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Leon Walters, Chefredakteur des Koblenzer Tageskuriers, ein unverbesserlicher Morgenmuffel, ansonsten gutmütig, hilfsbereit und voller Engagement stolpert in seinem ersten Fall mitten hinein ins pralle Seniorenleben, denn sein Boss, Alexander Paffrath, bittet ihn, einen Artikel über die Seniorenresidenz Moselblick zu verfassen. Wie gewohnt recherchiert Leon Walters überaus gründlich. Was er bei seinen Recherchen herausfindet, übersteigt jegliches Maß an Menschlichkeit und Ethik. Wird es Leon Walters gelingen, die Machenschaften zu unterbinden und die Schuldigen ihrer gerechten Strafe zuzuführen?
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Seitenzahl: 328
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Achter Stock - Endstation
Hans-Jürgen Setzer
Copyright © 2016 Hans-Jürgen Setzer, Kirchweg 13, 56244 Maxsain
Lektorat: Autorenteam Ellen Heil und Karin Kuretschka
All rights reserved.
ISBN-13: 978-3-7418-6877-1
Leon Walters kam nach einer kurzen Nacht in die Nachrichtenredaktion des Koblenzer Tageskuriers, holte sich einen Kaffee aus dem Automaten und ging, noch etwas verträumt wirkend, zu seinem Platz im Großraumbüro. Er merkte selbst, dass es für jeden eine Zumutung sein musste, der versuchen würde, ihn jetzt anzusprechen. Schon als Kind war er ein Morgenmuffel. Vielleicht hielt es deshalb auch keine Frau lange mit ihm aus. Abends konnte beinahe jeder problemlos Spaß mit ihm haben, bis in die tiefe Nacht, aber morgens nach dem Aufstehen wurde er ein anderer. Er brauchte einfach seine Anlaufzeit. Die älteren Kollegen in der Redaktion wussten dies nach der Erfahrung der letzten Jahre. Leon Walters arbeitete bereits neun Jahre für den Koblenzer Tageskurier.
Meist war er für die Abendveranstaltungen im Glamourbereich zuständig, für den Klatsch und Tratsch in der Koblenzer High Society oder über diejenigen, die sich dafür hielten. Die Artikel schrieb er in der Nacht noch in seinen Rechner und meist wurden sie gerne gelesen und brachten viel Lob.
An einem Montagmorgen aber, so wie heute, war es immer besonders schlimm. Zum einen war da in der Regel ein hartes Wochenende vorüber, das meist zwar viel Spaß gebracht, aber auch viel Kraft gekostet hatte. Und zum zweiten musste er wieder auf die Arbeit, an seinen Schreibtisch oder auch raus in die Kälte. Auch hier war Leon Walters gespalten, zumindest montagmorgens. Sein Beruf machte ihm sehr viel Spaß, aber Freizeit, Urlaub, schlafen, feiern, das war doch das wirkliche Leben. Und wenn sich das verbinden ließ, umso besser.
Arbeiten, um zu leben, so war es richtig. Doch auch Leon gelang das oft nicht. Sein Beruf forderte vollen Einsatz und bei einer so richtig packenden Geschichte vergaß er auch schon mal sich selbst und seine Bedürfnisse.
Er setzte sich wie immer an seinen Platz, las das in der Nacht gedruckte frische Exemplar des Lokalblattes und trank in aller Ruhe seinen Kaffee. Er schaltete seinen Rechner ein und schaute sich die eingegangenen Emails an. Die meisten davon warf er direkt in den virtuellen Papierkorb.
„Alles Müll, und das schon am frühen Morgen.“
Eine Email jedoch konnte er nicht so einfach entsorgen. Sie war vom Chef. Der Zeitungsverleger, Alexander Paffrath, regierte seine Zeitungsredaktion mit strenger Hand. Zeitweise behandelte er seine Angestellten wie kleine Kinder oder er wurde einfach cholerisch und tobte. Auch ein Chefredakteur hatte bei ihm nicht viel zu sagen. Diese liebenswürdige Person hatte Leon Walters beim Lesen der geöffneten Mail vor Augen.
„Mal sehen, was der Alte will. Der hing bestimmt wieder die ganze Nacht hier im Hause herum und hat sich nette, kleine Gemeinheiten für den Morgen ausgeheckt“, dachte Leon.
„Email von Paffrath an Walters: Seniorenresidenz Moselblick bietet heute eine Führung für die Presse an. Ihr Kollege, Tintzmann, ist krankheitsbedingt wieder mal ausgefallen. Übernehmen Sie den Auftrag. Ich erwarte einen zweispaltigen Artikel, etwa eine viertel Seite, für die morgige Ausgabe. Fühle mich Frau Liebenstein, der Leiterin der Einrichtung, sehr verpflichtet. Bitte beachten Sie das im Ergebnis. Termin heute 9:30 Uhr, Moselblick in Koblenz-Güls.
Paffrath.“
„Na toll, das klingt ja echt spannend – ein Artikel über eine Seniorenresidenz. Da schlafen mir ja schon beim Thema die Füße ein. So ein Mist. Und Fotos sind wahrscheinlich auch nicht drin, von wegen Datenschutz und so. Ich brauche bald einen anderen Job, wenn das so weitergeht. Und das nennt sich dann Pressefreiheit. Für diese Dinge werde ich langsam zu alt. Das kann er doch einen Praktikanten machen lassen.“ Leon Walters grummelte so noch eine Weile vor sich hin. Dabei wurde er still und unkommentiert vom Kollegen nebenan beobachtet.
„Es nützt ja nichts. Wenn der Chef seiner Freundin einen Artikel versprochen hat, dann muss der Walters sich eben etwas einfallen lassen. Also, Leon auf, fahr mal deine grauen Zellen hoch. Schauen wir mal, was das Internet über die Seniorenresidenz so hergibt“, sagte die innere Stimme von Chefredakteur Leon Walters.
Überlebenswichtig erschien ihm zunächst einmal die Verbindung von Paffrath zu Liebenstein. Der Hinweis in der Email bedeutete ja schließlich mehr oder weniger verklausuliert:
„Walters fahr mal da hin und schreib einen netten Artikel, der die Freundin Liebenstein über den grünen Klee lobt, sodass sie den alten Kumpel Paffrath auch liebhat, kostenlos in unserem Blatt werben kann und dafür bald wieder eine kostenpflichtige Anzeige schaltet.“
Und wie lieb, dass wollte Leon gerne möglichst genau vorher wissen.
