Der meergrüne Tod - Hans-Jürgen Setzer - E-Book

Der meergrüne Tod E-Book

Hans-Jürgen Setzer

0,0

Beschreibung

Leon Walters, Chefredakteur des Koblenzer Tageskuriers, ein unverbesserlicher Morgenmuffel, ansonsten gutmütig, hilfsbereit und voller Engagement stolpert in seinem zweiten Fall mitten hinein ins pralle Drogenleben. Während seiner Recherchen stößt Leon Walters auf den Manager eines Pharmakonzerns, dem es nicht nur um Geld, sondern vor allen Dingen um Macht, gesellschaftlichen Einfluss und Sex geht. Auf einer Irlandreise entdeckt er, dass aus harmlosen Algen tödliches Gift produziert wird. Leon Walters gerät dabei in akute Lebensgefahr. Wird es ihm gelingen, die Gefahr zu überwinden und die Machenschaften aufzudecken?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 445

Veröffentlichungsjahr: 2016

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Der meergrüne Tod

Hans-Jürgen Setzer

Copyright © 2016 Hans-Jürgen Setzer, Kirchweg 13, 56244 Maxsain

Lektorat: Autorenteam Ellen Heil und Karin Kuretschka

All rights reserved.

ISBN-13: 978-3-7418-6874-0

Auf ein Neues

Leon Walters schlürfte den letzten Rest aus seiner Kaffeetasse und machte sich, wie jeden Morgen, missmutig auf den Weg zu seinem Platz im Großraumbüro des Koblenzer Tageskuriers. Er hatte nicht besonders gut geschlafen. Doch das war nicht wirklich neu für ihn. Zu viele Gedanken gingen ihm in den letzten Wochen abends und nachts durch den Kopf. Abschalten wurde immer schwerer für ihn.

Morgens quälte er sich aus dem Bett. In der ersten Stunde seiner Tage war er sehr müde und hierdurch übelgelaunt. Mitmenschen, die ihm in die Quere kamen, mussten dies in der Regel teuer bezahlen.

„Und das mit Anfang 40. Wie soll das die nächsten Jahre weitergehen? Einige Jährchen bis zur Rente werde ich weiterhin durchhalten müssen“, dachte Leon Walters und bestieg seinen Firmenwagen. „Jedenfalls, wenn ich sie eines Tages und hoffentlich wohlverdient erlebe.“ Bei diesem Satz musste er allerdings selbst über sich schmunzeln.

„Koblenzer Tageskurier – Wir bringen es morgens und auf den Punkt“, konnte jeder auf der Außenreklame des Wagens lesen. „Ach, schon wieder die ganze City verstopft. So ein Mist. Immer muss das mir passieren“, brummelte er vor sich hin. „Das gibt vermutlich einen Rüffel vom Chef, dem alten Paffrath, wenn ich schon wieder zu spät komme.“ Das morgendliche Jammern des Leon Walters, gute Freunde und Kollegen wussten das, verging jedoch meist schnell. In der Regel konnten sie sich darauf verlassen, dass abends derselbe Leon bereit wäre, im Umkreis von Koblenz Pferde mit ihnen oder für sie zu stehlen. Hier gab es bisher wenige Ausnahmen. Gestern Abend war so eine.

Am Vortag hatte er einen emotional sehr aufwühlenden Fall endlich abschließen können, als sich durch einen Telefonanruf bereits der nächste ankündigte. Gestern war hierfür wirklich kein guter Tag. Er war zu geschafft, um gleich die neuen Recherchen aufnehmen zu können. Erst einmal wollte er einfach schlafen und genau das hatte er bisher, sehr zu seinem Bedauern, nicht tun können.

Im Großraumbüro seiner Redaktion herrschte geschäftiges Treiben. Die meisten Kollegen und Kolleginnen schienen gut gelaunt und sogar in dieser Herrgottsfrühe bereits fleißig. Leon kam an einigen freundlich grüßenden und lächelnden Mitstreitern vorbei. Er brummelte leise vor sich hin und fand diese gute Laune am frühen Morgen unbegreiflich und unerträglich.

Heute führte ihn sein erster Weg, nachdem er die Aktenmappe auf seinem Schreibtisch deponiert und seinem Schreibtischnachbarn von der Sportredaktion, nach einem kurzen Zunicken, einen übel gelaunten Blick zugeworfen hatte, zum Fahrstuhl. Er wollte seinem Chef, dem Zeitungsverleger Alexander Paffrath, im obersten Stock einen Besuch abstatten. „Bing“, öffnete sich die Fahrstuhltür mit einem schrillen Glockenton. Dasselbe „Bing“ ließ die Ankunft am Ziel erkennen.

