Acht Wölfe - Ulla Scheler - E-Book

Acht Wölfe E-Book

Ulla Scheler

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Beschreibung

Acht junge Menschen schließen sich einer geführten Wanderung im größten Nationalpark Kanadas an. Sie wollen für drei Wochen ungezähmte Natur erleben und Nordlichter sehen. Aber sogar in der tiefsten Wildnis kann man zur falschen Zeit am falschen Ort sein. Als sie Zeugen eines Verbrechens werden, bleibt ihnen keine andere Wahl, als Hals über Kopf ins Dickicht zu fliehen. Sie haben keine Orientierung, kaum Ausrüstung und können einander nicht leiden. Aber sie haben nur eine Chance, es lebendig nach Hause zu schaffen: wenn sie zusammenhalten.

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Seitenzahl: 509

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Das Buch

Der Wood-Buffalo-Nationalpark in Alberta, Kanada: weite Wälder, breite Flüsse, unberührte Wildnis. Das Zuhause von Bisonherden, den größten Kranichen der Welt – und für drei Wochen auch von einer Gruppe junger Stadtmenschen. Unterwegs wird ihnen beigebracht, wie sie Feuer machen, Bären entkommen und Essbares finden können.

Niemand von ihnen erwartet, dass sie dieses Wissen jemals nutzen müssen.

Dann passiert etwas Schockierendes. Und vom einen Tag auf den anderen sind die acht ohne Ausrüstung auf sich allein gestellt.

Auf einmal wird alles um sie herum zur tödlichen Gefahr.

Das Wasser. Die Tiere. Die Landschaft.

Und ihr Wanderführer Nick.

Die Autorin

Ulla Scheler wurde 1994 in Coburg geboren. Sie studierte Psychologie und Informatik in München und Karlsruhe. Ihr Debütroman »Es ist gefährlich, bei Sturm zu schwimmen« war ein großer von Leser*innen und Presse gefeierter Erfolg. Ulla Scheler wurde damit außerdem für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert. »Acht Wölfe« ist ihr erster All-Age-Roman.

Ulla Scheler

Acht Wölfe

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

© 2023 by Ulla Scheler

© 2023 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Autoren- und Projektagentur Gerd F. Rumler in München

Redaktion: Tamara Rapp

Umschlaggestaltung und -illustration: DASILLUSTRAT, München,

unter Verwendung der Motive von Shutterstock.com

(Dmitry Molchanov, Songquan Deng, Jarous)

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-31017-2V002

www.heyne.de

Für Lukas

Weiter, immer weiter.

Jetzt, wo sie sich zur Flucht entschieden hatten, wollte Valentina nur noch rennen.

Hatte Nick schon bemerkt, dass sie abgehauen waren? Waren seine Leute schon da? Hatten sie sich ihnen schon an die Fersen geheftet? Sicherlich hinterließen sie für ein geübtes Auge jede Menge Spuren, vor allem da sie keinem Weg folgten, sondern quer durch den Wald stolperten. Und Nick kannte den Wald besser als sie alle.

Sie hielten immer wieder an, um sich nach Lichtern umzuschauen. Schatten zeichneten neue Blätter auf die Äste, dunkel und stumm. Es fühlte sich an, als würde der Wald ausatmen und sich um sie herum zusammenziehen. Nur wegen der Aurora konnten sie überhaupt etwas sehen.

Sie wussten nicht, wie nahe Nick schon war, aber er hatte während der letzten Tage trotz seines großen Rucksacks das Tempo gehalten. Wie schnell war er erst, wenn er lediglich seine Pistole trug?

1

Valentina

Die anderen Reisenden hatten sich wie Raubtiere vor der Fütterung strategisch um das Gepäckband positioniert.

Vielleicht war es ein Fehler gewesen, herzukommen.

»Kaffee?«, fragte Ole und pustete Valentina den Geruch über den Rand seines Pappbechers zu.

Sie fühlte sich zerknautscht und vage schmutzig von den knapp achtzehn Stunden Reise von Hamburg nach Edmonton, aber Ole sah natürlich aus wie frisch gebügelt. Er drückte ihr den Becher in die Hand. »Ich nehme an, du trinkst ihn immer noch mit kriminell viel Zucker und ohne Milch?«

Und natürlich erinnerte er sich an solche Kleinigkeiten.

»Gerade genug Zucker«, sagte sie und verbrannte sich die Zunge am ersten, zu schnellen Schluck. Sie deutete in Richtung seines Kinns. »Ist das dein Look für die nächsten drei Wochen?«

Ole fuhr sich über die blonden Stoppeln. »Ja. Alex und ich haben extra keine Rasierklingen eingepackt. Wir wollen mal schauen, wie uns Bärte stehen.«

»Ich kann da eine kleine Vorhersage machen«, sagte sie trocken.

Ole lachte. »So schlimm?«

Es war natürlich überhaupt nicht schlimm. Die ersten Stoppeln glitzerten wie Sprenkel aus Gold auf seinen Wangenknochen. Ole hatte früher nicht einmal nach einem langen Tag im Leichtathletik-Trainingslager schlecht ausgesehen.

Sie verdrehte die Augen. »Wenn unser Gepäck noch länger braucht, registriere ich dich auf Google Maps als Sehenswürdigkeit.«

»Oooh.« Er legte ihr einen Arm um die Schultern und drückte sie.

Sie blickte nicht zu ihm auf. »Ich meine es ernst. Ich könnte die Fotos posten, die ich während des Flugs von dir gemacht habe, als du im Schlaf in deinen Hoodie gesabbert hast, und tausend Likes bekommen – und ich habe nur fünfhundert Follower.«

»Habe ich dir schon gesagt, wie sehr ich mich freue, dass du auch dabei bist?«

»Um dein Ego aufzupolstern?«

»Nein.«

»Damit jemand anderes Kristina hinterherräumt?«

»Nein.« Er grinste.

»Ah, jetzt hab ich’s: wegen meiner durchweg optimistischen Lebenseinstellung!«

Das Lächeln breitete sich jetzt über sein ganzes Gesicht aus. Oles Lächeln war wie eine Ziellinie – man wollte sich mit dem ganzen Oberkörper nach vorne lehnen.

»Weil ich dich seit Ostern nicht gesehen habe«, sagte Ole und drückte sie noch einmal.

Er roch gut. Nach Waschmittel und Deo und Alles-okay, so wie der große Bruder, den sie nie gebraucht hatte, als Kristina noch die beste große Schwester aller Zeiten gewesen war.

Ein Hauch Eau de Ole, und schon konnte man sich fast wieder wie dreizehn, vierzehn, fünfzehn fühlen, aufgeregt wie ein Bienenschwarm, dass man mit der großen Schwester und ihren einschüchternd coolen Freunden in der letzten Reihe des Busses sitzen durfte.

»Warum eigentlich?«, fragte Ole.

»Hm?« Reiß dich zusammen, Valentina.

»Warum haben wir dich so lange nicht mehr gesehen?«

Sie zuckte die Achseln. »Kristina war beschäftigt damit, ihre ganzen Vorlesungen und Seminare nachzuholen.«

Ole hob eine Augenbraue. »Netter Versuch. Aber ich kenne niemanden, der so entspannt studiert wie Kriss. Und sie hat uns erzählt, dass du zu beschäftigt mit deinem Studium warst, um sie zu besuchen.«

Was sollte sie dazu sagen? Meine Schwester lügt mich genauso an wie euch? Ich glaube, sie geht mir aus dem Weg, und ich weiß nicht, warum?

»Mal ehrlich. Was war los? Wir haben dich vermisst. Die Musketiere sind nicht vollzählig ohne d’Artagnan.«

Valentina hatte dieselbe Frage gestellt: Was ist los? Ich vermisse dich. Aber Kristinas Antwort – in immer mehr abgewimmelten Anrufen und immer später beantworteten Sprachnachrichten – war jedes Mal dieselbe: Ich weiß nicht, was du meinst. Zwischen uns ist doch alles okay.

Ihr blieb eine Antwort erspart, weil Kristina ans Gepäckband kam.

»Do-nuts«, rief sie triumphierend und hielt ihr einen unter die Nase. Sie war genauso wach wie Ole, aber auf die Immer-noch-wach- und Nacht-durchgefeiert-Art.

Wortlos nahm Valentina den Donut. Er war in Regenbogenfarben glasiert, passend zu den Strähnen in Kristinas Haaren. Auf diesem Flug hatte Valentina ihre Schwester zum ersten Mal seit Weihnachten wiedergesehen, und sie war noch nicht fertig damit, die Änderungen zu katalogisieren. Die bunten Haare, das Ohrenpiercing. Als würden ihr all die Details die Antwort verraten, wenn sie nur aufmerksam genug hinschaute.

Was verheimlichst du vor mir, K.?

»Wir haben einen Donut von jeder Sorte gekauft«, sagte Kristina. »Konnten uns nicht entscheiden.«

Hinter ihr stand Alexander, die restlichen Donuts in der Hand.

»Alexander konnte sich nicht entscheiden?« Valentina warf ihm einen skeptischen Blick zu.

Ein winziges Lächeln hob seine Mundwinkel. Wie üblich hatte Alexander auf dem ganzen Flug keine drei Worte geredet. Ganz sicher hatte er keine Meinung zur Donut-Auswahl.

Ole verteilte die restlichen Kaffeebecher. Espresso für Kristina, doppelten Espresso für Ole und Cappuccino mit Zimtsirup für Alexander, der anscheinend immer noch einen süßen Zahn hatte.