Im Archiv fand er einige Vorlagen, von dem, was der Chef wohl gemeint hatte. Die Seniorenresidenz wurde vom Koblenzer Tageskurier für ihre mustergültige Altenpflege mit wegweisenden neuen Modellen gelobt. Natürlich war diese besonders herausgehobene und qualitativ einmalige Arbeit besonders einer Person zu verdanken: Anna Liebenstein, kaufmännische Direktorin der Seniorenstiftgruppe Gartenparadies.
Leon musste schmunzeln.
„Die Frau muss ja echt der Kracher sein. Freundin vom alten Paffrath und revolutionär in der Altenpflege. Was soll das heißen? Wird hier das Klopapier mehrfach verwendet und damit werden Millionen eingespart?“
Der Kaffee wirkte jetzt langsam. Er sagte zu sich selbst:
„Leon, reiß dich jetzt mal zusammen, sonst wirst du nie fertig mit diesem tollen Auftrag. Also weg mit dem Sarkasmus und fang endlich an mit seriöser Journalistenarbeit.“
„Hast du was gesagt?“, fragte sein Tischnachbar, der bisherige stille Beobachter des kleinen Schauspiels und ein Leidensgenosse aus der Sportredaktion.
„Nein, nein, hab nur laut gedacht.“ Für einen Moment dachte Leon, er würde verrückt. „Jetzt rede ich schon mit mir selbst oder meinem inneren Kumpel wie ein Schizophrener. Da wird wohl bald mal wieder ein Urlaub fällig.“
Er sammelte noch einige Daten zum Lebenslauf von Anna Liebenstein, suchte Daten zur Seniorenresidenz und vergeblich nach einem Zusammenhang zu Alexander Paffrath.
„Ich komm schon noch dahinter. Warts nur ab. – So, dann machen wir uns mal langsam auf den Weg. Vor Ort gibt es vielleicht die besten Informationen oder die leckersten Häppchen, wenn noch niemand da ist oder schon wieder alle weg sind. Alte Journalistenweisheit“, sagte Leon laut hörbar.
„Machen wir uns mal auf den Weg? Redest du mit deinem unsichtbaren Vogel auf der Schulter, Leon?“ Der Sportredakteur am Nachbarschreibtisch grinste Leon an.
„Du hast recht, das Ding werde ich wohl alleine schaukeln müssen. Aber meinen kleinen Vogel nehme ich mit. Komm, Hansi. Dann wünsch ich dir viele Tore und viel Spaß bei dem schönen Wetter im Oberwerther Stadion, lieber Kollege. Steigt der TUS denn irgendwann wieder auf?“
„Keine Ahnung, Leon. Wenn ich es weiß, bist du der Erste, der es erfährt, denn dann kriege ich endlich den Schreibtisch dahinten am Fenster in der Sonne“, sagte der Sportreporter.
„Träum weiter“, entgegnete Leon und ging gemächlich mit seiner alten Lederaktentasche unter dem Arm zum Fahrstuhl.
Durch die gläserne Wand am und um den Aufzug sah er den Verleger unten warten, offensichtlich, um in sein Büro ins oberste Stockwerk zu fahren. Er hatte seine Morgenrunde gedreht, wie jeden Morgen, um zu demonstrieren: „Schafft was, ich sehe alles.“
„Och, nee, nicht den am frühen Morgen.“ Leon flüchtete geistesgegenwärtig auf die Toilette und fuhr dann ein wenig später mit dem Fahrstuhl in die Eingangshalle.
Nach einem kurzen Gespräch mit der netten Dame am Empfangstresen ging er die Treppe hinunter in die Tiefgarage. Er fuhr mit seinem Dienstfahrzeug mit der Beschriftung „Koblenzer Tageskurier – Wir bringen es morgens und auf den Punkt“ durch den Montagmorgenverkehr von Koblenz. Dabei musste er über die Brücken der Stadt über Rhein und Mosel nach Güls. Er suchte sich einen Parkplatz, um sich zunächst einmal einen Überblick über die Anlage zu verschaffen. So machte er es immer: vom Allgemeinen zum Speziellen. So hatte er gelernt. Aus seiner Thermoskanne nahm er sich einen zweiten Morgenkaffee und grübelte, wie er am besten herangehen sollte. Ein Blick auf die Uhr zeigte: 8:30, also noch genügend Zeit.
Leon setzte sich auf eine Bank in die Sonne vor der Residenz. Dort hatten es sich auch viele Bewohner der Einrichtung gemütlich gemacht. Einige hatten es eigenständig bis hierhin geschafft. Andere waren in ihren Rollstühlen hergebracht worden und wirkten wie abgestellt. Zumeist hielten sie ihre geschlossenen Augen in die Sonne.
„Tot oder lebendig?“, fragte sich Leon. „Nein, bestellt und nicht abgeholt“, dachte er. „Hm, könnte ja eine spannende Geschichte daraus werden. Aber irgendwie auch nicht, wenn es nur nett und kostenlose Werbung für diese Liebenstein werden sollte. Vielleicht mache ich einfach zwei Geschichten. Die für den Chef und eine auf Reserve für die nachrichtenarme Zeit.“
„Na, junger Mann, besuchen Sie einen Verwandten bei uns? Einen schönen Tag haben Sie sich dafür ausgesucht“, sagte eine weißhaarige Dame im Rollstuhl, die zu den abgestellt Wirkenden gehörte.
„Ja, ein sehr schöner Sonnentag. Das tut gut, nach der verregneten letzten Zeit. Wohnen Sie schon lange hier?“ Leon dachte durch eine neue Frage, die Beantwortung der an ihn gestellten Frage umschiffen zu können. Aber weit gefehlt.
„Sind Sie der Sohn von Frau Moritz im zweiten Stock? Sie sehen ihr ja so ähnlich.“
„Nein, junge Frau, ich wollte mich hier nur informieren.“
„So, na dann“, antwortete sie fast ein wenig beleidigt klingend.
„Ist es denn aus Ihrer Sicht empfehlenswert, einen lieben Verwandten hierher zu bringen?“ Das war doch eine gute Richtung dachte Leon. Quellenarbeit.
Doch dann näherte sich eine junge Dame in Weiß. „So, Frau Lesinsky, jetzt müssen wir aber zu Ihrem Friseurtermin. Dann machen wir Sie schick für unsere Tanzparty.“
Die nette junge Pflegerin holte die Dame ab und unterbrach somit das kaum begonnene Gespräch.
