Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke - Joachim Meyerhoff - E-Book
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Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke E-Book

Joachim Meyerhoff

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Beschreibung

Der dritte Teil der Bestsellerserie »Alle Toten fliegen hoch«: Von einem, der auszog, Schauspieler zu werden – und bei den Großeltern einzieht Die Kindheit auf dem Gelände einer riesigen Psychiatrie und das Austauschjahr in Amerika liegen hinter ihm, die Schulzeit hat er überstanden, als vor dem Antritt des Zivildienstes das Unerwartete geschieht: Joachim wird auf der Schauspielschule in München angenommen und zieht zu seinen Großeltern in die großbürgerliche Villa in Nymphenburg. Er wird zum Wanderer zwischen den Welten. Seine Großmutter war selbst Schauspielerin und ist eine schillernde Diva, sein Großvater ist emeritierter Philosophieprofessor, eine strenge und ehrwürdige Erscheinung. Ihre Tage sind durch abenteuerliche Rituale strukturiert, bei denen Alkohol eine wesentliche Rolle spielt. Tagsüber wird Joachim an der Schauspielschule systematisch in seine Einzelteile zerlegt, abends ertränkt er seine Verwirrung auf dem opulenten Sofa in Rotwein und anderen Getränken. Aus dem Kontrast zwischen großelterlichem Irrsinn und ausbildungsbedingtem Ich-Zerfall entstehen die den Erzähler völlig überfordernden Ereignisse – und gleichzeitig entgeht ihm nicht, dass auch die Großeltern gegen eine große Leere ankämpfen, während er auf der Bühne sein Innerstes nach außen kehren soll und dabei oft grandios versagt. Joachim Meyerhoff hat seine Kunst, Komik und Tragik miteinander zu verbinden, noch verfeinert. Sein Held nimmt sich und seine Umwelt immer genauer wahr und erkennt überall Risse, Sprünge, Lücken. Ein fulminantes Lesevergnügen!

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Seitenzahl: 511

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Joachim Meyerhoff

Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke

Alle Toten fliegen hochTeil 3

Roman

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Über Joachim Meyerhoff

Über dieses Buch

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

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Über Joachim Meyerhoff

Joachim Meyerhoff, geboren 1967 in Homburg/Saar, aufgewachsen in Schleswig, war vierzehn Jahre lang Ensemblemitglied des Wiener Burgtheaters. In seinem sechsteiligen Zyklus »Alle Toten fliegen hoch« trat er als Erzähler auf die Bühne und wurde zum Theatertreffen 2009 eingeladen. Seine Romane wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Seit 2019 ist Joachim Meyerhoff Ensemblemitglied der Berliner Schaubühne.

 

Weitere Titel bei Kiepenheuer & Witsch

»Alle Toten fliegen hoch. Amerika«, »Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war«, »Die Zweisamkeit der Einzelgänger«, »Hamster im hinteren Stromgebiet«

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Über dieses Buch

Mit zwanzig wird der Erzähler unerwartet auf der Schauspielschule in München angenommen und zieht in die großbürgerliche Villa seiner Großeltern. Die Tage der ehemaligen Schauspielerin und des emeritierten Professors für Philosophie sind durch abenteuerliche Rituale strukturiert, bei denen Alkohol eine nicht unwesentliche Rolle spielt. Dem Erzähler entgeht nicht, dass auch sie gegen eine große Leere ankämpfen, während er auf der Bühne sein Innerstes nach außen kehren soll und dabei fast immer grandios versagt.

Inhaltsverzeichnis

Illustration

Widmung

Fünf Etappen

Will denn die Uhr nicht ruhen

Post und Plastik

Effi und das Nilpferd

Die stummen Hunde

Die Gurgellösung

Der Nussknacker

Mit den Brustwarzen lächeln

Der neue Hermann

Fünfzigmal Lanzarote, fünfzigmal Dürnberg

Endlich spielen

Es ist groß, hat Locken und glitzert

Nachtkerzen

Die Hexen zu dem Brocken ziehen

Vom Suchen und Finden

Im falschen Film

Wirrwarr

Ich brauche das Buch

Ich bin der neben mir

Wann wird der Mensch sein eigenes Museum

Schleierfälle

Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke

Immer weniger

Die Beine meiner Großmutter

Der Tresor

Leseprobe »Man kann auch in die Höhe fallen«

Für Aaron

Mit zwanzig wurde ich zu meiner großen Überraschung in München auf einer Schauspielschule angenommen und zog, da ich kein Zimmer fand, bei meinen Großeltern ein. Diese beiden Welten hätten nicht unterschiedlicher sein können.

Davon will ich erzählen: von meinen über alles geliebten Großeltern, gemeinsam gefangen in ihrem wunderschönen Haus, und davon, wie es ist, wenn einem gesagt wird: »Du musst lernen, mit den Brustwarzen zu lächeln.«

Fünf Etappen

Erste Etappe: Champagner

Es war schon immer ganz gleich, wann ich meine Großeltern besuchte. Ob ich vier, zehn oder fünfzehn Jahre alt war, spielte keine Rolle, sie blieben immer dieselben.

Die vielen Urlaube, die ich vor meiner Schauspielausbildung bei ihnen verbrachte, verschwimmen in meiner Erinnerung zu einer einzigen, die Jahre vernebelnden Zeitwolke. Was auch daran liegen mag, dass nur selten einzelne hervorstechende Ereignisse den Alltag meiner Großeltern unterbrachen. Ihr Leben selbst war das Ereignis. Jeder einzelne Tag stand für alle Tage und jeder dieser Tage war ein kleines Wunderwerk. Ein von ihnen zelebrierter Parcours, abgesteckt aus Ritual, Disziplin und Skurrilität.

Bis auf den Sonntag, an dem sie in die Kirche gingen oder zu Wanderungen aufbrachen, sahen alle ihre Tage exakt gleich aus. Ich habe mich oft gefragt, ob sie ihre Tage überhaupt jemals anders verbrachten, denn ich habe in all den Jahren nie etwas Unvorhergesehenes mit ihnen erlebt. Vielleicht war es sogar so, dass der zentrale Kern ihres Daseins darin bestand, Überraschungen zu vermeiden, und je älter sie wurden, desto penibler wurden sie in der Abfolge ihrer Handlungen. Ihr wunderschönes Haus in der Nähe des Nymphenburger Parks, das sie nur zwei Mal im Jahr länger verließen – zwei Wochen Lanzarote im Februar, zwei Wochen Dürnberg, ein Luftkurort in den österreichischen Alpen, im Spätsommer –, war der ideale Ort für ihre Zeiteinteilungen und Wege.

 

Mir fällt kein einziger Gegenstand im Hause meiner Großeltern ein, kein Möbel, keine Schale, kein Untersetzer, kein Teppich, der je den Platz gewechselt hätte. Ja selbst die Schlüssel am Schlüsselbrett hingen stets in derselben Reihenfolge so wie auch die Küchenmesser an der Magnetleiste jahrzehntelang ihre Formation wahrten. Sicher, es kamen im Laufe der Zeit ein paar Dinge dazu. Es wurde ein Platz für sie gesucht, und da blieben sie dann für immer. So als hätte die freie Stelle geduldig auf genau diesen Gegenstand gewartet.

Das Haus war immer blitzeblank-sauber. Da jedoch die Putzfrau, Frau Schuster, immer dieselbe blieb, die Bügelfrau alt und taub wurde, Herr Moser, der ebenfalls betagte Gärtner und Alleskönner, irgendwann nur noch im Schneckentempo den Rasenmäher kreuz und quer durch den Garten schob, schlichen sich Unebenheiten ein, die aber meine Großeltern durch ihr eigenes Noch-Älter-Sein nicht bemerkten. Wollmäuse in den Ecken, heruntergefallene Nüsse, schiefe Bügelfalten, ungemähte Raseninseln. Die Putzfrau wurde vergesslich, ließ überall ihr Zeug liegen und vollbrachte sogar einmal das Kunststück, den Staubsauger ohne ihn auszuschalten in den Schrank zurückzustellen. Stundenlang saugte er dort verzweifelt vor sich hin, bis mein Großvater sagte: »Spinn ich, oder brummt da was?«

Meine Großeltern waren immer sehr gut gekleidet, sehr gepflegt, sahen blendend aus. Sie waren auf fast schon exotische Weise kultiviert. Doch in dieser Kultiviertheit auch ein wenig weltfremd und aus der Zeit gefallen.

Meine Großmutter war Schauspielerin, hatte aber das Theaterspielen schon Mitte der Sechzigerjahre aufgegeben. Zu abgeschmackt sei alles geworden. Dieses Wort benutzte sie gerne, wenn sie über das heutige Theater sprach: abgeschmackt. Dabei hatte sie sich seit Jahren schon nichts mehr angesehen. Und sowenig sie sich, will man ihren Beteuerungen Glauben schenken, jemals auf eine Bühne zurückgesehnt hatte, so sehr war das Theatralische, ja, Dramatische in ihr alltägliches Dasein hinübergerutscht. Selbst wenn sie von den profansten Dingen sprach, verliehen ihre Sprechweise, ihre Kopfhaltung, ihre Gestik dem Gesagten etwas Grandioses. Wobei meine Großmutter nie schrill oder gar operettig wirkte. Nein, ihre gesamte Persönlichkeit tendierte zielsicher in Richtung großes Drama.

