Abteilung G. - Arno Alexander - E-Book

Abteilung G. E-Book

Arno Alexander

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Beschreibung

Verbrecherbanden tyrannisieren New York, allen voran die einander bekriegenden Banden von Mc Carthy und Petersen. Zu deren Bekämpfung hat die New Yorker Polizei eigens die Abteilung G. eingerichtet – ausgesuchte "Gorillas", die speziell geschult sind und von denen die anderen Polizisten nicht einmal den Namen kennen. Als Maud Murray zusammen mit dem Polizisten Arthur Lennox am Pennsylvania-Bahnhof auf Mauds Mann Dick wartet, der nach sieben Monaten von einer Kur in Europa zurückkehrt, erleben sie eine böse Überraschung: Dick wird, kaum ausgestiegen, von der Polizei verhaftet; er hat, wie er ihnen noch selbst mitteilen kann, im Zug einen Mann erschossen. Da wissen die beiden noch nicht, dass es mit Dick Murrays Arbeit bei der Feuerwehr eine ganz besondere Bewandtnis hat und dass nach seiner Freilassung nun Dick selbst in höchster Lebensgefahr schwebt. Am gleichen Abend noch erhält Maud Besuch von Inspektor Hearn, dem gefährlichsten Geheimpolizisten von New York. Maud scheint ein seltsames Doppelspiel zu betreiben. Und sie ist, wie sich herausstellt, nicht die Einzige. Bald ereignet sich ein grässlicher Mord. Geheimpolizist Hearn wird derweil durch den Besuch seiner Nichte Edith aufgehalten, die sich, sehr zu seinem Missfallen, aus Europa angekündigt hat. Doch schließlich soll Edith bei der Aufklärung der Verbrechen und der Bekämpfung der Bande Mc Carthys unerwartet eine ganz besondere Rolle zukommen ... Ein spannender, actionreicher und zugleich humorvoller Kriminalroman aus der Verbrecher- und Polizeiwelt New Yorks, wie ihn kein anderer besser zu schreiben vermochte als Arno Alexander!-

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Arno Alexander

Abteilung G.

Kriminalroman

Abteilung G.

© 1950 Arno Alexander

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711626061

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

I

„Siebzehn Uhr dreizehn“, sagte Arthur Lennox gedankenvoll und streifte den Ärmel seines feinen Mantels wieder über die Armbanduhr. „Ich wußte es doch: Wir würden viel zu früh hier sein.“

Maud Murray lächelte.

„Das macht nichts“, sagte sie freundlich. „Wir können ja warten. Oder haben Sie keine Zeit?“

„Für Sie keine Zeit?“ antwortete Lennox und schüttelte wehmütig den Kopf. „Sie wissen doch —“ Er unterbrach sich und deutete auf eine Glastür, hinter der man Menschen sah, die behaglich ihren Kaffee tranken. „Wollen wir nicht auch eine Tasse trinken, statt hier zu frieren?“

Maud nickte.

„Gern, aber nur im Stehen. Ich bin zu ungeduldig. Ich könnte nicht einen Augenblick ruhig sitzen, — jetzt, wo es sich nur noch um Minuten handelt!“

„Also gut — im Stehen!“ sagte er, schritt neben ihr her zur Glastür.

Es war in New York, auf dem Pennsylvania Bahnhof, und obwohl hier nur wenige Leute waren, die Zeit zu verlieren hatten, sahen doch fast alle etwas verwundert diesem Paar nach. Es war nicht der Umstand, daß beide — er und sie — gleich hübsch, von gleich geschmeidiger, feingebauter Gestalt waren, der die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich lenkte; es war vielmehr der schroffe Gegensatz in der Kleidung der beiden. Was Lennox trug, stammte von einem der besten Schneider — das sah man auf den ersten Blick. Sie dagegen trug ein billiges Jackett von Kaninfell, ein ebensolches Fellmützchen, einen einfachen, wenn auch kleidsamen Wollrock und Überschuhe, die nicht mehr sehr neu aussahen. Hätte man die Frau allein getroffen, so würde sich niemand über sie gewundert haben, denn sie verstand auch diese billigen Dinge mit Würde zu tragen; aber in Begleitung dieses Mannes wirkte sie befremdend: seine Krawattennadel allein mußte das Zehnfache von dem gekostet haben, was Maud Murray anhatte.

„Sie freuen sich also sehr?“ fragte Lennox leise und wärmte seine erstarrten Hände an der eben gebrachten dampfenden Tasse. „Sehr, ja?“

Maud trank langsam, Schluck für Schluck, den heißen Kaffee.

