Braunes Eck - Hans-Jürgen Setzer - E-Book

Braunes Eck E-Book

Hans-Jürgen Setzer

0,0

Beschreibung

Leon Walters, Journalist beim Koblenzer Tageskurier, gerät in seinem dritten Fall mitten in eine Mordermittlung. Ein junger Mann wird erhängt an einem Basketballkorb aufgefunden. Zusammen mit seiner neuen Kollegin, der attraktiven Sportreporterin Vanessa, sucht er nach fesselnden Informationen für die Zeitungsleser. Die unterschiedlichen Charaktere der beiden Hauptfiguren sorgen für die eine oder andere Überraschung. Ihre Recherchen vermischen sich zusehends mit den Ermittlungen der örtlichen Polizei und der beteiligten Geheimdienste. Zur Aufklärung des Mordfalles werden Ermittlungen bei der Bundeswehr, in Afghanistan und natürlich in und um Koblenz notwendig. Leon gerät als Reservist und Journalist, gemeinsam mit dem Leser, zwangsläufig in brisante Situationen. Er nutzt seine Insiderkontakte, um an weiterführende Informationen zu gelangen. Die rechte Szene in und um Koblenz wird gewaltig aufgemischt. Wird Leon Walters auch in diesem Fall entscheidend zur Aufklärung beitragen können? Wie schlägt sich die neue Sportreporterin an seiner Seite? Jeder der drei Romane behandelt ein abgeschlossenes Thema und lässt sich ohne Kenntnis der Vorgeschichte lesen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 428

Veröffentlichungsjahr: 2019

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Hans-Jürgen Setzer

Braunes Eck

Mittelrhein-Krimi

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Braunes Eck

Hans-Jürgen Setzer

Prolog

Der neue Leon

Schrecksekunde

Auf geht’s!

Im Mühlental

Chefsekretariat Koblenzer Tageskurier

Lützel – Sportgelände des Sportvereins rot-weiß

Villa Haberkorn – Koblenz-Oberwerth

Presseabteilung – Polizeipräsidium Koblenz

In Leons Schloss am Rhein

Morgens in der Koblenzer Redaktion

Uff der scheel Seit

Neues vom Förster?

Beim Mexikaner

Wer ist der Scharfschütze?

Vanessa ergreift Eigeninitiative

Ein Wiedersehen mit Marlene

Und was jetzt?

Was hat das alles mit Afghanistan zu tun?

Auf der Yacht im Hafen

Derweil in der Schweizer Bank

Was läuft in Koblenz und auf dem Weg dorthin?

Ein neuer Kontakt im Generalkonsulat der USA

Villa Haberkorn in Koblenz-Oberwerth

Soldatenglück

Oh du schöner Westerwald

In der Zwischenzeit im Bundeswehrzentralkrankenhaus Koblenz

Auswertungstreffen im Koblenzer Polizeipräsidium

Generalkonsulat der USA Frankfurt

Von Ramstein nach Afghanistan

Operation Warlord

Der nächste Warlord wartet schon

Zugriff!

Doch alles kam ganz anders

Endlich wieder nach Hause

Beginn der Verhöre in Koblenz

Ein Verhörraum weiter, direkt um die Ecke

„Wo ist der Wackeldackel?“

Warum müssen eigentlich immer die Kinder leiden?

Andere Rheinseite – gleiches Problem

Des Rätsels Lösung

Oh, wie ist es am Rhein so schön (braun)

Marlenes schwere Entscheidung

Operation Rechtes Ufer

Schwimmunterricht als vertrauensbildende Maßnahme

In der Zwischenzeit bei den ewig Gestrigen

Nachlese

Ein heikler Auftrag

Planung der Butterfahrt mit Fahrer Leon Walters

Hektik bei den Einsatzkräften

Koblenzer Tageskurier

Der erste Artikel einer Serie

Marlene lässt die Katze aus dem Sack, oder doch nur ein Kätzchen?

Vanessa lässt sich nicht länger vertrösten

Ohne Moos nix los

Armageddon in Koblenz

Epilog

Danksagung

Impressum neobooks

Braunes Eck

Mittelrhein - Krimi

Hans-Jürgen Setzer

Impressum

Texte: © Copyright by Hans-Jürgen SetzerUmschlag: © Copyright by Hans-Jürgen Setzer

Verlag: Hans-Jürgen Setzer

Kirchweg 1356244 [email protected]

Druck: epubli, ein Service der

neopubli GmbH, Berlin

Printed in Germany

Prolog

Sporthallen sind von Natur aus Orte, an denen Freude und Leid sehr nahe beieinander liegen. Während der eine gewinnt, verliert der andere bereits. Solange beide Varianten in ausgeglichenem Maße vorkommen, lässt sich ein Verlust für Sportler und Zuschauer sicher verkraften. Jedoch sind gelegentlich bereits die kleinsten Verluste gekoppelt mit Wut und Ärger. Kein Sportler, sei er auch noch so gut, wird lebenslang immer nur vom Glück verwöhnt werden können. Sollte Sport nicht eine spielerische Freizeitbeschäftigung sein? Wie gelingt es überhaupt in einem Spiel solches Leid und derart extreme Gefühle von Unglück hervorzurufen? Warum entsteht solche Wut, solcher Hass, nur weil der eine gewinnt, der andere nicht und der Verlierer sich oft ungerechterweise auf der falschen Seite gelandet sieht? Sei es ein vermeintlich falsch entscheidender Schiedsrichter, einfach Schicksal, schlechte Form oder was auch immer gewesen. Diese Eigenart Dinge nicht zu akzeptieren scheint zutiefst menschlich.

Hat jedoch wie heute, an diesem Ort ein junges Leben sein Ende gefunden, so muss eindeutig festgestellt werden, dass Gefühle eines oder mehrerer Menschen fehlgeleitet worden sind. Selbstmord oder ein Verbrechen, diese Frage stellt sich.

Der neue Leon

Leon stand vor dem Spiegel und betrachtete die neue Version von sich selbst. Seit einigen Wochen experimentierte er mit seinem Bart herum. Bisher war er immer glattrasiert durchs Leben gelaufen. Versuche im Urlaub, sich einen Bart wachsen zu lassen scheiterten regelmäßig nach wenigen Tagen, genau dann, wenn die Haare anfingen kratzig zu werden. „Unvorstellbar, wie das manche Männer aushalten können“, dachte er immer häufiger.

Seit der Trennung von Sophie entwickelte sich ein ganz starkes Bedürfnis, etwas an seinem Äußeren zu verändern. Frauen machten das in Krisenzeiten für gewöhnlich auch. Sie gingen zum Friseur, wechselten Frisur und Haarfarbe, besuchten mehrfach in der Woche das Fitnessstudio, um mit harter Arbeit die Traumfigur zurückzuerobern. Dafür kasteiten sie sich dann obendrein mit Nulldiäten. Endlich passten neue Kleider wieder in den Größen, die nicht mehr förderlich auf eine Depression wirkten. Eine perfekte Ablenkung vom eigentlichen Problem und zudem ein Versuch, den eigenen Marktwert zu verbessern. Wunderbar, die Haare abzuschneiden, wenn der Ex lange Haare so sehr liebte oder wieder schlank oder etwas pummeliger zu sein, wenn der Ex die Pölsterchen liebte oder kritisch beäugte. Dem Alten damit im Nachhinein noch eins auswischen – ja!

Auch Leon spürte das Bedürfnis nach einem neuen Körper- und Lebensgefühl, und sei es nur um den Eindruck von sich zu verbessern, wenn er an einem Spiegel vorbeikam. Begonnen hatte er sein Experiment mit einem Vollbart. Die Rückmeldungen seiner Umgebung kamen prompt: „Oh, Sie sehen ja völlig verändert aus! Haben wir uns so lange nicht gesehen? Ein Bart steht Ihnen aber wirklich gut! Er macht Sie irgendwie männlicher.“ Leon fühlte sich dennoch nicht wirklich wohl in dieser kratzigen Haut und er mochte es auch nicht besonders im Mittelpunkt zu stehen und von allen Seiten ganz genau betrachtet zu werden. Ein eigens dafür beschafftes Bartöl half auch nicht wirklich lange gegen diese Borstigkeit. Immer wieder griff er prüfend zu seinen Barthaaren. In der aktuellsten Version versuchte er es mit einem Bart rund um den Mund, ohne die Backenpartien wachsen zu lassen. Die gepflegte Bartversion schien offenbar bei vielen gut anzukommen und bestätigte ihn somit grundsätzlich in seiner Idee.