Es konnte passieren, dass sie wie von einem tiefen Schmerz durchdrungen den Blick in die Ferne schweifen ließ, so langsam die Arme hob, dass nicht einmal die goldenen Armreife aneinanderklackten, und erst, als sie sicher war, dass alle am Tisch gebannt zu ihr sahen, sagte: »Moooahhhh…«, und dann, nach einer langen, spannungsgeladenen Pause, »der Brie ist ja ein Gedicht heute Abend.« Meine Mutter atmete dann stets enerviert aus. »Mein Gott, bitte, Mutter!« Immer wieder fielen meine Brüder und ich oder auch Gäste auf diese bedeutungsschwangeren Momente herein. Jedes Mal aufs Neue glaubte man, denn sie machte das wirklich hervorragend, es wäre sonst was passiert. Mitten in ein Gespräch hinein rief sie: »Täusch ich mich«, schlug sich die Hand vor den weit geöffneten Mund, verharrte, und dann, mit dunklem Zittertimbre, »oder zieht es hier ein wenig?«

 

Meine Großmutter hatte kurz nach dem Krieg einen schweren, ja, verhängnisvollen Unfall gehabt, dessen Folgen sich von da an wie ein Parasit in ihrem nur knapp dem Tode entronnenen Leben eingenistet hatten. Geblieben war ihr von dieser Katastrophe ein verkürztes, von Narben verunstaltetes Bein, das viel Aufmerksamkeit brauchte und jeden Morgen massiert und beweglich gehalten werden musste. Sie schloss sich ein, denn bei dieser unter Schmerzen abgehaltenen Bein-Gymnastik durfte niemand in ihrer Nähe sein. Schon als Kind habe ich, wann immer es ging, an der Tür gelauscht und dahinter das Wimmern und Stöhnen der Großmutter vernommen. Den Schmerz aus dem Bein herauszustreichen, ja, herauszuquetschen, schien ein hoffnungsloses Unterfangen zu sein. Ein Leben lang blieb dieses Bein für meine Großmutter ein täglich aufs Neue frisch sprudelnder Schmerzquell, der niemals versiegen sollte.

Wenn man sie fragte, »Wie geht es dir heute Morgen?«, antwortete sie verlässlich, »Sehr gut, mein Lieberling«. »Und wie geht es deinem Bein?« Daraufhin ebenso verlässlich, »Miserabel. Es ist heute schrecklich beleidigt«. Hunderte Male habe ich das gehört und mir sehr seltsam vorgestellt: das beleidigte Bein meiner Großmutter. Dieses jeden Morgen im Geheimen hinter der verschlossenen Tür gequälte Bein zog mich magisch an. Niemand durfte es sehen, kein Arzt und nicht einmal der Großvater. Es war angefüllt mit den schlimmsten Erinnerungen. Erinnerungen, welche meine Großmutter durch einen unverhältnismäßigen Ehrgeiz, eine brutale gegen sich selbst gerichtete Rücksichtslosigkeit beim Massieren auszulöschen versuchte.

Dagegen war die allmorgendliche Gymnastik meines Großvaters, der emeritierter Professor der Philosophie war, eine abstruse Gymnastiksimulation. Er trat mit schlohweißen, von der Nacht aufgestellten Haaren auf den Balkon hinaus. Im Sommer, in Unterhose, sah er aus wie ein vom Heiligen Geist erleuchteter Eremit. Er war überraschend behaart. Nach ein paar tiefen Atemzügen begann er seine Turnvater-Jahn-Gedächtnis-Choreografie. Durch sein hohes Alter waren diese Übungen nur noch Andeutungen der sicherlich einst mit Schwung und Elan geturnten Bewegungen. Auf seinen altersdürren Streichholzbeinen machte er ein paar Minikniebeugen. Ging dabei aber nur Zentimeter in die Knie. Dann legte er sich die Hände in die Hüften und ließ sie sachte kreisen. Wie ein leicht schwuler Gelehrter sah er dabei aus. Ein klappriges Männchen auf dem Balkon mit Morgensonne im Haar. Er streckte die weißen Arme in die Höhe, machte eine Windmühle, und drehte den markanten Kopf hin und her. Manche Übungen waren kaum wahrzunehmen und minutenlang stand er einfach nur da und turnte innerlich.

Dann kam der sichtbare Höhepunkt. Er griff sich mit beiden Händen unter eine Kniekehle und zog sich das Bein vor die Brust. Er hielt es einen Moment fest, ließ es wieder los, streckte es und legte das Bein seitlich auf dem Balkongitter ab. An seinem schmalen Brustkorb traten die Rippen hervor, sehr langsam ließ er den Kopf in den Nacken sinken, hob die Hände hoch in die Luft, bewegte dazu leicht die Finger. Mit Blick gen Himmel öffnete er den Mund und schien auf eine göttliche Gabe zu warten.

Nach der Anstrengung des Aufstehens, dem ausgiebigen Gurgeln einer geheimnisvollen Gurgellösung und der täglichen Gymnastik duschten beide jeden Morgen in ihren separaten Badezimmern.

In den Bädern meiner Großeltern waren überall Haltegriffe in die Wände gedübelt. Ich habe diese sich ständig verändernden Haltegriffpositionen immer gerne betrachtet, da sie Auskunft gaben über die unterschiedlichen und fortschreitenden Gebrechen meiner Großeltern. Einmal sah ich durch Zufall meinen Großvater morgens im Bad. Nackt. Wie ein uralter grauhaariger Gibbon hangelte er sich von Haltegriff zu Haltegriff.

 

Hatten die Großeltern den Frühstückstisch erreicht, waren sie bereits völlig erschöpft, sahen aber blendend aus. Immer eine Mischung aus gut gebräunt und rosig. Meine Großmutter trug am Morgen meist rosa Hosenanzüge. Sie liebte Rosa. Das Zimmer, in dem ich schlief, hieß »das rosa Zimmer«. Schon als Kinder wurden wir dort einquartiert. Es war das Zimmer meiner Großmutter. Hierher zog sie sich zurück oder verbrachte halbe Nächte, wenn mein Großvater zu sehr schnarchte oder ihre innere Unruhe sich selbst durch starke Schlafmittel nicht besiegen ließ. Es war ihr rosa Refugium. Die Wände waren rosa. Rosenquarzweintrauben und anderes Rosenquarzobst lagen in einer hauchdünnen Rosenquarzschale. Die Lampenschirme in Zartrosa. Das Bett war stets rosa bezogen. Durch die rosa Stoffjalousie fiel mattrosa Licht auf den altrosa Teppichboden.

Mein Großvater trug schon beim Frühstück helle Anzüge mit Weste und nach dem Haarewaschen, montags und freitags, ein Haarnetz. Die Haushälterin hatte morgens bereits völlig geräuschlos den Tisch gedeckt. Immer, wenn ich aufwachte, war sie schon lange da. Doch bevor sie zu frühstücken anfingen, gab es für beide um Punkt neun ein Glas Champagner. Dadurch ging es ihnen immer gleich viel besser. Nach dem Frühstück gab es für die Unmengen Tabletten, die sie jeden Morgen aus ihren kleinen Schmuckdosen herausfummelten, noch ein Glas Champagner. Jeder von ihnen schluckte bestimmt fünfzehn Tabletten. Eine ganze Handvoll bunter Pillen. Mein Großvater nahm eine Pille nach der anderen und nach jeder einen winzigen Schluck. Meine Großmutter warf sie sich alle auf einmal in den Mund, trank das ganze Glas auf einen Zug aus, wobei der gewölbte Champagnerkelchrand ihre Zähne Furcht einflößend vergrößerte, und sagte danach gerne: »Die wissen schon, wohin sie sollen.«

Das Frühstück mit ihnen war immer sehr schön. Guter Filterkaffee. So stark hätte er mir sonst nicht geschmeckt, aber hier mochte ich ihn so. Ein Joghurt mit Leinsamen und Sanddornsirup. Getoastete Brötchenscheiben. Nie wären meine Großeltern auf die Idee gekommen, ein Brötchen in zwei Hälften zu schneiden. Die Brötchen wurden wie kleine Brote mit der Brotschneidemaschine in dünne Scheiben geschnitten und getoastet. Es gab nicht viele Dinge, über die meine Großeltern entsetzter sein konnten, als über zu dick geschnittene Brötchen oder Brotscheiben. Mein Großvater hielt sie gegen das Licht. Das war der Test. Man musste den Garten, die Magnolie durch die Brotscheiben sehen können. Auch wenn wir so taten, als würden wir ihr Dünne-Brotscheiben-Essen bewundern, hassten meine Mutter und ich es, und es reizte uns, die Scheiben zu dick zu schneiden. Mein mittlerer Bruder nannte diese Brotscheiben ›Folien‹. Nie war man nach dem Frühstück oder anderen Mahlzeiten bei meinen Großeltern satt. Und mein dicker Vater hatte ihre ganze zelebrierte Esskultur als eine reine Essenssimulation bezeichnet. Wenn er, was sehr selten geschah, von Schleswig nach München mitkam, ging er gleich nach diesem simulierten Essen in das nächstbeste Gasthaus, um, wie er es nannte, richtig zu essen.

Meine Großeltern aßen ihr Leben lang nur selbst gekochte Marmeladen. In der Speisekammer standen Gläser, die so alt waren wie ich. Noch von der bereits verstorbenen Tante Tia eingekocht. Waldhimbeermarmelade von 1967. Diese Speisekammer war gleichermaßen Schatzkammer wie Grabkammer.

Am Neujahrstag aßen meine Großeltern stets Schildkrötensuppe. Als diese verboten wurde, kauften sie in allen ihnen bekannten Feinkostläden die Bestände auf. Einen ganzen Vormittag waren sie mit dem Taxi unterwegs. Ihre Ausbeute waren an die hundert Konserven, womit sie für einige Zeit ausgesorgt haben sollten.