„Wie können Sie nur fragen?“ gab sie vorwurfsvoll zur Antwort. „Sieben Monate war er weg. Sieben Monate und drei Tage. Und jeder Monat hat dreißig Tage. Es gibt aber auch böse Monate, die haben einen Tag mehr …“

Lennox schob seufzend seine Tasse beiseite und brannte sich eine Zigarette an.

„Ich hatte immer gehofft, Sie würden ihn ein wenig vergessen“, sagte er nachdenklich und starrte auf seine weißen, gepflegten Fingernägel. „Sieben Monate sind doch eigentlich eine recht lange Zeit. Man kann sich umsehen, man kann zur Besinnung kommen, man kann … Nun, man kann schließlich auch mal Vergleiche ziehen. Ich will nichts gegen Dick gesagt haben. Er ist gewiß ein prächtiger Mensch …“

Sie unterbrach ihn lächelnd:

„Aber wenn man ihn mit Ihnen vergleicht, zieht er doch den kürzeren? Das wollten Sie wohl sagen, Mr. Lennox? Bitte, geben Sie mir auch eine Zigarette! Danke. Das wollten Sie doch sagen?“

Lennox lächelte auch, aber es war ein trauriges Lächeln.

„Nein, das wollte ich nicht sagen“, widersprach er. „Ich meinte nur, daß Sie etwas mehr an sich denken sollten. Sie sind nicht dazu geschaffen, die Frau eines armen Feuerwehrmannes …“

„Bitte, nicht!“ sagte sie und hob warnend den Zeigefinger. „Unsere Freundschaft könnte sehr schnell zu Ende sein, wenn Sie etwas Häßliches über Dick sagten. Und — wissen Sie — wozu ich geschaffen bin, das kann ich selbst am besten beurteilen. Wie spät ist es jetzt?“

„Noch nicht ganz halb sechs. Jetzt ist der Zug erst vor der Stadt, und die Dampflokomotive wird mit der elektrischen ausgewechselt . . Maud!“ Er beugte sich vor. „Sie wissen, was Sie mir sind. Ich muß es einmal aussprechen …“

Sie schüttelte den Kopf.

„Sprechen Sie nichts aus, lieber Lennox. Sie können sich denken, so viel Sie wollen, aber ja nichts aussprechen. Ich bin eine tugendhafte Frau, ein bißchen altmodisch …“

„Aber das ist ja nicht wahr“, sagte er heftig. „Sie verleugnen Ihr eigentliches Wesen. Zu etwas ganz anderem sind Sie geschaffen … Und ich — — — wissen Sie, daß ich für Sie alles tun würde, was Sie wünschen … Kein Geldopfer wäre mir zu schade . .“

„Ach Geld!“ warf sie achtlos hin. Dann sah sie ihn ein wenig neugierig von der Seite an. „Gut“, fuhr sie fort, „dann schenken Sie Dick eine Million!“

„Eine Million? Wozu braucht Dick so viel Geld?“

„Dick braucht eine Million, damit er es nicht mehr nötig hat zu arbeiten, damit er eine Wohnung mit Bad nehmen kann, sich jeden Tag massieren lassen kann und alle Länder bereisen, nach denen er Sehnsucht hat.“

Lennox lachte gereizt.

„Sie belieben zu scherzen, und ich dachte schon, Sie machen ernst. Eine Million? Nun, ich wäre froh, wenn ich den zehnten Teil davon hätte. Aber wenn ich Dick nun fünftausend Dollar schenke …“

„Was soll er damit?“ fragte sie leichthin und zog ihre Handschuhe an.

„Nun, dasselbe, was Sie vorhin aufzählten: Wohnung mit Bad, Masseur, Reisen …“

„Und das alles mit Ihren fünftausend Dollar?“ rief sie und lachte hell auf. „Sie scherzen, und ich dachte schon, Sie meinten es im Ernst. Sie vergessen bei Ihrem Scherz aber, daß fünftausend Dollar ein recht armseliges Geschenk an einen Freund sind, wenn man — — — Aber genug des Scherzens. Kommen Sie, wir gehen!“

Er faßte sie beim Arm und hielt sie zurück.

„Nur einen Augenblick noch. Sie sagten … Sie ließen den Satz unbeendet. Es wäre ein armseliges Geschenk an einen Freund, wenn man — nun?“

„Wenn man damit auch nur das winzigste Anrecht auf die Frau des Freundes erkaufen will“, sagte sie ruhig und schritt hinaus, ohne ihn anzusehen.