Jetzt fühlte sich Leon ein wenig wie bestellt und nicht abgeholt. „Das fing ja gut an. Vielleicht sollte ich einfach mal die Veranstaltung abwarten und hinterher weiterschauen. Es ist ja auch schon fast halb zehn. Auf ins Gefecht“, dachte er und stand auf.
Die Eingangshalle des Seniorenstifts wirkte von der Ausstattung her gar nicht wie ein Krankenhaus oder ein Altenheim, mehr wie die Lobby in einem Hotel. Einige Kolleginnen und Kollegen standen schon mit ihren Diktiergeräten und Notizblöcken bereit. Alle schauten gespannt hin und her. Offensichtlich war noch nicht klar, wo die Attraktion des Tages zu finden sein würde.
Auf einigen Tischen standen kleine Häppchen, Kekse, Kaffee, Tee, alles schön arrangiert und Pressemappen mit Hochglanzprospekten der Einrichtung und ihrer Leitsätze.
Pünktlich um 9:30 Uhr kam eine Dame im Hosenanzug zielstrebig auf die größte Menschentraube in der Empfangshalle zu. Schätzungsweise war sie etwa 165 Zentimeter groß, dürfte vielleicht 50 Kilogramm schwer oder leicht sein und schien mit sportlich durchtrainierter Figur Durchsetzungswillen, Gesundheit und Leistungsfähigkeit demonstrieren zu wollen. Ihre sexy Brille und das lange, gelockte blonde Haar, das zurückgebunden streng wirkte, sorgten ebenfalls dafür.
„Guten Morgen meine Damen und Herren, mein Name ist Anna Liebenstein, kaufmännische Direktorin der Seniorenstiftgruppe Gartenparadies und aktuell auch Leiterin des Seniorenstiftes Moselblick.
Ich freue mich, Sie heute hier so zahlreich begrüßen zu können und danke Ihnen für das Interesse an diesem sehr wichtigen Thema. Wir behandeln heute auch Ihre Zukunft und interessante Lösungsansätze, die ich Ihnen gerne vorstellen möchte. Im Laufe unseres Rundganges wird ausreichend Gelegenheit sein, Fragen zu stellen und diese natürlich, wenn möglich, auch zu beantworten. Ich bitte Sie, nicht zu vergessen, dass wir uns in einem Seniorenstift mit dort lebenden Bewohnern befinden. Bitte respektieren Sie weitestgehend die Privatsphäre und den Datenschutz. Bleiben Sie bei der Gruppe und halten Sie sich an Anweisungen unseres Personals. Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass an dieser Führung nur geladene Gäste der Presse mit Einladungsschreiben teilnehmen dürfen. Ich danke Ihnen. Bitte folgen Sie mir.“
Leon war zufällig an der Spitze der etwa 20 Personen umfassenden Gruppe. Sie gingen einen langen Korridor entlang. Überall an den hellen Wänden hingen freundliche Bilder mit bunten Farben und fast ins Kitschige gehenden Motiven. Blumen, spielende Kinder, schmusende Katzen, tollende Hunde, Landschaften am Meer und in den Bergen.
„Heile-Welt-Bilder“, dachte Leon.
„So, meine Damen und Herren, unsere erste Station. Bilden Sie bitte einen Halbkreis, damit jeder etwas sehen kann. Hier sehen Sie den sogenannten AWA 3000, den Altenwaschautomaten mit computer- und sensorgesteuerter Waschstraße.“
Fotoapparate blitzten und Diktiergeräte wurden mit langgestrecktem Arm entgegengehalten.
„Was Sie früher nur Ihrem liebsten Spielzeug, Ihrem Porsche oder Ferrari gönnten, dürfen heute auch unsere Senioren hier genießen. Schon bei Autos war ja klar, dass Waschstraßen viel schonender mit dem Lack umgehen, als eine Handwäsche. Und haben Sie einmal einen ganzen Tag lang im Minutentakt alte Menschen gewaschen? Das macht keine Altenpflegerin oder eine Krankenschwester länger als ein paar Jahre, dann ist der Rücken kaputt und die Senioren beschweren sich auch über die Waschaktion. Im AWA 3000 wird das Waschen zum reinsten Vergnügen. Sehen Sie hier unseren Holger.“
Ein junger, schlanker Mann mit verkehrt herum aufgesetzter Baseballkappe stand kurz auf und nickte.
„Mühelos kann er am Computerbildschirm jeden einzelnen Schritt verfolgen und könnte notfalls auch eingreifen. Über Lautsprecher und Mikrofon sind beide miteinander verbunden. Bewohnerorientiert kann die Lieblingsmusik eingespielt und die Intensität der Waschbürsten reguliert oder sogar das Lieblingsshampoo eingestellt werden. Das ist alles in einer Datenbank aus langjährigen Erfahrungen mit den Bewohnern gespeichert. „AWA und – Alles-wird-angenehmer, früher hieß es Anneliese wäscht Anton.“
Alle lachten.
„Doch, das mag auch nicht jeder. Beim AWA wird auch die Intimsphäre besser gewahrt. Die Waschaktion wird zwar aus juristischen Gründen auf Film mitgeschnitten, doch damit erklären sich alle Bewohner schriftlich im Aufnahmevertrag einverstanden. Es gibt also keine versteckte Datensammlung und es ist ja auch zu ihrer Sicherheit. Und medizinisch ist der AWA individuell einsetzbar. Fehlt ein Bein, erkennt das der Sensor. Gibt es Läuse- oder Pilzbefall wird automatisch das richtige Medikament im Waschschaum appliziert. Hierfür haben die Bewohner natürlich vorher ihr Einverständnis schriftlich gegeben. Bei uns läuft nichts hinten herum. Ist das nicht Fortschritt? Sie sehen, Sie können sich auf Ihren eigenen Seniorenstiftaufenthalt freuen.“
Leon spürte zwar eine gewisse Faszination von dem Gerät und der sprühenden Energie von Anna Liebenstein ausgehen, aber er entwickelte das Bedürfnis, einen Satz mit einem Aber am Anfang einzustreuen. Und wenn es einfach nur als Gegenpol für die fast schon euphorische Stimmung in der Journalistengruppe formuliert werden musste. Und er wollte gerne die Spontaneität von Anna Liebenstein testen. Das wirkte doch alles sehr auswendig gelernt und künstlich.
„Aber fehlt den älteren Menschen damit denn nicht die Zuwendung? Sind sie wirklich zufrieden mit so etwas?“, hörte er sich selbst sagen.