Jedes Mal, wenn er vor dem Spiegel stand, musste er über und mit sich selbst lachen. „Schon besser. Ist es das vielleicht schon? Es wirkt ein wenig verschmitzt. Mal sehen. Auf geht es Leon, das schönste Leben wartet auf dich! Du musst nur lernen, es zu sehen und es zuzulassen.“

Schrecksekunde

Die Pausenglocke klingelte schrill in der Schulsporthalle des Stadtteils Koblenz-Lützel und ließ erkennen, dass zu anderen Tageszeiten Schulkinder hier in Bewegung und zum Schwitzen gebracht werden sollten. Die Schüler waren zu dieser Zeit bereits lange bei ihren Familien.

Milena Hofmann stellte ihr Fahrrad vorsichtshalber in den Fahrradständer vor dem Gebäude und schloss es mit einem extra stabilen Fahrradschloss fest. Schließlich konnte man nie wissen, jedenfalls nicht in Lützel. Die Kriminalitätsrate schien in diesem Stadtteil, gefühlt jedenfalls, deutlich höher, als anderswo in Koblenz. Im Freundes- und Verwandtenkreis erzählten einige von Beulen am Auto, ohne die Bereitschaft eines Verursachers, am Ende auch für die Reparatur aufzukommen, von gestohlenen Fahrrädern, Körperverletzung auf offener Straße und so weiter. Gut, Lützel hatte sich die letzten Jahre ein wenig gemausert, seit zunehmend mehr Studenten dorthin zogen, weil es sich dort günstiger wohnen ließ als im restlichen Koblenz. Die heile Welt war dennoch eher woanders zu suchen, in Oberwerth vielleicht, jedenfalls oberflächlich betrachtet.

Milena hatte vor einigen Wochen mit Tobi Schluss gemacht. Sie waren fast die gesamte Oberstufe über ein Paar gewesen. Es fiel ihr heute ganz und gar nicht leicht hierher zu kommen. Die letzten Wochen grenzten schon fast an Stalking. Ständig war Tobi immer wieder genau dort aufgetaucht, wo Milena unterwegs gewesen war. Er beobachtete sie nur aus der Ferne, sprach nicht mit ihr, verhielt sich wie ein Schatten. Geklärt wurde auf diese Weise natürlich nichts zwischen ihnen, ganz im Gegenteil. Langsam wurde ihr dieses Verhalten unheimlich, wenn er beispielsweise abends zu Fuß, mit dem Rad oder auch seinem Cabrio ganz langsam an Milenas Wohnhaus vorbeikam und einfach nur schaute. Vermutlich wollte er nur nachsehen, ob es einen anderen Mann in ihrem Leben gab, vielleicht auch ob sie zu Hause war und was sie gerade machte. Das Telefon hatte häufiger geklingelt, ohne Anzeige einer Rufnummer und am anderen Ende der Leitung war kein erkennbares Lebenszeichen zu hören, höchstens ein leises Atemgeräusch war hin und wieder zu erahnen.

Sie hatte sich daraufhin ein Herz gefasst und wollte ihn entweder bei einem kleinen Spaziergang oder einem Getränk zur Rede stellen. Sie wusste, dass er vermutlich heute zum Training gehen würde, denn das war ihm in all den gemeinsamen Jahren immer sehr wichtig gewesen. Körper und Aussehen hatten absoluten Vorrang gehabt.

Das Training war offensichtlich früher beendet worden oder eventuell sogar ganz ausgefallen, denn es standen weder Fahrräder noch sonstige Fahrzeuge vor der Halle geparkt. Nur ein einzelnes Fahrrad wartete einsam in seinem Ständer, bis es Gesellschaft bekommen hatte von Milenas bestem Gefährt(en). Milena erkannte das Rad sofort. Es gehörte Tobi.

„Mal sehen, das sieht gar nicht so gut aus. Es ist keine Menschenseele zu sehen. Wenigstens einige Menschen in der Nähe wären mir heute schon lieber gewesen, falls ich auf Tobi treffen sollte. Glück gehabt, die Tür ist jedenfalls nicht verschlossen“, dachte Milena und ging durch den Flur zur Umkleide. Vorsichtig klopfte sie an. Sie hatten schon in vielen Lebenslagen Zeit miteinander verbracht. Dennoch fand sie es unpassend, Tobi womöglich mehr oder weniger unbekleidet anzutreffen. Es brannte noch Licht, doch weder aus den Duschräumen noch aus der Umkleide selbst hörte man irgendein Geräusch. „Hallo?“, versuchte sie es erneut. Der Ruf schallte durch die hohen leeren Räume. Keine Antwort.

Milena ging zur großen Sporthalle, obwohl es ihr unwahrscheinlich vorkam, dass Tobi noch alleine dort sein sollte. Vielleicht wollte er noch ein paar Bälle werfen. Das machte er manchmal, am liebsten ganz alleine, wenn ihn niemand dabei beobachten und kritisieren konnte. Kritik mochte er nämlich generell nicht besonders. Er konnte dann sehr schnell beleidigt sein und noch viel häufiger selbst beleidigend werden.

Die große Hallentür war nur schwer zu öffnen, besonders für so ein Leichtgewicht wie Milena. Sie musste sich daher mit dem ganzen Körper dagegen werfen. „Hallo? Ist hier jemand? Tobi?“, hörte sie sich erneut rufen.

„Oh mein Gott! Nein! Tobi!“ Sie rannte so schnell sie konnte ans andere Ende der großen Halle. Ein durchtrainierter männlicher Körper in kurzer Sportkleidung hing am Metallring des Basketballkorbs und baumelte langsam wie ein Uhrpendel hin und her und wippte dabei leicht rauf und runter. Für dieses Gewicht schien der Basketballkorb nicht gebaut zu sein. Sie schaute nach oben. Sein Gesicht wirkte aufgedunsen, blaurot verfärbt und völlig entstellt. Seine Zunge stand etwas hervor. „Schrecklich, was mache ich denn jetzt nur?“ Ihr war klar, dass sie Tobi nicht mehr helfen konnte. Er war ohne Zweifel schon eine Weile tot. Augenblicklich schoss ein Schwall ihres Mageninhaltes ungebremst aus ihr heraus und klatschte auf den blanken, harten Hallenboden. Sie fiel auf ihre Knie, hielt sich augenblicklich die Hände vor das Gesicht und weinte. Sie weinte und weinte und weinte … die Zeit verrann, ohne dass Milena hätte sagen können, wie lange sie so auf dem Boden verharrt hatte.

Eine ältere männliche Stimme hallte von hinten durch den Halleneingang: „Hallo? Ist hier jemand? Wer verdammt noch mal hat hier wieder überall das Licht brennen lassen und alle Türen stehen sperrangelweit offen? Verdammte Schlamperei. Wenn man nicht alles wirklich selber macht. Da könnte ja jeder…“, fluchte er ohne Unterbrechung, während er die Turnhallentür öffnete. „Oh mein Gott, was ist denn hier los?“, fragte er und rannte auf den toten Körper zu.

Milena zuckte zusammen und konnte vor lauter Tränen und zerlaufenem Makeup kaum etwas sehen.

„Ich hole eine Leiter“, rief er und lief schon wieder zum Eingang, um nur wenig später mit einer größeren Stehleiter zurückzukommen. „Wie zum Teufel, ist der da oben überhaupt rangekommen, ohne Stuhl und Leiter?“, fragte der ältere Herr. Es handelte sich vermutlich um den Hausmeister, jedenfalls seinem grauen Kittel nach zu urteilen. „Mädchen, was war denn hier nur los?“, fügte er an. „Jetzt rede doch endlich!“

„Ich weiß es doch auch nicht. Ich habe ihn gerade eben so hier gefunden“, sagte sie und weinte erneut.

Der Hausmeister erkannte, dass es keinen Sinn machen würde, die Leiche alleine abzuhängen, zumal die Polizei das auch bestimmt nicht gut finden würde. Tot war er allemal, vermutlich sogar schon etwas länger. Soviel war ihm bereits klar. Von der jungen Frau bekam er jetzt sowieso gerade keine sinnvolle Information. „Komm, du musst jetzt erst mal raus an die Luft. Wir rufen jetzt die Polizei.“ Er legte den Arm um Milena und führte sie nach draußen. Dieses zarte Geschöpf konnte auf gar keinen Fall die Täterin sein, von ihr ging also mit Sicherheit derzeit auch keine Gefahr für ihn aus, so mutmaßte er jedenfalls.

Auf geht’s!