Lennox warf ein Geldstück auf den Tisch und folgte ihr rasch. Wieder sahen sich die Leute nach dem ungleichen Paar um, aber jetzt verweilten ihre Blicke nur für Sekunden bei ihnen, denn die allgemeine Aufmerksamkeit hatte sich anderen Dingen zugewendet.

„Der Zug! Der Zug!“ rief Maud und winkte Lennox, ihr zu folgen. Sie lief so schnell, daß er nur mit Mühe mitkommen konnte, und er war doch nicht alt und hatte oft Gelegenheit, sich im Laufen zu üben.

Wie eine lebendige Mauer standen die Menschen da, als der Zug langsam einfuhr. Befehle wurden laut, verzweifeltes Rufen nach dem Gepäckträger, erstickte Schreie der Wiedersehensfreude. Maud lief hin und her, von Wagen zu Wagen. Ihre Wangen glühten, die Augen leuchteten, aber noch immer suchte sie vergeblich nach dem Erwarteten.

„Maud! Maud!“

Das war seine Stimme! Maud warf sich herum, stieß sich zornig durch die Reihen der ihr entgegendrängenden Menschen, und dann stand sie vor ihm — einem kräftigen Mann von mittlerem Wuchs, mit wettergebräuntem, frischem Gesicht.

„Dick! Mein Dick!“ Sie flog ihm in die Arme, daß ringsherum einige Leute belustigt auflachten.

„Da bist du ja! Ja, da bist du ja“, murmelte er. „Meine Maud! Mein Einziges … Ist Lennox nicht da?“

„Oh, er ist auch da!“ rief sie glücklich. „Irgendwo hier in der Nähe wird er sein. Aber ich habe dich zuerst gefunden! Oder du mich. Ach, das ist ja ganz gleich!“

„Maud, wo ist Lennox? Ich muß ihn sofort sprechen.“

Sie horchte unwillkürlich auf. Sein Ton war so ganz anders, als sie ihn sich sieben Monate lang für diese Stunde vorgestellt hatte. Rasch löste sie sich aus seiner Umarmung und sah ihn an. Sein Gesicht, so braun und frisch es aussah, verriet doch etwas Besorgtes, fast Ängstliches.

„Dick, was ist mit dir?“ flüsterte sie erschrocken. „Was ist …“

Aber Dick achtete nicht mehr auf sie. Er hatte Lennox entdeckt und streckte ihm rasch die Hand entgegen.

„Guten Tag, guten Tag, lieber Lennox“, sprach er hastig. „Sie müssen mir helfen. Es ist — erschrick nicht, Maud — es ist ein Unglück geschehen …“

„Ein Unglück?“ Lennox zog die Augenbrauen fragend empor. „Was? So reden Sie doch endlich.“

Dick umfaßte fest die Hände Mauds. Dann hob er den Kopf und sagte leise:

„Ich habe unterwegs — vor kaum einer halben Stunde — im Zuge einen Menschen erschossen.“

Maud taumelte, und Lennox griff schnell zu, um sie zu stützen.

„Das ist doch …“ murmelte er. „Murray, das ist doch nicht möglich! Sagen Sie — — —“

„Es ist so“, bestätigte Dick Murray finster. „Dort, der Polizist bewacht mich. Er versprach mir, so lange zu warten, bis ich euch begrüßt hätte. Jetzt muß ich mit …“

„Sie sind verhaftet?“ fragte Lennox erschrocken.

„Ja … Nein … Das heißt — doch. Lennox, Sie als Inspektor der Kriminalpolizei werden mir doch helfen können … Jetzt muß ich gehen. Lebt wohl. Mach dir keine Sorgen, Maud. Kopf hoch! Leb wohl! Leb wohl!“

Gleich darauf war Dick Murray im Menschengewühl verschwunden, und Maud und Lennox standen wieder so allein auf dem Bahnsteig, wie sie dort gestanden hatten, ehe der Zug ankam.

„Mein Gott! Mein Gott!“ flüsterte Maud. „Das ist doch … Das kann ja nicht sein … Oh! Mr. Lennox! Lieber Freund! Sie müssen doch etwas tun können — Sie, als Kriminalbeamter!“

Er schüttelte langsam den Kopf.

„Ich will selbstverständlich alles tun, was in meiner Macht steht, aber wenn Ihr Mann schuldig ist, kann ihm niemand — auch ich nicht — helfen.“

Maud schien aus einer Erstarrung zu erwachen.