Ein strenger Blick von Frau Liebenstein fiel zu ihm.
„Dürfte ich Ihren Namen wissen, junger Mann? Einfach, damit ich Sie alle bei der Gelegenheit mal kennenlernen kann.“
„Gerne, Leon Walters, Frau Liebenstein, Koblenzer Tageskurier.“
„Schön, Sie kennenzulernen, Herr Walters. Ihr Chef, Herr Paffrath, sprach in höchsten Tönen von Ihnen. Eben noch habe ich mit ihm telefoniert“, entgegnete Frau Liebenstein.
Leon wechselte ein wenig die Farbe. Damit hatte er nicht gerechnet. „Gerissenes Biest“, dachte er.
„Auf diese Frage habe ich gewartet. Sie wird immer wieder gestellt. Gleich werden Sie die Antwort sehen. Wir haben natürlich das ebenfalls computergesteuerte Haustier, nach Wahl des Bewohners, Katze, Hund, Vogel und garantiert keim- und flohfrei.“
Wieder ging ein Lachen durch die Besuchergruppe.
„Haben die auch eine Körpertemperierung, Frau Liebenstein“, schob Leon Walters schnell die Frage ein.
„Aber selbstverständlich, Herr Walters, außer den Hausfröschen und den Fischen haben alle 37 Grad, sodass es sich auch wirklich kuschelig anfühlt. Möchten Sie mal fühlen?“
„Wow, gut gekontert“, dachte Leon. „Danke, später vielleicht. Das scheint ja wirklich bis in die Details durchdacht zu sein“, antwortete er mit einem Lächeln auf den Lippen.
„Jetzt passen Sie einmal ganz genau auf. Es kommt noch besser. Hier sehen Sie Frau Müller, 78 Jahre alt. Einen kleinen Applaus für Frau Müller, die sich für diese Demonstration zur Verfügung gestellt hat.“
Die Menge applaudierte.
„Sie leidet seit 20 Jahren an Diabetes und muss deshalb im Blutzucker überwacht werden. Ihre Schmusekatze übernimmt das. Achtung, wir haben jetzt eine Minute vor zehn Uhr. Schauen Sie einmal ganz genau hin.“
Frau Müller streichelte ihre Katze und es schien beiden zu gefallen. Plötzlich fauchte die Katze und haute mit ausgefahrenen Krallen in den Arm.
„So, das war die Blutentnahme, und hier am Display können Sie ablesen: Blutzucker Müller 90 um 10 Uhr. Ist das nicht toll?“
Frau Liebenstein überschlug sich dabei fast in ihrer eigenen Begeisterung. Die Menge raunte und murmelte.
„Und nicht zu vergessen unseren ASS“, fuhr sie fort und fügte hinzu: „Früher war das die Revolution einer Kopfschmerztablette. Heute ist das die modernste, sensibelste Schmusemaschine auf dem Markt. Ebenfalls von der innovativen MMF, der Medizinischen Maschinenfabrik in Dresden wurde der Alten-Schmuse-Sessel, kurz ASS oder für den weltweiten Einsatz in Englisch OPC, old people´s chair, entwickelt. Sie werden ihn gleich sicher irgendwo in Aktion sehen, denn irgendwo schmust irgendwer immer.“
Neuerliches Lachen.
„Und ich sage Ihnen, der kann sogar noch mehr als schmusen, denn jeder hat ja so seine Bedürfnisse, nicht wahr, meine Damen und Herren? Das könnte dann sogar den Enkel interessieren, was der Sessel so alles draufhat. Aber das lassen wir heute.“
„Schade, jetzt wo es doch spannend wird“, warf Leon ein.
Ein letztes Lachen ging durch die Menge.
Anna Liebenstein warf ihm ein Augenzwinkern zu. „Ein anderes Mal vielleicht, Herr Walters. So, damit wären wir am Ende unserer heutigen Presseführung. Weitere Fragen stellen Sie bitte schriftlich mit Ihrem vorläufigen Artikelentwurf, den ich, wie immer bis morgen früh, um sieben Uhr, in meinem Email-Postfach erwarte, denn ich habe heute leider noch sehr viel zu tun. Wir erwarten zehn neue Heimbewohner, die ja alle gerne individuell begrüßt werden möchten. Auf Wiedersehen, meine Damen und Herren – spätestens mit 70.“ Anna Liebenstein verschwand mit einem Lächeln auf den Lippen im Aufzug. Ein paar Kameras und Blitzlichter klickten und weg war sie.
Leon Walters spürte eine Mischung aus ganz tief im Bauch empfundenem Ärger und gleichzeitig auch Faszination. So elegant und charmant war er schon lange nicht mehr abgekanzelt worden. Die Mischung aus Wut und Erregung wurde zu einem innerlichen Beben, das seinen Ausgang suchte.
„So eine arrogante Gans, lässt uns einfach hier so stehen“, entfuhr es ihm. Das milderte seine Unruhe nur minimal. „Blöde Kuh!“ Schon besser. „Na, der werde ich es zeigen.“ Gut, das war der Impuls, der weiterführen könnte. „Ich werde einen Artikel schreiben, über den sie noch lange nachdenken wird, diese Schnepfe.“ Er wusste aber auch schon wenige Augenblicke später, dass durch den Auftrag seines Chefs der Spielraum gegen null ging. Den Ärger würde er also runterschlucken müssen.
Leon Walters erfuhr Respekt und Aufmerksamkeit bei Veranstaltungen, die er besuchte. Jeder wollte eine gute Presse. So etwas wie heute war ihm noch nie widerfahren. Dabei wäre Anna Liebenstein sogar so etwas wie sein Typ, wenn man das so ausdrücken konnte. Sie hatte etwa sein Alter. Er schätzte sie so um Ende 30, Anfang 40. Im Laufe der Jahre hatte er so seine Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht gemacht. Er wirkte auf Frauen, sicher einerseits aufgrund seines Charmes und des Intellektes, den er zweifelsfrei hatte.
Schon im Studium der Germanistik und im Nebenfach des Journalismus bemerkte er oft die Blicke der Mitstudentinnen. Auf Partys hatte er immer sehr schnell Kontakt, der auch meist bis zum nächsten Morgen dauerte. Äußerlich bevorzugte er eher den sportlich-legeren Stil in seinen Klamotten. Nur sehr selten sah man ihn in Anzug und Krawatte. Und das war bis heute so geblieben. Er hasste Verkleidungen, wie er sie nannte. Andere konnten machen, was sie wollten, aber er wollte durch sein Inneres überzeugen, nicht durch seine Fassade. Obwohl, manchmal war er sich da nicht ganz so sicher. Warum schauten ihm alle hinterher? Sein Inneres kannten sie dann ja wohl noch nicht.