Nach dem Frühstück lasen meine Großeltern Zeitung. Sie bekamen jeden Morgen zwei Süddeutsche Zeitungen, da sie gerne gleichzeitig das Feuilleton lasen und sich permanent gegenseitig auf interessante Stellen hinwiesen. Nach dem Zeitunglesen gingen beide in ihren über alles geliebten Garten. Mit welcher Ausdauer meine Großeltern jeden Tag diesen Garten bestaunten, hatte für mich als Kind etwas Groteskes. Auf ihren Rundgängen verharrten sie vor den immer selben Blüten. »Schau nur, Hermann, die Iris!« »Ja, und da, Inge, kommt sogar noch eine Knospe!« »Moahhhh.« Und selbst an den bereits verblühten Sträuchern legten sie stets kleine Gedenkmomente ein. »Weißt du noch, wie herrlich die Zaubernuss geblüht hat dieses Frühjahr, Hermann.« »Sehr zeitig, das Frühjahr kam früh dieses Jahr.« »Die muss der Moser mal wieder schneiden!« Auf der großen Wiese wuchsen oft Walnussbäumchen, da die Eichhörnchen vom Park herüberkamen und hier ihre Beute vergruben oder verloren. »Der Moser muss die Bäumchen rausziehen, sonst haben wir hier bald einen Walnusswald.« Das Herzstück des Gartens war eine mehrstämmige Magnolie. Vier glatte Stämme erhoben sich harmonisch geschwungen bis zum Dach hinauf. Wenn die schon aufgeblühte Magnolie Frost bekam und sich schwarz verfärbte oder gar Schnee auf die offenen Blüten fiel, verzweifelte meine Großmutter, konnte den Garten nicht mehr betreten und schluckte noch eine extra Pille gegen ihren – so nannte sie es selbst – »Magnolienschmerz«.

Der große Gegenspieler der Magnolie war eine wuchernde Glyzinie. Jahrelang hatte sie vor sich hin geschwächelt, dann jedoch mit ihren Wurzeln eine karge Erdschicht durchstoßen, und kletterte plötzlich eines Frühjahrs bis zu den Balkongittern hinauf. Meine Großeltern sprachen von ihr wie von einer unzähmbaren Bestie, nannten sie die ›grüne Hydra‹. Die Wurzeln würden die Kellermauern durchbrechen, und die Ranken seien so stark, dass sie die Gitter vor den Fenstern verbiegen oder sogar ganz vom Haus herunterreißen könnten. Wenn die Glyzinie allerdings blühte, versank die gesamte Gartenseite der Villa unter der Pracht der blau-lila Dolden und sie brachten es Jahr für Jahr nicht übers Herz, sie zu kappen. Ansonsten sorgte Herr Moser für Ordnung im Garten. Alle Mittel waren erlaubt, und in dem unter einer riesigen Hängebuche verborgenen Gartenschuppen gab es kaum einen Behälter, auf dem kein Totenkopf war.

Nach dem Gartenrundgang ging mein Großvater in sein Arbeitszimmer. Trotz seines hohen Alters arbeitete er jeden Tag von zehn bis eins. Als er zu alt zum Arbeiten wurde und immer weniger sehen konnte, ging er trotzdem noch jeden Morgen in dieses Zimmer und saß dann einfach so an seinem Schreibtisch herum. Inmitten seiner riesigen Bibliothek. Auf der einen Seite wandfüllend die philosophischen Bücher, auf der anderen Seite die theologischen. Ein ganzes Regalbord voller Bibeln, Gesangs- und Gebetbücher. Die Porträts von Schelling und Fichte blickten auf ein wurmstichiges Holzkreuz aus dem 15. Jahrhundert. Anklopfen musste man dennoch.

Zog ich wahllos ein Buch aus einem dieser Regale und blätterte es an einer beliebigen Stelle auf, so konnte ich sicher sein, auf seine in einer winzigen Schrift mit gespitztem Bleistift an den Rand geschriebenen Anmerkungen zu stoßen. Hunderte von Büchern, Tausende von Seiten hatte er im Laufe seines Lebens mit Kommentaren versehen. Ich konnte weder so klein schreiben noch so Kleines lesen. Es waren für mich Hieroglyphen einer unsagbar fremden Gedankenwelt. Was mich von früh auf beeindruckte, aber auch belastete, war die unfassbare Disziplin und Konzentrationsfähigkeit, die mir aus diesen zigtausend wie ins Papier geritzten Anmerkungen entgegenflog. Wie konnte ein Mensch nur, fragte ich mich schon als Kind und dann noch verstärkt als Jugendlicher, so akribisch sein. Auf den Bücherrücken stand Kant, Schelling, Kierkegaard oder Fichte, und in den Büchern gab es kaum eine Seite, auf der sich mein Großvater keine Notizen gemacht hatte. Oft quetschte er seine Gedanken auch zwischen die Zeilen. Über ganze Buchseiten legte sich eine zweite handgeschriebene Seite. Sobald der Platz nicht mehr ausreichte, waren Zettel eingelegt. Säuberlich aus nicht mehr gebrauchten Papieren von ihm selbst zurechtgeschnittene Einlegezettel. Sparsamkeit und Gedankenflut.

Ich verstand nichts. Weder die Kommentare noch die Texte selbst. Der Großvater bewegte sich zeit seines Lebens in einer für mich vollkommen unerreichbaren Disziplin- und Ideenwelt. Er war im Vorstand verschiedener Institutionen wie der Katholischen Akademie, der Görres-Gesellschaft, des Deutschen Bildungsrates oder der Fichte-Gesamtausgaben-Kommission.

Seit Jahren, wenn nicht seit Jahrzehnten, schrieb er Artikel zu philosophischen Themen für ein sich von Buchstabe zu Buchstabe dahinschleppendes Staats-Lexikon. Trocken sagte er Sätze wie »Na, das R werde ich wohl nicht mehr erleben« oder »W wie Würde würde ich schon noch gerne machen«. Seine Mitarbeiter waren nicht viel jünger als er, und auf dem langen Weg zum Z verstarb der ein oder andere. Dadurch hatte die Sache einiges an Schwung eingebüßt. Immer seltener wurde das Erreichen eines neuen Buchstabens mit einem extra Glas Champagner gefeiert. »Heute«, sagte dann mein Großvater, »haben wir endlich nach drei Jahren das M abgeschlossen.« »Über was hast du da geschrieben?« »Über Moral und Mäeutik.«

Zweite Etappe: Weißwein

Um Punkt eins gab es Mittagessen. Gutes, einfaches Essen. Vorab immer eine Suppe. Im Laufe der Woche machte die Suppe eine sehr spezielle Wandlung durch. Da an jedem Tag der Rest der Suppe vom Vortag in die neue Suppe gemischt wurde, verdoppelte diese sozusagen am zweiten Tag ihr Geschmackserlebnis. Am Dienstag schmeckte die Suppe dann schon dreifach und am Freitag war sie ein hochkomplexes Suppengemisch geworden. Wenn man am Freitag konzentriert in die Suppe hineinschmeckte, konnte man die ganze Woche Revue passieren lassen, und mein Großvater sagte hin und wieder, wenn er von der Freitagssuppe aß: »Diese Woche hatten wir wirklich ausgezeichnete Suppen, Inge!« Samstag gab es dann keine Suppe und am Sonntag wurde das Ganze mit einer klaren Ochsenschwanzsuppe von Neuem begonnen. Zum Hauptgang gab es häufig einen kleinen Salat mit sehr süßem Dressing aus Honig, Limettensaft und Sahne. Immer frisches Gemüse, nie gekocht, immer nur pochiert. Dazu Fisch, gerne Saibling, Wild, Zunge mit heißen Pfirsichen. Nie wären meine Großeltern auf die Idee gekommen, einen Auflauf zu essen. Meine Großmutter verachtete alles, was mit Käse überbacken wurde. Auch Nudeln aßen sie nie. Für uns Kinder war das hart. Pizza und Fischstäbchen waren ihnen unbekannt. Mein Großvater mochte es, wenn auf seinem Teller Ordnung herrschte. Hier der Rosenkohl, da die Kartoffeln, dort der Fisch. Zwischen den einzelnen Zutaten sollte der Teller zu sehen sein. Wenn ich als Kind, bevor ich zu essen begann, das Fleisch kleinsäbelte, dann die Kartoffeln mit der Gabel zermanschte und mit viel Soße zu einem Brei vermengte, sah mich mein Großvater an, als würde ich sein herrlich strukturiertes Gehirn gleich mit zerstampfen. Zum Essen gab es natürlich Wein. Kalten Weißwein. Mein Großvater gab den Weinkenner, kostete den Wein und befand ihn stets für gut. Dabei haben sie nie einen anderen Weißwein zum Mittagessen getrunken als den sogenannten »Ruwer«. Auf dem Etikett war das Weingut abgebildet, in dem man angeblich auch essen konnte. Immer und immer wieder, Hunderte von Mittagessen, befand mein Großvater diesen Wein für gut, und auf das Etikett weisend sagte er jedes Mal aufs Neue: »Hab ich euch eigentlich schon erzählt, dass man dort sehr gut essen kann?« Ich hatte mich von den zwei Gläsern Champagner des Frühstücks recht gut erholt und freute mich stets auf den Weißwein.

Immer gab es einen Nachtisch. Meistens Obst, was wir als Kinder für Betrug gehalten hatten. Obst war definitiv kein Nachtisch. Nach jedem Gang läutete meine Großmutter ein kleines Glöckchen und die Haushälterin kam herein. Mir war das immer peinlich, mich so bedienen zu lassen. Die Haushälterin war, und das blieb auf ewig ein Rätsel, immer barfuß. Doch darüber konnten meine Großeltern herzlich lachen. So etwas war ihnen vollkommen egal. Und doch hatten es die Haushälterin und die anderen in die Jahre gekommenen Angestellten nicht leicht. Nicht, dass meine Großmutter unfreundlich gewesen wäre, nein, im Gegenteil, sie war sogar ausnehmend höflich. Doch in dieser Höflichkeit war eine perfide Herablassung versteckt und allein ihre Schönheit war eine Verunsicherung für alle im Hause Tätigen.