„Was sprechen Sie noch so lange und was stehen Sie hier herum? Warum handeln Sie nicht?“ rief sie verzweifelt. „Dick — schuldig? Halten Sie denn das für möglich? So sagen Sie es doch! So reden Sie doch endlich!“

„Nichts ist unmöglich“, antwortete er kurz. „Aber jetzt will ich mich der Sache annehmen. Bleiben Sie unterdessen hier stehen. Gehen Sie nicht weg. Sobald ich das Nötige festgestellt habe, hole ich Sie wieder ab.“

Maud starrte ihm nach, als er davoneilte. Noch drei, vier Sekunden stand sie da, als überlege sie. Dann aber lief sie, viel schneller als Lennox, quer über den Bahnsteig, auf das Fernsprechhäuschen zu.

Sie riß die Tür auf. Ein Mann stand da und drehte an der Nummerscheibe.

„Sie müssen mich sofort sprechen lassen!“ rief sie flehend und befehlend zugleich! „Sofort! Es geht um Leben und Tod!“

Der Mann stotterte verwirrt etwas zur Antwort, legte aber den Hörer auf und trat hinaus.

Sie zog die Tür zu und stellte hastig einen Anschluß her.

„Hier spricht Maud Murray“, stammelte sie. „Sie müssen mir helfen! Dick Murray, mein Mann, hat im Zuge einen Menschen erschossen … Man hat ihn verhaftet …“

Eine kalte, ziemlich hohe Männerstimme unterbrach sie:

„Ich bin erstaunt, wirklich sehr erstaunt, Mrs. Murray! Habe ich Ihnen nicht oft genug gesagt, Sie sollten mich unter gar keinen Umständen anrufen? Aber Sie …“

„Das ist doch jetzt alles ganz gleichgültig!“ rief sie ungeduldig. „Verstehen Sie denn nicht: mein Mann ist in größter Gefahr! Sie müssen ihn retten, Sie müssen …“

„Ich wüßte nicht, wie ich ihn retten sollte, — ausgerechnet ich!“

„Sie haben doch so gute Beziehungen zur Polizei.“

Ein trockenes Lachen am anderen Ende der Leitung unterbrach sie.

„Sie sind heute sehr unvernünftig“, sagte die hohe, kalte Männerstimme nach einer Weile. „Hängen Sie jetzt den Hörer ein …“

„Nicht eher, als Sie mir versprechen, für Dick sofort falschen Paß, Geld und Schiffskarte zu besorgen …“

Eine Weile herrschte Schweigen.

„Gut!“ sagte der Mann endlich widerstrebend. „Ich will sehen, was sich tun läßt. Aber hängen Sie sofort den Hörer ein. Sofort!“

Maud seufzte, leise auf und gehorchte.

II

Das Eßzimmer in der Wohnung Dick Murrays machte heute einen sehr festlichen Eindruck. Die fünf Glühbirnen des Kronleuchters über dem Tisch, von denen sonst nur eine oder zwei angezündet wurden, brannten heute alle, und in ihrem strahlenden Lichte erschien das blendend weiße Tischtuch noch blendender und noch weißer. Der Tisch war für vier Personen gedeckt, und neben jedem Gedeck befand sich ein Sträußchen Blumen. Rosen und Nelken standen in schön geschliffenen Blumengläsern in der Mitte und an beiden Enden des Tisches, und wo man hinsah, in jeder Ecke, auf jedem Tischchen, auf jedem Fenster und jeder Tür sah man sie —: rote Rosen und weiße Nelken.

Jim Elgin, Leutnant der Kriminalpolizei, stand schon seit fünf Minuten unbeweglich vor dem Tisch und stierte geistesabwesend vor sich hin. Immer wieder bemühte er sich, an die Sache und nur an die Sache zu denken, und immer wieder schweiften seine Gedanken ab, und er sah vor sich ein Bild — so klar, so genau in allen Einzelheiten, wie man es außer im Leben nur im Traume sieht. Es waren die weißen, zarten Hände Mauds, die hier vor einigen Stunden die Festtafel gedeckt hatten, die Falten des Tischtuchs geglättet, jedem Teller, jedem Messer und jeder Blume ihren Platz gewiesen und sie immer wieder in liebevoller Sorgfalt geordnet und zurechtgerückt hatten. Alles für ihn, für Dick! Und nun? Dick verhaftet …

Nein, der Gedanke, daß Dick verhaftet sei, war etwas Unfaßbares, etwas, wobei man sich nichts denken und auch keine Trauer empfinden konnte. Aber das hier, daß all diese Liebe umsonst gewesen sein sollte, das begriff Elgin und das empörte ihn. Wäre er nicht schon fünfundzwanzig Jahre alt und Leutnant der Kriminalpolizei, so hätte er bei diesem Gedanken vielleicht sogar geweint.