Leon Walters saß in der Redaktion des Koblenzer Tageskuriers und machte ein Gesicht, als würde am heutigen Tag noch die Welt untergehen oder als wäre es gerade eben passiert, und er musste völlig hilflos dabei zuschauen. Die Sache mit Sophie ging ihm einfach nicht mehr aus dem Kopf. Es fühlte sich doch über Monate hinweg so gut an – so richtig. Und dann...

„Walters, was machst du denn heute wieder für ein Gesicht?“, fragte die neue Kollegin aus der Sportredaktion, die ihrem nervigen Vorgänger diesbezüglich in nichts nachstand. „Ist heute schon irgendetwas Schlimmes passiert? Kann ich dir irgendwie helfen? Einen starken Kaffee vielleicht? Ein gemeinsames Frühstück und du kannst dich dabei mal so richtig aussprechen? Ich bin eine gute Zuhörerin“, kam Angebot für Angebot wie aus der Pistole geschossen.

Leon zuckte förmlich zusammen und wurde gnadenlos in das wirkliche Leben zurück gerissen.

Es war für Leon nicht zu übersehen gewesen: die neue Kollegin suchte schon seit einigen Tagen engeren Anschluss. Einfach war es für sie bestimmt nicht. Paffrath, der Verlagschef, hatte sie kurzfristig eingestellt und als Berufsneuling einfach ins kalte Wasser geworfen. Ihr Vorgänger, ein alter erfahrener Hase war zudem noch beliebt gewesen bei den Kollegen und im Zusammenhang mit Leons letztem Fall auf tragische Weise ums Leben gekommen. Im Moment schaute jeder, ob die Neue wirklich in die Fußstapfen passen würde. Offensichtlich fühlte sie sich im Tageskurier abgeschottet und brauchte Verbündete – das war überlebenswichtig in diesem Job und besonders beim Koblenzer Tageskurier. Journalismus lebte letztendlich von Kontakten, Erfahrung, einem Quäntchen Glück und natürlich etwas Geschick neben dem handwerklichen Können. Leon war seit einigen Tagen zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen und hatte sie daher immer wieder abblitzen lassen.

„Du, das ist wirklich lieb von dir. Danke für das tolle Angebot. Vielleicht komme ich später noch darauf zurück. Ich brauche im Moment erst einmal etwas Zeit zum Nachdenken – und zwar ganz für mich alleine. Den starken Kaffee nehme ich trotzdem gerne“, antwortete Leon mit einem traurigen Unterton, der langsam überging in eine etwas gebesserte Stimmung. Immerhin schien er seiner Umwelt nicht egal zu sein und das zu spüren tat einfach gut.

„Wird prompt erledigt, Kollege“, antwortete die braungebrannte höchstens 25-jährige Sportreporterin. „Sorry, das war wirklich nicht böse gemeint. Ich möchte dir nicht zu sehr auf die Pelle rücken“, fügte sie im Gehen noch an.

„Sie passt sehr gut in diese Rolle“, dachte Leon und musterte seine Kollegin von hinten, während sie zur Kaffeeküche lief. „Meistens trägt sie Sportkleidung, hat einen gut durchtrainierten Körper, die blonden Haare zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden als wollte sie jeden Moment losjoggen und würde ich sie unter der Dusche besuchen, so wäre mit Sicherheit ein Sixpack und kein Gramm Fett zuviel unter der engen Oberbekleidung aufzufinden“, dachte er. „Und erst dieser perfekte Po...“, Leon schüttelte mit dem Kopf. Dabei glitten seine Gedanken wieder zu Sophie, seiner Ex. Vanessa, seine neue Kollegin erinnerte ihn in Vielem an Sophie. Der Po und der Pferdeschwanz von hinten, ein Gedankensprung und schlagartig war die Laune wieder im Keller.

„Jetzt reiß dich mal zusammen, die arme Kollegin kann ja nichts dafür und braucht im Moment wirklich selbst jede Unterstützung, die sie kriegen kann“, dachte Leon.

„So, voilà, ein Kaffee für den Herrn“, sang Vanessa und brachte eine große Tasse des dampfenden Getränks, arrangiert mit einem kleinen Keks, Milch und Zucker auf der Untertasse. „Kann ich sonst noch etwas Gutes für dich tun?“

„Danke, Liebste. Du, hör mal Vanessa, ich habe mir das Ganze doch noch einmal anders überlegt. Lass uns bei dem herrlichen Wetter irgendwohin zu einem schönen Frühstück in die Stadt fahren, falls du die freie Zeit überhaupt aufbringen kannst. Ich kann mich hier drinnen gerade sowieso nicht gut konzentrieren. Also, offiziell fahren wir natürlich zu dringend notwendigen Recherchen oder zu einem unaufschiebbaren wichtigen Arbeitsessen, falls der Alte fragt. Es ist besser, wenn der nicht immer alles mitkriegt. Das wirst du noch merken. Wenn der alte Haifisch genau die Fische als Futter bekommt, die er gerne mag, sind alle glücklich und zufrieden. Wehe, wenn er hungrig ist oder verdorbenen Fisch bekommt. Wir sollten gemeinsam besprechen, wie wir uns hier wechselseitig das Leben ein wenig leichter machen können“, erklärte er.

Ein Lächeln kam auf Vanessas Gesicht. „Prima Idee, Leon. Du kannst mir bei der Gelegenheit gerne erklären, welche Fische von Haien, speziell natürlich unserem Lieblingshai am allerliebsten gefressen werden und seinem Blutdruck zuträglich sind. Wann wollen wir los?“ Sie tänzelte dabei wie ein junges Mädchen, das sich auf eine tolle Überraschung freut.

„Ich trinke diesen leckeren Kaffee, serviert von einer bezaubernden jungen Dame erst noch aus, dann können wir“, antwortete er und nippte an der Tasse. Er packte ein paar Sachen vom Schreibtisch zusammen, steckte sie in seine Ledertasche, trank nebenher seinen Kaffee in großen Zügen leer, steckte sich den Keks in den Mund und blies damit zum Aufbruch. „So, jetzt nur nicht dem Alten in die Arme laufen“, dachte er mit einem verschmitzten Gesichtsausdruck.

„Wer fährt?“, fragte Vanessa schnippisch, den Wagenschlüssel schon in der rechten Hand parat. „Glaubst du, du kannst eine Frau am Steuer verkraften?“

„Das hängt ganz von deinem Fahrstil ab. Vergiss nicht, ich für meinen Teil habe jedenfalls heute noch nicht richtig gefrühstückt“, frotzelte Leon.

Sie fuhren mit dem Fahrstuhl in die Tiefgarage bestiegen eines der zahlreichen, nahezu identischen Fahrzeuge der Verlagsflotte. „Koblenzer Tageskurier – Wir bringen es – morgens und auf den Punkt“, war auf allen Wagen auf der Außenseite zu lesen. Mit quietschenden Reifen und unruhigem Gasgeben fuhr Vanessa die steile Ausfahrt hoch, um Leon ein wenig zu beeindrucken.

„Na, na, wir sind auf der Arbeit, nicht auf der Flucht“, stieß Leon etwas überrascht aber witzig gemeint hervor und hielt sich demonstrativ mit beiden Händen am Griff über der Tür fest als wäre er Teilnehmer einer Rallye.

„Wohin fahren wir eigentlich?“, fragte sie ohne weiter auf den Fahrstil einzugehen.

„Wie wäre es mit dem Mühlental? Da gibt es heute in einem kleinen aber feinen Lokal leckeren Brunch vom Buffet, wir wären außerdem ungestört, denn dorthin verirrt sich sicher so leicht kein Tageskurierler“, antwortete er. In der Stadt oder im Weindorf kommen wir vielleicht sonst noch in Erklärungsnot.

„Klingt gut, Gerede brauchen wir im Moment sicher beide nicht. Ich bin schon froh, wenn ich erst einmal die Füße auf die Erde bekomme und ein paar gute Artikel in den Sportteil“, sagte sie mit einem kleinen Seufzer in der Stimme.

„Das wird schon. Gib dir und den anderen etwas Zeit. Der Tod deines Vorgängers steckt allen noch ziemlich in den Knochen. Weißt du, dass es eigentlich mich erwischen sollte? Hätte er nicht, wie schon so oft, von den für mich bestimmten Pralinen genascht, könnte er jetzt weiter die Leute nerven, nur mich vielleicht nicht mehr“, frotzelte er.