„Guten Morgen, Herr Walters, das ist ja eine seltene Ehre“, rief ihm die Chefsekretärin von Weitem entgegen.

„Na, ob das wirklich eine Ehre ist? Seien Sie ehrlich, Sie sind sicher froh, wenn Sie mich wieder von hinten sehen, oder?“ Leon wechselte dabei langsam von seinem Brummelton zu seinem Flirtton. „Bei so einer hübschen Frau stehen die Besucher bestimmt Schlange“, fügte er an.

„Nicht, wenn sie vor dem Zimmer des Verlegers sitzt“, sagte sie lachend. „Was kann ich für Sie tun, Herr Walters?“

„Na, wenn ich mich nach hier oben verirre und ausnahmsweise einmal nicht Ihr bezauberndes Lächeln bewundern möchte, suche ich meistens den Chef.“

„Das tut mir sehr leid für Sie. Er hat sich eben telefonisch für den Rest der Woche abgemeldet. Er sei krank und müsse sich erst einmal auskurieren.“

„Auweia, vermutlich ist ihm das alles doch näher gegangen, als ich dem Alten zugetraut hätte“, sagte er leise.

„Was meinen Sie?“

„Ach, nichts. Wenn er anruft, bestellen Sie ihm viele Grüße und gute Besserung.“

„Das werde ich gerne tun. Schönen Tag noch, Herr Walters.“

„Den wünsche ich Ihnen auch.“

Leon ging nachdenklich zurück zum Aufzug, fuhr nach unten und ging an seinen Platz. „Also hatte der Alte vermutlich, genau wie er selbst, nicht gut geschlafen.“ Sie hatten gemeinsam einige Recherchen zum Abschluss gebracht, die sie beide sehr aufgewühlt hatten. Das passierte hin und wieder selbst den alten Hasen in seiner Branche, dass ein Fall an die Nieren ging. Auf Leon wartete inzwischen neue Arbeit.

„Also, frisch ans Werk“, dachte er und fuhr seinen Rechner hoch, um die Emails zu checken.

„Sag mal, wer hat eigentlich bei dir so schnell den Schalter umgelegt, Leon?“, fragte sein Nachbar von der Sportredaktion. „Eben noch hast du mich mit deinem Blick fast umgebracht und jetzt plötzlich strahlst du wieder?“

„Dieses Geheimnis möchte ich gerne für mich behalten, lieber Kollege. Sag mal, für einen Sportreporter sitzt du allerdings ziemlich viel hier drinnen dumm rum. Wann schafft ihr eigentlich mal wirklich etwas?“ Leon wollte das Gespräch gerne auf etwas möglichst Sinnloses lenken. Auf Kommentare zu seiner Eigenschaft als Morgenmuffel hatte er keine Lust. Wo er für heute zum Glück gerade wieder die Kurve gekriegt hatte.

„Hast du in deinem Leben mal irgendjemand um diese Zeit genau den Sport machen sehen, der die Leser interessiert?“, fragte der Kollege.

„Na, da hast du natürlich auch wieder recht“, sagte Leon.

„Und was macht der Lokalteil am frühen Morgen?“, wollte der Kollege wissen.

„Den nächsten ganz, ganz großen, lokalen Skandal mit Recherchen vorbereiten, natürlich. Was sonst?“ Leon schaute auf seinen Bildschirm und überflog die Emails. „Nichts Interessantes“, dachte er.

„Hat der Hund vom Bürgermeister Flöhe? Oder was gibt es so an der Front am vierten Mai?“ Der Kollege ließ einfach nicht locker.

Das Gespräch wurde Leon wirklich langsam zu blöd. Er antwortete einfach nicht mehr und tat sehr geschäftig. Das war für diesen Kollegen das beste Patentrezept, wie Leon aus langjähriger Erfahrung wusste. Er fand in seinem Postfach tatsächlich eine Email von jener Dame, die gestern Abend noch zu später Stunde auf seiner Durchwahlnummer angerufen hatte.