Endlich raffte er sich auf und wandte sich mit einem schweren Seufzer um.

„Maud!“ sagte er. „Es wird ja alles noch gut …“ Er machte eine hilflose Bewegung mit den Händen. „Wir müssen doch erst abwarten … Es wird gewiß alles noch gut.“

In der Ecke, auf dem Sofa, lag Maud, zusammengekauert, die Knie hochgezogen und sah Elgin aus trockenen Augen an. Aber ihr Blick hatte etwas Gehetztes, Erwartungsvolles.

„Ich bin ein schlechter Tröster“, sagte Elgin mutlos und machte einen Schritt auf Maud zu. „Vielleicht sollte ich Sie beim Kopf nehmen und Ihnen zureden wie einem Kind. Sie würden dann weinen, und es würde Ihnen leichter werden. Aber sehen Sie — so feige bin ich: ich wage es nicht.“

Sie sah ihn plötzlich an, aber an ihrem Blick merkte er, daß sie auf seine Worte gar nicht geachtet hatte.

„Lennox ist Ihr Vorgesetzter, nicht wahr?“ fragte sie.

Er nickte eifrig, — froh, daß sie endlich sprach.

„Ja, er ist um mehrere Dienstgrade über mir“, erklärte er bereitwillig. „Er ist …“

„Sie kennen ihn gut?“ unterbrach sie ihn.

„Ich kenne ihn gut, weil ich ihn oft in Ihrem Hause treffe“, bestätigte er. „Dienstlich kenne ich ihn eigentlich gar nicht …“

„Aber wenn er doch Ihr Vorgesetzter ist?“

„Was heißt hier Vorgesetzter? Jeder Inspektor ist mein Vorgesetzter. Nein, Lennox arbeitet bei einer ganz anderen Abteilung …“

„Hat er großen Einfluß? Ich meine, kann er es bewirken, daß man mal einen … nun, einen nicht ganz Unschuldigen freiläßt?“

„Aber wo denken Sie hin?“ rief Elgin fast entsetzt. „Sie müssen ja eine Vorstellung von unserem Dienst haben!“

„Also er kann es nicht?“ fragte sie heftig.

„Nein, das kann nicht einmal der Chefinspektor, nicht einmal …“

Sie sprang mit einem Satz auf, hielt sich die Ohren zu und lief rasch durchs Zimmer.

„Genug! Genug! Ich will nichts hören! Das ganze Haus hat man voll Kriminalbeamten, wie daheim gehen sie hier ein und aus, aber wenn man sie mal braucht …“

Sie schwieg, denn die Telephonklingel hatte laut angeschlagen. Maud wollte hinlaufen, aber Elgin kam ihr zuvor. Mit zwei Schritten war er am Tischchen mit dem Apparat, riß den Hörer an sich und streckte die andere Hand abwehrend von sich. Aber Maud dachte nicht daran, ihn am Hören und Sprechen zu hindern. All ihr Tätigkeitsdrang hatte sie plötzlich verlassen, und sie sank in einem jähen Schwächeanfall auf einen Stuhl.

„Hier Elgin!“ rief der junge Mann aufgeregt. „Wer dort? Wer? Ach, Sie, Inspektor Lennox? Nun? Wie . . Was? Ja … ja … Halt! Warten Sie! Maud! Maud! Er ist frei! Er ist frei! Hurra! Er ist frei! So, jetzt können Sie weiterreden, Inspektor! Ja … ja … Aber das ist ja herrlich! Großartig! Danke, werde ich genau ausrichten! Hurra! Wir erwarten Sie! Machen Sie schnell!“

Maud war während dieses stürmischen Gesprächs langsam aufgestanden, aber dann hatte sie sich doch wieder hingesetzt. Nur ihre Augen sprachen jetzt, über die Lippen kam kein Wort, aber deutlicher als diese Augen hätten auch Worte nicht fragen können.

„Ich hab’s doch gesagt: Es wird noch alles gut!“ jubelte Elgin. „Er ist frei! Haben Sie es gehört, Maud? Er ist frei! Einen Verbrecher hat er erschossen! Einen Verbrecher, der selbst auf ihn schießen wollte! Also Notwehr! Und bei dem Kerl haben sie genügend Beweise gefunden … Ah, das ist herrlich. Dick ist ein Held!“

„Wann kommt er?“ fragte sie leise.