Und trotz der Beliebtheit bei den Damen war Leon immer solo gewesen. Mehr als ein kurzer Flirt, höchstens über einige Wochen, war nicht drin. Dann brauchte er seine Freiheit zurück. Dann störte plötzlich die Nähe der anderen Person. Er fühlte sich eingeengt und fast erdrückt.
„Wie kriege ich eine spannende Geschichte über den Moselblick hin?“ Klar, einen kurzen Artikel über Moselblick und Frau Liebenstein für den Chef musste er ja wohl zähneknirschend abliefern. Aber nur die Show heute zu beschreiben, das wäre doch gegen jede Journalistenehre.
„Ihre Artikelentwürfe erwarte ich, wie immer, bis morgen früh in meinem Email-Postfach. Für wen hielt die sich eigentlich? Insiderinformationen müssen her. Vielleicht sollte ich mal nach einem neuen Bewohner Ausschau halten, der frisch nach Moselblick kommt. Der wäre sicher noch nicht unter der Fuchtel der Liebenstein und es würden am ehesten unverfälschte Informationen dabei herauskommen. Gut, Leon, wie kommst du an die Daten der Neuen? Bei der Schreckschraube werden sicher alle vom Personal vorsichtig sein, Daten herauszurücken.“
Walters lief durch die Flure des Seniorenstifts und das Schicksal meinte es gut mit ihm. Eine Pflegerin wechselte gerade Namensschilder aus.
„Na, Schichtwechsel im Seniorenstift finden sicher sehr häufig statt, nicht wahr? Ich meine bei den Bewohnern, nicht beim Personal“, schob Leon nach. Er sah fragend zu der jungen Dame.
Die junge Krankenschwester schaute ein wenig verunsichert.
„Oh, tut mir leid, ich vergaß, mich vorzustellen. Mein Name ist Leon Walters vom Koblenzer Tageskurier. Ihre Chefin, Frau Liebenstein, war so liebenswürdig, uns die Einrichtung zu zeigen und nun schauen wir uns alle noch ein wenig um.“
„Ach so, ja, das Sterben gehört hier leider dazu. Aber dafür kommen ja auch immer wieder neue, liebenswürdige Bewohner.“
„Und Sie wechseln gerade die Schilder aus?“, fragte Leon.
„Ja, das muss sein, denn ein Zimmer bleibt natürlich nie lange leer. Morgen oder übermorgen wird das Zimmer allerspätestens schon wieder belegt, nachdem alles gereinigt wurde und die neuen Möbel des Nutzers angekommen sind. Der neue Bewohner soll sich ja gleich zu Hause fühlen und nichts vom Vorgänger bemerken. Das würde doch ein seltsames Gefühl aufkommen lassen.“
„Ich verstehe, junge Dame, vielen Dank. Das ist alles sehr gut durchdacht und einfühlsam“, erwiderte Leon. „Dann wünsche ich einen ruhigen Dienst oder wie sagt man?“
„Ja, danke, das passt schon. Auch für Sie einen schönen Tag, Herr Walters. Schön, Sie kennengelernt zu haben.“
Dem geschulten Journalistenauge war natürlich der Name auf dem Türschildchen nicht entgangen. Gut, das war ein Anfang. Peter Kastor. Der Name würde sich sicher per Internet oder Telefonverzeichnis ausfindig machen lassen.
Die alte Eichenstanduhr schlug zehn Mal, und wie jeden Morgen um diese Zeit ging Peter Kastor durch die Hofeinfahrt zu seinem Briefkasten. Jeden einzelnen Basaltpflasterstein hatte er einst selbst liebevoll verlegt. Er nahm gerade vorher sein zweites Frühstück mit einer Tasse heißen, dampfenden Kaffees zu sich. Im Laufe der Jahre, mit zunehmender Schwäche seines Herzens, war er inzwischen auf eine entkoffeinierte Marke ausgewichen. Er hatte das sanfte Geräusch des gelben Kleintransporters schon die Straße entlangkommen hören, von Haus zu Haus. Ab und zu ein rollendes Geräusch der Seitentür, ein Klacken der Fahrertür, nach einem mit dem Näherkommen immer lauter werdenden Motorgeräusch, einem mehrfachen Klick und Klack des Briefkastendeckels war klar: Die Post ist da. Heute war auch etwas für ihn dabei.
Peter schaute aus dem Fenster und winkte dem Postboten zu. „Guten Morgen“, rief er.
„Schönen guten Morgen, Herr Kastor. Ich habe die Post schon in Ihren Kasten geworfen.“
„Danke, ich hole sie gleich. Schönen Tag noch.“
„Für Sie auch, Herr Kastor“, antwortete der Briefträger, stieg wieder in sein gelbes Postauto und fuhr weiter.
Peter Kastor ging gemächlich die Treppe hinunter, sofern man diese Bewegung noch gehen nennen konnte. Leider fiel es ihm immer schwerer, in dem doch über die Jahre lieb gewordenen Haus, die Stufen hinauf oder hinunter zu kommen und der Einbau eines Liftes lohnte ja nun nicht mehr. Tja, er wurde eben alt. Daran erinnerten auch die beiden langen Narben auf den Oberschenkeln als Zeichen der künstlichen Hüftgelenke, die ihm vor 20 Jahren eingesetzt wurden.
„Auuuh, es scheint wieder Regen zu geben“, sagte er leise. „Wäre ich doch damals nur nach Mallorca umgezogen, als es noch ging.“
Er drehte den Schlüssel im ebenfalls in die Tage gekommenen, etwas angerosteten Schloss des Briefkastens und nahm die Post heraus.
„Werbung, Werbung, Werbung und Rechnungen“, sagte er.
Als einzigen richtigen Brief erblickte er einen amtlich aussehenden blauen, größeren Umschlag mit dem Wappen des Landes in der oberen linken Ecke.
„Was ist denn das?“, fragte sich Peter Kastor.
Der Schriftzug des Frankierautomaten zeigte: „Seniorenheimverwaltung des Landes Rheinland-Pfalz“.
Es lief ihm eiskalt den Rücken hinunter und dennoch stieg gleichzeitig eine Hitze in den Kopf. So wie früher, wenn er glaubte, vielleicht zu schnell gefahren zu sein.