„Ach, das krieg ich sicher auch hin“, flirtete sie mit einem Augenzwinkern und einem schrägen Blick. „Im Vernaschen und Nerven bin ich ziemlich gut. Sorry, das klingt jetzt bestimmt pietätlos. Es tut mir natürlich sehr leid für den Kollegen.“

„Hey, Vorsicht, du legst ja ein Tempo vor, da schießt das Blut wie eine Achterbahn von oben nach unten und umgekehrt“, sagte er mit einem verschmitzten Lächeln im Gesicht. „Da vorne rechts ab und dann immer geradeaus. Wir sind gleich da, falls uns nicht ein entgegenkommender Lkw erwischt.“

„Die Geschichte mit meinem toten Vorgänger habe ich natürlich schon erzählt bekommen. Auf deine Version freue ich mich aber ganz besonders“, fügte Vanessa noch an, um nicht desinteressiert zu wirken.

Im Mühlental

Begrüßt wurden beide von einer herrlichen Duftmischung bestehend aus Kaffee, frischen Brötchen, einem Hauch von Croissants, Speck, Eiern, Orangen- und Fruchtsäften.

„Hm, da läuft einem ja wie immer das Wasser im Mund zusammen“, sagte Leon zur Bedienung und lächelte voller Vorfreude, während er am Buffet vorbeilief.

„Boah, nee, das ist ein wahres Kalorienfeuerwerk“, stöhnte Vanessa beim fast panischen Blick auf das Buffet.

„Ach was, hier ist doch auch frisches Obst, Müsli, Magerquark, Wasser, Kaffee schwarz, das volle Programm für Kalorienbewusste und Sportreporterinnen mit Kleidergröße 36. Und zurück läufst du, wenn du mir jetzt weiter den Appetit verdirbst“, witzelte er mit gespieltem strengem Unterton.

„Werde ich wohl müssen. Du kannst es dir ja leisten. An einem Mann stört so ein kleines Bäuchlein vielleicht nicht. Also nicht, dass du eines hättest, aber ich muss wirklich aufpassen“, sagte sie wehmütig und packte mit der rechten Hand eine Hautfalte am Bauch, als wäre dort ein Speckröllchen. „Ich nehme nur einen Kaffee, schwarz.“

„So ein Quatsch, du hast doch eine perfekte Figur. Komm, sei kein Frosch, wir sündigen heute einfach mal zur Feier des Tages und trainieren es nachher zusammen wieder runter“ schlug Leon vor.

„Ferkel!“, kam prompt die Antwort.

„Vanessa, was du wieder denkst. Ich jogge abends am Rhein entlang“, sagte er etwas empört. „Und da könnten wir doch zusammen beim Laufen den Arbeitstag ausklingen lassen, wenn du magst oder auch in meinem Fitnessstudio. Zu Einzelterminen darf man hier Gäste mitbringen.“

„Entschuldigung! Ich dachte schon … Weißt du überhaupt, wie lange du durchlaufen musst, um so ein fettiges Speck-/Eier-Frühstück wieder runter zu trainieren?“, fragte sie um abzulenken und doch wieder auf den für sie entscheidenden Punkt zurück zu kommen.

„Ehrlich gesagt, ich will es gar nicht wissen. Es reicht doch, genau so weit zu laufen, bis das Gewissen wieder beruhigt ist. So ein Frühstück beunruhigt mich ohnehin nicht. Frühstücken wie ein Kaiser, Mittagessen wie ein König und Abendessen wie ein Bettelmann sagte schon irgendein schlauer Kopf. Gibt es ein Leben vor dem Tod, frage ich da eher immer, wenn man sich wirklich alles verbieten soll?“

„Sicher eher ein ganz kurzes, bei dem Fett- und Cholesterin-Buffet hier. Und der Rettungswagen braucht bei dem zu erwartenden Herzinfarkt auch viel zu lange hier ins Mühlental“, spottete sie und verzog angewidert das Gesicht. „Diese alte Regel mit Kaiser, König und Bettelmann ist außerdem nicht mehr zeitgemäß. Wenn du dir morgens den Bauch voll haust, bist du danach hundemüde und kannst gleich wieder ins Bett gehen. Vielleicht stammt der Satz wirklich von einem Kaiser mit tausend Bediensteten und fetter Wampe unter seiner Robe“, spottete sie.

„Das ist hoffentlich jetzt alles nicht dein ernst“, kommentierte Leon den traurigen Beginn des Tages. „Du erlaubst dir einen Spaß mit mir, oder? Du wolltest doch diesen Ausflug heute in erster Linie, erinnerst du dich?“, fügte er an.

Vanessa fing an zu weinen. „Ich kann das einfach alles nicht mehr. Tut mir leid, tut mir wirklich leid. Ich weiß, ich bin echt schrecklich. Keiner kann mich längere Zeit ertragen.“ Sie legte die Hände vor ihr Gesicht. Tränen kullerten.

„Hey, so schlimm war das jetzt auch wieder nicht. Alles gut. Auf zickig steh ich ehrlich gesagt sogar ein bisschen“, versuchte Leon zu trösten und legte die Hand auf ihre Schulter. „Mein Gott, ist die kompliziert“, dachte er jedoch gleichzeitig. „Warum passiert das eigentlich immer mir? Ständig gerate ich an attraktive sympathische junge Damen, die leider bei genauerem Hinsehen völlig durchgeknallt sind.“

Vanessa sprang auf und lief nach draußen, sehr zur Überraschung von Leon. Er stand auf, zuckte in Richtung der erstaunt schauenden Bedienung mit den Schultern und trottete zwangsläufig hinterher. „Tut mir leid, ein anderes Mal vielleicht“, verabschiedete er sich ein wenig traurig von der Dame und vom leckeren Buffet. Er folgte Vanessa nach draußen. Diese lief bereits in einiger Entfernung eiligen Schrittes die enge Straße des Mühlentales hinunter. Leon nahm den Wagen. Zum Glück hatte sie den Schlüssel auf dem Tisch liegen lassen und fuhr ihr mit heruntergekurbelter Scheibe hinterher.

„Vanessa, komm beruhige dich wieder. Steig doch bitte ein!“, sagte er.

„Lass mich einfach in Ruhe!“, schluchzte sie wütend und schaute demonstrativ in eine andere Richtung als hätten sie Streit miteinander.

Leon fuhr ein paar Meter voraus, stieg aus und wartete am Wagen angelehnt bis sie aufgeholt hatte.

Vanessa fiel dem völlig verdutzten Leon um den Hals und küsste ihn auf den Mund. „Komm, wir gehen frühstücken! Ich habe jetzt einen Bärenhunger“, sagte sie.

„Okay, da verstehe mal einer die Frauen“, fiel Leon nur kleinlaut ein. Auf eine neuerliche Diskussion hatte er im Moment ganz bestimmt keine Lust. Also fuhren sie zurück zum vielversprechenden Frühstücksbuffet. Die Bedienung schaute mindestens genauso verdutzt wie Leon sich fühlte, als sie nach wenigen Minuten erneut das Restaurant betraten.

Sehr zur Überraschung von Leon haute Vanessa nun tatsächlich rein, lud sich ganze Berge von Leckereien auf ihren Teller und aß diese zu seinem Erstaunen ohne zu murren und mit deutlich vernehmbaren Geräuschen auf. Zunächst streiften die Themen den Vorgänger von Vanessa in der Sportredaktion, Paffrath, den Chef, Dinge die man tun und solche die man besser lassen sollte beim Tageskurier und gegen Ende wurde es etwas privater.

„In meinem Genre, bekommst du ohne Witz die wichtigsten Hinweise beim Essen mit den Informanten“, gestand Leon. „Deshalb war stets eine meiner wichtigsten Regeln: ich versorge sie mit etwas Leckerem, sie mich mit etwas Pikantem“, verriet er mit einem Lächeln und genoss kauend sein Spiegelei. „Gut, für den Sportteil gelten sicher andere Gepflogenheiten. Ich kann dich mal mit Karlchen bekannt machen, wenn du willst. Er dürfte Fußballer eigentlich sogar bis zur Bundesliga trainieren, hat hauptberuflich aber immer in verschiedenen Sportredaktionen gearbeitet und nur nebenher zweit- und drittklassige Mannschaften betreut, der alte Idealist und Sozialromantiker. Er hat sicher ein paar Tricks für dich auf Lager. Sein Chef sagte immer, dass Karlchen noch einem Beduinen in der Wüste Sand verkaufen könnte. Von den alten Hasen kann man oft noch was lernen, auch wenn das die Jüngeren nicht so gerne hören“.