„Gleich sofort! Nur ein paar Formsachen, ein paar Fragen, wissen Sie … Das ist bei uns nun einmal so. Sogar wenn man einen Verbrecher erschießt, muß man dergleichen über sich ergehen lassen. Aber, passen Sie auf, in einer halben Stunde sind Lennox und Dick hier.“

Maud seufzte tief auf, und plötzlich schimmerten in ihren Augen Tränen.

„Jetzt muß ich mich etwas zurechtmachen, lieber Elgin“, sagte sie hastig. „Dick soll keine verweinten Augen sehen, wenn er nach Hause kommt.“

„Aber Sie haben doch gar nicht ge — — —“

„Natürlich habe ich geweint! Jede Frau weint, wenn ihr Mann verhaftet wird. Machen Sie sich ebenfalls zurecht. Sie sehen auch ganz verweint aus. Und ziehen Sie das Grammophon auf …“

„Aber das hat doch Zeit …“

„Das hat nicht Zeit. Dick liebt es, wenn das Grammophon spielt.“

„Wenn er doch aber erst in ehestens einer halben Stunde … Aber mir ist es gleich. Was soll ich spielen — was Ernstes, ein Gesangstück oder …“

„Dick liebt Märsche!“ rief sie, und zum erstenmal lächelte sie. „Und bei uns werden Sie auch nichts außer Märschen finden!“

„Dann also Märsche!“ sagte er vergnügt und trat gehorsam an den etwas altmodischen Apparat in der Ecke.

Als Maud nach einer Viertelstunde wieder das Zimmer betrat, spielte Elgin schon den siebenten Marsch.

„Diese Musik ist erschütternd“, sagte er und fuhr sich mit seinem Tuch über die Stirn. „Aber wenn Dick sie liebt …“

Sie lachte fröhlich.

„Jetzt dürfen Sie eine kleine Pause machen. Aber erst eine neue Platte aufsetzen, damit es gleich losgehen kann, wenn sie kommen.“

Er stellte die Musik sofort ab, befolgte aber genau ihre Anweisungen. Dann setzte er sich aufs Sofa und sah ihr eine Weile stumm zu, wie sie im Zimmer auf und ab lief und immer noch etwas zum Ordnen, zum Zurechtrücken fand. Es gibt doch eine Gerechtigkeit —, dachte er im stillen, als er jetzt wirklich diese zarten, weißen Hände über das Tischtuch fahren sah — genau wie er es vor einer halben Stunde traumhaft vor sich gesehen hatte.

„Es konnte gar nicht anders kommen“, sagte er unwillkürlich laut, zum Abschluß seiner Gedanken.

„Was meinen Sie?“ fragte sie und hielt in ihrer Arbeit inne.

„Ach nichts“, wehrte er ab. „Sagen Sie, Maud, hat sich Dick eigentlich gut erholt?“

Sie stützte sich mit den Händen auf die Tischplatte und sah nachdenklich vor sich hin.

„Es schien mir so. Ich hatte gar keine Zeit, ihn zu fragen. Aber er hat ja auch immer geschrieben, daß seine Gesundheit viel, viel besser sei.“

„Und jetzt ist er wohl ganz gesund? Kann auch seinen Beruf wieder ausüben?“

„Warum fragen Sie? Gewiß kann er auch seinen Beruf ausüben. Er wollte ja gar nicht aussetzen, damals … Ich bestand darauf. Erinnern Sie sich, was der Arzt sagte? Lungenschwindsucht? Nein, das hat er nicht gesagt. Er sagte, es könnte — hören Sie — es könnte Lungenschwindsucht werden, wenn Dick sich nicht ein halbes Jahr in Europa in einem Kurort erholte. Und Dick hat sich erholt! Er war ein halbes Jahr lang in Davos und hat dann noch eine wunderbare Reise quer durch Amerika gemacht. Da muß er ja gesund geworden sein.“

Elgin stand auf und schlenderte langsam zu dem Grammophonkasten.

„Nun ja …“ meinte er unsicher und schraubte die Nadel heraus und eine andere ein. „Hören Sie, Maud — ich wollte Sie schon immer fragen: woher nahmen Sie das Geld für Dicks Reise?“

„Das Geld?“ Sie sah erstaunt auf. „Das bißchen Geld, das dazu nötig war? Nun, Lennox gab es mir.“

„Lennox … Hm …“ murmelte Elgin und beugte sich über die Platten. „Lennox? Warum nahmen Sie es von Lennox? Warum gerade von Lennox?“

„Aber, lieber Elgin, wie merkwürdig Sie heute sind! Von irgendwoher mußte ich es doch nehmen!“

„Aber gerade von Lennox!“ beharrte er. „Wissen Sie, daß ich auch Ersparnisse habe? Ich hatte es Ihnen mal angedeutet … Aber als Sie Geld brauchten, dringend brauchten, gingen Sie lieber zu Lennox. Und doch hatte ich an dem Tage, als Sie uns sagten, Sie hätten das Geld bereits … ja, an dem Tage hatte ich eintausendzweihundert Dollar in der Tasche. Ich hatte das Geld von der Bank geholt, um es Ihnen zu bringen …“

Sie trat rasch auf ihn zu.