Das dreckige Geschirr musste von der Haushälterin, bevor es in die Spülmaschine eingeräumt wurde, gründlich vorgewaschen werden. Im Grunde war das Geschirr schon sauber, wenn es nach einem exakt einzuhaltenden System in die Spülmaschine einsortiert wurde. Während dieses Vorwaschens saß meine Großmutter in der Küche und sah mit ihren blitzenden, im Alter wieder vollkommen scharf gewordenen Augen auf Missgeschicke lauernd der sich mühenden Haushälterin zu. Wenn dann zwangsläufig etwas herunterfiel und zerbrach, rief sie mit ihrer vormals berufsbedingt, jetzt immer noch kräftigen Stimme »Mooahhhhh!«, lächelte freundlich und sagte: »Nicht schlimm, nicht schlimm, sehr alt, sehr wertvoll, aber nicht schlimm.« Auch bemerkte sie gerne, wenn mir beim Frühstück durch ihren prüfenden Blick das Ei vom Löffel auf den Boden glitt: »Wirf ruhig weg – ach, hast schon.«

Stets geriet man unter den beobachtenden Blicken meiner Großeltern in eine unangenehme Anspannung. Auch die Gäste, die häufig kamen, wurden davon ergriffen. Ich habe sechzigjährige ehemalige Studenten meines Großvaters gesehen, mittlerweile selbst habilitierte Philosophieprofessoren, die kerzengerade wie Klippschüler auf der Sesselkante saßen und sich mit zitternden Fingern eine einzelne Erdnuss nahmen, die mein Großvater trotz aller Hinweise meiner Großmutter unbeirrt »Kameruner« nannte.

In der Küche gab es in der Wand ein kleines Bullauge, nicht größer als der Boden einer Flasche, durch das man die Besucher vor dem Haupteingang beobachten konnte. Viele Male sah ich von hier, wie Gäste nicht einfach den Weg auf das Haus zugingen und dann, sobald sie es erreichten, klingelten, sondern vor der Tür, den Finger schon auf dem Klingelknopf, innehielten. Es war offensichtlich, dass diesen erstarrten Besuchern klar wurde, dass sie sich mit dem Eintreten in das großelterliche Haus für die nächsten Stunden deren Welt unterzuordnen hatten. Ehepaare trafen letzte Abmachungen, Frauen zogen ihren Spiegel aus der Handtasche oder zupften ihren Männern Haare von der Mantelschulter. Dann nickten sie sich zu, holten tief Luft und drückten den Klingelknopf. So laut wie die Schulglocke in einer Erich-Kästner-Verfilmung bimmelte es los. Es war sogar vorgekommen, dass eine ehemalige Schauspielschülerin meiner Großmutter den Finger wieder vom Klingelknopf zurückzog, einen Moment kopfschüttelnd dastand, sich kurz umsah und heilfroh den Rückzug antrat.

Je älter sie wurde, desto häufiger geschah es, dass auch meiner Großmutter Dinge herunterfielen, sie etwas auf dem Tisch umstieß und zerbrach. Da wurde sie still vor Zorn und schüttelte über sich selbst den Kopf. So als wäre ihre Ungeschicklichkeit ein Unheil offenbarendes Zeichen.

Herr Moser war durch dieses fast tägliche Zerschlagen von Geschirr zu einer Koryphäe im Kleben von Scherben geworden. Stunden verbrachte er am Küchentisch meiner Großeltern mit den zum Teil winzigen Bruchstücken und seinem hochgepriesenen Sekundenkleber. Sekundenkleber wurde sein Ein und Alles. Sekundenkleber war die Revolution, der Quantensprung. Ja selbst feinstes, in kleinste Teile zersplittertes Nymphenburger Porzellan setzte Herr Moser wieder zusammen. Die Scherben von irreparabel zertrümmertem Geschirr sammelte er in einer Schachtel. Und tatsächlich gelang es ihm, eine nicht mehr lieferbare Suppenschüssel aus diesem Scherbenhaufen aus unterschiedlichsten Gefäßen – Tellern, Tassen und Schüsseln – zusammenzukleben und auferstehen zu lassen. Meine Großmutter machte: »Moooahhhhh«, denn Moooahhhhh konnte auch höchste Anerkennung bedeuten, und stellte die Suppenschüssel weit hinten in den Schrank.

Wenn ich nach dem Essen in die unumstößliche Mittagsstunde verabschiedet wurde, konnte ich oft nur noch eine halbe Seite lesen. Das Essen und der Wein zu völlig ungewohnter Zeit bewirkten, dass ich in einen tiefen Schlaf fiel und geweckt werden musste. Fast immer hatte ich dann Kopfweh und nahm mir aus dem überquellenden Medizinschrank ein Aspirin. Auch da gab es, ähnlich wie in der Speisekammer, Medikamente, die dreißig Jahre und älter waren. Mein Großvater hielt die Verfallsdaten auf Medikamenten für einen Trick der Pharmaindustrie. Genauso wie die Schildkrötensuppe horteten meine Großeltern Medikamente, an die sie glaubten, die aber schon lange vom Markt genommen worden waren.

 

Mit zwölf oder dreizehn hatte ich mehrere Hühneraugen an meiner rechten Fußsohle und zeigte sie meiner Großmutter. Schon der übertrieben kräftige Zugriff der immer aufs Penibelste gepflegten Großmutterhände hätte mir eine Warnung sein sollen. Sie packte meinen Fuß, studierte ihn genau, drückte jedes Hühnerauge mit dem Daumen, und selbst als ich vor Schmerz aufjaulte, kannte sie kein Mitleid.

»Oh mein armer Lieberling, ich glaub, da hab ich was für dich.« Sie stand auf und kam mit einer nach Alchemie aussehenden winzigen Phiole wieder. »Du wirst sehen. Das wirkt wahre Wunder.«

»Ist das denn überhaupt noch gut? Woher hast du das? Soll ich das schlucken?«

»Ach was, schlucken, das kommt direkt drauf.«

Wieder nahm sie meinen Fuß und hielt ihn mit aller Großmutterkraft fest. Wie in einem Schraubstock war er eingespannt und auf ihrer gebräunten Hand traten energisch die Sehnen hervor. Der Verschluss des Fläschchens entpuppte sich als Pipette, mit der sie ein paar Tropfen einer grünlichen Flüssigkeit aufzog. Sie packte meinen Fuß noch stärker, was ich nur so deuten konnte, dass sie genau wusste, es würde jetzt schlimm für mich werden. Ich versuchte ihn wegzuziehen, mich zu befreien. Es folgte einer der Momente, in denen meine Großmutter sich verwandelte, blitzartig von der eleganten Grande Dame zur bösen Zauberin wurde. »Na, wirst du wohl stillhalten! Du Bursche, du!«, fauchte sie mich unverwandt an. Ich erstarrte. Sie riss sich meinen Fußballen ganz nah vor ihr Gesicht und träufelte mir die Tinktur auf die Hühneraugen. Im ersten Moment spürte ich nichts. Aber ich hörte etwas. Ein leises Zischen, so als ob man auf eine heiße Herdplatte spuckt. Es roch nach verbranntem Haar und angekokelten Fingernägeln. Ihr Gesicht hatte sich schon wieder in das teilnahmsvolle, wunderschön ebenmäßige Großmutterantlitz verwandelt. »Bravo, mein Lieberling, bravissimo. Das hätten wir geschafft. Du bist ja ein immens tapferer Kerl!«

In den ersten Stunden nach dieser Behandlung bekam ich aus meinem Turnschuh keine allzu beunruhigenden Schmerzbotschaften. Doch später am Abend schaffte ich es kaum die Treppe zum rosa Zimmer hinauf. Ich zog behutsam den Schuh aus. Sah die Socke. Sie war genau an den Hühneraugen-Stellen weggeätzt. Vier kreisrunde Löcher. Ich streifte sie ab und bog meinen Fuß herum. Da, wo früher mal die Hühneraugen gewesen waren, hatte ich jetzt schwärzlich verschrumpelte Kuhlen. Ich legte meine Fingerspitze auf eine der Stellen. Weich gab das verschmurgelte Fleisch nach. In den nächsten Tagen konnte ich kaum auftreten, doch dann, nach und nach, schlossen sich die ekelhaften Mulden wieder mit frischem rosafarbenen Fleisch und die Hühneraugen kamen nie wieder.

Es ist keine Übertreibung festzustellen, dass meine Großeltern geradezu besessen waren von der Vielzahl ihrer Medikamente. Mein Vater, der Kinder- und Jugendpsychiater war, versuchte ihnen klarzumachen, dass die meisten ihrer Pillen überflüssig, ja, gefährlich seien, doch die Person ihres Vertrauens war eine uralte verschreibungsfreudige Ärztin.

Mein Großvater nahm, wenn er eine Erkältung bekam, sofort ein Antibiotikum, aber nur eine einzige Tablette. Davon, dass man Antibiotika zu Ende nehmen müsse, wollte er nichts wissen. Er sagte: »Was soll denn das heißen, ›zu Ende nehmen‹? Ich nehme ja auch nicht Aspirin ›zu Ende‹.«

 

Die nachmittäglichen Ruhestunden von zwei bis fünf Uhr zogen sich unendlich zäh dahin. Teilnahmslos hockte die Zeit im Haus der Großeltern in den Ecken herum, als wären diese drei Stunden apathische Insassen einer Anstalt. Hundertachtzig sedierte Minuten. Als Kind konnte man in diesen drei Stunden verloren gehen. Absolute Ruhe im Haus war das oberste Gebot. Ich war zum Stillsein verdammt und spielte in Strumpfhosen und grauen Rollkragenpullovern sterbenslangweilige, selbst erfundene Spiele. Ich frisierte mit dem Kamm die Fransen der Teppiche oder versuchte zwischen den Stuhlbeinen hindurch eine Orange durchs Zimmer zur gegenüberliegenden Wand zu rollen. Oder ich erfand Fernsehwerbung. Dafür stellte ich mich vor den Spiegel im Flur, nahm mir irgendeinen Gegenstand und pries ihn zum Verkauf an: »Sehen Sie diesen Regenschirm. Unser neuestes Modell. Er hat eine feingearbeitete Schnappmechanik. Ich spann ihn mal auf. Sehen Sie diesen großen Schirm und die feinen Speichen. Die sind aus Titan. Der Stoff ist kein Stoff. Es ist Fischhaut. Wasserdichte Fischhaut mit Titanspeichen. Dieser Holzgriff ist nicht aus gewöhnlichem Holz. Es ist versteinertes Holz, sogenanntes fossiles Holz. Diese Griffe werden handgemeißelt aus fossilem Holz mit Titanspeichen verschraubt und mit Fischhaut bezogen. Ein einzigartiger Schirm.« Egal wie unsinnig. Jede Minute wurde ein niederzuringender Gegner. Achtsam wie ein Bombenentschärfer ruckelte ich die zu unberechenbaren Quietschern neigende untere Büfettschublade heraus, in der meine Großeltern ihre Süßigkeiten deponierten. Köstliche Schweizer Schokoladen, ekelhafte kandierte Früchte und brandgefährliche Pralinen, in die ich oft hineinbiss und dann zum Klo rennen musste, da sich irgendein widerlicher alkoholischer Brei in meinen Mund ergossen hatte.