„Gibt es Punkte, nur ein Verwarnungsgeld oder ist der Führerschein weg?“ Er spürte sein Herz bis zum Hals schlagen und las: „Ihr Seniorenmobilitätstest mit 72 Punkten und die ärztliche Untersuchung zeigten erhebliche Selbstversorgungsdefizite. Nach dem Seniorenversorgungsgesetz fordern wir Sie daher hiermit auf, sich am 14. Mai bis 10:00 Uhr im Verwaltungstrakt des Seniorenheimes Moselblick, in Koblenz-Güls, mit ausgefüllten Anmeldeformularen zu melden. Bitte hinterlassen Sie Ihre Wohnung gereinigt und in ordentlichem Zustand …“
Fast hätte er die Hacken zusammengeknallt und „Jawoll!“ gerufen. Das klang wie damals, als er mit 18 zur Bundeswehr musste. Bei dieser Musterung war er besser weggekommen. Da hatte er Tauglichkeitsgrad 1 und war für alles geeignet. In wenigen Tagen wäre es also soweit. Er musste erneut einrücken.
Kurz schweiften seine Gedanken in der Zeit zurück. Seine Eltern waren Bauern im Rheinland und froh, als Peter mit 16 Jahren in einer kleinen Autofirma am Ort unterkam, denn sein zwei Jahre älterer Bruder wollte den Hof übernehmen und für zwei reichte es bei den damaligen Preisen für Milch und landwirtschaftliche Produkte nun wirklich nicht, obwohl der Hof an die 50 Kühe hatte und große Felder bestellt wurden.
Bei seiner Musterung gab er damals an, gerne länger dienen zu wollen und Kraftfahrzeugmechaniker waren auch bei der Armee gesucht. Er war gesund und ungebunden und so sprach seinerzeit nichts dagegen. Ein Nachbar brachte ihn zum Bahnhof, denn für ein Auto reichte es bei den Kastors nicht und das Bahnticket war ja schon von der Armee bezahlt. Mutter stand beim Abschied weinend im Hof, doch er freute sich innerlich, endlich von zu Hause wegzukommen. Nicht, dass er unzufrieden war mit seiner Kindheit und Jugend, aber er sehnte sich nach etwas Neuem. Bereits nach der ersten Hausbiegung fühlte er etwas wie Freiheit und den Beginn eines neuen Lebens. Bei den Gedanken an diese Zeit kam ein Schmunzeln in sein Gesicht.
Peter spürte die ersten Regentropfen auf der Kopfhaut und ging zurück ins Haus. Der eben geöffnete Brief roch irgendwie muffig und es fühlte sich dieses Mal so ganz anders an. Es war kein Neuanfang, es war ein Abschied, vom Bauchgefühl her. Er hätte gerne alle, auf Flohmärkten gesammelten, lieb gewonnenen Gegenstände mitgenommen. Doch das war nicht erlaubt. Er stand vor seiner Sammlung von alten Postkarten, die ein ganzes Regal füllte, seinen mühsam zusammengetragenen alten Möbeln und sagte Lebewohl.
Er musste seine Wohnung an eine junge Familie abgeben. Die würden mit Sicherheit keines dieser Möbelstücke zu schätzen wissen, sondern in einem Müllcontainer entsorgen oder beim Sperrmüll rausstellen. Doch die neuen Besitzer finanzierten durch den Kauf seinen dritten Lebensabschnitt.
Damals wurde klar, dass bei der ständig steigenden Zahl an alten Menschen einige Abläufe staatlich geregelt werden müssten. Der familiäre Zusammenhalt und der Generationenvertrag funktionierten schon lange nicht mehr und es gab auch nur noch begrenzte Möglichkeiten für ständige Häuserneubauten. Alte Menschen wurden misstrauisch und fast schon feindselig betrachtet. Sie leisteten nichts mehr und kosteten nur Geld – jedenfalls aus Sicht der jungen Generation.
Die alte Generation hatte die Schuldenberge aufgebaut und in Saus und Braus gelebt. Das sollten jetzt alles die Jungen ausbaden – Sauerei! Außerdem war Selbstverantwortung und Laufenlassen noch nie eine Stärke der deutschen Gesellschaft. Hier sollte immer möglichst alles bis in die Details geregelt sein und das auch noch schön sozial verträglich. Bloß nichts der Selbstverantwortung überlassen, denn ein Großteil der Bevölkerung ist aus Sicht der Politik offensichtlich zu dämlich, das Leben und die Zukunft selbst zu regeln. Deshalb wurde das Seniorenversorgungsgesetz fast einstimmig von allen Parteien verabschiedet.
Peter war mit seinem Leben zufrieden. Er war mit der Armee viel herumgekommen, war in einigen Auslandseinsätzen der Armee und lernte dabei die Welt kennen. Das war zwar nicht immer ungefährlich, wie ihm sein vernarbter Streifschuss von einem Taliban-Angriff in Afghanistan noch bei Wetterwechseln versicherte. Es war aber nie langweilig, na ja, fast nie und die Kameradschaft war einfach etwas Tolles. Er machte seinen Kraftfahrzeugmeister bei der Bundeswehr und machte sich später dann nach dem Ausscheiden selbständig. Er kaufte eine kleine Autowerkstatt auf, die keine bestimmte Marke bediente, sondern alles reparierte, was auf den Hof kam. Bei dem jährlich anfallenden Besuch der Dorfkirmes in der Heimat lernte er dann mit 27 seine Frau Susanne kennen.
Peter stand im Wohnzimmer und schmunzelte, während er in Gedanken sein Leben Revue passieren ließ. Heute noch fühlte er sein Herz höher schlagen, wenn er nur an sie dachte oder den Namen aussprach: „Susanne.“
Sie standen sich damals gegenüber und merkten gleich: „Das ist es!“ Vorher fühlten sich beide oft wie Menschen auf einem falschen Planeten. Es fragte sich nur, wer die Außerirdischen sind – die anderen oder sie selbst. Und nach langer Zeit trafen sich hier dann einmal zwei Bewohner des gleichen Planeten, die sich sofort verstanden. Sie schauten sich in die Augen und es fühlte sich an, als würden sie sich schon ein Leben lang kennen.
Kurz darauf wurde Susanne schwanger und es wurde geheiratet. Schon damals zogen sie in die Doppelhaushälfte mit gepflegtem Vorgarten. Dann kam Daniel zur Welt und fünf Jahre später Annika. Sie verbrachten beide eine glückliche Kindheit in dem Haus und die Kinder hatten viel Platz zum Spielen. Peter nahm das alte Kinderfoto vom Wohnzimmerschrank und schaute es an.