„Eigin!“ rief sie und drückte ihm fest die Hand. „Das war Ihr erspartes Geld ganz? Und das wollten Sie mir geben …“

„Warten Sie!“ unterbrach er sie beinah schroff. „Wenn ich das nur gewollt hätte, würde ich es Ihnen jetzt nicht erzählen. Oder denken Sie, ich spreche davon, um in Ihren Augen recht edel dazustehen? Nein, etwas anderes möchte ich Ihnen sagen: Wenn Lennox je wegen dieses Geldes irgendwie … wie soll ich sagen … sich irgendwelche Rechte einbilden sollte …“

„Ja, was dann?“

„Dann können Sie jederzeit das Geld von mir bekommen und es ihm vor die Füße werfen!“

Maud lachte auf. Sie setzte sich dicht neben das Grammophontischchen und sah Elgin ins Gesicht.

„Hu, wie theatralisch, lieber Freund!“ rief sie aus. „So kenne ich Sie ja gar nicht. Aber beruhigen Sie sich! Nie wird es Lennox einfallen, sich etwas Derartiges einzubilden …“

Elgin hob schnell den Kopf.

„Na, dann ist’s gut“, erklärte er etwas feierlich. „Ich habe es Ihnen jedenfalls gesagt. Und jetzt …“

Im Vorhaus schlug die Klingel an.

Maud sprang auf wie ein aufgescheuchter Vogel.

„Das Grammophon!“ schrie sie. „Schnell! Und Hurra müssen Sie rufen! Und … und …“

„Und trommeln und die Fahne schwenken — weiß schon, weiß schon“, lachte er. „Aber machen Sie doch endlich die Tür auf …“

Maud rannte durchs Vorzimmer, riß die Tür auf und stürzte hinaus.

„Dick! …“

Draußen stand ein altes, unscheinbares Männchen in grauem Regenmantel mit schwarzem Hut.

„Entschuldigen Sie, falls ich ungelegen komme“, sagte er bescheiden. „Wenn ich störe, komme ich lieber ein andermal wieder …“

Maud drückte die Hand auf das pochende Herz und sah den Mann enttäuscht und ärgerlich an.

„Wer sind Sie, und was wünschen Sie?“ fragte sie kühler, als es sonst ihre Art war.

„Mein Name ist Hearn“, sagte er leise, wie entschuldigend. „Ich bin Captain … Verzeihen Sie, nein: Inspektor der Kriminalpolizei, und ich möchte an Mrs. Maud Murray einige Fragen richten.“

III

Einen Augenblick stand Maud unschlüssig da und schien zu schwanken, ob sie den ungebetenen Besucher einlassen oder abweisen sollte. Aber etwas in den kleinen, zusammengekniffenen Augen dieses Mannes schien sie zu warnen.

„Bitte, treten Sie näher“, sagte sie kurz und ein wenig hochmütig.

Er verneigte sich tief und trat ein. Als sei es ganz selbstverständlich, legte er Hut und Mantel ab und zog die Überschuhe aus. Dann stand er vor dem Spiegel und ordnete eine silberne Haarsträhne — es war seine einzige — auf dem kahlen Schädel.

„Sie haben Musik“, sagte er wohlgefällig und nickte freundlich. „Ich liebe das. Ein Haus, in dem Frohsinn herrscht … Sie gestatten, daß ich jetzt eintrete?

„Bitte.“

„Ein Haus, in dem Frohsinn herrscht …“ Er öffnete die Tür zum Eßzimmer und trat über die Schwelle. „Ach!“ rief er aus .„Diese Überraschung!“

Es war in der Tat eine Überraschung. Das Grammophon spielte den lautesten Marsch, den Elgin herausgefunden hatte, das Zimmer war strahlend hell erleuchtet, und in dessen Mitte stand Elgin rot vor Eifer, im Arm eine Menge Blumen, schrie Hurra und warf Hearn rote Rosen und weiße Nelken zu.

„Elgin!“ rief Maud streng.

Elgin war so erschrocken über seinen Mißgriff, daß er den Rest Blumen zu Boden fallen ließ und mit herabhängenden Armen dastand und den späten Besucher anstarrte wie einen Geist.

