt doch keine Fahrerflucht begangen“, meinte Marco.

„Mir sind die Berge mittlerweile unheimlich“, sagte Nelly. „In den Bergen passieren doch immer wieder unheimliche Sachen, die man sich nicht erklären kann.“

„Ach ja, was denn?“, frage Marco interessiert. Er wurde hellhörig, denn seine Geisterscheinung war schließlich auch ein unerklärliches Ereignis.

„Mysteriöse Sachen. Ein Kellner hat erzählt, der in einem kleinen Bergdorf lebt, dass letztes Jahr seine zwei Katzen gestorben sind, die völlig gesund waren. Sie lagen tot bei seinem Schuppen.“

„Das ist doch nicht mysteriös“, entgegnete Ina. „Die sind wahrscheinlich vergiftet worden.“

„Das kann schon sein. Aber der Kellner hatte festgestellt, dass es noch Wochen nach dem Tod der Katzen genau am Fundort – und das war im Freien – extrem muffig gestunken hat, obwohl die Katzen schon längst woanders begraben worden waren. Das ist doch eigenartig, oder?“

„Ist der Kellner heute hier“, fragte Marco. „Zeig ihn mir.“

„Er bedient uns“, sagte Nelly.

„Er sieht ganz normal aus“, stellte Marco fest.

„Natürlich sieht er normal aus“, sagte Ina. „Warum soll denn nicht normal aussehen?“

„Ich meine ja nur ...“

„Er hat die Katzen nicht selber umgebracht. Und er erzählt auch kein mysteriösen Geschichten, nur um sich wichtig zu machen – wenn du das meinst“, entrüstete sich Ina.

„Das meine ich nicht. Mich interessieren solche Vorfälle. Ich würde gerne mehr darüber wissen.“

„Willst du mit ihm reden?“, fragte Nelly.

„Lasst doch den Mann in Ruhe“, gab Ina zu Bedenken. „Er muss hier bedienen, und das Restaurant ist voll.“

„Das muss ja auch nicht jetzt sein“, sagte Marco.

Kurze Zeit später brachte der Kellner, er hieß Franz Hintermeier, die Getränke. Marco konnte sich nicht zurückhalten und fragte ihn so höflich wie er nur konnte, ob er ihm etwas zum Tod seiner Katzen sagen würde.

„Sie wissen es wahrscheinlich von den jungen Damen hier, nehme ich an.“ Er lächelte Ina überaus freundlich an. „Warum interessiert Sie das? “

„Weil ich ... weil ... ach lassen Sie uns das später besprechen. Wann hätten Sie denn Zeit?“

„Eigentlich nie. Aber gut. Nach meinem Dienst um zweiundzwanzig Uhr am Haupteingang. Dann können wir kurz reden, aber wirklich nur kurz.“

Marco bedankte sich mehrfach.

„So, nun lasst uns anstoßen“, sagte Ina. „Auf unseren Urlaub und auf das Berchtesgadener Land.“

Marco staunte, wie schnell die beiden ihre Gläser leerten – beinahe auf einen Zug hatten sie ein Weißbier weggekippt. Und sie lachten dabei wie pubertierende Mädchen. Er konnte nicht nachvollziehen, was plötzlich so lustig war.

„Morgen reisen wir ab“, sagte Nelly. „Das ist also unser letzter Abend hier. Den muss man noch genießen. Zum Wohl!“ Nelly zog die Augenbrauen hoch und grinste. „Du checkst nicht allzu viel, oder?“ Sie tippte mit ihrem Zeigefinger auf Marcos Hand.

„Was checke ich nicht?“

„Ina und Franz. Mein Gott, das sieht doch ein Blinder!“

Marco war nicht schlecht erstaunt. So lief das also. Spontan schoss ihm eine Bemerkung in den Kopf, die er aber nicht aussprach: Bei ihm hast du dir wohl die Zähne geputzt! Gesagt hatte er nur: „Aha.“ Er war eifersüchtig – nicht auf diesen Franz, aber auf die Tatsache, dass Ina eine Urlaubsliebe gefunden hatte und er nicht.

Ina grinste ein wenig verschmitzt vor sich hin.

Bereits kurz vor zweiundzwanzig Uhr wartete Marco am Haupteingang auf Franz Hintermeier, der ein paar Minuten später erschien.

„Was interessiert Sie denn an dieser alten Geschichte? Die Sache liegt doch schon ein halbes Jahr zurück. Bitte kurze Fragen. Es war anstrengend heute.“ Franz stellte seine Tasche neben sich ab.