Wenn ich Glück hatte, rettete mich meine Mutter, brach ihre Mittagsstunde vorzeitig ab, kam zu mir und fragte leise: »Wollen wir in den Park?« Ich nickte und wälzte mich dann, sobald wir im Freien waren, völlig entfesselt in der Wiese oder drosch mit schweren Ästen auf Bäume ein. Rannte und rannte, bis ich wieder in meiner eigenen Zeitrechnung angekommen war.

An solchen Sommer- oder gleißenden Schneetagen wurde die sich endlos dahinziehende Stunde nach dem Mittagsschlaf bis zum Sechs-Uhr-Whisky von meiner Großmutter mit einem ordentlichen Schuss Rum in den Tee überbrückt oder sie zählte sich Unmengen abstruser Heiltropfen in die Daumenmulde. Es kam vor, dass meiner Großmutter dieses Tropfenzählen nicht schnell genug ging, sich die Essenz zierte und provokant langsam am Glasfläschchenrand zitterte, sodass sie plötzlich, mit den Zähnen den Plastikeinsatz herausbiss, auf den Couchtisch spuckte und einen kräftigen Schluck direkt aus der Flasche nahm. »Metavirulent«, »Meditonsin« oder »Esberitox« hießen diese als Gesundheitstropfen getarnten Nachmittagsschnäpse. Meine Großmutter hatte Flaschen in einer Größe, die ich nie in einer Apotheke zu sehen bekam, und dennoch kam sie nicht länger als zwei, drei Tage damit aus. Krank wurden meine Großeltern selten und sicher waren die vielen Alkoholika ein Grund für ihre Widerstandskraft. Bakterien, Viren und sonstige Erreger hatten es schwer, durch die hochprozentige Luft, die meine Großeltern umgab, bis zu ihnen vorzudringen. Ich stellte mir einen wild entschlossenen Virenstamm vor, der meiner Großmutter von der Haushälterin entgegengeniest wurde, sie wie ein Jagdgeschwader anflog, doch dann gebremst und von beißendem Alkoholatem unschädlich gemacht, betäubt abstürzte.

Dritte Etappe: Whisky

Spätestens um kurz vor sechs wurde ich durch Rufe wie »Lieberling, es ist so weit« geweckt. Denn um sechs gab es Whisky. Dieser Sechs-Uhr-Whisky war der Beginn des Abends. Schon ab fünf sahen meine Großeltern ständig auf die Uhr. Oft zählte mein Großvater die letzten zehn Sekunden vor sechs laut rückwärts. »Zehn, neun, acht, sieben … und so weiter«, und rief laut, »ah, Punkt sechs.« Dann öffnete er die Flasche und jeder bekam einen Whisky. Sie tranken ihn mit viel Wasser und ohne Eis. Es war nie ein besonders guter Whisky, weder rauchig noch torfig noch erdig, aber er schmeckte mir. Nirgendwo sonst trank ich Whisky, bei meinen Großeltern sehnte ich mich nach ihm genauso sehr wie sie. Zum Whisky rauchte meine Großmutter ihre erste Zigarette, Dunhill Menthol. Der Zigarettenrauch, der mir zu Kopf steigende Whisky schienen den Duft der Blumen zu intensivieren, denn die großen Vasen waren stets voller Blumen, sommers wie winters. Meistens Lilien, aber auch gerne Levkojen oder Pfingstrosen. Die von meiner Großmutter sorgfältig drapierten Blumen steckten mit intensivem Geruch ihre Duft-Territorien ab. Ging man den weiten Weg von der Küche durch die von meinen Großeltern so genannte Pantry, durch das Esszimmer bis ins Wohnzimmer, kam man an vier Vasen vorbei und durchschritt vier Duftschleusen. Der Lilienduft war eine regelrechte Wand, eine anästhesierende Wolke, die ich immer mehr durcheilte als genoss, die Rosen dagegen ließen mich langsamer gehen und tief einatmen. Um diese Duftwaben herum gruppierten sich jede Menge anderer Gerüche. Es gab keinen einzigen Ort im Haus meiner Großeltern, der nicht unverkennbar roch. Die unangefochtene Regentin der Düfte war aber meine Großmutter selbst, die sich, ein Leben lang mit »Shalimar« einparfümiert, in das tägliche Duftgefecht stürzte. Ich liebte diese »schwangere Flasche«, wie ich sie als Kind einmal tituliert hatte, diesen geriffelten Flacon mit dem rauen Glasstöpsel. Mit Schwung drehte meine Großmutter jeden Morgen die Flasche auf den Kopf und wieder zurück, zog den Stöpsel und stempelte sich selbst hinter den Ohren und auf den Hals, als wäre sie die wertvollste Briefmarke der Welt. Vor ihr gingen selbst die Lilien in die Knie. Hatte meine Großmutter die Lilienduftinsel durchschritten, roch es danach minutenlang nur noch nach ihr. Die Blumen zogen unterwürfig ihre Duftfühler ein und warteten auf das Verfliegen der Shalimar-Schleppe. Ging man hinter meiner Großmutter vom Keller durchs Erd- und Obergeschoss bis hinauf auf den Dachboden, roch man nur sie. Wenn es, was sehr selten vorkam, im Haus nach Essen stank, sich beispielsweise der furzartige Geruch von Blumenkohl aus der Küche herausgewagt hatte, gelang es meiner Großmutter mit ihrem Duft mühelos, Schneisen in den Gestank zu schlagen. Und tatsächlich konnte ich sie finden, ohne nach ihr zu rufen.

Noch heute gehe ich auf Flughäfen im Duty-free-Shop zu »Guerlain«, nehme mir einen Flacon »Shalimar« und lasse den Großmuttergeist aus der Flasche. Ein magischer Moment und so verwirrend, dass ich immer wieder aufs Neue darüber staune, dass sie beim Augenaufschlagen nicht direkt vor mir steht. Wenn ich durch Zufall diesem Duft begegne, in einem Fahrstuhl oder in der Menschentraube an der Garderobe eines Theaters, kommt es mir so vor, als wäre die so Einparfümierte eine Diebin, eine, die den Großmutterduft gestohlen hat und unbefugt benutzt. Der Shalimarduft gehört nur ihr allein. Gemeinsam mit den Blumen, dem Whisky, einer speziell spitz riechenden Käsecrackersorte und den Dunhill-Mentholschwaden verdickte das schwere Shalimarparfüm die Wohnzimmerluft. Im Laufe des Abends verdichteten sich die Gerüche zu einem gleichermaßen den Geist anregenden wie betäubenden, den Magen leicht schnürenden Gesamterlebnis.

Bis zu den Acht-Uhr-Nachrichten, die sie in einer mich jedes Mal aufs Neue fassungslos machenden Lautstärke hörten, trank man zwei oder sogar drei große Whiskys. Auch wenn ich mir eigentlich nicht vorstellen kann, dass sie schon immer in dieser Wahnsinnslautstärke Nachrichten gehört haben, erinnere ich mich nicht daran, mit ihnen jemals bei erträglich eingestelltem Pegel vor dem Fernseher gesessen zu haben. Um kurz vor acht wurde eine Uhr eingeblendet und die letzten fünf Sekunden mit einem speziellen Ticken unterlegt. Allein schon dieses Ticken ließ mich den Kopf an die Rücklehne des Sessels drücken. Denn nun wusste ich, gleich würden dem Gong der Satz »Hier ist das erste deutsche Fernsehen mit der Tagesschau« und die Tagesschaufanfare folgen. Die Fanfare brach in das sonst mit Stille erfüllte Wohnzimmer der Großeltern wie eine Steinlawine herein. Es geschah nicht selten, dass mein Großvater, direkt nachdem der Tagesschausprecher mit dem Verlesen der ersten Nachricht begonnen hatte und mir schon die Ohren dröhnten, rief: »Was ist denn da los?« Erleichtert dachte ich, dass es selbst ihm viel zu laut sei, er aber brüllte: »Ich versteh kein Wort«, und drehte den Ton bis zum Anschlag hoch. Wie meine sonst sensible, ja, übersensible Großmutter das aushielt, war mir ein Rätsel. Denn der Grund für den Lautstärkenirrsinn war ganz eindeutig die Schwerhörigkeit des Großvaters. Dieser großelterliche Folterfernseher brüllte mir meine frühsten TV-Erinnerungen in tiefergelegene Gehirnschichten hinein. Die Entführung der israelischen Sportler bei den Sommerspielen 1972. Diese Erinnerung wurde allerdings nicht nur durch den schreienden Fernseher unauslöschlich in mich hineinversenkt. Unvergesslich bedrohlich, aber für einen Fünfjährigen auch durchaus faszinierend, waren die direkt über dem Haus im Tiefflug dahinrotierenden Hubschrauber auf dem Weg zum Olympiastadion.

Vierte Etappe: Rotwein

Nie aßen meine Großeltern ihr Abendbrot am Esstisch. Immer wurden die am späten Nachmittag von der Haushälterin schon vorbereiteten Teller und Schälchen voller Köstlichkeiten auf die geschwungene Marmorplatte des Sofatisches gestellt. Auch beim Abendbrot spielte mein Großvater wieder den Weinkenner. Dabei tranken sie all die Jahre immer die gleichen zwei Weine. Sangre de toro oder Merlot. Und dann wurde sich unterhalten. Sich beim Rotwein zu unterhalten, war für meine Großeltern das Schönste. Diese Gespräche waren sehr besonders. Wenn sie den richtigen Grad von Trunkenheit und Angeregtheit erreicht hatten, liefen sie zu Hochform auf.