Nun waren sie auch schon lange fort. Daniel war jetzt 42, arbeitete als Architekt für einen großen Konzern in Asien und Annika war 37 und als Herzchirurgin an einer Universitätsklinik sehr gefragt. Freizeit gab es kaum und Peter hatte seine Kinder sicher schon zwei Jahre nicht mehr gesehen. Doch Arbeit geht vor, erst recht in diesen schlechten Zeiten. Jedenfalls tröstete sich Peter damit, an den langen, einsamen Winterabenden, wenn er am Fenster in die Ferne blickte und an sie dachte. „Was mochten sie wohl gerade tun?“ Peter fand einfach keine Ruhe. Er fühlte sich heute wie ein Panther im Käfig. Ein grauer Panther.
Er ging noch einmal in den Hof und schaute sich ein weiteres Mal um. Das Haus war damals kurz vor dem Einzug von einer Firma schlüsselfertig hergerichtet worden und der Garten war Peters ganzer Stolz, denn hier konnte er mit viel Arbeit das Reihenhäuschen kreativ von seinen Nachbarhäusern abheben. Er liebte Gartenarbeit, bis es dann irgendwann im Alter mit den Knochen immer schwieriger wurde. Da musste er schweren Herzens zuschauen, wie täglich mehr das Unkraut in dem ständigen Kampf siegte. Selbst in der Hofeinfahrt stieß ein Kraut nach dem anderen durch die Ritzen, so als wollte es sagen: „Unkraut vergeht nicht!“ Und auch den Baumarkt besuchte er nicht mehr so häufig. Er schaffte es sowieso nicht mehr, die Arbeiten selber zu verrichten. Er merkte, es wurde Zeit und nun war er ja auch gekommen, der Einberufungsbescheid.
Peter schlurfte zurück ins Haus. Im Flur betrachtete er sich in dem Ganzkörperspiegel, den noch Susanne aufhängen ließ. Sie musste sich immer, wie jede typische Frau, stundenlang von allen Seiten in einem Spiegel ansehen, um zigfach die Klamotten zu wechseln, den Po zu betrachten und so weiter. Hier stand sie oft und besah sich und er musste von der Seite schmunzeln, wenn er sie dabei beobachtete. Er liebte sie so sehr und als sie von ihm ging, sah er lange keinen Grund mehr weiterzuleben. Sie war fünf Jahre jünger als er und hätte doch noch so viel Zeit gehabt. Aber sie bekam Darmkrebs. Bei einer Routineuntersuchung fiel es auf. Es war fast paradox. Susanne, die peinlichst genau alle Vorsorgeuntersuchungen wahrnahm, wie ein Buchhalter, starb an Krebs. Und dabei hatte sie sich immer Sorgen um ihn gemacht, der egal, welche Signale der Körper auch gab, alles ignorierte und nie zum Arzt ging.
Die Krankheit war schon weit fortgeschritten und trotz Chemotherapie und Operation blieben ihnen noch sechs Monate. Einen Großteil der Zeit verbrachte sie davon mit Schläuchen, Übelkeit, Durchfall und Schmerzen im Krankenhaus. Er saß die meiste Zeit neben ihr am Bett. Was sollte er ohne sie zu Hause. Sie war sein Zuhause. Während dieser Zeit war er stark – stark für sie.
Sein Zusammenbruch kam dann nach ihrem Tod. Alles verlor erst einmal seinen Sinn. Sie redeten kaum über die Krankheit und den Tod und heute wünschte er sich oft, sie hätten mehr offen geredet und nicht über Belanglosigkeiten. Er redete oft zu ihr, in Gedanken, vor ihrem Bild, oder auch, wenn er abends wach im Bett lag und alleine nicht einschlafen konnte.
Im Spiegel sah er einen Herrn, 175 Zentimeter groß, etwa 70 Kilo schwer. Er wusste es genauer, es waren nur noch 68, nachdem er immer weniger Lust hatte, sich etwas zu kochen. Da war es schon gut, dass er kaum noch die Kraft hatte, sich zu bewegen. Von der Erscheinung und vom Alter her könnte man ihn, na sagen wir auf 62, höchstens 64 Jahre schätzen. Wenn, ja wenn die Glatze nicht wäre. Bis vor kurzem trug er noch ein Toupet, doch er bekam das einfach nicht mehr alleine auf die Reihe, es ordentlich zu pflegen und zu platzieren. „Tja Peter“, sagte er zu sich, „du 72-Punkte-Mann, dann nimm mal langsam Abschied, es geht bald los.“ Die Türglocke läutete. Peter war im Spiegelbild noch einen Moment gefangen. Es läutete wieder. „Moment, ich komme.“
An der Klingel stand Peter und Susanne Kastor. Das beleuchtete Schildchen hinter dem kleinen Kunststofffenster wirkte schon vergilbt und etwas in die Jahre gekommen. Es passte zum Ambiente. Es war gut erkennbar, dass das Anwesen schon einmal bessere Zeiten erlebt hatte. Die Vorgärten waren liebevoll gestaltet. Es sprang dem aufmerksamen Besucher sofort ins Auge, dass hier jemand Schwierigkeiten hatte, alles im Schuss zu halten, sei es wegen der Finanzen oder auch wegen zunehmender Gebrechlichkeit.
Da dieser Besucher die Hintergründe kannte, musste er von Letzterem ausgehen. Es klingelte mit einer netten Melodie. Nichts passierte. Nach etwa einer Minute klingelte er noch einmal. Langsame und schlurfende Schritte waren zu hören und wurden lauter. Die Tür öffnete sich.
„Guten Tag. Was kann ich für Sie tun, junger Mann?“
„Guten Tag, Herr Kastor. Ich nehme doch an, Sie sind der Hausherr?“, fragte der Besucher freundlich.
„Ich kaufe und brauche auch nichts“, kam die Antwort von Peter Kastor.
„Mein Name ist Leon Walters, Chefredakteur vom Koblenzer Tageskurier. Sie werden sich sicher wundern, doch ich habe erfahren, dass Sie in die Seniorenresidenz Moselblick einziehen werden und wir sind auf der Suche nach jemandem, den wir bei den ersten Schritten in die Residenz begleiten dürfen. Könnten Sie sich das vorstellen?“
„Hmm, ich weiß nicht, was bedeutet das für mich?“, fragte Peter Kastor.