„Wie erklären Sie sich den wochenlangen Gestank am Fundort der Katzen?“

„Ich habe keine Erklärung.“

„Haben Sie den Boden untersucht?“

„Na klar, aber da war nichts zu sehen, gar nichts. Sogar als es geregnet hatte, war danach der Gestank noch da.“

„Wissen Sie denn, woran die Katzen gestorben sind?“

„Nein. Vermutlich sind sie vergiftet worden, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, wer das gewesen sein könnte. Ich habe keine Feinde. Aber warum interessiert Sie das? Sind Sie Polizist – einer der im Urlaub nicht abschalten kann?“

„Nein, nein. Ich bin kein Polizist. Mich interessiert Ihre Geschichte, weil ich heute ...“ – Marco wollte lieber nicht so genau sagen, was er erlebt hatte – „eine schattenartige Luftspiegelung gesehen habe, richtig unheimlich. Ich dachte, vielleicht wissen Sie, ob hier so etwas schon mal vorgekommen ist und was das sein könnte.“

„Schattenartige Luftspiegelung?“ Franz Hintermeier zuckte mit den Achseln. „Wie sah sie denn aus?“

„Sie war grau und hatte eine menschenähnliche Form, etwas breiter vielleicht.“

Franz lächelte verständnisvoll. „Ach wissen Sie, so manche Städter sehen Bären im Wald, hören Wölfe heulen, fürchten sich vor angeblichen Schlangen und so weiter. Die Berge und die Geräusche der Natur sind ihnen fremd und dann sehen oder hören sie Sachen, die gar nicht da sind. Und Schatten? Jeder Baum wirft Schatten. Vermutlich waren Sie von irgendwas irritiert oder geblendet und dachten, dass da irgendwas sei. Wie gesagt, viele Touristen bekommen in den Bergen Angst, das ist nichts Ungewöhnliches. Kommt oft vor. Lassen Sie sich mal kräftig durchmassieren, das entspannt. Noch Fragen zu den Katzen?“

„Nein. Danke für Ihre Einschätzung.“

„Gerne. Und noch einen schönen Urlaub.“

Marco ging auf sein Zimmer und studierte die Massageangebote im Hausprospekt.

Am Mittwochvormittag reisten Ina und Nelly ab. Marco konnte noch beobachten, wie sich Ina und Franz verabschiedeten – mit tausend Küssen und Umarmungen. Schade, sinnierte er, dass es zwischen ihnen nicht klappte. Vielleicht hätten sie beide einfach nur Mundspülungen verwenden sollen – oder Kaugummis kauen. Nun ja, es war, wie es war, es ließ sich nichts mehr ändern.

Marco nahm sich vor, die letzten drei Tage seines Urlaubs die Angebote des Hotels auszukosten. Er ließ sich täglich massieren, besuchte Yogastunden und schloss sich einer geführten Mountainbike- sowie einer Bergtour an. Das war alles nett, redete er sich ein. Wenn er ehrlich war, waren Gruppeaktivitäten nicht unbedingt sein Ding, aber es war eine Möglichkeit, Frauen kennenzulernen. Doch auch das war nur die halbe Wahrheit, denn die meisten Frauen ohne Männer, die im Hotel wohnten, interessierten ihn nicht besonders. Die volle Wahrheit war, dass er Angst hatte allein zu sein – draußen am Berg, im Wald, auf Spazier- und Wanderwegen. Da konnte dieser Franz durchaus die Meinung vertreten, dass Schatten oder ähnliche Erscheinungen nur ein Problem der Städter seien. Er hatte keine Angst vor der wilden Natur, er hatte Angst vor diesem Geist.

Am Freitag regnete es. Heftig. Und es war kalt. Im Berchtesgadener Land wurde es ungemütlich, und Marco hatte absolut kein Lust mehr auf Wellness, Yoga und die übergewichtigen Frauen, die sich zu Hause wahrscheinlich keinen Millimeter bewegten. Im Vergleich zu diesen Damen war sogar er beweglich. Im Vergleich zu den trainierten Damen – und wenigen Herren – fühlte er sich steif und unattraktiv. Langsam kam er sich total deplatziert vor in diesem hochpreisigen Wellness-Hotel, wo man immer so tun müsste, als wäre man total entspannt und glücklich. Nichts war er von all dem.

3

Achim langweilte sich, hatte weder Lust auf Fernsehen noch auf Joggen oder andere sinnlose Aktivitäten. Es war noch früh genug, Paulo zu besuchen, bevor die Gäste eintrafen. Paulo hatte einen kleinen Club, in dem auch Livebands spielten.

„Wie schaut’s aus Paulo? Können wir mal wieder bei dir auftreten? Ich bräuchte dringend ein Engagement.“

„Schaut nicht gut aus. Am Wochenende geht gar nichts und unter der Woche kommen zu wenige Gäste. Da lohnt sich keine Band ... ja, ich weiß, ihr seid gut, aber es geht nicht.“

„Über die Gage können wir reden. Ich bin verhandlungsbereit.“

„Hm!“ Paulo lächelte müde. „Vergiss es.“

„Warum? Mach mir ein Angebot.“

„Ich kann nicht, Achim. Es tut mir wirklich leid, aber ich habe gerade einen finanziellen Engpass. Ich muss froh sein, wenn ich den Laden noch halten kann. Verstehst du?“

„Verstehe.“ Was sollte er auch sonst sagen. Er konnte Paolos Problem gut nachvollziehen, denn auch seine finanzielle Situation sah nicht rosig aus.