Wir redeten über Bücher, Theater und über große Themen wie Freiheit. Mein Großvater hatte viel über den Begriff der Freiheit geschrieben, und hin und wieder versuchte er sogar, uns in einfachen Worten an seinen Gedanken teilhaben zu lassen.

Meine Großmutter rezitierte ihre Lieblingsdichter, immer wieder Paul Celan, Nelly Sachs oder Matthias Claudius. Natürlich auswendig. »Bitte, Inge, würdest du so gut sein und uns den Claudius vortragen?« Er sah sie voller Liebe an, verlangte höflich, wie ein scheuer Bewunderer, nach ihrer Kunst. Aber sie ließ sich gerne bitten. »Um Gottes willen, nein, das kommt überhaupt nicht infrage. Das kann ich doch schon lange nicht mehr!« »Bitte, Inge, du machst das so wundervoll.« »Moooahhhhh, was ihr nur immer alle von mir wollt.« »Wenn du nicht willst, dann natürlich nicht. Niemand wird zu Claudius gezwungen.« »Herrschaftszeiten, also gut.« Toll war nicht nur, wie sie rezitierte, sondern auch, dass sie ihre Haltung nicht weiter veränderte. Sie blieb locker zurückgelehnt in ihrem Sessel sitzen, links die Zigarettenspitze, rechts das Weinglas schwenkend: »Der Mensch.« Schon das hatte gesessen. Kurz gesprochen, scharf. Ganz klar: Es ging um uns. Hier saßen wir, Menschen, nichts weiter. Das hatte sie alleine mit dem Titel geschafft. Man ahnte, dass der Mensch in diesem Gedicht etwas sehr Fragiles und Bedrohtes sein würde. Die erste Strophe ging sie sachlich an, unterkühlt geradezu, um sich dann von Zeile zu Zeile überraschend zu steigern:

»Schläft, wachet, wächst und zehret, trägt braun und graues Haar«, sie wurde lauter, intensiver, »und alles dieses währet …«, nun drohte sie uns, mit metallener Klarheit las sie uns die Leviten, »wenn’s hoch kommt, achtzig Jahr.« Das »hoch kommt« hatte sie hell platzen lassen und war dann bei »achtzig Jahr« stimmlich in schwarze bittere Tiefe abgeglitten. Die letzten beiden Zeilen waren dunkel geraunte Prophezeiungen. »Dann legt er sich zu seinen Vätern nieder, und er kömmt nimmer wieder.« Wobei sie das ö von »kömmt« aus dem Wort herauskatapultierte, wodurch dann doch ein wenig Hoffnung zu keimen schien.

Wenn mein Großvater aufs Klo ging, sagte meine Großmutter, sobald er das Zimmer verlassen hatte, wie schlecht es ihm zurzeit ginge. »Der Hermann, der hat es so schwer. Das geht nicht mehr lange gut. Er ist in einem desolaten Zustand.« Wenn dann allerdings meine Großmutter hinausging, sagte mein Großvater genau das Gleiche über sie. »Die Inge kann nicht mehr. Es wird alles zu viel für sie. Ihr Bein will einfach nicht mehr! Ich rechne mit dem Schlimmsten.« So gegen elf waren sie dann schon recht angetrunken. Aber lange nicht so betrunken wie ich. Ich vertrug viel weniger als sie.

Meine Großmutter litt oft unter den Bevormundungen ihres Mannes. In alkoholisiertem Zustand fing er jeden Satz mit Nein an und maßregelte sie dann ohne Unterlass. »Hermann, möchtest du noch etwas Rotwein?« »Nein! Halb voll.« Oder: »Hermann, schmeckt dir heute der Appenzeller?« »Nein! Ganz ausgezeichnet.« Sie war aber nicht wehrlos. Er sagte: »Mach langsam. Vorsicht, Inge, mit deinem kurzen Bein.« Sie sagte: »Herrschaftszeiten, jetzt lass mich doch einfach in Ruhe.« Der Umgangston konnte sich rapide ändern. Schlagartig. Meine Großmutter forderte: »Hermann, hör auf zu trinken. Du redest nur noch Quatsch.« Er sagte: »Inge, du bist zum Kotzen.« Dabei hatten wir noch vor einer Viertelstunde über die Erkenntnis durch Verzweiflung oder die Offenbarung Gottes durch Leid bei Kierkegaard philosophiert.

 

Meine Großeltern hörten jeden Abend Musik. Sie hatten nur wenige Platten, die durch ihr Immer-und-immer-wieder-Hören arg mitgenommen waren. Es begann eines ihrer abstrusesten Rituale, dem sie, egal, was um sie herum geschah, die Treue hielten. Sie zündeten Kerzen an und legten sich gemeinsam auf eine große Kaschmirdecke auf den Boden. Da lagen sie dann, wie Tote, die sich selbst aufgebahrt hatten. Das taten sie auch, wenn Besuch da war, sagten: »Lasst euch nicht stören, aber wir hören jetzt unsere Musik!« Bestimmte Platten blieben immer an denselben Stellen hängen, und es dauerte lange, bis sie es merkten. Niemand wagte es, die in der Rille verhakte Nadel zu befreien. Sie dösten. Lagen auf dem Boden, hielten sich an den Händen, und die Gäste saßen da und sahen ihnen beim Musikhören zu.

Beide verabscheuten Wagner, auch Mozart wurde eher selten aufgelegt. Gerne hörten sie Benjamin Britten, Bachkantaten und viel Schubert, aber ein Lied mochten sie besonders: Solvejgs Lied aus Peer Gynt von Edward Grieg. Hunderte Male knisterte es aus den als großartig gepriesenen, aber nur mittelmäßigen Boxen heraus. Es endet mit den Zeilen: »Dieselbe Sonne wärmt uns, egal an welchem Ort, egal an welchem Ort. Und bist du schon im Himmel, so treffen wir uns dort, so treffen wir uns dort.«

Fünfte Etappe: Cointreau

Das Ende des Abends kam in Sicht, wenn mein Großvater rief: »Jetzt gibt es Cointreau!« Dieser pappsüße Orangenlikör gab mir dann stets endgültig den Rest. Mein Großvater torkelte auf die Terrasse, um frische Luft zu atmen. Er brauchte immer viel Luft, da er nur noch einen Lungenflügel hatte. Der andere war durch einen Pneumothorax stillgelegt worden. Während des Krieges hatte er, um nicht an die Front zu müssen, ein Nierenleiden simuliert und sich im Krankenhaus mit Tuberkulose infiziert, wodurch er dann tatsächlich gerettet war.

Gegen den Weinstein füllte meine Großmutter über Nacht Wasser in die Rotweingläser. Ich half ihr aufzuräumen. Sie hatte dann ihre Haare schon offen und war wieder seltsam nüchtern. Sie weckte meinen Großvater, der bei Wind und Wetter auf der Terrasse einschlief. Ich habe ihn auch leicht eingeschneit dort schlafen gesehen. Verabschiedet wurde sich unterhalb der Treppe mit einem Kuss. Mein Großvater wurde mit zunehmendem Alter ein gefürchteter Küsser. Hatte er früher jeden Körperkontakt eher gemieden und leicht ruppig absolviert, wurde er im Alter sehnsuchtsvoller. Er nahm mein Gesicht in seine von Altersflecken übersäten Hände, zog mich mit seinen knochigen, erstaunlich dünnen Fingern zu sich und küsste mich lange auf den Mund. Dabei schloss er seine Augen. Meine Mutter hat dieser Gutenachtkuss immer mit tiefem Ekel erfüllt. An einem Abend, an dem er noch ein bisschen mehr getrunken hatte als sonst, spürte ich sogar für einen Moment seine Zunge zwischen meinen Lippen.

Wenn ich mich zu meiner Großmutter hinunterbeugte, zuckte sie stets ein wenig zusammen. Sie küsste nie zurück, ließ mich nur flüchtig mit meinem Mund ihre glatten Wangen streifen.

Da sie beide – mal mehr, mal weniger – nur noch mühsam laufen konnten, hatten sie sich einen Treppenlift einbauen lassen. Jeden Abend wollten sie einander den Vortritt lassen. Hatten sie sich geeinigt, schwebten sie würdevoll winkend davon. In sanftem Schwung die lange Treppe hoch. Volltrunkene alte Engel.

Kurz nach dieser Himmelfahrt ging auch ich ins Bett. Völlig besoffen. Es gab Abende, an denen ich so betrunken war, dass auch ich die Treppe nicht anders als mit dem Treppenlift hochgekommen bin.

 

Das rosa bezogene Bett war zu kurz. Ich träumte schwachsinniges Zeug, schlief schlecht, die großen Füße baumelten im Dunkel. In solchen Nächten vermisste ich die Schreie der Patienten, die ich während meiner gesamten Kindheit im Kinderzimmer liegend gehört hatte, da unser Haus auf dem Gelände einer riesigen Psychiatrie stand. Das Patientengebrüll hatte mich immer beruhigt und wohlig einschlafen lassen. Das Haus der Großeltern jedoch versank in bleierner Villenviertel-Stille, die sich mit der klammen, über die verwitterte Mauer herüberwabernden Parkstille zu einer mich beklemmenden Grabesruhe vermischte.

Wenn ich rotweinverwirrt aufwachte, hörte ich meinen Puls im daunengeblähten Kopfkissen klopfen. Bei einer bestimmten Windrichtung mischte sich unter das Pochen meines Herzens ein dumpfes Schlagen, welches angeblich von einem weit entfernten Rangierbahnhof herüberhallte. Wie nachtaktive Tiere trauten sich die metallischen Töne erst nach Einbruch der Dunkelheit heraus und krochen im Schutze der Nacht bis in die herrschaftlichen Schlafzimmer hinein. Es klang, als schlüge tief im Bauch eines havarierten und leer geräumten Schiffes jemand erschöpft gegen die rostigen Wände. Dort würden, hatte mir mein mittlerer Bruder vor vielen Jahren weisgemacht, in gigantischen Hallen heimlich Panzer zusammengebaut.