„Sie haben mich sehr nett empfangen, Leutnant“, sagte Hearn vergnügt. „Ich bin das nicht gewöhnt. Aber so stellen Sie doch das Grammophon ab. Das Stück ist zu Ende, und wie leicht könnte die schöne Platte beschädigt werden, wenn Sie die Nadel weiterkratzen lassen.“

Maud selbst trat an den Apparat und stellte ihn ab. Sekundenlang war es still im Zimmer. Hearn schien es aber keineswegs als peinlich zu empfinden. Er rieb sich die Hände und sah sich, immer beifällig nickend, überall um.

„Sie kennen Leutnant Elgin?“ fragte Maud endlich, um dem Schweigen ein Ende zu machen.

„Inspektor Hearn ist mein Vorgesetzter“, sagte Elgin kleinlaut.

„Und ob wir uns kennen, lieber Elgin, nicht wahr?“ rief Hearn aus. „Jeden Tag, den der Herrgott gibt, sehen wir uns und besprechen allerlei düstere Geheimnisse. Erst heute hatten wir da so einen Fall …“

Maud machte eine ungeduldige Handbewegung.

„Lieber Elgin“, sagte sie kühl. „Vielleicht gehen Sie für einen Augenblick ins Nebenzimmer. Inspektor Hearn wollte mich sprechen — wahrscheinlich ohne Zeugen.“

Elgins Abgang sah einer Flucht sehr ähnlich, und man merkte es ihm an, daß er gern ging. Er ließ die Tür hinter sich halb offen, aber Maud schloß sie sorgfältig Obwohl Hearn ganz woanders hinsah, hatte er diese Kleinigkeit doch sehr genau beobachtet.

„Wie geht’s Ihrem Gatten?“ fragte er artig und setzte sich, wobei er die Beinkleider seines fadenscheinigen, grauen Anzuges sorgfältig in die Höhe zog. „Hat er sich gut erholt?“

„Er hat sich gut erholt“, sagte Maud ruhig. Sie stand mit dem Rücken gegen die Tür gelehnt, durch die Elgin verschwunden war und sah an Hearn vorbei in die Luft. „Sie kennen meinen Mann?“

„Ich kenne ihn“, bestätigte er. „O ja, ich kenne ihn. Er hat doch früher bei uns gearbeitet. Wissen Sie eigentlich, warum er von uns wegging?“

„Nein, ich weiß es nicht. Wissen Sie es?“

„Solch ein Zufall!“ rief er überrascht. „Stellen Sie sich vor: Ich weiß es auch nicht! Übrigens, dieses peinliche Erlebnis, das Ihr Gemahl hatte! Einen Menschen zu erschießen, — das ist doch unangenehm! Und gleich tot war der arme Kerl! Ich möchte wissen, wozu die Leute immer ins Kino rennen, wenn man im Eisenbahnzug genau so aufregende Sachen erleben kann. Und dabei — Sie werden es komisch finden — war ich heute selbst im Kino. Ja, ich habe mir den Film ‚Die Höllenmaschine‘ mit Ben Hawick angesehen. Kennen Sie Ben Hawick?“

„Den Namen habe ich schon mal gehört. Vielleicht habe ich ihn auch mal im Kino gesehen“, antwortete Maud langsam.

„Ja, im Kino, da sieht man sie meistens — die Filmschauspieler“, sagte Hearn freudig. „Oder im Waldorf-Astoria Hotel, beim Nachmittagskaffee. Es ist so nett zu beobachten …“

„Mr. Hearn“, unterbrach sie ihn. „Wenn Sie es durchaus hören wollen: Ich habe Mr. Hawick einmal im Waldorf-Astoria Hotel kennengelernt. Warum soll ich es leugnen?“

„Nicht wahr? Nicht wahr?“ rief er begeistert. „Warum leugnen? Man soll nie etwas leugnen, was die Polizei schon weiß …“

„Inspektor“, unterbrach ihn Maud wieder, und ihre Stimme zitterte leicht. „Sagen Sie endlich, was Sie von mir wollen. Mit ihrem Gerede … immer herum, immer herum … Oh, Sie können einen damit verrückt machen.“

„Aber, liebe Mrs. Murray, das will ich ja gerade … hm … vermeiden“, antwortete er lächelnd. „Diesen Mr. Hawick kennen Sie also sehr gut?“

Es dauerte diesmal eine geraume Weile, bis Maud die Frage beantwortete.

„Nein, im Gegenteil: sehr flüchtig“, sagte sie endlich.