Email von Jennifer Koch an Leon Walters:

„Wie gestern bereits telefonisch mit Ihnen verabredet, möchte ich das Treffen um 11:00 Uhr vor dem Haupteingang am Koblenzer Schloss noch einmal bestätigen. Bitte kommen Sie, Herr Walters. Sie sind die letzte Hoffnung für meinen Sohn und mich.“

„Viel weiß ich bisher leider nicht. Drogen beim Sohn, von einer Mafia sprach sie und hieß Jennifer Koch. Schauen wir einfach einmal, was wir über die gute Dame herausfinden.“

Er tippte den Namen in eine Suchmaschine und fand einige Treffer in Communities. Es war Mode, sich mit Freunden, Klassenkameraden, Gleichgesinnten auf solchen Internetportalen zu treffen beziehungsweise sein Profil online zu stellen. Auf diese Weise sollten sich Menschen mit gleichen Interessen oder alte Freunde zusammenfinden. Andererseits ließen sich diese Seiten natürlich prima von solchen Menschen nutzen, die etwas über andere herausfinden wollten, ohne diese zu fragen. Und das kostenlos, heimlich und nicht immer mit guten Absichten.

Da hatte die Dame mit Leon jedoch echtes Glück. Er wollte ihr helfen. „Jennifer Koch, 45 Jahre, einen 16-jährigen Sohn, alleinerziehend. Hobbys: Gleitschirmfliegen – hoppla, Reisen, Kriminalromane“, las er sich vor. Fast täglich schien sie online zu sein und war vernetzt mit 1.274 Freunden oder das, was in einer Community eben als solche bezeichnet wurde. Vielleicht sammelte sie nur möglichst viele Kontakte, um gut dazustehen. Ein Foto zeigte eine jung gebliebene Dame mit langem, offenem brünettem Haar, die lächelte. Sie hatte sicher mindestens die Hälfte der Freunde allein durch das Foto, wie Leon feststellen konnte. Im Fotoordner waren einige Familienfotos der letzten Urlaubsreise zu sehen. Es könnten die Malediven gewesen sein. Palmen, herrlich blauer Himmel, blaugrünes, leuchtendes Wasser und schneeweißer Strand. Mutter und Sohn standen Arm in Arm und lächelnd vor der Kamera. Leon stellte sich vor, wie sie einen Einheimischen gebeten hatten, das Foto zu machen. Er konnte förmlich das Wasser, den tollen Strand und die Sonne spüren und träumte sich einige Sekunden aus dem Büro. Er druckte einige Fotos auf seinem Laserdrucker aus und steckte sie in seine Aktenmappe. „Wer weiß, wozu es gut ist“, sagte er sich.

„Na, willste Urlaub buchen, Walters? Oder stöberst du wieder mal auf den Kontaktseiten im Internet?“, fragte der nette Kollege vom Sportteil. Leon kam ruckartig von seiner Insel zurück in die Realität.

„Könntest du dich um deine eigenen Recherchen kümmern, lieber Kollege? Vielleicht schiebst du beispielsweise den Aufstieg der Koblenzer Fußballer an, damit du deinen geliebten Beförderungsschreibtisch am hellen Fenster da hinten endlich beziehen kannst.“ Dabei grinste er den Kollegen frech an und wandte sich gleich wieder seinem Bildschirm zu.

„Blödmann“, hallte es von nebenan.

„Danke, du mich auch“, antwortete er in einem Tonfall, dem zu entnehmen war, dass das alles nicht wirklich ernst und böse gemeint war.

Leon spürte, wie ihm so langsam die Decke auf den Kopf fiel und er fuhr den Rechner wieder runter, schnappte sich seine Jacke und die Aktenmappe und ging in Richtung Fahrstuhl. Völlig in Gedanken nahm er den Weg zu seinem Dienstwagen in der Tiefgarage. Erschreckt über sich selbst, merkte er, wie er fast in Trance den ganzen Weg zurückgelegt hatte, ohne irgendetwas oder irgendwen wahrzunehmen. So langsam würde es einmal Zeit für einen Urlaub. „Die Malediven wären ja ganz schön“, dachte er, sich gedanklich noch einmal an die Urlaubsfotos erinnernd. Doch das Buchen allein kostete ihn bereits Überwindung, so ganz ohne Begleiterin. Er dachte unwillkürlich an seinen letzten Urlaub auf den Seychellen und den dortigen Urlaubsflirt. „Wie hieß sie noch gleich? Yvonne, Yvette? Na ja, egal. Heute Abend werde ich einmal nach Urlaubsreisen im Internet schauen“, nahm er sich fest vor.

Seinem Hungergefühl folgend, würde er erst einmal ein kleines zweites Frühstück zu sich nehmen und dann gestärkt das geplante Treffen ansteuern.