Kristina leckte sich den letzten Rest Zucker von den Fingern. »Hast du Desinfektionsmittel?«

Valentina holte welches aus ihrem Reisegepäck. »Solltest du das nicht vor dem Finger-Ablecken benutzen?«

Kristina blies ihr einen Kuss zu. »Kann ich mir auch einen Kaugummi leihen?«

Valentina hatte einen Kaugummi. Sie hatte außerdem die vage Ahnung von Kopfschmerzen und keinen Schimmer, wie sie die nächsten drei Wochen überstehen sollte, wenn sie jetzt schon das Bedürfnis hatte, Kristina zu schütteln, bis sie aufhörte, so zu tun, als wäre die Welt ein Ponyhof und sie die Reiter-Barbie. Valentina wollte ihre Nägel in Kristina schlagen, bis sie ihre alte Schwester frei gekratzt hatte.

»Ich kauf mir noch was zum Lesen für die Fahrt«, sagte sie und lief los, bevor jemand etwas dagegen einwenden konnte, Alexanders fragenden Blick im Rücken. Sie brauchte einen Moment alleine – vermutlich den letzten, den sie für drei Wochen bekommen würde.

»Bring mir noch einen Snack mit, ja?«, rief Kristina.

Valentina winkte vage über die Schulter. Sie hasste es, dass sie ständig so wütend auf Kristina war; es erinnerte sie nur daran, dass sich die Dinge zwischen ihnen verändert hatten. Aber die Wut kam immer gleichzeitig mit Kristina an – wie eine dritte Schwester, die dem Wiedersehen nicht fernbleiben wollte.

Der Zeitschriftenladen war zu grell beleuchtet, aber immerhin gut ausgestattet. Ein dünner Kerl in Hemd und Stoffhose stand vor ihr an der Kasse. Er bezahlte mit seiner Kreditkarte, drehte sich schwungvoll um und lief direkt in sie hinein – eine dieser Personen, für die die Welt Platz machen musste –, wobei sein Energydrink über ihr T-Shirt schwappte.

Wortlos schaute Valentina an sich herunter. Der Kerl beäugte ihr T-Shirt ungerührt. »Sicherlich eine Verbesserung zu vorher«, sagte er auf Englisch und ging weiter.

Was zum Teufel …? Waren die Menschen in Kanada nicht angeblich besonders freundlich? Es war eines dieser Klischees, von denen man hoffte, dass sie der Realität entsprachen. Als Valentina endlich eine angemessene englische Beleidigung gefunden hatte, war er verschwunden.

»Was hast du mit deinem Oberteil gemacht?«, fragte Kristina.

»So ein Arschloch hat sein Getränk über mich geschüttet«, sagte Valentina und drückte Kristina eine Packung Mackintosh’s Toffee in die Hand. Auf dem Gepäckband bewegte sich immer noch nichts.

»Hast du ihn provoziert?«

»Ich hatte kaum die Gelegenheit dazu.«

»Wie sah er denn aus?«, fragte Kristina und schaute sich um, als könnte sie ihn noch erwischen und gleich einen Kopf kürzer machen. Es waren Momente wie dieser, die Valentina hoffen ließen, dass es etwas zwischen ihnen zu retten gab. Doch Kristinas Blick blieb an zwei Reisenden hängen. »Guck mal. Ich wette, die gehören zu uns.«

Es war leicht zu erkennen, wen sie meinte. Sie warteten an einem der Ausgänge. Ein Mädchen, so zierlich, dass es zutreffender schien, sie als Rucksack mit Beinen zu beschreiben. Und ein Typ in ihrem Alter, der bereits zum Wandern gekleidet war – sofern man Wandern definierte als die Tätigkeit, sich maximal mit seiner Kleidung zu blamieren.

Kristina zog Valentina an der Hand hinüber. Ole und Alexander kamen ihnen nach.

»Alberta Adventure Hiking?«, fragte Kristina und lächelte die beiden an.

Es war wie immer: Kristina fühlte sich mit fremden Menschen wie ein Fisch im Wasser, und Valentina fühlte sich wie ein Hai.

Der Typ lächelte erleichtert zurück. »Wir sind schon seit Stunden da. Alice und ich saßen im gleichen Flieger aus Vancouver«, sagte er auf Englisch.

Das Mädchen warf einen Blick zu Alexander und Ole und schaute dann schnell wieder weg. Ihr Erröten war trotz ihrer hellbraunen Haut gut zu erkennen.

Es gab eine kurze Vorstellungsrunde. Peter und Alice.

»Seid ihr Zwillinge?«, fragte Peter und sah von Valentina zu Kristina.

»Schwestern«, sagte Kristina. »Ich bin die Ältere.«

Auch wenn es sich nicht mehr so anfühlte.

Ein Rumpeln signalisierte, dass das Gepäck endlich auf dem Weg war.

Alexander atmete zufrieden aus. Gemeinsam beobachteten sie das Gepäckband. Es hatte angefangen, sich zu bewegen, und die anderen Reisenden rückten näher heran.

»Da kommt der erste Koffer.« Kristina klatschte in die Hände.

Manchmal war Kristinas Begeisterung für die Welt derart groß, dass sie auf Valentina unglaubwürdig wirkte. Man konnte unmöglich so begeistert über ein Gewitter oder den Geruch von geschnittenem Gras oder irgendwelche verbeulten Koffer sein.

Das Gepäckband spuckte Stück um Stück aus. Teure Alukoffer, in Plastikfolie eingewickelte Schalenkoffer, Seesäcke, Reisetaschen.

»Alex«, sagte Ole und hob einen blauen Rucksack vom Band, den Kaffee immer noch in der anderen Hand.

Alexander nahm den Rucksack mit einem dankbaren Nicken entgegen.

Als Nächstes folgte Oles Rucksack in Tarnoptik. »Ich glaube, da kommt deiner«, sagte er und zeigte auf den großen roten Rucksack, der gerade heranrollte.

»Das ist Kristinas«, murmelte Valentina. Sie hatten den gleichen Rucksack, aber der von Kristina war ausgebeult, weil sie bestimmt erst in den letzten zehn Minuten vor der Abfahrt alles hineingestopft hatte.

Kristina schnappte sich den Rucksack vom Band, bevor Ole es tun konnte.

Die Halle leerte sich von Gepäck und Leuten. Ihre Hände leerten sich von ihren Donuts und dem Kaffee. Das Gepäckband ratterte noch, aber es tauchten keine neuen Teile mehr auf.

»Dein Rucksack kommt bestimmt gleich noch«, sagte Ole.

»Manchmal dauert es länger«, stimmte Kristina zu.

Alexander sagte nichts, aber Valentina konnte spüren, dass er sie beobachtete. Mit Sicherheit war ihm ihre Anspannung aufgefallen.

Ole warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Wie sehr Valentina diese Armbanduhr liebte. Sie war ein Geschenk von Oles Opa gewesen, schlicht und von guter Qualität. Sie diente Ole auch als Wecker und Stoppuhr und war wasserfest bis zu drei Meter Tiefe. »Wir haben genug Zeit, um uns nach deinem Gepäck zu erkundigen«, meinte er.

Ole sah aus wie ein Herzensbrecher, aber tatsächlich war er wie diese Uhr: verlässlich. Unzerstörbar.

Vielleicht war ihr Rucksack verloren gegangen. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, herzukommen. Vielleicht gab es nichts zu retten. Aber so, wie man einen schmerzenden Zahn immer wieder mit der Zunge berühren musste, war sie hier.

Manche Wunden hörten nie auf, wehzutun.

Dann, wie ein Hicksen aus dem Bauch des Flughafens, purzelte ihr Rucksack aufs Band und kam langsam auf sie zu.

Valentina hatte die Packliste wieder und wieder gecheckt. Das Bärenspray und die Gaskartusche für den Campingkocher durften nicht mit ins Flugzeug, deshalb würden sie diese Dinge vor Ort von ihrem Wanderführer bekommen. Alles andere hatte sie dabei. Sie war gut ausgerüstet. Es würde alles glattgehen.

Sie hatte drei Wochen, um ihre Schwester zurückzugewinnen.

2

Tonya

Tonya wusste, dass es unhöflich war, den schlafenden Mann anzustarren, aber sie konnte nicht damit aufhören. Sie war zu froh, ihn zu sehen.

Alberta Adventure Hiking bot einen Shuttleservice von Edmonton nach Fort McMurray an, aber sie hatte ausgerechnet, dass es billiger war, wenn sie mitten in der Nacht losflog und dann den Bus nahm. Sie hatte während der ganzen Fahrt aus Angst vor Dieben den Arm durch einen der Rucksackgurte geschlungen, und ihr Hals war festgerostet von der seltsamen Haltung. Wenn ihr jetzt jemand die Ausrüstung stahl, würde sie wieder drei Jahre sparen müssen, bevor sie die nächste Tour bezahlen konnte. Und sie wusste nicht, ob sie es noch einmal schaffen würde, das Geld nicht für einen wärmeren Wintermantel und einen neuen Duschkopf auszugeben.

Normalerweise mochte sie es, unterwegs zu sein. Reisezeit – das waren Stunden, die nur ihr gehörten. Aber sie hatte die Sorge nicht abschütteln können, dass sie es aus irgendwelchen Gründen erst zu spät zum Startpunkt schaffen würde – ein früher Wintereinbruch, ein platter Busreifen …

Jetzt war sie auf dem Parkplatz des winzigen Flughafens in Fort McMurray. Und ja, da war ihr Reiseführer – sie erkannte ihn von seinem Foto auf der Homepage. Er döste auf der Motorhaube eines Jeeps, mit dem Rücken gegen die Windschutzscheibe gelehnt. Der Jeep trug die Aufschrift Alberta Adventure Hiking, in glorreich hässlicher Schreibschrift und kaum zu lesen unter einer dicken Dreckschicht.

Die Erleichterung war wie eine Springflut. Sie setzte ihren Rucksack ab, so leise sie konnte, aber er war so schwer, dass er ihr aus den Händen rutschte. Mit einem dumpfen Ton fiel er seitlich auf den Asphalt, das Campinggeschirr klackte – oder vielleicht auch eine Zeltstange.