„Darf ich reinkommen, dann könnten wir das in Ruhe besprechen?“
„Ja, warum nicht? Kann ich Ihren Ausweis sehen, man weiß ja heutzutage nie.“
„Natürlich, hier ist mein Ausweis und ein Kärtchen für Sie.“
„Leon Walters, Chefredakteur Koblenzer Tageskurier“, las er laut vor.
„Ja, Herr Kastor, unsere Devise: Koblenzer Tageskurier – Wir bringen es morgens und auf den Punkt. Kennen Sie unsere Zeitung?“
„Aber natürlich, ich wohne schon eine halbe Ewigkeit hier und Ihre Zeitung kenne ich von klein auf. Habe sie sogar mal zwei Jahre lang in aller Herrgottsfrühe ausgetragen.“
„Na, da haben wir doch schon eine Geschichte: vom Zeitungsausträger zum Titelhelden. Was sagen Sie dazu? Wäre das nichts?“
„Meine Geschichte heißt eher: vom Jüngling zum alten Sack. Der alte kaputte Sack wird nun entsorgt. Müll und fertig …“
„Aber, aber, Herr Kastor. Warum so zynisch? Haben Sie sich Moselblick mal angesehen? Es ist sehr schön dort.“
„Nein, das habe ich mir als Überraschung für den Tag X aufgehoben. Wissen Sie, ich hänge an meinem alten Häuschen. Es ist mein Leben. So viele Erinnerungen müssen Sie wissen.“
„Das kann ich mir gut vorstellen. Wollen Sie nicht ein wenig darüber erzählen, unsere Leser teilhaben lassen und wenn es gedruckt ist, mit vielen Fotos, versteht sich, dann haben Sie doch auch ein schönes Erinnerungsstück. Nicht so toll wie das Original, aber besser als …“
„… als gar nichts, meinen Sie. Ja, vielleicht haben Sie recht. Es spricht eigentlich nichts dagegen. Ich habe nichts zu verstecken.“
„Gut, dann rufe ich gleich unseren Fotografen an. Der kann sich schon mal auf den Weg machen. Und wir zwei schreiben Ihre große Geschichte. Machen wir das so?“
„Ja, ist in Ordnung.“
„Gut, fein“, sagte Leon und telefonierte mit der netten Empfangsdame von vorhin: „Schickst du mir Kevin vorbei? Er soll einige Fotos für einen Artikel machen, soll mich mal kurz anrufen. Dann nenne ich ihm die Details und die Adresse und er kann schauen, was er braucht. Ciao, Süße.“
„Mia, wann willst du denn endlich mal aufstehen? Immer dasselbe. Wenn sie frei hat, pennt sie den ganzen Tag.“ Mias Mutter, Yvonne Neumann, war wie üblich schon seit sechs Uhr auf den Beinen und machte für alle nacheinander das Frühstück. Ihr Mann Thorsten war seit fünf Stunden auf der Arbeit. Die Katzen wollten morgens auch gleich ihr Futter und ihre Schmuseeinheiten. Dazwischen blieb dann ein wenig Zeit für Arbeiten im Haushalt.
Mia Neumann nahm das Kissen, deckte es sich über den Kopf und zog die Decke drüber. Sie wollte nur ihre Ruhe, einfach nichts sehen und hören. Nur noch ein paar Wochen, dann könnte sie endlich machen, was sie wollte.
Mia hatte es langsam satt, das fremdbestimmte Leben bei ihren Eltern. Für ihr Nabelpiercing musste sie früher lange Diskussionen aushalten, bei der geplanten Tätowierung am Schulterblatt flippte der Vater fast aus.
„Was meinst du, wie das mit 60 aussieht?“, hatte er gefragt.
„Das interessiert mich doch nicht, ich bin jetzt 16“, antwortete sie damals.
Und so ging es immer weiter. Die Umgestaltung ihres Zimmers nach ihren Vorstellungen, der Motorradführerschein, der erste Freund.
„Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.“
„Schau mal, wie es hier wieder aussieht.“
„So etwas gab es früher nicht. Das hätte ich mir mal erlauben sollen.“
„Pass bloß auf, dass du nicht schwanger wirst. Mach erst einmal deine Ausbildung fertig.“
„Das ist viel zu gefährlich.“
„Bla, bla, bla.“
All diese Sätze ihrer Eltern führten bei Mia zu einem Reizzustand.
„Mia“, tönte es nun etwas bestimmter durch den Flur. „Wenn du frühstücken willst, dann komm jetzt sofort runter! Papa kommt schon bald von der Arbeit und du liegst immer noch im Bett.“
„Oh Mann, ich muss endlich hier raus“, dachte Mia.
Sie quälte sich unendlich müde und gähnend die Treppe hinunter, ging erst einmal auf die Toilette.
Ihr Freund Tim musste schon um halb sieben aus dem Haus. Als Autoschlosser begann die Arbeit um sieben. Sie hatten heute Nacht nicht viel geschlafen. Na ja, mit 17 dürfte das für die meisten eine normale Nacht gewesen sein. Sie hatten mit Freunden noch lange Musik gehört, sich mit PC-Spielen die Zeit vertrieben. Jeder hatte seinen Laptop und diese wurden miteinander per Datenfunknetz verknüpft, und bei Bedarf auch mit vielen anderen jungen Leuten außerhalb des Raumes. Das ging problemlos, weltweit. Hier konnten alle in Fantasiespielen der Realität entfliehen und waren Monster, Ritter, Astronauten, Sexbomben oder was auch immer man sein wollte.
Mia fand es lustig, wenn eine Nachricht innerhalb des Raumes ausgetauscht wurde, obwohl die betreffende Person eine Armlänge entfernt war. Doch es konnte auch reizvoll sein, mit Tim zu flirten und die anderen bekamen nichts mit. Eigentlich war das Leben dieser Generation generell so konstruiert: Sie verabredeten sich online, auch wenn der andere nur eine Straße weiter wohnte.
Natürlich wurde auch was getrunken, um Spaß zu haben. Obwohl Mia bei Alkohol vorsichtig war, um nicht zuzunehmen. Nur wer schlank war, hatte in der Szene eine Chance. Und das hatte Mia recht gut im Griff. Mit 180 Zentimeter und 47 Kilogramm, langen, blonden Haaren und meist topmodisch gekleidet, war sie bei den Jungs angesagt. Doch sie wollte hauptsächlich für Tim gut aussehen.