Ich wälzte mich hin und her, allein im riesigen Frachtraum der Nacht. Diese Töne, fast schon wie Einbildungen, beflügelten meine Fantasie. Ich sah ausgehungerte Gestalten vor mir, die, ihre Kräfte übersteigend, an Kurbeln drehten, oder dadurch, dass sie sich trotz ihrer Schwäche in eisernen Hamsterrädern vorwärtsschleppten, eine futuristisch anmutende Nachtmaschine betrieben, vielleicht sogar das Getriebe der ganzen Welt warteten.

 

Am nächsten Morgen, Punkt halb acht klopfte meine Großmutter an meine Tür, um mich zu wecken. Sie sah wie immer blendend aus, duftete nach »Shalimar«. Auch mein Großvater sah zu mir herein, frisch wie nach drei Wochen Urlaub in den Bergen. Nie sah man ihnen an, dass sie so viel tranken. Doch ich war wie krank. Todkrank.

Und dann ging alles wieder von vorne los. Oft hörte ich, während ich meinen Kopf kaum vom rosa bezogenen Kopfkissen hochbekam, wie unten die barfüßige Haushälterin schon wieder den Korken aus der Champagnerflasche knallte. Nie war ich so zerrüttet wie nach ein paar Tagen bei meinen Großeltern.

Will denn die Uhr nicht ruhen

Im Münchner Krankenhaus rechts der Isar gab es eine Kinderabteilung mit einem eigenen Schwimmbad, einem sogenannten Rehabilitationsbecken. Es war mir gelungen, die dortige, sehr begehrte Zivildienststelle zu ergattern, und ich war durchaus der Meinung, dass ich mich ausgezeichnet für diesen Posten eignete, denn jahrelang hatte ich Kindern Schwimmunterricht gegeben und mehrere Trainerscheine gemacht. Meine Aufgabe würde es sein, bei guter Bezahlung, als eine Art therapeutischer Bademeister mit den Kindern ihre Übungen durchzuführen. Ein Zimmer brauchte ich mir nicht zu suchen, da ich in einem Schwesternwohnheim untergebracht werden würde. Dieser Aspekt erregte mich. Schwesternwohnheim klang fantastisch. Und so stellte ich mir mein Münchner Leben, das auch ein Neubeginn nach einer alles andere als glorreich verlaufenen norddeutschen Schullaufbahn sein sollte, vor: aufwachen und räkeln im Schwesternwohnheim. In Badelatschen, kurzer Hose und engem T-Shirt, alles blütenweiß, zum Schwimmbad rüberschlendern. Hinter meinem Rücken Schwesterngetuschel. Gemütlich in meinem verglasten Bademeisterkabuff Zeitung lesen, Kaffee trinken und auf die versehrten Kinder warten. In einer knapp sitzenden Badehose in das Becken gleiten, um mit den wahrscheinlich anfänglich noch ängstlichen, dann aber sicherlich Vertrauen fassenden Jungen und Mädchen ihre Wassergymnastik zu machen und ihre erst kürzlich gebrochenen Arme oder Beine sachte im heilenden Nass hin und her zu schwenken. Am Nachmittag ein Schläfchen im Wohnheim, dann Kuchen essen und, dies würde sicherlich auch zu meinen Pflichten gehören, mit den Ärzten über die Fälle des Tages fachsimpeln. Vielleicht allerdings auch Handtücher waschen und die Duschen und Umkleidekabinen wischen. Alle meine Tätigkeiten stellte ich mir in einem verlangsamten, extrem lässigen Tempo vor. Des Nachts hoffte ich auf leise in der Dunkelheit geöffnete Türen, auf Barfußhuschen über den Gang, auf abgestreifte Kittel, schwesterliche Nächstenliebe und Wildheit, die sich am Tag hinter Sachlichkeit verstecken würde. Das entwickelte sich zu einer regelrecht wahnhaften Dauersehnsucht. Immer wieder stellte ich mir vor, wie ich in großer Runde, vielleicht in der Krankenhauskantine, einer bildhübschen Schwester am Tisch gegenübersitzen würde und nur wir zwei wüssten, was wir in der letzten Nacht alles voneinander gesehen hatten. Und dann so tun, als ob nichts gewesen wäre, belanglos plaudern, doch in ihren Augen, weit hinten, ein nur mir geltender, geheim gehaltener Glanz, der mir sagt: »Wann wird es endlich wieder Nacht? Ich hab zwar Dienst, kann es aber kaum erwarten!« So stellte ich mir mein süßes Zivildienstleben vor: als eine Mischung aus barmherzigem Samariter in Badelatschen und feurigem Casanova im Schwesternwohnheim.

 

Ich war durch den noch nicht lange zurückliegenden Unfalltod meines mittleren Bruders komplett aus der Bahn geworfen worden. Mein Leben war bis zu diesem Verlust ein stabiles und angenehmes gewesen. Eine verlässlich zugefrorene Fläche, auf der ich gutbürgerlich herangewachsen und wohlbehütet Schlittschuh gelaufen war. Doch jetzt knirschte und taute es gewaltig unter mir. Eine unberechenbare Traurigkeit hatte mich ergriffen und brachte Bewegung in die Tektonik meiner einst so soliden Tage. Ich glitt auf dünnem Eis dahin, doch immer öfter blieb ich unvermittelt stehen, da mich eine Verzagtheit ergriff, die mir den Atem nahm und jeden weiteren Schritt sinnlos zu machen schien. Aber genau dieses Stehenbleiben war gefährlich. Ich musste stets in Bewegung bleiben, um nicht einzubrechen. Auch quälten mich Zukunftssorgen, da ich nicht die leiseste Ahnung hatte, was ich werden wollte.

Die Zivildienststelle in München schien da genau das Richtige zu sein. Zeitaufschub und Kur zugleich, denn eigentlich war ich der Rekonvaleszent, war ich derjenige, der sich im Krankenhaus rechts der Isar Heilung versprach und der sich nach sterilem weißem Frieden sehnte.

 

Der Unfalltod meines Bruders hatte mich während eines einjährigen USA-Aufenthalts ereilt. Wie eine Guillotine war er in meine heile Welt gefallen, hatte das Davor und das Danach in zwei Teile zerhackt, zwei Teile, die nicht mehr im Entferntesten zusammenpassen wollten. Mit der gleichen Wucht, mit der das Auto, in dem mein Bruder gesessen hatte, unter den Laster gekracht war, wurde ich, weit weg in Wyoming, aus einer vertrauten Welt in eine unbekannte, kaputte geschleudert. Übrig blieb: ein Ich vor dem Unfall und ein Puzzle-Ich danach. Und dann war da auch noch die Einschläferung unseres Hundes, eines Landseers. Ein großer verträumter Hund, der meine ganze Kindheit und Jugend begleitet hatte. Den ich festhielt, während er die Spritze bekam. In dessen kreatürlichem Tod mir sich wie nie zuvor Vergänglichkeit offenbart hatte. Auch das ließ mich nicht mehr los. Ich war umstellt und belagert von Todesgedanken. Dazu die Sorge um meine Mutter, meinen Vater und meinen übrig gebliebenen Bruder. Der Verlust meines mittleren Bruders hatte meine Eltern einander nähergebracht, doch ich war sicher, diese auf Verzweiflung gegründete Zuneigung würde nicht lange halten.

Die Zivildienststelle in München war ein Geschenk des Himmels: eine Fluchtmöglichkeit heraus aus der norddeutschen Heimatstadt. Flucht vor dem Mitleid in den Augen dieser Jeder-kennt-jeden-Welt. Flucht vor dem Friedhof mit dem Marmorkreuz des Bruders und den vier spießigen Tannen dahinter. Wie soll man es mit neunzehn ertragen, vor dem Grab des Bruders zu stehen, an einem Tag den weinenden Vater und an einem anderen die weinende Mutter zu trösten, und jedes Mal aufs Neue von einem Schock ereilt zu werden, wenn sich für einen Augenblick die Erkenntnis offenbart, dass dieser geliebte Mensch da tatsächlich unter der Erde liegt und nie mehr wieder herauskommen wird. Ich war erschüttert von der Gnadenlosigkeit des archaischen Aktes des Verscharrens, erschüttert von der unumstößlichen Grausamkeit, meinen Bruder in einer Kiste unter der Erde zu wissen. Alles religiöse oder philosophische Geplänkel wurde durch die konkrete Vorstellung des vertrauten Körpers, keine zwei Meter unter den erbärmlichen Stiefmütterchen, pulverisiert.

Oft wurde ich überwältigt von diesen Bildern: Der Bruder ist in der nassen Erde gefangen und braucht meine Hilfe. Ich konnte nicht anders. Ich musste mir vorstellen, wie eingepfercht er dalag. Für mich war er kein Begrabener, er war ein Verschütteter, und ich hätte ihn so gerne gerettet. Meinen Bruder in Frieden ruhen zu lassen überstieg meine Kräfte. Ich wollte ihn bei mir haben. Da war es fast eine Erleichterung, als ich irgendwann begriff, dass mein Schmerz nur dadurch zu bändigen, ein eigenes Leben nur dadurch wieder möglich sein würde, dass ich mich diesem Sog nicht weiter aussetzte. Ich musste weg aus dieser Stadt, deren Herzstück das Grab meines Bruders geworden war. Nie zuvor hatte ich meine Umgebung mit einer derart sezierenden Klarheit gesehen. Der Tod hatte nicht etwa seinen sanften Schleier über meine zerbrochene Welt geworfen, die Trauer betäubte mich nicht, nein, der Verlust peitschte meine Fantasie auf, schärfte meine Wahrnehmung. Wie mit einem bösartigen Skalpell schälte der Schmerz alles Unwesentliche vom Wesentlichen. War ich den Menschen früher immer wohlwollend und mit Offenheit begegnet, genügte mir jetzt schon ein Blick, um ihre hilflos kaschierte Verlorenheit zu durchschauen. Auch wenn sie sich selbst für glücklich hielten, mir kam diese kleinstädtische Zufriedenheit tödlich vor. Je heiterer und pragmatischer sie alle taten, desto desolater erschienen sie mir. Doch mich überforderte mein durch die Trauer schonungslos gewordener Blick und ich erkannte, dass ich dieser Hellsichtigkeit entfliehen, die Glasklarheit meiner Gedanken schleunigst verlassen musste, um so etwas wie Weltvertrauen und Wohlbehagen wiederzuerlangen. Ich wollte kein Leben, in dem mein Schmerz rücksichtslos jeden Winkel ausleuchtet, ich wollte jugendlichen Leichtsinn. Ganz vage verspürte ich eine in mir keimende Bösartigkeit, eine Verbitterung allem Lebendigen gegenüber. Doch ich sehnte mich nach Naivität. Sosehr in meinem Inneren Gedanken um Verlust und Sinnlosigkeit kreisten, so sehr gab ich mich nach außen weiterhin heiter und unerschütterlich. Ich war durch den Tod des geliebten Bruders, durch die drohende Trennung der Eltern zu einer Fata Morgana geworden, zu einer verheißungsvoll flimmernden Oase: Aber da war nichts. Mein Optimismus war eine optische Täuschung und jeder, der mir zu nahe käme, da war ich mir sicher, würde das augenblicklich durchschauen. Ich war komplett durch den Wind und wusste nicht wohin mit mir. Hauptsache weg. Zwei Möglichkeiten taten sich auf. Zum einen die Zivildienststelle und zum anderen die Schauspielschule. Beides in München. Tausend Kilometer entfernt vom Grab des Bruders. Das schien mir eine gute Distanz. Die Aufnahmeprüfung an der Schule hatte noch gar nicht stattgefunden, da kam schon die Zusage des Krankenhauses rechts der Isar. Ich war unendlich froh.