Paulo wies seinen Mitarbeiter an, den Club zu öffnen. Es standen schon einige Leute vor der Tür und nach und nach kamen mehr Gäste, etwas mehr Frauen als Männer unterschiedlichen Alters. Gegen Mitternacht war es mäßig voll. Der Club schien tatsächlich nicht mehr so gut zu laufen. Dabei hatte Achim den Eindruck, dass sich die Gäste durchaus wohlfühlten, vielleicht gerade weil es nicht übervoll war und man noch die Chance hatte, sich einen Überblick über die Gäste zu verschaffen.

Achims Wunsch war, mit seiner Band auf Tour zu gehen, in großen Sälen aufzutreten und Menschenmassen zu begeistern. Ein Traum. Das wusste er. Die Konkurrenz war einfach zu groß und ohne Glück, also ohne Beziehungen, gab es kaum eine Chance, bekannt zu werden. Musik war sein Lebensinhalt, aber er verdiente damit einfach nicht genug Geld.

Seine berufliche Situation war noch nie einfach. Er hielt die Rabencools zusammen, war der Frontmann, Sänger und Gitarrist. Das Repertoire der Band war vielfältig. Sie spielten so ziemlich alles: Coversongs von Rock, Pop über Oldies bis zu melodiösen Eigenkompositionen. Engagiert wurden sie für Hochzeiten, Firmenfeiern, als Begleitband und manchmal für Messen. Davon konnte keiner der Bandmitglieder auch nur ansatzweise leben, alle gingen noch einer Arbeit mit sicherem Einkommen nach. Bis auf Achim. Das wollte er nicht. Freiheit war ihm wichtiger als Sicherheit. Bislang hatte seine Selbständigkeit einigermaßen gut geklappt, denn er war ein Bühnenmensch, der nicht nur gut singen, sondern auch hervorragend reden und sein Publikum in Bann ziehen konnte. Bei den Auftritten mit der Band hielt er gerne kurze Reden zu Themen des Zeitgeschehens – lustig, doppeldeutig, hintergründig. Auf das Publikum und den Anlass zugeschnitten traf er die Worte genau so, dass sich die Zuhörer bestens unterhalten fühlten. Seine Ansprachen waren mehr als die üblichen Einlagen von Musikern, um mit dem Publikum Kontakt aufzunehmen. Es war aber auch kein Kabarett. Es war etwas Eigenes – es war Achim: schlau und gewandt sowie freundlich frech. Das kam an. Irgendwann kam ein alter Bekannter auf ihn zu und engagierte ihn für Firmenevents – als musikalischer Entertainer und Speaker. Da er praktisch zu jedem Thema etwas sagen konnte, war es leicht für ihn, als solcher aufzutreten. Obwohl er diese Tätigkeit nicht wirklich ernst nahm, hatte der doch Spaß dabei, mit voller, wenn auch nur mit perfekt gespielter, Überzeugung zu erzählen, was man hören wollte. Inhaltlich war es zielgerichtete Manipulation, kurz: aufgeblähter Schwachsinn. Aber seine Auftraggeber waren zufrieden. Er wurde weiterempfohlen, bot seine Dienste im Internet an und hatte mit dieser Tätigkeit ein zwar unregelmäßiges, aber immerhin ein ganz gut bezahltes Einkommen. Zusätzlich arbeitete er ab und an in einem Callcenter als Aushilfe. Das ging alles lange gut so.

Aber nun war die Situation eine andere. Als Entertainer oder Speaker bekam er im letzten Jahr nur noch vier Aufträge, die Rabencools hatte viel zu wenige Engagements und das Callcenter ging pleite. Er lebte vom Ersparten, und das war voraussichtlich in einigen Monaten aufgebraucht. Seine Freundin Anne hätte ihm im Notfall Geld geliehen. Früher, als er allein von der Musik lebte, musste dies schon mal sein, aber es war ihm stets sehr unangenehm.

Auch wenn Achim von Paolo kein Engagement bekommen konnte, genoss er den Abend. Er tanzte gerne, wenn er in Stimmung war und ihm die Musik gefiel. Die Musik passte und die Stimmung tanzte er gerade herbei. Das konnte er ziemlich gut. Er tanzte wild, ausdrucksstark und erotisch. Als Musiker hatte er natürlich ein hervorragendes Gespür für Rhythmus. Er entwickelte einen eigenen Tanzstil, bei dem sich Rhythmus, fließende Bewegungen und exzentrische Gesten zu einem Gesamtkunstwerk verschmolzen. Damit zog er die Blicke der Frauen auf sich – heute Abend besonders.

Eine kleine Rothaarige beobachtete ihn schon eine Zeit lang und tanzte nun direkt vor ihm, ziemlich nah und auch ziemlich wild. Als der Song zu Ende war,