Sie hielt den Atem an, als würde das etwas nützen.

Seine Augen waren immer noch geschlossen, er schien tatsächlich fest zu schlafen. Jemand, der der Welt vertraute. Sie wusste von ihren nächtlichen Recherchen, dass es im Park nicht nur Wölfe gab, sondern auch Bären und Kojoten. Zwischen den Sonnenstrahlen dachte sie an Klauen und Zähne, an brechende Rippen und Blut.

Sie wusste nicht, woher der Gedanke kam. Vermutlich war sie nur müde.

Plötzlich öffnete Nick ein Auge gegen die Sonne. »Hey, Tonya«, sagte er.

Sie musste überrascht aussehen, denn er grinste. »Wir haben auf dieser Tour vier Mädels dabei. Eine Tonya, ein Schwesternpaar und eine Sechzehnjährige, von der ich extra die schriftliche Erlaubnis ihrer Eltern einfordern musste.«

»Und ich bin alleine hier und nicht sechzehn.«

»Ganz offensichtlich nicht«, sagte er; sein Grinsen wurde ein bisschen breiter, aber sein Blick bewegte sich nicht von ihrem Gesicht weg.

Tonya fühlte, wie ihre Wangen warm wurden. Das Flirten war unaufdringlich und angenehm. Sie erinnerte sich an eine der weiblichen Bewertungen: Unser Reiseführer war gut.

»Du bist außerdem das einzige Mädel, das nicht mit dem Shuttle anreist.« Es lag eine Frage in dem Satz, aber die konnte er sich mit einem Blick auf ihren gebrauchten Rucksack selbst beantworten.

Tonya biss die Zähne zusammen. »Ich schlage mich durch.«

Seine Augen wurden weich. Er rutschte auf der Motorhaube zur Seite. »Komm hoch.«

Tonya schluckte. »Glaubst du, die hält mich … uns beide aus?«

Sein Grinsen war zurück. »Diese Motorhaube hat schon ganz andere Dinge ausgehalten.«

Das Metall wärmte ihren Rücken und die Sonne ihre Vorderseite, und das behagliche Gefühl war so stark, dass Tonya die Augen schloss.

Die Sonne ließ die Innenseite ihrer Lider gelb und rot leuchten.

Es war ein Herbsttag, der sich als Sommermorgen ausgab mit seiner Helligkeit – auch wenn sie eine lange Hose trug und manche der Bäume schon mit ersten gelben Blättern gefleckt waren. Während der drei Wochen, die vor ihnen lagen, würden die Bäume immer bunter werden. Jemand hatte in den Bewertungen geschrieben, dass man anhand der Farben immer wisse, ob Fotos in der ersten, zweiten oder dritten Woche aufgenommen worden seien.

Wenn sie in ihrem winzigen Bett gelegen hatte, in ihrem winzigen Zimmer in Chicago, in dem es nie richtig dunkel war, weil immer ein Streifen Laternenlicht durch die Walmart-Rollos drang, hatte sie sich durch die Rezensionen gescrollt.

Wir hatten die Zeit unseres Lebens, stand in ihrer Lieblingsrezension, und sie flüsterte den Satz ins Halbdunkel, zwischen die Lichter der vorbeifahrenden Autos an der Wand, nur um die Worte auszuprobieren, und ihr Herz schlug schneller dabei.

Manchmal kam es ihr vor, als hätte sie ihr ganzes Leben schon einmal durch die Worte anderer Leute erlebt.

»Warum bist du hier?«, fragte er.

So viele Antworten.

Warum war sie hier? Weil sie nachts in der U-Bahn auf dem Weg nach Hause ein Foto gesehen hatte, von Nordlichtern über einem tiefen dunklen Himmel. Der einzige physisch dunkle Ort in ihrem Leben war die Gefrierkammer ihres Küchenjobs. Jedenfalls hatte sie auf der Stelle entschieden, dass sie diese Lichter sehen wollte.

Warum war sie hier? Sie hatte sich jede Woche vierzig Dollar vom Mund abgespart. An ihrem freien Tag Flyer im Einkaufszentrum verteilt, auch wenn sie das Gefühl von Zurückweisung hasste, wenn die Menschen extra einen Bogen um sie liefen.

Warum war sie hier? Es hatte sich angefühlt wie Sehnsucht, aber eigentlich war es Hoffnung. Wenn sie ein Foto im Internet sehen konnte und drei Jahre später die Nordlichter in echt … dann konnte sie auch einen besseren Job finden und aus ihrer Wohnung ausziehen und aufhören, ihrem Ex-Freund Geld zu geben, wenn er mitten in der Nacht gegen ihre Tür trommelte.

Manchmal traf man eine Entscheidung und spürte, dass das eigene Leben davon abhing, ob man sie durchzog.

Sie wusste nicht, wie sie irgendetwas davon laut aussprechen sollte.

Schließlich sagte er: »Wolltest du hierhin oder wolltest du von dort weg?«

An keinem anderen Ort hätte sie diese Unterhaltung führen können, aber in dem Raum hinter ihren gelben Augenlidern war es möglich.

»Weg«, flüsterte sie.

Sie hörte weiche Haare über Metall wischen: Er nickte. »Bevor du gehst, wird es ein ›hin‹ sein. Ich weiß nicht, wie, aber so ist es fast jedes Mal.«

Eine unaufgeregte Pause, in der sie ihren Gedanken nachhingen.

»Wie lange machst du das schon?«

»Seit vier Jahren.«

»Reicht das Geld?« Sie hatte Angst vor der Antwort. Sie würde die Reise nicht genießen können, wenn sie die ganze Zeit über wüsste, dass Nick ebenfalls für einen Hungerlohn arbeitete.

»Wir tun alle, was wir tun müssen, um hier draußen sein zu können«, sagte er. Das klang zu dunkel für diesen Sommertag, und er hörte es und fügte hinzu: »Ich hab einen Nebenjob. Mach dir keine Sorgen.«

»Tu ich nicht.«

»Ach ja?« Sie konnte hören, wie er ihr das Gesicht zuwandte. »Ich denke, du bist eine von diesen Personen, die sich immer Sorgen um andere machen. Habe ich unrecht?«

Hatte er nicht, hatte er nicht. Woher kannte er sie schon so gut? Es war fast zu viel: die Sonne. Das Gesehen-Werden. Der angenehme Geruch seines Rasierwassers. Wieder eine von diesen herrlichen Pausen.

Sie wusste nicht, wann sie das letzte Mal so dagelegen hatte. Vielleicht auf der großen Rutsche auf dem Spielplatz. Es war Jahre und Jahre her.

Wir hatten die Zeit unseres Lebens.

Das Schlagen von Autotüren, Stimmen – augenscheinlich war der Rest der Gruppe da, denn ihr Reiseführer sprang von der Motorhaube. Bevor er den anderen entgegenlief, drehte er sich noch einmal zu Tonya um. »Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt«, sagte er. »Hi. Ich bin Nick.«

»Freut mich, Nick.« Tonya blieb noch einen Moment liegen. Die wohlige Trägheit in ihren Gliedmaßen war ihr ebenso fremd wie willkommen. Sie musste die Augen mit der Hand beschatten, um die Ankömmlinge zu erkennen.

Gerade klatschte Nick einen Mann ab, der auf der Fahrerseite ausgestiegen war. Noch mehr Leute tauchten aus dem Wageninneren auf und begannen, ihr Gepäck abzuladen. Drei Jungs, drei Mädchen. Nick lief herum und schüttelte allen die Hand, als würde er sie seit Jahren kennen. Das warme Gefühl in Tonyas Brust schwand ein bisschen.

Sie erkannte die anderen Mädchen aus Nicks Beschreibung. Die Schwestern erinnerten Tonya an Rennpferde, die sie im Fernsehen gesehen hatte, mit durchtrainierten, harten Beinen, die sich unter den Leggings abzeichneten.

Tonya fühlte sich weich, aber nicht auf die gute Art. Nicht flexibel oder durchlässig. Sie fühlte sich weich wie ein fauler Apfel, in den der Daumen einfach einsinkt.

Sie konnte sich nicht vorstellen, wie es war, zusätzlich zu dem eigenen Glanz noch jemanden an seiner Seite zu haben, der genauso schön, schnell und schlau war wie man selbst.

Alle Neuankömmlinge waren weiß, nur das sechzehnjährige Mädchen war hellbraun, ein paar Töne heller als Tonya. Sie war zierlich wie ein Pusteblumen-Schirmchen und tänzelte mit ihrem Rucksack ein paar Schritte, gutmütig beklatscht von den zwei großen Jungs.

Als Aushilfsnachtportier hatte Tonya gelernt, Leute anhand ihres Gepäck zu beurteilen. Die Leichtigkeit ihrer Schritte bedeutete in diesem Fall, dass all die Rucksäcke mehrere Kilo leichter sein mussten als ihrer. Und das bedeutete Geld. Und das wiederum bedeutete bei jungen Menschen um die zwanzig: Eltern mit Job.

Das warme Gefühl gluckerte wie duftender Badeschaum den emotionalen Abfluss hinunter. Jetzt hockte sie nur noch auf einem schmutzigen Parkplatz, auf einer Motorhaube, die sie ein bisschen eindellte. Ungeschickt rutschte sie herunter.

Ihren eigenen Rucksack musste sie mit Schwung anheben, damit sie ihn überhaupt auf den Rücken bekam, und er schien sie in den Asphalt zu drücken. Man konnte so viel Geld sparen, wie man wollte, man würde trotzdem nie dazugehören.