„Bist du in einer festen Beziehung?“, fragte sie völlig unvermittelt und aus dem Zusammenhang gerissen und blickte auf seine Hand, nahm diese schlussendlich mit ihrer Hand als wäre es ein Juwel. „Du trägst keinen Ring, dein Kleidungsstil – entschuldige bitte - lässt ganz sicher auf einen eingefleischten Single schließen und so manch andere kleine Details auch“, verriet Vanessa und tat geheimnisvoll und neugierig zugleich, wechselte dabei auch den Tonfall ins Verführerische.

„Nein, frisch getrennt quasi“, antwortete er überrumpelt und etwas verwirrt. „Deshalb wollte ich heute Morgen lieber alleine sein. Die Sache geht mir noch ziemlich nach“, gestand er und der Gesichtsausdruck sprach Bände. „Gefällt dir mein Kleidungsstil etwa nicht?“, fragte er an sich herunterschauend.

„Oh, sorry. Doch, klar. Ich wollte dir nicht zu nahe…“

„Nein, schon okay. Es ist ja nicht zu übersehen wie es mir wirklich geht, und bevor die Umgebung meine schlechte Laune noch auf sich bezieht, ist es vielleicht besser mit der Sprache endlich rauszurücken. Also, ich bin unglücklich getrennt seit einer Woche. Jetzt ist es raus. Es scheint leider endgültig. Sophie und ich gehen uns aus dem Weg und außerdem“ – Leon stockte, „es gibt ganz offensichtlich einen anderen in ihrem Leben und wenn Sophie sich erst einmal für etwas entschieden hat … sie hat einen gewaltigen Dickschädel musst du wissen.“

„Oh, scheiße! Entschuldige den Ausdruck“, rutschte es Vanessa spontan heraus. „Das tut weh! Ich kenne das leider zur Genüge. Mit mir hält es auch niemand länger aus. Wie lange seid ihr zusammen gewesen?“

„Fast zwei Jahre wären es jetzt“, antwortete er traurig. „Stürmische Zeiten, einerseits mit den schönsten Erlebnissen meines Lebens und andererseits den tiefsten Tiefen – leider. Also bildlich gesprochen echt wie auf einer Achterbahn im Freizeitpark“, fügte er an. „Mittelmäßigkeiten waren nicht so ihr Ding, immer nah dran an den Extremen. Je außergewöhnlicher desto besser und heute so und morgen so, keine konstante gerade Linie erkennbar“, philosophierte Leon etwas wehmütig. „Dabei wirkte sie anfangs so lieb, vernünftig und ausgeglichen auf mich. Je näher wir uns kannten, desto skurriler wurde ihr Auftreten.“

„Also langweilig war es dann mit ihr bestimmt nicht. Klingt eigentlich nicht wie die Frau zum Verlieben und Altwerden, klingt eher wie … ich“, entgegnete Vanessa überrascht. „Passt irgendwie gar nicht zu dir, Leon“, fügte sie nachdenklich an.

„Doch, unbedingt! Völlig chaotisch, unberechenbar, aber ohne Zweifel liebenswert, so süß verpeilt, zickig und dazu auch noch gesegnet mit einem sexy Körper“, Leon weinte fast, zog ein Foto aus der Brieftasche und legte es vor Vanessa auf den Tisch.

„Wow, bildhübsch. Polizistin, Wahnsinn! Diese Augen, die Haare, Hammerfigur und was für ein tolles Gesicht. Ja, keine weiteren Fragen, euer Ehren“, sagte sie kleinlaut. „Freispruch in allen Punkten für dich. Dagegen bin ich ein hässliches Entlein. Ab – zurück ins Gehege zu den anderen grauen Enten“, seufzte sie leise hinterher.

„Vanessa, jetzt hör aber mal auf damit. Du bist eine bildhübsche intelligente junge Frau. Hast vielleicht auch, genauso wie ich, Pech gehabt und bist immer an die falschen geraten. Wir können ja eine Selbsthilfegruppe gründen“, lenkte er ab und versuchte ein Lächeln, obwohl ihm eher zum Heulen zumute war.

„Gründungsversammlung heute Abend nach dem Laufen?“, fragte sie verschmitzt und blitzschnell die Chance ergreifend.

„Sei mir nicht böse, ich brauche wirklich noch etwas Zeit“, antwortete er.

„Schon gut! Dann muss ich meine Kalorien wohl doch alleine loswerden – irgendwie. Ein guter Käse und ein guter Wein müssen ja auch reifen“. Sie zwinkerte ihm zu und gab ihm ein Küsschen auf die Wange.

„Oh Mist, stimmt, ich hatte dir ja versprochen, dass wir das Essen gemeinsam wieder abtrainieren. Ein Mann, ein Wort. Dann fahren wir jetzt erst mal was arbeiten und entscheiden einfach später, ob und wie wir das machen könnten – okay?“, fragte er.

„Gut, ich für meinen Teil würde mich jedenfalls auf eine gemeinsame Trainingseinheit freuen. Reden wir später drüber“, kam die spontane und im Tonfall etwas zweideutige Antwort mit einem Augenzwinkern.

Chefsekretariat Koblenzer Tageskurier

„Ist mal wieder typisch, wir haben einen der sensationellen Mordfälle im Koblenzer Sportmilieu der letzten zehn Jahre und alle zuständigen Reporter sind wie im Bermuda-Dreieck verschollen“, fluchte die Chefsekretärin von Herrn Paffrath. „Mir reicht es jetzt langsam! Letzter Versuch mit einer Nachricht aufs Handy. Mit diesen Journalisten zu arbeiten ist tausendmal schlimmer, als einen Sack Flöhe zu hüten“, dachte sie.

Fast zeitgleich gaben die Smartphones von Leon und Vanessa den jeweils bevorzugten Signalton ab. Beide sollten im Auftrag vom Alten sofort gemeinsam zu einem Koblenzer Sportverein fahren. Eine Leiche sei am Basketballkorb hängend in einer Turnhalle gefunden worden.

„Wusste der Alte etwa schon wieder von dem kleinen Ausflug der beiden“, fragte sich Leon. Es würde ihn jedenfalls nicht wundern. Leon war klar, die besten Fotos und Informationen waren nur in den allerersten Minuten möglich, bevor die Polizei alles abgesperrt hatte. Der Tageskurier bekam seine Informationen durch diverse Kontaktleute, oft sogar bevor die Polizei zum Tatort gerufen wurde. Danach lief alles nur noch über den Pressereferenten der Polizei und war langweiliger Einheitsbrei für alle. Sollte es ein Selbstmord gewesen sein, würde die Sache ohnehin schwierig werden, denn ein alter Ehrenkodex verbat dann jegliche detaillierte Berichterstattung aus Angst vor Nachahmern.

„Was hat das überhaupt mit Sport zu tun?“, tobte Vanessa.

„Na, ist Basketball für dich etwa kein Sport?“, sagte Leon lachend. „Sieh es doch mal sportlich, das ist eine prima Möglichkeit direkt die wichtigsten Führungspersonen dieses Sportvereins in kürzester Zeit kennen zu lernen. Nutze diese perfekte Gelegenheit einfach für dich als Türöffner“, fügte er beschwichtigend an. „Außerdem scheint der Alte uns ja, warum auch immer, explizit beide in diesem Fall haben zu wollen. Also … füttern wir ihn mit seinen Lieblingsfischen und alles andere findet sich mit Sicherheit vor Ort“, witzelte er.

„Vielleicht hast du ja recht“, kam nach einer Weile des Nachdenkens. „Besser frische Fische, als Konserven“, stimmte sie in Leons Bild ein.

„So gefällst du mir schon besser. Das wäre doch gelacht, wenn wir aus dir nicht noch eine ausgefuchste Topjournalistin machen werden.“

Instinktiv hatte Leon das Fahren übernommen, ohne sich mit Vanessa erneut darüber abzustimmen. Auch er fuhr einen heißen Reifen über die Pfaffendorfer Brücke in Richtung Innenstadt. Sie durften keinesfalls unnötig viel Zeit verlieren. „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben, die Konkurrenz oder der alte Paffrath“, stand im Aufenthaltsraum des Koblenzer Tageskuriers auf einem alten schwarzweißen Porträtfoto des alten Paffrath. An diese Journalistenbinsenweisheit musste er unweigerlich denken. Wer mochte das Ding da wohl aufgehängt haben, womöglich noch er selber.

„Hey, hey, schon mal was von Radarfallen und Starenkästen an blutorangenen Ampeln gehört? Außerdem möchte auch ich gerne den Abend noch erleben, jetzt wo er doch so vielversprechend werden könnte“, maulte Vanessa auf liebevolle Art.