Die nächsten Monate blieb ich noch in Schleswig. Ich machte viel Sport, kaufte mir ein Hantel-Set, hatte mir ein sanftes Lächeln angewöhnt und ein Gedankenmantra ins Hirn gepflanzt: »München, ich komme!«

Ich wurde ein Meister darin, Zuversicht vorzutäuschen, und durch diese permanenten Täuschungsmanöver stellte sich tatsächlich so etwas wie Zuversicht in mir ein. Es war ein autosuggestiver Trick. Es war wie mit dem Fuß aufzustampfen, um sich daran zu erinnern, wie es ist, wütend zu werden. Mein Kummer, das nahm ich mir für München vor, würde mein norddeutsches Geheimnis bleiben und sollte im Schwesternwohnheim ganz allmählich abklingen und heilen. Ich wollte wieder so werden, wie ich mich jetzt schon gab: unerschütterlich lebensfroh.

 

Doch dann kam alles ganz anders. Ich nahm an der Aufnahmeprüfung der Schauspielschule teil. Die Motive, mich dort beworben zu haben, waren mir selbst nicht ganz klar. Vielleicht wollte ich einen Weg einschlagen, der außerhalb all dessen lag, was ich mir zutraute, vielleicht wollte ich etwas versuchen, das das genaue Gegenteil von dem war, was in Betracht kam. Völlig fremd war mir das Theater nicht, da ich in ein paar Stücken der Theater AG an der Schule sogar mit einigem Erfolg mitgewirkt hatte. Ich war aber alles andere als vom Theater infiziert. Ich war ein Sportler, hatte in meinem Leben kein einziges Theaterstück freiwillig gelesen, und die wenigen Male, die ich im Theater gewesen war, hatten mich zu Tode gelangweilt. Dennoch machte ich mich auf den Weg nach München. Ich sagte mir: Selbst wenn sie mich auslachen und nach einem Satz kopfschüttelnd unterbrechen, was soll mir schon passieren. Die Zivildienststelle habe ich ja sicher. Das ist es, was ich machen will.

Schlecht vorbereitet fuhr ich zur Aufnahmeprüfung. Drei Rollen sollte man vorspielen. Ich wusste nicht, was ich nehmen sollte. Meine Großmutter hatte mir »Dantons Tod« von Georg Büchner empfohlen. Mit dem gelben Reclam-Heftchen in der Hand war ich in Schleswig herumgelaufen und hatte mühsam den Text gelernt. Was beim Vorsprechen geschah, ist mir bis heute ein Rätsel.

 

In einem abgedunkelten Raum wurde ich routiniert empfangen. Ich war einer von Hunderten. »Herzlich willkommen. Welche drei Rollen hast du uns mitgebracht?« »Oh das tut mir leid, aber das hab ich nicht hinbekommen. Ich hab nur eine Rolle geschafft.« »Nur eine Rolle? Warum?« »Drei waren mir zu viel. Ich bin nicht so gut im Auswendiglernen.« Ich war zu meiner Überraschung völlig furchtlos. Ich sagte: »Besser eine gut als drei scheiße!« Die Prüfer hinter ihren Tischen grinsten. »Und welche eine Rolle haben wir die Ehre erleben zu dürfen?« »Danton von Büchner.« »Warum gerade die?« »Hat mir jemand empfohlen.« »Hat dir das Stück gefallen?« »Ging so.« »Aha. Brauchst du irgendwas?« »Einen Stuhl.« Ich zog meinen Pullover aus. Darunter hatte ich ein Bundeswehr-T-Shirt meines Bruders an. Ich hoffte, es würde mich beschützen. Ich nahm Platz. Die Scheinwerfer waren mir zu grell. Ich drehte mich seitlich weg und saß nun so da, als würde ich in einem Zugabteil an den Prüfern vorbeifahren. »Ich mach die Stelle kurz vor der Hinrichtung.« »Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst!« »Danke.«

Ich wartete einen Augenblick, obwohl ich nicht genau wusste, worauf. Es war schön still um mich herum, und die Prüfer guckten freundlich. Ich sah auf den Boden, sah die abgeschabten Bretter und fing zu sprechen an: »Will denn die Uhr nicht ruhen? Mit jedem Picken schiebt sie die Wände enger um mich, bis sie so eng sind wie ein Sarg. Ich las einmal als Kind so ’ne Geschichte. Die Haare standen mir zu Berge. Ja als Kind. Das war der Mühe wert. Mich groß zu füttern und mich warm zu halten. Nichts als Arbeit für den Totengräber.« Ich machte eine Pause, da ich damit rechnete, unterbrochen zu werden. Ich wollte zuvorkommend sein und den Prüfern eine gute Gelegenheit geben, die Sache vorzeitig zu beenden. Durch diese kleine Abschweifung verlor ich den Faden und wusste nicht mehr, wie es weiterging. Aber seltsamerweise beunruhigte mich das nicht im Geringsten. Ich saß da, in der lichterfüllten Stille, und genoss den Abgrund, der sich vor mir auftat. Früher oder später würde es mir schon einfallen. In Gedanken fing ich wieder von vorne an, kam erneut zu der Stelle und diesmal hatte ich den Text parat. »Es ist mir, als röch ich schon. Komm mein lieber Leib, ich will mir die Nase zuhalten und mir einbilden, du seist ein Frauenzimmer ….«, ich stockte und musste ein wenig lachen. Das Wort »Frauenzimmer« kam mir in diesem Augenblick so absurd vor, so altmodisch. Ich grinste und wiederholte es. »Ein Frauenzimmer, das vom Tanzen stinkt und schwitzt, und dir Artigkeiten sagen.« Das mit den Artigkeiten begriff ich nicht, hatte ich noch nie begriffen. Was würde der denn da sagen, überlegte ich. Durch diesen Nebengedanken plumpste ich erneut in ein Loch und brauchte eine gefühlte Ewigkeit, um aus ihm heraus zurück in den Text zu krabbeln. Abermals erfüllte mich eine herrliche Ruhe. »Morgen bist du eine leere Bouteille, der Wein daraus ist ausgetrunken.« Das war für mich der schwerste Satz im gesamten Monolog. Ich hatte eine Heidenangst vor der Aussprache des französischen Wortes »Bouteille«. Immer wieder hatte ich es mit einem Mitschüler geübt. Ich nuschelte mich leiser werdend darüber hinweg und kurvte schlingernd in die Zeilen-Zielgerade ein. »Das sind glückliche Leute, die sich noch besaufen können. Ich aber, ich gehe nüchtern zu Bett.« Ich hatte was verdreht, egal. »Doch hätte ich anders sterben mögen, so ganz mühelos, so wie ein Stern fällt …« Ich stockte, wiederholte tonlos mit den Lippen das Wort »mühelos«. Ich dachte an meinen Bruder. Hatte er einen mühelosen Tod gehabt? War er so unmittelbar, wie ich mir das vorstellte, durch den Aufprall des Wagens getötet worden? Oder hatte es doch Momente von Panik, Schmerz und Todesangst gegeben? Ich versuchte weiterzusprechen, aber es ging nicht. Ich konzentrierte mich darauf, das aufgesprungene Fenster in mein Unglück wieder zuzudrücken. Plötzlich bekam ich Angst. Das hatte mir gerade noch gefehlt, vor diesen fremden Leuten einen meiner Weinkrämpfe zu bekommen. Andererseits spürte ich, wie geballt die Aufmerksamkeit den Raum erfüllte. Überall um mich herum schwebten mikroskopisch kleine Staubpartikel im Scheinwerferlicht und ihre Schwerelosigkeit hatte etwas Beglückendes. Vorsichtig sprach ich weiter, balancierte über das Seil meiner niedergehaltenen Trauer hinweg, bewegte mich behutsam von Wort zu Wort. »So – wie – ein Ton –sich selbst – aushaucht, sich selbst – totküsst …«, wieder irgendwas falsch, »wie ein – Lichtstrahl in klaren – Fluten sich begräbt.« Ich dachte nicht mehr im Geringsten an den Inhalt, benutzte die Wörter nur noch dazu, sie gleich Sandsäcken, einen nach dem anderen, auf die mögliche Bruchstelle im Deich zu werfen. Silbe für Silbe wuchtete ich sie heraus. So, dachte ich, ein Satz noch, ein letzter Satz noch, dann ist es geschafft. Es blieb mir nichts anderes übrig, als grotesk langsam zu sprechen. »Wie schim – mernde – Tränen