Eine der Schwestern lief auf sie zu, eine Packung Toffees in der Hand. »Hi, ich bin Kristina! Magst du probieren? Diese Kanadier wissen, wie man Süßigkeiten macht.«

Tonya erkannte den deutschen Akzent sofort. Als sie noch ganz klein gewesen war, hatte eine alte deutsche Nachbarin auf sie aufgepasst, wenn ihre Mutter arbeiten gewesen war – also immer. Tonya erinnerte sich nur an wenig aus dieser Zeit, aber sie verstand die Sprache gut genug, um deutschen Touristen einen Schreck einzujagen, wenn sie im Empfangsbereich planten, die Hotelbademäntel mitgehen zu lassen. Niemand erwartete von Amerikanern Kenntnisse in Fremdsprachen.

»Nein, danke«, sagte Tonya auf Englisch. Ihr gesprochenes Deutsch war nicht besonders gut.

»Bist du sicher?« Kristina schwenkte die Packung in verführerischen Kreisen unter Tonyas Nase. »Wer weiß, wann wir wieder was zu essen kriegen?«

»Ich dachte heute Abend«, sagte Tonya. »So stand es doch im Plan.«

Kristina lachte. »Du hast natürlich recht. Und du bist genau wie Valentina. Oder Ole. Komm, ich stell sie dir vor!«

Kristina nahm ihre Hand, und Tonya war weniger geschockt von der Geste als davon, dass es erwachsene Menschen gab, die einfach die Hand einer fremden Person ergriffen, als hätte sie ihnen noch nie jemand weggezogen.

Ihre Schwester war gerade dabei, Nick auszufragen. »Hast du ein Erste-Hilfe-Set?«

»Ich habe praktisch alles dabei: Erste-Hilfe-Set, Insektenspray, Aloe-Vera-Gel, Tampons. Wenn ihr irgendwas braucht, dann kommt zu mir.«

Die Schwester nickte, zufrieden und ernst.

»Ihr müsst euch keine Sorgen machen«, sagte Nick. »Ich bin neben dem Park aufgewachsen. Und wenn alle Stricke reißen: Ich kenne viele der Leute, die dort wohnen. Die wichtigste Regel ist: Wenn ihr verloren seid, bleibt stehen. Ich hab bis jetzt noch jeden gefunden.«

Es wäre leicht, verloren zu gehen. Der Wood Buffalo Park war der größte Nationalpark Kanadas, laut Wikipedia größer als die Schweiz. Flüsse und Wälder und Karstgestein. So leicht. Ein blauer Rucksack, ein kurzer Moment und dann nichts mehr.

Tonya warf einen Blick auf die Gruppe. Vielleicht war das der eigentliche Graben zwischen ihr und den anderen, fern aller materiellen Unterschiede: Die anderen waren noch nie verloren gewesen.

3

Jacob

Das Taxi bog auf den Parkplatz ab, und Jacob wünschte sich sein Bett. Das Koffeinhoch des Energydrinks war schon vor einer Stunde verpufft.

Bett – ein weiterer Punkt auf seiner Liste der Dinge, die er die nächsten drei Wochen vermissen würde. Direkt nach fließendem Wasser, Elektrizität und Supermärkten.

Das Taxi fuhr an einem Geländewagen vorbei. Daneben saß eine Gruppe in bunter Funktionskleidung in einem Kreis auf dem Boden. Das mussten sie sein. Mit diesen Clowns sollte er die nächsten drei Wochen verbringen.

Schließlich hielt das Taxi an. Jacob bezahlte in bar und gab ein dickes Trinkgeld. Der Fahrer lächelte ihn dankbar an – wenigstens einer heute –, dann rollte das Taxi davon, und Jacob blieb mit seinem Wanderrucksack zurück.

Sehnsüchtig sah er dem Auto hinterher. In ein paar Stunden könnte er zurück in Boston sein … Dann hievte er sich den Rucksack ungeschickt auf den Rücken und stapfte den Weg über den Parkplatz zurück zu den anderen.

Sie hatten das Gespräch eingestellt und schauten in seine Richtung.

Ihren begeisterten Gesichtern nach waren sie freiwillig hier. Drei Wochen Entbehrung und körperliche Schmerzen, um den Problemen zu entkommen, die danach immer noch da sein würden. Menschen waren so dumm.

Das musste man seinem Vater lassen: Er hatte verstanden, dass drei Wochen Zivilisationsverlust eine Strafe waren. Eine Art umgekehrter Hausarrest: Man durfte nicht nach drinnen.

Zum Glück hatte er heimlich seine Kreditkarte gerettet. Sie war sicher in der Innentasche seiner Jacke verstaut. Im Notfall würde er jemandem ein Auto abkaufen und das Gaspedal bis zurück zum Flughafen durchtreten.

»Jacob?« Ein gut aussehender Kerl Anfang dreißig war aufgestanden und streckte ihm die Hand hin. »Ich bin Nick, von Alberta Adventure Hiking. Schön, dass du es noch geschafft hast. Du hast leider die Vorstellungsrunde verpasst.«

Sein Glück hatte ihn also noch nicht ganz verlassen.

Mangels Alternative schüttelte Jacob die Hand. Nick machte eine einladende Geste, die vermutlich bedeutete, dass er sich setzen sollte. Jacob beäugte den Asphalt, während die anderen ihn beäugten. Mussten sie wirklich einen Sitzkreis auf einem Parkplatz machen? Schließlich hockte er sich auf seinen Rucksack und fügte in Gedanken »Stühle« der laufenden Liste zivilisatorischer Errungenschaften hinzu.

Nick zog die Aufmerksamkeit mit einem Klatschen auf sich. »Das ist Jacob, der Letzte im Bunde.«

Jacob nickte unbestimmt in die Runde.

»Wir haben noch ein paar offene Punkte, bevor wir losziehen. Erstens, hat noch irgendjemand gesundheitliche Einschränkungen, von denen ich wissen sollte?«

Uniformes Kopfschütteln.

»Dann zur nächsten Sache: Handys. Es gibt da draußen keinen Empfang, die Akkus sind spätestens nach der ersten Woche leer, und auf der letzten Tour ist einem Investmentbanker fast eine Ader geplatzt, weil sein Handy nass geworden ist. Ich empfehle euch deshalb, die Handys im Rover zu lassen.«

»Was ist mit Fotos?«, fragte ein Mädchen. Sie sah aus wie eine Person, die nie ein Foto machen würde, auf dem sie selbst nicht drauf war.

Hatten die etwa alle diesen harten Akzent? In dem Fall sollte er sofort noch eine Packung Aspirin kaufen.

»Ich habe für jeden von euch eine Einwegkamera. Old school. Mit Film.« Er wackelte tatsächlich mit den Augenbrauen.

»Wie sollen wir Hilfe holen, wenn was passiert?«, fragte das Mädchen neben ihr. Aus den identischen Rucksäcken und den gleichen Augen schloss Jacob, dass sie Schwestern waren. Die zweite kam Jacob vage bekannt vor – vermutlich hatte sie sich zum sechzehnten Geburtstag die gleiche Nasen-OP gewünscht wie alle anderen auch.

»Wichtige Frage«, sagte Nick. »Ich habe sowohl ein Satellitentelefon als auch einen GPS-Notfall-Beacon dabei.«

»Und wenn dir was passiert?«, fragte sie. Paranoid also auch noch.

»Ich zeige euch heute Abend, wie ihr mit dem Notfall-Beacon Hilfe holen könnt, wenn ich verletzt und nicht ansprechbar bin. Und ihr könnt eure Handys natürlich mitnehmen. Es ist nur ein Angebot.«

Es war ein Beweis für Nicks Ausstrahlung, dass alle ihre Handys in die Plastiktüte legten. Auch Jacob. Er würde ein funktionierendes Handy brauchen, um nach der Tortur schnellstmöglich zu verschwinden. Das Display wurde schwarz, und er legte das Gerät in die Tüte. Danach war seine Hand unangenehm leer.

»Ihr werdet fast traurig sein, wenn ihr es zurückbekommt«, sagte Nick.

Das bezweifelte Jacob. Das bezweifelte er sehr.

Nick verstaute die Handys im Auto. »Nächster Punkt: Kontrolliert noch mal, ob ihr genug Essen dabeihabt. In fünf Tagen füllen wir unsere Vorräte an einer Provianthütte auf – Teil des hervorragenden Services von Alberta Adventure Hiking –, aber bis dahin müsst ihr ausgerüstet sein.«

Jacob blieb auf seinem Rucksack sitzen, auch wenn er von dessen Inhalt keine Ahnung hatte. Er verließ sich darauf, dass der Assistent seines Vaters die Packliste sorgfältig abgearbeitet hatte. Wozu einen eine Ivy-League-Ausbildung nicht alles befähigte.

»Jetzt ist außerdem eure letzte Chance, überschüssiges Gepäck in den Rover zu legen«, sagte Nick. »Wenn ihr alleine hier seid, könnt ihr euch überlegen, ob ihr mit jemandem das Zelt teilen wollt. Es spart Gewicht und macht mehr Spaß. Ihr habt zehn Minuten, dann fliegen wir los.«

Richtig: Der Startpunkt ihrer Reise war derart abgelegen, dass man ihn von Frühjahr bis Herbst ausschließlich per Wasser und Luft erreichen konnte. Nur im Winter entstand auf den zugefrorenen Seen eine Straße, die für Autos befahrbar war.

Zwei der Mädchen steckten die Köpfe zusammen, und danach entfernte eine von beiden das Zelt aus ihrem Rucksack.

Der schlaksige Kerl in der Anglerweste suchte Jacobs Blick. No way, José. Er würde sich erst ein Zelt teilen, wenn er Gefahr liefe, dass ihm beide Eier abfroren. Solange es bloß um eines ging, würde er sich auf die andere Seite drehen und eine Sauna visualisieren.

Nick stand auf, um seinen eigenen Rucksack – ein mörderisch großes Ding – aus dem Auto zu holen. »Du willst dich vielleicht noch umziehen«, sagte er und warf einen bedeutungsvollen Blick auf Jacobs Schuhe.