„Du glaubst doch nicht wirklich, dass wir einen schönen Abend haben werden. In Lützel ist gerade eine Leiche gefunden worden. Die ist noch warm und die Story muss schnell in den Kasten, bevor sie kalt wird“, erklärte er. „Sonst macht uns Paffrath morgen früh die Rübe runter. Und so ein schönes Köpfchen wie deines, macht sich allemal besser auf dem ebenso süßen und wohlgeformten Hals“, sagte er und warf ihr einen liebevollen Blick zu. „Kalorien werden wir vermutlich bei dem Stress auch genügend verbrennen. Und wenn die Story fertig ist, schauen wir mal, was wir mit dem Rest der Nacht anzufangen wissen“, fügte er schnippisch an.

„Baggerst du mich etwa schon wieder an?“, fragte Vanessa mit einer Mischung aus Entsetzen und Verzückung und schaute ihn dabei durchdringend an.

„Diese Entscheidung wollten wir doch auf später vertagen. Erst die Arbeit, dann …“, kam spontan die vorsichtshalber unvollständig gelassene Antwort. „Kannst du aus dem Koffer auf dem Rücksitz schon mal die Kamera startklar machen? Wir sind nämlich gleich da. Und lange werden wir sicher nicht die Gelegenheit bekommen, die interessantere Art von Fotos zu machen. Auch wenn wir die meisten von den Horrorfotos sicher nicht drucken können, als überarbeitete Version können wir das eine oder andere vielleicht nutzen“, dozierte er.

„Wird erledigt Boss“. Sie salutierte wie eine Soldatin.

„Hey, wir sind ein Team auf Augenhöhe. Die Rollenverteilung nehmen wir vor, wenn die Situation vor Ort klarer ist. Vielleicht ist eine hübsche junge Reporterin sogar viel besser geeignet, um vom männlichen Fotografen abzulenken. Wir schauen gleich mal, was besser ist“, sagte Leon.

„Von dir kann ich vielleicht wirklich eine Menge lernen“. Vanessa kramte die Kamera aus dem Ausrüstungskoffer und machte sich damit vertraut. „Schön, wenn deine Rollenbilder nicht so klischeehaft altmodisch sind“, fügte sie an.

Lützel – Sportgelände des Sportvereins rot-weiß

„Ach du dickes Ei, heute mache ich besser die Fotos“, sagte Leon als sie an der Turnhalle vorfuhren. Seine Stimmung wechselte schlagartig ins Unterirdische.

„Was ist denn mit dir plötzlich los?“, fragte Vanessa, entdeckte außerhalb des Wagens jedoch schon die Antwort. „Oh nein, das ist bestimmt Sophie, nicht wahr?“

„Ja“, sagte er kurz angebunden. Leon nahm ihr die Kamera aus der Hand und hielt sie vors Gesicht, als könnte man nur hierdurch den rechten Weg erkennen. Dabei rannte er wie ein geölter Blitz in einem großen Bogen, vorbei an erstaunt blickenden Polizeibeamten in Richtung Turnhalle. Doch niemand versuchte ihn aufzuhalten.

Vanessa folgte ihm mit etwas Abstand und im Laufschritt, wählte aber eine Abkürzung. „Hey, jetzt warte doch mal auf mich, Leon“, rief sie noch, wurde aber bereits mit ausgestreckten Armen von Sophie und einem Kollegen am Weiterlaufen gehindert.

„Halt Stopp, das hier ist ein Tatort, auch wenn es wie ein Sportgelände aussieht. Sehen Sie das rot-weiß gestreifte Band? Hier ist im Moment alles abgesperrt“, sagte der Polizeibeamte mit fester Stimme und unverkennbar sauer.

„Entschuldigung! Presse. Ich komme vom Koblenzer Tageskurier und soll auf Anordnung meines Verlegers einen Artikel …“, versuchte sie zu erklären und zückte noch etwas unbeholfen ihren Presseausweis.

„Und wenn Sie der Papst persönlich wären, könnten sie jetzt nicht hier durch. Sie versauen dahinten sonst alle Spuren“, konterte er. „Sorry, das ist wirklich nicht persönlich gemeint“, stammelte er noch hinterher als er die Enttäuschung in ihrem Gesicht sah.

Vanessa setzte ihren Hundeblick auf und sagte: „Sehen Sie mal, ich bin ganz neu bei dieser Zeitung und eigentlich für die Sportredaktion zuständig. Wenn ich heute mit leeren Händen zurückkomme, bin ich vielleicht das nächste Opfer. Man erzählt sich, der Chef verstehe da überhaupt keinen Spaß und mache den jungen Mitarbeitern sowieso die Rübe runter und das Leben zur Hölle“, versuchte sie ihr Glück.

„Komm lass sie doch“, sagte Sophie leise zu ihrem Kollegen. „Die Spurensicherung ist im Außenbereich doch ohnehin durch.“

„Na gut, machen wir mal eine kleine Ausnahme für die nette junge Dame. Ihr Kollege Walters rennt dahinten sowieso schon überall herum mit seinen riesigen Quadratlatschen. Aber bleiben sie auf jeden Fall außerhalb der Turnhalle. Ich habe nämlich auch einen bissigen Chef, der gerne Köpfe rollen sieht. Dagegen ist ihr Paffrath vermutlich ein frommes Lamm. Drumherum können sie meinetwegen ein wenig herumschnüffeln und Fragen stellen“, sagte er und signalisierte mit einer Kopfbewegung seine Zustimmung.

„Wo ist Leon nur hin?“, fragte sich Vanessa. Der musste irgendwie an den beiden Polizeibeamten vorbeigekommen sein, ohne dass sie es mitbekommen hatten. Hinter einer Ecke der Turnhalle winkte er hektisch und bedeutete ihr, schnell dorthin zu kommen.

„Vanessa, wo bleibst du denn? Ich habe alles an Bildmaterial, was wir brauchen schon im Kasten. Sieh mal dahinten am Turnhalleneingang – siehst du die junge Frau mit den langen dunklen Haaren? Nicht hinschauen“, flüsterte er ihr zu.

„Ja, klar. Wieso?“

„Das ist eine Vereinskameradin und wie es scheint vielleicht engere Bekannte des Toten. Versuch mal etwas herauszufinden. Das ist jetzt deine große Chance. Beeil dich, ich komme in ein paar Minuten hinzu“, erklärte er und ging schon wieder um die Ecke zur Turnhallenrückseite.

Völlig verwirrt von diesem mysteriösen Verhalten ging Vanessa auf die große, mindestens 1,80 m große schlanke und überaus hübsche Frau zu. Die Wimperntusche war über das ganze Gesicht verteilt und sie wirkte völlig fertig.

„Entschuldigen Sie, mein Name ist Vanessa Herzsprung vom Koblenzer Tageskurier. Es tut mir sehr leid, mein herzliches Beileid. Waren sie verwandt oder enger bekannt mit dem Opfer?“, versuchte sie ihr Glück.

„Wir haben vor einigen Wochen unsere fast dreijährige Beziehung beendet. Na ja, genauer gesagt, ich habe …“. Die junge Frau weinte.

Vanessa reichte ihr ein Taschentuch und legte tröstend eine Hand auf ihre Schulter.

„Entschuldigung. Das ist gerade alles einfach zu viel für mich“, entgegnete sie und putzte sich die Nase und die Tränen aus den Augen.

„Sie müssen sich nicht entschuldigen, nicht jetzt und nicht heute, nicht nach so einer schlimmen Sache“, versuchte Vanessa einen Zugang zu finden. „Wie darf ich sie eigentlich nennen?“

„Milena, Milena Hofmann. Tobi und ich sind schon in der Oberstufe ein Paar gewesen. Nach dem Abi im Sommer bekam ich direkt einen Medizinstudienplatz in Heidelberg, Tobi mit seinem Abi von 2,3 hätte leider viele Jahre warten müssen, mindestens siebeneinhalb bis acht Jahre. Er hat es sogar noch über die Bundeswehr versucht, wurde aber nicht als Sanitätsoffiziersanwärter genommen, dafür war er einfach nicht der Typ. Zu Auswahlgesprächen der Universitäten haben sie ihn auch nicht eingeladen. Da spielt ebenfalls die Abiturnote eine große Rolle. Leider versuchte er von da an, auch mir meinen Studienplatz zu vermiesen. Was sollte ich also machen?“, erklärte sie kurz. „Als Arztsohn kam für ihn und vor allem seinen Vater, den renommierten Professor Haberkorn auch kein anderes Studium in Frage“, fügte sie noch an, wobei sie den Namen ein wenig verächtlich aussprach. „Ich habe ihn wirklich geliebt, aber er ließ mir am Ende keine andere Wahl mehr. Er legte es regelrecht darauf an, dass ich Schluss mache. Ich habe ihn am Ende überhaupt nicht mehr verstanden. Er war wirklich so … ganz anders geworden, versank fortan in ständigem Selbstmitleid.“

„Braucht man für Medizin nicht sogar 1,0? Hammer, haben Sie das wirklich geschafft?“, fragte Vanessa interessiert.