Er fuhr mit seinem Fahrzeug auf den Parkplatz eines kleinen Cafés am Rheinufer und schlenderte zu einem Tisch im Freien.

„Was darf es sein, für den Herrn?“, fragte eine junge, hübsche Kellnerin und lächelte dabei fröhlich.

„Sie lächeln so gewinnend, dass ich Ihnen blind vertraue. Bringen Sie mir einfach Ihr Empfehlungs-Überraschungsfrühstück“, antwortete Leon und wartete gespannt auf ihre Reaktion. Er liebte diese kleinen Spielchen mit Menschen, vor allem, wenn sie weiblichen Geschlechts waren.

„Ich hatte heute Morgen frittierte Grashüpfer auf einem Ameisen-Schnecken-Geleebett“, kam schlagfertig ihre Antwort.

Leon verzog das Gesicht. „Klingt lecker. Der Tag verspricht ja interessant zu werden“, sagte er und lächelte verschmitzt.

„Der Koch sagt leider, das wäre für heute aus. Nein, jetzt mal im Ernst, was darf ich denn bringen?“

„Sie haben gewonnen, junge Dame. Bringen Sie mir ein Frühstücksei, zwei Brötchen mit Wurst und Käse und ein Kännchen Kaffee. Das hätten Sie mir mit Ihrer Sach- und Menschenkenntnis sicher empfohlen, oder?“

„Na klar. Gerne.“ Sie ging zurück zum Eingang des Cafés.

„Und einen frisch gepressten Orangensaft!“, rief Leon hinterher.

„Kein Problem, wird geliefert“, sang die Kellnerin fast.

An dem Nachbartisch setzte sich eine Dame, minimal älter als er und nachdem Leon grübelte, woher er sie kannte, schoss es ihm wie ein Gedankenblitz durch den Kopf: „Jennifer Koch“.

„Welch ein Zufall“, sagte er. „Sind Sie nicht Frau Koch?“

Die Dame zuckte förmlich zusammen. „Ja, aber …“

„Walters, Leon Walters, Koblenzer Tageskurier. Entschuldigen Sie, dass ich Sie so einfach anspreche und wie ich bemerkt habe, habe ich Sie damit ganz schön erschreckt.“

„Ja, ja. Wie haben Sie mich überhaupt erkannt?“

„Ein guter Reporter weiß alles oder sagen wir es etwas bescheidener, fast alles“, lächelte er. „Darf ich Sie zu einem Frühstück einladen? Leider habe ich schon bestellt. Aber die freundliche junge Dame kommt sicher gleich wieder“, sagte er.

„Gerne, ja, dann könnten wir vielleicht gleich hier …?“, fragte sie ein wenig verunsichert. „Ich dachte, ich trinke vor unserem Termin noch einen Kaffee und das Schloss ist ja gleich um die Ecke. Auf alle Fälle wollte ich pünktlich sein.“

„Stärken wir uns erst einmal, dann geht sicher alles ein wenig leichter. Möchten Sie hier oder lieber an einem anderen Tisch Platz nehmen?“

„Nein, Ihr Tisch ist völlig okay.“ Sie setzte sich und schaute etwas betrübt unter sich.

Der nächste Fall

Die nette Kellnerin brachte für beide das gleiche Frühstück. Während sie ihre Brötchen schmierten, belegten und aßen, begann Jennifer Koch ein wenig zu erzählen.

„Wissen Sie, ich habe mich immer bemüht, eine gute Mutter zu sein. Nach dem Tod von Julians Papa sicher noch mehr. Ich habe versucht, ihm Vater und Mutter gleichzeitig zu sein. Natürlich geht das nicht, wie mir im Laufe der Zeit immer klarer wurde. Doch das jetzt …“ Sie weinte.

Leon reichte ihr ein Taschentuch.

„Entschuldigen Sie.“

„Ach was, das ist völlig in Ordnung.“ Er nahm tröstend ihre Hand und sie schaute ihn freundlich an. „Was ist denn nun eigentlich passiert?“, nahm er das Gespräch wieder auf.

Ihr Gesicht wechselte wieder ins Sorgenvolle.

„Gegen Ende der Grundschulzeit ging das alles los. Als Julian in der dritten Klasse war, hatte sein Vater einen Unfall. Er war ja nie viel zu Hause. Für einen Maschinenbaukonzern war er in der ganzen Welt auf Montage. Alle paar Wochen war er mal für eine knappe Woche auf Heimaturlaub. Manchmal sind wir auf Firmenkosten für einige Tage ins jeweilige Einsatzland geflogen und haben ihn dort besucht. Julian war diesbezüglich also gar nicht übermäßig verwöhnt. Eines Tages kam jedoch tatsächlich die immer wieder befürchtete Nachricht.