Jacob musterte seine perfekten Sneaker. Praktisch Limited Edition.

»Du hast doch noch ein anderes Paar dabei?«, fragte Nick.

»Zieh ich später an«, sagte Jacob.

»Das ist deine letzte Chance, sie ins Auto zu packen. Willst du wirklich die ganze Zeit ein zusätzliches Paar Schuhe mit dir rumtragen?«

Wenn die Alternative war, ein Paar Air Jordan 2 OG drei Wochen auf einem Parkplatz ohne Sicherheitssystem zu verstauen? Auf jeden Fall.

»Ich komme zurecht«, sagte Jacob.

Nick zuckte die Achseln, ein nervtötendes Lächeln in den Mundwinkeln, als wüsste er etwas, was Jacob nicht wusste.

Hinter ihm warteten schon die Nervensägen.

»Wir können noch mal eine kleine Vorstellungsrunde machen«, sagte der große blonde Kerl mit dem anstrengenden Akzent. »Ich bin Ole. Das ist Alexander.«

Das waren also seine Mitinsassen:

Ole. Surferboy.

Alexander. Stummer Riese mit hellen Locken.

Alice. Klein und aufgedreht.

Peter. Der beste Kunde von Angelkleidung.com.

Tonya. Wache Augen.

Kristina Ich-Mag-Dich-Du-Magst-Mich.

»Valentina«, sagte die Schwester.

Sie lächelte, weit und offen. Wärme flutete Jacobs Brustkorb, und er lächelte instinktiv zurück. Der Fetzen eines Gedankens: Vielleicht wird es doch nicht so schrecklich.

Dann sah er den Fleck auf ihrem Shirt. Energydrink-farben.

Daher kam sie ihm bekannt vor.

Anscheinend konnte sie ihm die Erkenntnis vom Gesicht ablesen, denn sie vertiefte ihr Lächeln. Ah. Sie hatte ihn längst identifiziert, und jetzt verstand er auch, was ihr Lächeln eigentlich bedeutete: Sie zeigte ihm die Zähne.

Oh well.

»Schnappt euch eure Sachen«, rief Nick. »Unser Flugzeug wartet.«

Jacob warf sich den Rucksack wieder auf den Rücken. Er fühlte sich jetzt schon schwer an – wie würde das erst nach zwanzig Meilen werden?

»Und von wo kommst du?«, fragte das klein gewachsene Mädchen. Alice, erinnerte er sich.

»Boston.«

»Ich bin aus Vancouver«, sagte sie. »Peter auch, aber wir sind mit Nick die einzigen Kanadier. Tonya ist aus Chicago, und die anderen sind aus irgendeiner Stadt in Deutschland, deren Namen ich vergessen habe.«

Das erklärte den furchtbaren Akzent.

»Bist du eine von den Personen, die nicht so viel reden?«, fragte Alice.

Jacob brachte es nicht über sich, ihr ins Gesicht zu sagen, dass er bloß mit niemandem hier reden wollte. »Bist du nicht ein bisschen jung, um mit uns unterwegs zu sein?«, fragte er zurück.

Sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Blaise Pascal hat mit sechzehn sein erstes Theorem veröffentlicht«, sagte sie und schloss zügig zu Nick auf, der die Gruppe weg vom Terminal in Richtung einer braunen Lagerhalle führte.

»Du solltest ihr Alter nicht erwähnen«, sagte Kristina. Ihr Akzent war weicher als der der anderen, als hätte sie viele englische Serien geschaut.

»Ach?«, sagte Jacob. »Denkst du?«

Sie lachte.

Vor der Lagerhalle wartete eine junge Frau auf sie. Sie umarmte Nick zur Begrüßung und winkte den anderen zu. »Hi, guys. Ich bin Lisa, eure Pilotin für den Flug nach Fort Chip. Seid ihr bereit für den Beginn eures Abenteuers?«

Jacob verdrehte die Augen, während die anderen klatschten und johlten.

»Dann zeige ich euch die Gute mal«, sagte Lisa.

Das Flugzeug – eine Cessna laut der fröhlichen Erklärung der Pilotin – entpuppte sich als eine kleine Propellermaschine. Jacob hasste die Dinger.

»Gepäck hier rüber«, rief Nick. Er und Lisa verluden das Gepäck gemeinsam mit mehreren braunen Pappkartons.

»Was ist da drin?«, fragte Alice.

Nick öffnete einen der Kartons und holte eine eingeschweißte Mahlzeit heraus. »Ein Kollege von mir füllt die Versorgungsstationen auf, während wir unterwegs sind.«

Alice legte den Kopf schief. »Das sind ziemlich viele Kisten.«

»Wir sind zu neunt. Und ihr werdet so hungrig sein wie noch nie.«

»Gibt es auch eine vegetarische Option?«

Nick verstaute den Karton und zwinkerte ihr zu. »Natürlich. Teil des hervorragenden Service von Alberta Adventure Hiking.«

Die Kabine hatte Platz für genau neun Passagiere. Man konnte den Propeller von der Kabine aus sehen, was bedeutete, dass man auch sehen würde, wie er abriss, was Jacob jeden Moment erwartete. Sein Sitz vibrierte unter ihm. Es half nicht gerade, dass die sechzehnjährige Plage laut überlegte, welche Teile des Flugzeugs wirklich zum Fliegen nötig waren.

Unter ihnen verschwand Fort McMurray in rasanter Geschwindigkeit. Eine Weile lang konnte man noch die Ausläufer der nächsten Stadt erahnen, dann war der einzige fixe Punkt ein Fluss, der sich durch mehr und mehr Grün schlängelte. Wenn sie jetzt abstürzten, würde sie tagelang niemand finden, und sie waren noch nicht einmal in der Nähe des Wood Buffalo Parks.

Und für einen kurzen Moment – war es eine Vorahnung oder nur das Ruckeln der Maschine? – packte Jacob die Angst.

4

Valentina

Die Motorboote rauschten über den Slave River, und Valentina war froh über ihre Funktionsjacke. Der Wind raute das Wasser auf, und die Sonne glitzerte auf den Wellenkämmen.

Ein Kleinbus hatte sie vom Flughafen in Fort Chipewyan in weniger als zehn Minuten zum Ufer des Athabasca-Sees gefahren. Dort hatten zwei Motorboote vertäut gelegen, auf die sie sich mit ihren Rucksäcken gleichmäßig aufgeteilt hatten. Aus einem der braunen Pappkartons hatte Nick für jeden von ihnen ein Bärenspray und eine Gaskartusche geholt.

Hauptsache, sie waren vom Flughafen weg. Die Pilotin hatte Ole für Valentinas Geschmack einmal zu häufig angelächelt. Valentina hatte ihn zu lange nicht gesehen – sie war mal besser darin gewesen, einen neutralen Gesichtsausdruck beizubehalten, wenn sich jemand an Ole heranmachte.

Jetzt waren sie schon mehr als zwei Stunden unterwegs, und die Landschaft um sie herum sah immer noch gleich aus. Der Fluss wurde von Schilf gesäumt und war mehr als hundert Meter breit, dahinter begann direkt der Wald. Dunkelgrüne Nadelbäume, ein paar Birken, wie sie auch in Deutschland standen. Es schien Valentina, als könnten sie fahren, bis das Benzin ausging, und trotzdem nirgendwo ankommen.

Da mussten Vögel und andere Tiere um sie herum sein, aber Valentina hörte sie nicht. Sogar das Dröhnen des Motors klang leiser in der Weite. Als wollte der Wald ihnen zeigen, wie gleichgültig er ihrem lärmendem Boot gegenüber war. Vor ihnen Stille, nach ihnen Stille. Der Wald war geduldig, und sie waren nichts.

Ihre Finger und Ohren waren kalt, und sie zog sich die Kapuze über den Kopf und steckte die Hände in die Jackentaschen.

Mit ihr im Boot saßen Kristina, Alexander und Ole. Außerdem Jacob, der noch immer seine Sneaker an die Brust presste. Beim Anblick der Boote hatte er sich die Sneaker von den Füßen gerissen und zu Wanderschuhen gewechselt, der Trottel.

Der Fahrer drosselte den Motor und steuerte in einem Bogen auf das Ufer zu. Das andere Boot tat es ihm gleich. Ein Steg war nicht erkennbar, aber das Schilf wich an dieser Stelle einem Steinvorsprung.

Nick warf seinen Rucksack an Land und sprang hinterher. Der Sprung war nicht besonders weit, und allen aus Valentinas Boot gelang er mühelos, nur Peter musste Nick an dessen schmutziger Outdoorjacke packen, damit er nicht ins Wasser rutschte. Jacob machte mit seinen Sneakern in der Hand einen extra großen Sprung. Kristina dokumentierte das Aussteigen mit ihrer Einwegkamera.

»Bis in drei Wochen«, rief einer der Bootsführer, bevor sie mit einem Winken wendeten.

Das Röhren der Motoren verstummte zuerst, ein wenig später brachen sich die letzten von den Booten erzeugten Wellen an dem Stein unter ihren Füßen.

Niemand sagte etwas. Vor ein paar Stunden waren sie noch in einer menschengemachten Maschine mit gepolsterten Sitzen durch den Himmel geflogen. Jetzt standen sie mit den Füßen im Matsch. Mit allem, was sie für die nächsten fünf Tage brauchten, auf dem Rücken. Hoffentlich.