Die junge Frau reagierte ein wenig verunsichert und offenbar peinlich berührt. „0,9 war sogar genau genommen mein Abiturdurchschnitt. Möglich wäre theoretisch sogar 0,75. Aber glauben Sie mir, das bedeutete sehr viel harte Arbeit, manchmal Diskussionen mit den Lehrern und noch mehr Verzicht im Leben eines ansonsten ganz normalen Teenagers. Zugefallen ist es mir jedenfalls nicht“, erklärte sie die eigene Intelligenz herunterspielend.

„Was hat Tobi gemacht ohne einen Studienplatz?“, fragte die Reporterin.

„Gute Frage. Er war völlig planlos, zog anfangs abends durch die Clubs, trank Unmengen Alkohol. Er war fast immer betrunken, schlief dann lange, sah manchmal völlig verwahrlost aus. Er ließ niemanden mehr an sich ran, auch mich nicht, hatte bald mit jedem Ärger“, sagte sie traurig.

„Und die Eltern, haben die ihm nicht den Kopf gewaschen?“

„Ach die, die hatten schon lange keinen Einfluss mehr auf Tobi. Er wollte seinen Vater zwar immer stolz machen, gab ihm aber leider nach dessen Meinung wenig Anlass dazu. Der hat ihn obendrein bei jeder unpassenden Gelegenheit mit meinen Leistungen aufgezogen. Nimm dir mal ein Beispiel an deiner Freundin, hat er dann gesagt. „Nach seinem Versagen gab es zu Hause nur noch Zoff.“ Tobi ging dann doch noch zur Bundeswehr, Hauptsache erst einmal von zu Hause raus und wer weiß, vielleicht würde ihm sogar irgendwie der Aufstieg gelingen mit der Option auf einen Studienplatz.

Vanessa schaute sich kurz nach Leon um und sah ihn zu ihrem Erstaunen in ein Gespräch mit Sophie vertieft. Seine Körperhaltung schien völlig verändert, wirkte unterwürfig auf sie. Die Frage drängte sich auf, ob diese Beziehung wirklich abschließend geklärt war. Jedenfalls hätte sie sich etwas mehr Unterstützung von ihm gewünscht. Doch Leon schien im Moment völlig mit sich beschäftigt.

„Wo wohnt Tobi Haberkorn eigentlich?“, fragte sie.

„Die Eltern leben in einer schönen Villa in erster Rheinlage in Oberwerth. Versuchen Sie mal dort ein Haus zu erwerben. Das ist unbezahlbar. Tobi sagte immer, man könne eigentlich so etwas heutzutage auf dem Immobilienmarkt überhaupt nicht mehr kaufen, das werde entweder vererbt oder gehe direkt unter der Hand weg. Finanziell fehlte es jedenfalls an nichts. Der Vater Professor und Chefarzt seiner eigenen Privatklinik aus Familienbesitz, die Mutter Rechtsanwältin in eigener Kanzlei und dazu noch Einzelkind. Allerdings definierte sich die Liebe der Eltern für meinen Geschmack ein wenig zu viel über seine Leistung. Und die konnte Tobi offensichtlich nicht so liefern, dass er sich wirklich geliebt fühlen konnte“, erklärte sie. „Wissen Sie, es fiel ihm schwer für gute Noten zu büffeln oder Lernstrategien zu entwickeln. Es war eine einzige Quälerei für ihn. Für schlechte Noten gab es schließlich auch Aufmerksamkeit. Sportlich war Tobi allerdings ein As. Leichtathletik und Basketball waren eindeutig sein Ding. Da lagen eher seine Talente. Für eine gewisse Anerkennung in der Armee reichte das. Doch dafür hatte der Vater nur wenig Verständnis“, berichtete Milena. „Er hatte andere Pläne für ihn, in denen ein Offiziersdasein nur einen netten Nebeneffekt darstellte zum gewünschten Arztdasein.“

„Erstaunlich, dass ihr vor dem Hintergrund in der Schulzeit noch Zeit und Nerven für eure Beziehung gefunden habt. Ihr musstet ja schließlich beide sehr gute Noten mit nach Hause bringen“, schob Vanessa nach, da es gerade gut zu laufen schien.

„Ich wollte, Tobi aber musste … Aber Sie haben natürlich recht. Viel Zeit blieb uns wirklich nicht. Zusammen zu lernen, das haben wir nur ein, vielleicht zwei Mal versucht. Das brachte aber überhaupt nichts. Wir waren auf dem Gebiet einfach zu unterschiedlich und Tobi ließ sich sehr leicht ablenken. In den Ferien waren wir zusammen in der Türkei in Urlaub. All inclusive-Urlaub: Faulenzen, sonnen, baden im Meer, essen und trinken, bis der Arzt kommt.“

Vanessa wurde es fast übel. Sie spürte ihren vollen Bauch vom Frühstück und fühlte sich unendlich dick. „Was die immer alle nur mit ihrer Fresserei haben? Ekelhaft. Als gäbe es sonst nichts Schöneres im Leben.“

„Es war wunderschön einfach mal zu leben, das Leben in vollen Zügen zu genießen und sich bedienen zu lassen.“ Die junge Frau begann erneut zu weinen. Vanessa versuchte sie tröstend in den Arm zu nehmen, doch Milena flüchtete aus der Umarmung.

„Es geht schon, danke. Ich muss jetzt aber wirklich dringend nach Hause. Meine Eltern warten bestimmt schon auf mich. Sie wissen ja bisher von nichts und machen sich bestimmt sonst Sorgen. Und nächste Woche habe ich zu allem Übel eine Klausur. Leider muss ich noch eine Menge dafür tun.“

„Kann ich dich nach Hause fahren? Oder sollen wir deine Eltern vorher anrufen und Bescheid geben?“, bot Vanessa an, um die Zeit noch etwas auszudehnen.

„Danke, das ist lieb. Aber ich habe mein Fahrrad da hinten. Tschüss“, verabschiedete sie sich prompt und lief auch schon in Richtung Fahrradständer.

Fast im gleichen Moment kam Leon kreidebleich auf Vanessa zu. „Mensch, du solltest doch warten, bis ich …“, reagierte er sauer.

„Ich habe schon ganz viel herausgefunden. Länger konnte ich sie jetzt wirklich nicht mehr hinhalten. Sie musste dringend weg und du hattest ja anscheinend gerade Wichtigeres zu tun“, erklärte sie ein wenig verärgert.

Milena fuhr mit dem Rad vorbei und winkte noch einmal zum Abschied.

„Hübsches Mädchen“, sagte Leon. „Was hat die Kleine eigentlich hier gemacht?“, fragte er Vanessa.

Vanessa wurde rot. „Scheiße!“, rutschte es ihr raus. „Das habe ich echt total vergessen. Berechtigte Frage. Ich glaube, sie hatte überhaupt keine Sportsachen dabei“, bemerkte sie.

„Komm wir hocken uns ins Auto und schauen, was wir bisher so alles haben. Dann überlegen wir, wie es weitergeht“. Leon blieb ganz ruhig.

„Ist bei dir wirklich alles klar? Ich habe gesehen, du hast mit Sophie geredet“, fragte Vanessa interessiert. Doch Leon ging auf die Frage gar nicht ein, als hätte er sie nicht gehört und lief zum Wagen.

Vanessa berichtete, was sie von Milena erfahren hatte, während sie gleichzeitig die Fotos auf der Kamera durchschaute, die Leon gemacht hatte.

„Tobias Haberkorn sagtest du? Der alte Haberkorn hat schon vor vielen Jahren eine Privatklinik in Boppard gegründet und kurz vor seinem Tod an seinen Sohn übergeben. Komm wir fahren mal zu dieser Villa nach Oberwerth. Sie ist ganz in der Nähe von meinem Haus. Vom Sehen kennen wir uns sogar. Manchmal führen sie ihre zwei Windhunde abends spazieren, während ich jogge. Prächtige Tiere“, erklärte Leon.