Ein Vorgesetzter von Achim kam und klingelte. Da wusste ich schon, dass etwas nicht stimmte. Achim war unter einen großen Stahlträger geraten. Mit den Sicherheitsvorschriften haben die es am Ende der Welt oft nicht so genau genommen. Das hatte Achim häufig erzählt und bescherte mir natürlich die eine oder andere Sorge. Anfangs regte es ihn sogar selbst noch auf, doch irgendwann kapitulierte er und arbeitete nach deren lockeren Regeln. Heute muss ich sagen: Leider gab er dort seine Zwänge auf, die mich sonst gewaltig an ihm nervten. Einige Tage konnte ich es Julian einfach nicht sagen. Doch die Beerdigung rückte näher und ich musste dann …“ Sie weinte erneut. Leon strich ihr ein wenig über den Rücken. Es schien ihr nicht unangenehm zu sein.

„Ich verstehe. Sie haben schwere Zeiten hinter sich“, sagte Leon.

„Oh ja. Wir haben das alles gemeinsam miteinander durchgestanden und ich weiß manchmal nicht, wer wem mehr Stütze war. Irgendwie konnte Julian hierdurch nie so richtig Kind sein, glaube ich heute. Er war mehr ein Ersatzpartner. Auch wenn ich oft versucht habe, dies unter allen Umständen zu verhindern. Automatisch lief es immer wieder ein wenig darauf hinaus.“

„Sie sprachen vorhin von Drogenproblemen.“ Leon versuchte, wieder auf das eigentliche Thema zurückzulenken.

„Lassen Sie mich erst einmal weitererzählen“, sagte sie und verdeutlichte hiermit ihr Bedürfnis, mit irgendjemandem einmal darüber reden zu müssen.

„Klar.“ Leon nickte dabei verständnisvoll.

„Julian wurde gegen Ende der Grundschulzeit ständig zappeliger und unkonzentrierter. Die Lehrer bestellten mich immer häufiger in die Schule oder riefen zwischendurch an und baten mich, mit Julian zu einem Kinderpsychologen oder einem Psychiater zu gehen. Glauben Sie mir, das war ein Schock für mich. Mein einziger Halt, weshalb ich überhaupt noch das Leben ertragen konnte, sollte krank sein, gestört oder wie auch immer Sie das nennen wollen. Und natürlich machte ich mir sofort Vorwürfe. War ich das? Habe ich ihn überfordert?“

„Das kann ich mir vorstellen“, sagte Leon.

„Haben Sie Kinder, Herr Walters?“

„Nein.“

„Glauben Sie mir, dann fällt es schwer, das in der ganzen Tragweite nachzuvollziehen. Wenn mit Ihrem Kind etwas ist, das tut viel mehr weh, als wenn Sie selber etwas Schlimmes hätten. Na, jedenfalls kam dann natürlich raus, Julian hätte ADHS. Sie wissen, was das ist?“

„Ja, ich denke schon: Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom.“

„Genau, so nannte man das lange Zeit. Mir wurde dann auch sehr schnell ein Medikament empfohlen. Der Kinderpsychiater sagte, niemand hätte Schuld an diesem Problem. Es sei eine Stoffwechselstörung, wie zum Beispiel Diabetes. Mit dem Medikament würde alles besser. Ich sollte mir keine Sorgen machen. Also bekam Julian ein Medikament, das ganz neu auf dem Markt war und genau das Stoffwechselproblem beseitigen sollte: Infantocalm. Tatsächlich merkte ich, wie er ruhiger wurde und die Lehrer sagten ebenfalls, es wäre eine deutliche Besserung eingetreten. Er sei konzentrierter und störe nicht mehr den Unterricht.“

„Ja, das wurde viele Jahre lang immer häufiger diagnostiziert und genau so behandelt, wie bei Ihrem Sohn, soweit ich das mitbekommen habe.“

„Doch ganz geheuer war mir das nicht, meinem Kind ständig ein Medikament, nahe verwandt mit drogenähnlichen Substanzen, zu verabreichen. Ich wurde immer wieder unsicher. Als es dann in der Schule einigermaßen zu laufen schien, und er 15 Jahre war, beschloss ich: Jetzt reicht es. Wir versuchen es ohne Medikamente.“

„Und hat es funktioniert?“, fragte Leon.