Nick lächelte in die Runde. »Drei Dinge, bevor wir loslaufen. Erstens: der GPS-Notfall-Beacon.« Er reckte ein handygroßes Kästchen in die Höhe. »Die Bedienung ist denkbar einfach. Ihr klappt die Kappe mit der Beschriftung ›SOS‹ nach oben und drückt den Knopf darunter, bis das Gerät anfängt zu blinken. Kapiert? Gut. Dann bräuchte ich noch jemanden, der den Beacon trägt.«

Ole meldete sich sofort. Mit einem nervösen Flattern im Bauch sah Valentina ihm dabei zu, wie er das Gerät vorsichtig verstaute. Wenn Nick etwas passierte, dann war das Gerät ihre einzige realistische Hoffnung, es lebendig aus dem Wald zu schaffen.

»Zweitens: Ich brauche auch jemanden, der den Handspaten trägt.« Er hielt das Gerät nach oben. »Wenn ihr austreten müsst, dann entfernt euch hundert Schritte von Gewässern, Schlaf- und Essensstätten, grabt ein Loch und schüttet es hinterher wieder zu.«

Kristina meldete sich dafür.

»Sehr gut«, sagte Nick. »Letzter Punkt: Bärensicherheit. Es gibt im Park eine gesunde Schwarzbären-Population.«

»Sind das die Bären, die klettern können?«, fragte Kristina.

»Sie klettern sogar sehr gut«, sagte Nick. »Die einzigen Bären, die nicht klettern können, sind erwachsene Grizzlybären, weil sie zu schwer dazu sind.«

»Und Eisbären«, warf Peter ein. »Weil es am Nordpol keine Bäume gibt.«

»Und Eisbären«, sagte Nick. »Die meisten Begegnungen mit Bären verlaufen harmlos. Dennoch ist die sicherste Variante, sie gar nicht erst zu treffen. Dazu könnt ihr beim Laufen Lärm machen, damit der Bär euch früh genug hört und ausweichen kann. Was ist die wichtigste Verhaltensregel, wenn wir doch einem begegnen?«

»Ruhig bleiben?«, sagte Kristina.

»Genau, nicht davonrennen«, sagte Nick. »Macht euch nicht zur Beute. Wenn der Bär weit genug weg ist, entfernt euch langsam. Lasst ihm immer eine Fluchtmöglichkeit. Bleibt in der Gruppe zusammen. Wenn er auf euch zukommt, bleibt stehen und macht Lärm. Schreit ihn an. Werft Steine und Stöcke in seine Richtung. Macht euch bereit, das Bärenspray zu benutzen.«

Er demonstrierte, wie man das Spray mit dem mitgelieferten Halfter am Gürtel befestigte. Danach ließ er sie mehrmals üben, das Spray zu entsichern und in der richtigen Position zu halten.

»Ich weiß, dass das viel Information auf einmal ist«, sagte Nick. »Und es ist unwahrscheinlich, dass ein Bär angreift. Aber ihr müsst auch verstehen, dass die Gefahren hier draußen echt sind. Die Ausrüstung auf eurem Rücken ist lebenswichtig. Bis ihr ins Krankenhaus kommt, können Tage vergehen. Dafür werdet ihr hier draußen keine Autos hören, keinen Baustellenlärm, keine Wecker. Es gibt keine Lichtverschmutzung und kein Social Media. Mein liebster Ort auf der ganzen Welt.« Er lächelte. »Das werden drei Wochen, die ihr nie vergessen werdet. Versprochen.«

5

Jacob

Als das Licht fahler wurde, stieg Jacobs Anspannung. Er konnte den Fluss nicht mehr sehen. Um ehrlich zu sein, wusste er nicht einmal mehr, in welcher Richtung der Fluss lag.

Nick hatte für den ersten Tag nur eine kurze Wanderung angekündigt, aber der Rucksack rieb Jacob schon jetzt die Schultern wund, und seine linke Ferse schabte gegen den Wanderschuh. Für einen Moment war er sogar versucht, seine Sneaker wieder anzuziehen, aber der Pfad schmatzte bei jedem Schritt. Schlammsprenkel überzogen seine Wanderhose.

Es war eine dumme Idee gewesen, die Sneaker auf der Anreise zu tragen. Ganz abgesehen von dem zusätzlichen Gewicht würde es schwierig werden, sie in seinem vollen Rucksack nicht zusammenzuquetschen. Vermutlich sollte er sie mindestens mit Socken ausstopfen, damit sie ihre Form behielten.

Seit die Motorboote verstummt waren, war es viel zu leise. Der Pfad musste von Tieren auf dem Weg zum Wasser ausgetrampelt worden sein, aber wo waren die? Der Wald rauschte unter einer sanften Brise, als wollte er sie einlullen.

Der einzige Vorteil an dem schmalen Pfad war, dass sie nur hintereinander laufen konnten und er so einen Vorwand dafür hatte, mit niemandem zu reden.

Hinter ihm tauschten sich die Schwestern über ihre Beobachtungen aus, nur ab und zu unterbrochen von einer Bemerkung von Ole oder einem Brummen von Alexander. Vor ihm beantwortete Nick geduldig Alice’ tausend Fragen. »Die Wölfe im Park sind Mackenzie-Wölfe, das ist eine der größten Wolfsarten der Welt.«

»Bist du je einem begegnet?«, fragte Alice.

»Du triffst nicht einen Wolf«, warf Peter ein. »Wölfe sind Rudeltiere.«

»Einmal. Am Lake Claire«, sagte Nick. »Die Wölfe waren dabei, einer Bisonherde nachzustellen. Hast du schon mal ein Bison gesehen?«

Wenn die Bisons nicht unter Naturschutz stünden, wäre mein Vater schon vor Jahren hier gewesen, dachte Jacob.

Vor ihm schüttelte Alice den Kopf.

»Es gibt eine gute Chance, dass sich das in den nächsten drei Wochen ändert«, sagte Nick. »Manche sind mehr als tausend Kilo schwer. Sogar ein Mackenzie-Wolf ist klein dagegen.«

»Waren die Wölfe … erfolgreich?«

»Nicht, als ich zugeschaut habe. Aber früher oder später wahrscheinlich schon.«

Nick blieb stehen. Links von ihnen verlief ein kleiner Bach. »Das sieht nach einem guten Lagerort aus.«

Jacob ließ sich seinen Rucksack von den Schultern rutschen. Er wusste nicht, ob ihm die Schultern oder die Füße mehr wehtaten. Die Sonne stand schon tief am Himmel.

»Baut hier eure Zelte auf«, sagte Nick. »Lasst euer Essen eingepackt, bis wir ums Lagerfeuer sitzen. Wir wollen die Bären nicht zu unserer Schlafstelle locken.«

Jacob entfernte sich ein gutes Stück von den anderen. Es gab keinen Grund, nachts auch noch ihr Schnarchen zu hören, wenn er den ganzen Tag schon ihr Gerede ertragen musste.

Die Zeltplane steckte zuoberst in seinem Rucksack – sein Vater stellte nur die besten Leute ein. Allerdings fand Jacob die Zeltstangen nicht. Sie waren nicht in den Seitentaschen, und er entdeckte sie auch nicht, als er den kompletten Rucksack auf dem Boden auspackte: Er hatte einen Schlafsack, eine Isomatte, einen Campingkocher, einen Wasserfilter, einen großen Beutel mit Essen für die fünf Tage bis zur Versorgungsstation, Zahnpasta und Deo. Mehrere Lagen Kleidung. Dazu allerlei sicherlich lebensnotwendigen Krimskrams. Was er nicht hatte, waren Zeltstangen.

Kein Fehler, den irgendein Mitarbeiter seines Vaters unabsichtlich machen würde. Vielleicht hätte er sich die Mühe machen sollen, sich den Namen des Assistenten zu merken, statt ihn immer nur »du da« zu nennen.

Er stützte den Kopf in die Hände.

»Brauchst du Hilfe?«, fragte Nick.

»Kann ich unter freiem Himmel schlafen?«, fragte Jacob.

»Klar. Ziel unserer drei Wochen ist es ja, der Natur näherzukommen. Ich würde es dir allerdings heute Nacht nicht empfehlen. Der Wetterbericht hat leichten Nieselregen angekündigt, und sobald dein Schlafsack nass ist, wird das eine miserable Nacht werden.«

»Ich hab keine Zeltstangen dabei«, sagte Jacob.

»Frag einfach Peter. Soweit ich weiß, hat er ein Zwei-Mann-Zelt.«

Jacob seufzte. Derselbe furchtbare Gedanken war ihm auch schon gekommen.

»Natürlich kannst du bei mir mit ins Zelt«, sagte Peter. Vor Aufregung erblühten rote Flecken auf seinen Wangen.

»Danke«, quetschte Jacob heraus.

Peter hatte sein Zelt natürlich direkt neben denen der anderen aufgebaut. Es roch muffig, und die grüne Farbe der Plane war schon vor Jahren zu schmutzigem Grau verblasst. Während Jacob drinnen seine Isomatte und seinen Schlafsack ausrollte, hörte er, wie Peter zu Tonya und Alice hinübertapste, die hektischen Flecken auf seinem Gesicht vermutlich zinnoberrot.

»Kann ich euch noch helfen?«, hörte Jacob ihn fragen.

»Danke, wir sind fertig«, sagte Tonya.

Eine kleine Pause, in der Peter hektisch nach einem neuen Gesprächsthema zu suchen schien. »Also habt ihr alle duftenden Sachen aus eurem Gepäck entfernt?«

»Ja, haben wir«, sagte Tonya. »In einem separaten Beutel, wie es auf der Packliste empfohlen war.«

Jacob kroch mit dem Beutel in der Hand aus dem Zelt.

Peter knetete nervös die Hände. »Aber ihr habt vergessen, die Schnüre an eurem Zelt mit Heringen zu spannen«, sagte er. »Ich kann das für euch machen.«

»Es ist hier nicht besonders windig«, sagte Alice. »Und meistens dienen die Schnüre nur dazu, dass man nachts darüber stolpert.«

»Aber …«

»Ich weiß ja wohl selbst, wie ich mein Zelt aufbaue«, entrüstete sich Alice.