Villa Haberkorn – Koblenz-Oberwerth

Sie parkten direkt an der Rheinpromenade.

„Wow, was für ein prächtiger Kasten“, sagte Vanessa. „Schlecht scheint es denen ja nicht gerade zu gehen. Milena hatte es schon so geschildert.“

„Mist. Das wird heute wohl nichts werden mit dem Interview“, sagte Leon und deutete auf das Ehepaar mit hängenden Köpfen, das gerade von einer Polizeibeamtin zu einem Wagen geführt wurde, der kurz darauf davonfuhr. „Lass uns wenigstens ein paar Fotos von der Villa von außen machen, wenn wir schon mal hier sind“, fügte er an.

Sie liefen durch den Garten rings um das Haus herum, suchten nach der besten Perspektive und machten einige Aufnahmen. Die Hunde im Haus bellten und tobten. Nur wenige Minuten später öffnete sich vom Garten her eine Tür.

„Was machen sie denn da?“, fragte eine ältere Dame mit einer umgebundenen Küchenschürze. „Das ist ein Privatgrundstück. Die Alarmanlage und die Hunde haben bereits angeschlagen. Professor Haberkorn wird sicher gleich die Polizei rufen“, drohte sie, mit ängstlichem Unterton.

„Wir sind keine Einbrecher. Wir kommen vom Koblenzer Tageskurier und haben ein paar Fragen zu Tobi“, erklärte Leon entschuldigend. „Sie wissen, was mit Tobi …?“, leitete Leon seine Frage ein.

Die Dame änderte schlagartig ihren Tonfall und schlug bestürzt die Hände vors Gesicht. „Ja, die Polizei war gerade hier und hat den armen Herrn Professor und seine Frau für eine Identifizierung mitgenommen. Schlimme Sache“.

„Können wir kurz reden?“, versuchte Leon sein Glück.

„Ich weiß nicht, ob das dem Herrn Professor … „

„Wir haben schon mit Milena gesprochen. Die Arme ist völlig fertig. Sie hat ihn scheinbar in der Turnhalle gefunden. Milena sagte, sie hätten einen guten Draht zu Tobi gehabt“, versuchte Vanessa ihr Glück ein Tor zu öffnen. Leon nickte zustimmend und anerkennend.

„Milena hat ihn gefunden, ach Gott, die Ärmste? Eine nette junge Frau. Ich habe sie länger nicht gesehen, seit die beiden nicht mehr zusammen sind. Schade, sie waren so ein schönes Paar. Kommen sie, wir setzen uns hier auf die Sonnenterrasse. Kann ich Ihnen etwas zu trinken bringen?“, fragte die Hausdame.

„Machen Sie sich nur keine Umstände. Wir haben nur ein paar kurze Fragen und sind auch ganz schnell wieder weg“, erklärte Leon und hoffte so die Angst der Dame in den Griff und sie zum Reden zu kriegen.

„Das Verhältnis zwischen dem Professor und seinem Sohn soll ja nicht das beste gewesen sein, haben wir gehört“, eröffnete Vanessa.

„Ach, wissen sie. Ich arbeite schon lange hier im Haus, kenne den Herrn Professor, seit er so alt war wie Tobi heute. Er selbst hatte es wirklich auch nicht gerade leicht. Sein alter Herr, also der alte Professor Haberkorn, hat ihm von klein auf zu verstehen gegeben, dass er ihm einmal seine Klinik als Chefarzt übergeben und anvertrauen möchte. Wissen sie, sein Vater Wilhelm hatte aus einer kleinen Ambulanz in Boppard über die Jahre eine berühmte Privatklinik aufgebaut. Er war so stolz darauf. Sogar Politiker aus Bonn waren da in Behandlung, damals, als noch die Regierung und alles andere wichtige in Bonn war. Der Herr Professor half schon als Jugendlicher häufig mit in der Klinik“, erklärte sie. „Er hatte doch gar keine andere Wahl. Und mit Tobi lief es dann ganz genau so, obwohl sein Vater eigentlich hätte wissen müssen, wie es sich anfühlt, fremdbestimmt zu werden“, fügte sie traurig an. „Und jetzt auch noch das … der arme Tobias.“

„Sie meinen also, Tobias war unglücklich?“, fragte Leon.

„Er hatte seinen eigenen Willen und seinen eigenen Kopf. Er hat einfach nicht genug für die Schule getan, um vielleicht bessere Noten zu bekommen. Dumm war er jedenfalls nicht. Andere würden sich über diese Abiturnote sicher freuen. Sein Vater wollte ihm sogar einen Medizinstudienplatz einklagen oder ihn an einer Uni im Ausland studieren lassen. Er ließ ihm keine Wahl, machte jeden Fluchtweg raus aus der Medizin zunichte. Er sah gar nicht, wie sein Sohn darunter litt, dachte immer nur an die Familientradition und … sich. Gefragt hat er nie, was Tobias eigentlich selbst möchte“, verriet die reife Dame. „Wenn das hier der Herr Professor mitkriegt, bin ich meine Stelle los. Aber ich kann nicht mehr schweigen, habe einfach zu lange stumm zuschauen müssen“, sagte sie verzweifelt. „Das muss jetzt aber auch genügen“, beendete die Hausdame ihre Ausführungen. „Bitte gehen Sie! Ich habe schon viel zu viel verraten.“

„Dürften wir nur noch einen Blick in Tobis Zimmer …“, versuchte Leon sein Glück.

„Nein, das geht nun wirklich nicht. Wie sollte ich das später erklären. Bitte verlassen Sie jetzt das Grundstück, bevor ich noch Ärger bekomme.“

„Wir danken Ihnen für die offenen Worte, Frau …“

„Petermann“, kam die Antwort.

„Frau Petermann, wenn ich einmal etwas für sie tun kann oder für das positive Andenken von Tobi, lassen Sie es mich wissen. Hier ist meine Karte.“ Leon übergab seine Visitenkarte und verabschiedete sich und bedeutete Vanessa aufzubrechen.

Sie verließen zügig das Grundstück. „Wow, nicht schlecht für den Einstand im neuen Genre, Frau Kollegin. Respekt, du hast es eben tatsächlich geschafft uns die Tür zu öffnen. Super! Jetzt hast du einen bei mir gut“, sagte er.

Presseabteilung – Polizeipräsidium Koblenz

„Komm, wir schauen mal, was die Polizei inzwischen schon alles herausgefunden hat“, sagte Leon und hielt Vanessa die Wagenschlüssel vor die Nase.

Vanessa schnappte sich die Schlüssel und sprang auf der Fahrerseite in den Wagen. In nicht einmal fünf Minuten rasten sie zum Polizeipräsidium und unterwegs schwiegen sie ausnahmsweise. Offensichtlich waren beide sehr betroffen von dem soeben Erlebten. Leon hatte noch seine Begegnung mit Sophie zu verarbeiten und für eine Sportreporterin waren Leichen auch nicht gerade an der Tagesordnung.

„Leon Walters, wie immer in Begleitung einer hübschen und charmanten neuen Kollegin. Was habt ihr zwei Hübschen denn noch vor?“, fragte der Polizeibeamte am Kontrolleingang des Polizeipräsidiums.

„Darf ich vorstellen? Vanessa Herzsprung. Unsere überaus kompetente Verstärkung beim Koblenzer Tageskurier. Wir berichten gerade über den Todesfall in der Lützeler Turnhalle. Wer kann uns denn da weiterhelfen?“, fragte er.

„Hm. Die Pressekonferenz ist erst für morgen 11 Uhr angesetzt, das müsstest du doch wissen. Viele Neuigkeiten dürfte es da bis jetzt sicher nicht geben. Die Obduktion hat noch nicht einmal stattgefunden, die Ermittlungen laufen gerade erst an. Kriminaloberrat Unterbeck kümmert sich um den Fall. Ich kann ihn zwar fragen aber nichts versprechen. Und nur weil du es bist, Leon“, sagte der Beamte. Eigentlich soll ich alle auf die Pressekonferenz vertrösten. Du kennst das ja.

Leon zwinkerte ihm zu. „Danke, eine Hand wäscht die andere.“

Nach einem kurzen Telefonat drückte er auf den Türöffner und sagte: „Siebter Stock, du kennst dich ja aus. Viel Glück euch beiden.“

„Dank dir, Siggi. Wie lange geht deine Schicht noch?“

„Noch zwei Stunden, dann geht’s zum Glück nach Hause zu meiner Frau“, sagte er strahlend.

„Du bist ja bekannt wie ein bunter Hund“, sagte Vanessa anerkennend.