Peter schluckte, schnappte sich seinen Essensbeutel und schlurfte Richtung Essensstelle. Fast tat er Jacob leid.

Die vier aus Deutschland waren noch dabei, die Planen ihrer zwei Zelte richtig auszubreiten.

»Glaubt ihr, die brauchen Hilfe?«, fragte Alice und linste in Oles Richtung.

»Frag sie doch«, sagte Tonya. Sie hatte eine angenehm melodische Stimme.

Alice biss sich auf die Lippe. »Bestimmt wollen sie ihr Zelt auch alleine aufbauen.«

»Wovor hast du Angst?«, sagte Jacob. »Die sind alle zu nett, um dich abzuweisen.«

Außer die Schwester mit den vielen Zähnen vielleicht. Von ihr hatte er schon längst einen Kommentar zu ihrer Begegnung am Flughafen erwartet.

Als hätte sie seinen Gedanken gehört, hob Valentina den Kopf. Ihre Augen verengten sich. Dann wurde sie von Alice abgelenkt.

»Das war nett von dir«, sagte Tonya, während sie beobachteten, wie Kristina Alice fröhlich zunickte.

»Nur die Wahrheit«, sagte Jacob. »Drei von vieren würden sich lieber in den Fuß schießen, als zu jemandem ›Nein‹ zu sagen.«

»Trotzdem«, sagte Tonya.

Jacobs Brust wurde eng. »Was macht sie eigentlich hier?«, fragte er.

»Alice? Sie ist fertig mit der Highschool und hat ihre Eltern zu dieser Reise anstelle eines Ferienlagers überredet.«

»Meine Güte, wie viele Klassen hat die denn übersprungen?«

Tonya zuckte die Achseln. »Sie ist jedenfalls sehr hilfsbereit.«

Gerade zeigte Alice Ole, wie man die Stangen richtig in die vorgefertigten Löcher einfädelte, und Ole – der sicherlich genau wusste, wie man ein Zelt aufbaute – hörte ihr höflich zu.

»Das kann ich sehen«, sagte Jacob grinsend.

»Und warum bist du hier?« Das dunkle Braun ihrer Augen verschwamm fast mit ihrer Pupille.

Jacob hatte noch nie so ungern eine Frage beantworten wollen. »Das Übliche. Ich liebe die Natur und so weiter.« Er deutete mit dem Daumen über seine Schulter. »Wenn wir fertig sind, sollten wir Nick beim Feuer zur Hand gehen, richtig?«

Tonya betrachtete sein Gesicht und nickte schließlich.

Ein gutes Stück von ihnen entfernt fanden sie Nick und Peter dabei, den Boden für eine Feuerstelle freizuräumen.

»Heute Abend zeige ich euch, mit welchen Materialien man am besten ein Feuer macht. Die meiste Zeit werden wir aber den Campingkocher benutzen – ist schneller und hinterlässt weniger Spuren in der Umwelt.«

Jacob und Tonya sammelten Brennmaterial, bis die anderen nach ein paar Minuten ihre Zelte aufgebaut hatten. Trockene Äste von dick bis dünn, um das Feuer nach und nach zu füttern, Birkenrinde und möglichst viel »fluffiges« Material, um die erste Flamme zu halten.

Als alle da waren und den Boden vor sich von brennbarem Material freigeräumt hatten, begann Nick mit der Feuer-Lektion. »Eure beste Chance ist es, euer Feuerzeug oder den Feuerstahl nicht zu verlieren. Ihr könnt auch Feuerbohren mit einem Bogen, aber dazu braucht ihr genau das richtige Holz, Übung und viel Kraft – alles Dinge, die man in einer Überlebenssituation als Anfänger vermutlich nicht hat.«

Zu Jacobs Überraschung war es tatsächlich sogar mit Feuerzeug gar nicht so einfach, ohne Grillanzünder ein Feuer zum Brennen zu bekommen. Peter war der Einzige, dem es relativ schnell gelang. Nick machte mehrmals die Runde, bevor sie es alle einmal geschafft hatten. Danach löschten sie sämtliche Feuer bis auf eines.

»Ihr seid sicherlich hungrig«, sagte Nick. »Aber bevor wir essen, sollten wir die Bärenbeutel in Position bringen. Wir können sie nach dem Essen füllen, bloß das Aufhängen ist im Dunkeln deutlich schwieriger.«

Er ließ Peter – der natürlich bereits wusste, wie man Bärenbeutel aufhängte – zum Bewachen des Feuers zurück, führte sie bestimmt hundert Schritte von der Feuerstelle weg und zeigte ihnen, wie sie mit einem beschwerten Beutel eine Leine über einen Ast werfen konnten. »Sucht euch einen möglichst dünnen Ast aus. Wenn die Tasche nachher hängt, muss sie sowohl vom Baumstamm als auch vom Boden so weit weg sein, dass der Bär sie nicht erreichen kann.«

Jacob beäugte einen passenden Ast. Dann das mit Steinen gefüllte Säckchen in seiner Hand. Ich dachte, ich hätte sportliche Blamage nach der Highschool abgewählt.

Die vier wärmten sich derweil mit Armkreisen auf und riefen sich dabei auf Deutsch aggressiv klingende Sätze zu. Jacob wollte sich gerade darüber lustig machen, dass sie sich aufführten wie Profisportler, bevor sie ihre Leinen jeweils mit einem Wurf über einen Ast beförderten. Die anderen stellten sich ein bisschen schlechter an, vor allem Tonya, die das Wurfgeschick eines dreibeinigen Zebras besaß, aber niemand brauchte so lange wie Jacob.

Allmählich wurde es dunkel.

Die anderen schauten mit Sicherheitsabstand zu, wie er seine Leine zum zehnten Mal aus einem Geäst zog, weil er zu niedrig geworfen hatte.

»Du hattest recht«, bemerkte Valentina zu ihrer Schwester. »Camping macht echt Spaß.« Sie sagte es auf Englisch.

Jacob kniff die Augen zusammen. »Hat irgendjemand vor, mir zu helfen?«, fragte er.

Alexander trat einen Schritt nach vorne, aber Valentina legte ihm eine Hand auf den Arm. »Ich erledige das«, sagte sie. »Fangt ruhig schon mit dem Kochen an.«

Ole zog eine Augenbraue nach oben, aber das blieb seine einzige Reaktion. »Wir wärmen dir was mit auf«, sagte er.

»Danke dir«, sagte Valentina. Sie konnte strahlend lächeln, wenn sie wollte.

»Du wirst keinen Finger rühren, oder?«, fragte Jacob nach zwei weiteren vergeblichen Würfen.

Valentina lehnte bequem an einem Baumstamm. »Oh, vermutlich schon … irgendwann innerhalb der nächsten fünfzig Versuche. Ich bin immerhin hungrig.«

»Ist dir bewusst, dass du unser aller Sicherheit gefährdest?«

»Was meinst du? Wenn du hier weiter so rumturnst, wird der Bär ganz sicher nicht unser Essen fressen.«

Jacob ließ das Wurfsäckchen auf den Boden fallen. »Geht es hier um unsere Begegnung am Flughafen?«, fragte er. »Wenn ja, ist das ziemlich kleinlich von dir.«

»Kleinlich?« Sie löste sich von dem Baumstamm und kam auf ihn zu.

»Engstirnig. Empfindlich. Pingelig.«

»Ich weiß, was ›kleinlich‹ bedeutet.«

»Es ist nicht so, als hätte ich dich mit Absicht bekleckert«, sagte er.

Sie hob das Wurfsäckchen auf und warf es locker von einer Hand in die andere. »Soll das eine Entschuldigung sein?«, fragte sie.

»Wenn du magst.«

Sie holte aus und schleuderte das Säckchen mit voller Kraft in das engste Astdickicht in der Nähe. Wieder hing das Seil viel zu nah am Boden, aber dieses Mal hatte sich die Schnur zusätzlich komplett in den Ästen verfangen. Zufrieden klopfte sie ihre Hände sauber. »Das war die schlechteste Entschuldigung, die ich je gehört habe«, sagte sie und ließ ihn stehen.

Ihm blieb nichts anderes übrig, als ihr zum Lagerfeuer zu folgen. Die anderen hatten ihr Campinggeschirr ans Feuer gestellt und erhitzten bereits die mitgebrachten Fertigportionen. Für Valentina war ein Platz frei gehalten worden, und sie schlüpfte in die Lücke. Er hörte noch, wie sie den anderen erklärte, dass sich seine Schnur unglücklicherweise im Geäst verfangen hatte und bis zum Morgen warten musste.

Jacob ließ sich ein Stück entfernt vom Feuer auf den Boden sinken.

»Morgen klappt es bestimmt besser«, sagte Kristina und streckte sich, um ihm den Arm zu tätscheln.

Valentina nickte scheinheilig.

Jacob verkniff sich jede Erwiderung. Er würgte den Campingfraß hinunter, putzte sich die Zähne über dem Feuer, damit die Zahnpasta keinen Geruch hinterließ, und packte sein Essen in Peters Bärentüte.

»Habt ihr alles mit Geruch aus euren Zelten entfernt?«, fragte Nick. »Auch Labello, Mückenspray und Zahnbürsten?«

»Was ist mit Jacobs Socken?«, fragte Valentina.

Auch dazu sagte er nichts.

Der Nachthimmel war bewölkt und verdeckte die sagenhafte Aussicht auf die Sterne in der anscheinend größten Dark Sky Preserve der Welt, wovon die Strohköpfe am Lagerfeuer die ganze Zeit geschwärmt hatten. Aber die Dunkelheit war undurchdringlich, und ohne seine Stirnlampe und Peters Orientierungssinn hätte er das Zelt auf dem Rückweg vom Bärenbaum garantiert nicht mehr gefunden.

»Schade, dass wir keine Nordlichter gesehen haben«, sagte Peter, als sie nebeneinander im Dunkeln lagen.

»Mhm«, machte Jacob, während er sich die Stöpsel in die Ohren friemelte.

Jetzt, als ihre Lampen ausgeschaltet waren, breitete sich ein hartnäckiges Lächeln auf seinem Gesicht aus.

Er hatte drei Wochen, um den Krieg gegen Valentina zu gewinnen. Und wenn er beim Jagen mit seinem Vater irgendetwas gelernt hatte, dann war es, schweigend in der Dunkelheit abzuwarten.

6

Valentina

Valentina grub ihr Gesicht tiefer in den Schlafsack. Weder das Piepen von Oles Armbanduhr im Zelt nebenan noch der Druck ihrer Blase konnte sie dazu bringen, ihr Nest zu verlassen.

Für ein paar selige Minuten versank die Welt wieder in stickiger Wärme.

Dann bohrte sich ein Finger in ihre Seite. »Auf-ste-hen«, trällerte Kristina.

Ruckartig zog Valentina den Kopf aus dem Schlafsack. »Du streckst sonst vor dem dritten Snooze nicht mal einen Zeh aus dem Bett«, sagte sie. Oder war das eine weitere Sache, die sich verändert hatte? Ihr Ton klang vorwurfsvoll, aber Kristina hörte darüber hinweg.

Sie war schon dabei, sich aus dem Schlafsack zu schälen. »Muss wohl an der guten Luft liegen. Oder dem Licht.«

Eine weitere dieser Sachen, die Kristina einfach für sich entschied. Für die Dauer der Reise war sie eine gut gelaunte Frühaufsteherin.

»Verräterin«, zischte Valentina.

Kristina kletterte lachend aus der Zeltöffnung, und kalte Luft wallte in den Innenraum. Sie schnappte sich Valentinas Klopapierrolle und stapfte Richtung Wald davon, ohne den Reißverschluss zu schließen.

Typisch.

Valentina fischte frische Unterwäsche aus ihrem Rucksack und zog sich im Schlafsack um. In Fleece- und Regenjacke gehüllt, kroch sie aus dem Zelt. Es war trotzdem eiskalt.

Ich liebe meine Schwester, wiederholte sie in ihrem Kopf. Ich bin hier, um mich mit ihr zu vertragen. Deshalb hat sie mich eingeladen.

Sie hatte ihre Wanderschuhe zum Auslüften im Vorzelt stehen lassen und dabei nicht an den Tau gedacht; sie waren kalt und feucht, und die Nässe drang sofort durch ihre Socken. Sie fluchte.

»Guten Morgen auch an dich«, sagte Ole mit einem Grinsen. Der niedrige Winkel der Sonne ließ die Stoppeln auf seinem Gesicht glitzern. Wie konnte man bloß morgens schon so gut aussehen?

»Mmmh«, machte Valentina.

»Wir kochen gerade Wasser für den Kaffee ab«, sagte er.

Valentina blinzelte ihn an. »Du Lebensretter.«

»Ich bin mir sicher, dass du auch ohne Kaffee überleben würdest«, sagte er.

»Ich schon«, murmelte Valentina. »Aber niemand sonst.«

Ole lachte und legte ihr einen Arm um die Schultern. Seine Wärme drang sogar durch ihre Jacken. Valentina schmiegte sich unauffällig tiefer in seine Umarmung. Als kleine Schwester der besten Freundin musste man nehmen, was man kriegen konnte.

Zu ihrer Zufriedenheit wirkte Jacob genauso unwillig wie sie, als er hinter Peter aus dem Zelt krabbelte.

»Der Morgen fängt gut an«, sagte Valentina. »Jacob auf den Knien.«

Jacob warf ihr einen undeutbaren Blick zu. »Habe ich in eurer unverständlichen Sprache irgendwas über Kaffee gehört?«

Ole schien Jacobs unfreundlichen Ton nicht zu bemerken. Darin war er genau wie Kristina. »Wir machen gerade Wasser heiß.«

Kristina kam zurück, das benutzte Klopapier vorschriftsmäßig in einer Plastiktüte verstaut, und sie stapften gemeinschaftlich in Richtung ihrer Bärenbeutel – die unberührt in den Bäumen hingen – und danach mit Essen zur Feuerstelle, wo Alexander und Nick bereits in einträchtiger Stille das Porridge löffelten, das sie auf ihren Campingkochern zubereitet hatten.

Valentina war dankbar für ihr aufblasbares Sitzkissen, weil sie so nicht auch noch einen nassen Po bekam. Sie goss sich heißes Wasser in ihre Campingtasse und maß einen Löffel Pulverkaffee ab. Dann setzte sie sich im Schneidersitz möglichst nahe an ihren Campingkocher, in der Hoffnung, dass ihre Schuhe noch ein bisschen trockneten.

Kristina angelte nach der Kaffeetüte.

»Hey.« Valentina zog ihr die Tüte weg. »Nimm deinen eigenen. Der ist rationiert.«

Die Kristina von vor dem Unfall hätte sich auf eine dreiwöchige Wanderung gründlich vorbereitet. Nie im Leben hätte sie sich bei anderen Leuten durchgeschnorrt – im Gegenteil: Sie hätte ein bisschen extra mitgenommen für den Fall, dass Valentina etwas vergaß, was unweigerlich passiert wäre. Es war, als hätten sie nach dem Unfall die Plätze getauscht.

Ja, eigentlich wollte Valentina eine schöne Zeit mit Kristina haben – deshalb war sie hier –, aber in ihr war alles am Kratzen und Brodeln, ihr Hals war verstopft damit. Wenn sie jetzt auch nur einen Schritt auf Kristina zuging, würden all die hässlichen Dinge aus ihrem Mund hervorbrechen, die seit Monaten darin lauerten.

»Ist doch nur ein bisschen Kaffee«, sagte Kristina.

Ist doch nur ein bisschen Kaffee.

Ist doch alles in Ordnung zwischen uns.

Als wäre das Ganze nur in Valentinas Kopf. Aber nichts war in Ordnung, und sie hatte es sich nicht eingebildet, das hatte Ole am Flughafen bestätigt. »Hier draußen ist Kaffee Gold.«

»Du bist kleinlich, weißt du das?«, sagte Kristina.

Schon wieder dieses Wort. Valentina musste schlucken, um die Wut unten zu halten. »Und du bist schlecht vorbereitet.«

Sie war froh, dass außer ihnen vier keiner Deutsch sprach. Mittlerweile waren sie komplett, und die Blicke von Ole und Alexander waren schon genug. Sie sah keinen von beiden an, vor allem nicht Alexander.

»Na, wie war die erste Nacht?«, fragte Nick, als alle ihr Frühstück hatten.

Kristina hatte nicht einmal den Anstand, sich darüber zu ärgern, dass sie aus eigenem Verschulden kaffeelos war. »Ich hab super geschlafen«, sagte sie. »Die Waldgeräusche haben mich richtiggehend in den Schlaf gewiegt.«

Valentina hatte bestimmt eine Stunde wach gelegen, aus Angst, von einem Bären gefressen zu werden, weil Kristina mit Sicherheit irgendetwas Duftendes im Zelt vergessen hatte.

»Und die anderen?«, fragte Nick.

Valentina konnte sich nichts Uninteressanteres vorstellen als die Schlafprobleme anderer Leute. Jacob starrte genauso apathisch in die Gasflammen wie sie. Ihr fiel auf, dass er nur heißes Wasser in seiner Tasse hatte – ein weiterer Wanderer auf Kaffee-Entzug. Schlagartig besserte sich ihre Laune. Ungeduldig wartete sie das Ende der Morgenrunde ab.

»Gibt es in deinem Fünfhundert-Euro-Rucksack etwa keinen Kaffee?«, fragte sie zuckersüß.

»In der zivilisierten Welt benutzen wir Dollar«, sagte Jacob.

»In der zivilisierten Welt trinken wir Kaffee.«

»An Pulverkaffee ist überhaupt nichts zivilisiert.«

Innerlich musste Valentina ihm leider recht geben. Der lösliche Kaffee schmeckte so widerlich, dass sie Kristina beinahe doch etwas davon abgegeben hätte.

Stattdessen schlürfte sie ihn extra laut.

»Was geht denn zwischen euch ab?«, flüsterte Kristina.

»Jacob ist das Arschloch vom Flughafen.«

»Oh, oh«, sagte Kristina.

Ein Lächeln kroch über Valentinas Gesicht. Es war ein befriedigender Aspekt des Geschwisterlebens, dass es jemanden gab, der die eigenen Fähigkeiten akkurat einschätzen konnte.

Nach dem Frühstück benutzten sie ihre Wasserfilter, um am Bach ihre Flaschen für den Tag aufzufüllen, und packten alles zusammen. Dann folgten sie weiter dem schmalen Pfad vom Vortag. Kristina lief vor ihr.

»Du musst dein Bärenspray an der Hüfte befestigen«, sagte Valentina. »Im Rucksack bringt es dir nichts.«

»Reicht es nicht, dass du eines hast?«

Valentina sparte sich die Antwort. Stattdessen konzentrierte sie sich darauf, wo sie ihre Füße hinsetzte. Der Pfad war glitschig vom Morgentau, und Nebel hing noch in Fetzen über dem Weg. Kristina würde nie ein Bärenspray brauchen. Sie waren eine große Gruppe, sie machten genug Lärm, und überhaupt würde sie Kristina wahrscheinlich eigenhändig umbringen, bevor ein Bär auch nur die Chance dazu hatte.

Wald, Wald, Wald um sie herum … und dann endeten die Baumstämme abrupt, und vor ihnen breitete sich bis zum Horizont eine riesige Ebene aus.

»Oh«, machte Alice.

Kristina schoss ein Foto.

Valentina schluckte.