„Es schien jedenfalls zunächst so. Wir gingen ganz langsam mit dem Infantocalm in der Dosis runter und setzten es dann ab. Julian blieb genauso, wie vorher. Bis ich dann vor Kurzem entdeckte, dass Julian …“ Wieder musste Jennifer Koch weinen und stockte. „Julian probierte alle möglichen Drogen aus und ich bekomme ihn nicht mehr davon weg. Wir haben seither riesigen Ärger miteinander. Er hängt immer mit denselben Kumpels ab und die hängen natürlich genauso in den Drogenproblemen drin. Er bräuchte einfach einen anderen Umgang. Ich habe mit seiner Klassenlehrerin gesprochen. Sie sagte mir, ihr sei aufgefallen, dass er in seiner Gefühlswelt für sein Alter viel zu kindlich geblieben sei. Konflikte mit den Klassenkameraden halte er kaum aus und er könne sich einfach nicht altersgemäß wehren, wirke dann hilflos, habe sogar häufiger geweint. Seine Lösungen sind offensichtlich die Drogen und seine Kumpels machen es genauso. Andere männliche Vorbilder hat er leider keine. Zu den Psychiatern habe ich inzwischen natürlich ebenfalls kein Vertrauen mehr. Ich weiß einfach nicht, was ich machen soll.“

„Okay, das ist ein ganz schöner Brocken, den Sie da zu schlucken hatten und haben.“

„Das können Sie laut sagen.“

„Was ich bisher nicht verstehe, ist, wie ich Ihnen helfen könnte.“ Leon schaute sie fragend an.

„Die Drogen kriegen sie sogar in der Schule auf dem Pausenhof. Damit wird natürlich ein riesiges Geschäft gemacht. Niemand unternimmt etwas. Alle schauen nur hilflos zu. Ich habe eine Scheißwut und könnte kotzen, entschuldigen Sie den Ausdruck. Wenn Sie einen Artikel über die Drogen an den Schulen in Koblenz verfassen würden, dann müsste die Schule langsam aufwachen und etwas unternehmen oder die Polizei oder egal wer. Hauptsache die Drogen kommen weg. Wenigstens die nachfolgenden, jüngeren Kinder sollen nicht dasselbe durchmachen müssen.“

„Alles klar, dann verstehe ich, was Sie meinen. Natürlich muss ich mir in der Sache erst einmal weitere Informationen beschaffen, recherchieren und kann nichts versprechen. Das scheint mir ein sehr heißes Eisen zu sein.“

„Bitte, Herr Walters, glauben Sie mir, ich weiß nicht mehr weiter, sonst würde ich nicht die Presse um Hilfe bitten.“

„Ich sehe, was ich machen kann. Sie hören von mir.“

Sie tranken die letzten Reste ihres Kaffees aus und verabschiedeten sich.

„Arme Socke“, dachte Leon. „Sie hat ganz schön was hinter sich.“

Erste Recherchen

Leon überlegte, wie er weiter verfahren könnte. Was gäbe es in diesem Fall überhaupt zu recherchieren? Von der Mutter hatte er im Internet einiges gesehen. Das Gleiche könnte er natürlich mit dem Sohn machen. Besser wäre es allerdings vermutlich, in der Nähe des Schulhofs einmal zu beobachten, wie sich die Dealer den Kindern näherten. Eventuell ließe sich über diese Personen mehr herausfinden, um ihnen später das Handwerk zu legen. Aber ganz ungefährlich wäre diese Aktion für ihn vermutlich nicht. Mit den meisten Dealern wäre bestimmt nicht gut Kirschen essen. Und, würde es überhaupt etwas bringen, die Dealer vor den Schultoren auffliegen zu lassen? Dann würden die höchstwahrscheinlich einfach an andere Orte ausweichen, so wie immer in der Vergangenheit. Und für jeden abgeschlagenen Hydra-Dealer-Kopf würden drei neue nachwachsen.

Handelte es sich um eine Geschichte, die die Leser des Koblenzer Tageskuriers wirklich interessieren könnte? Nun ja, viele Leser hatten Kinder und für die meisten war es sicher somit das Wichtigste im Leben, dass es den eigenen Kindern gut ging. „Also, Leon, auf geht es. Mach was draus“, feuerte er sich in Gedanken selbst an.

Leon fuhr in das nächstgelegene Internetcafé am Münzplatz, denn die Fahrt in die Redaktion lohnte sich für die kurze, notwendige Recherche kaum und von seinem Nachbarn, dem Sportreporter, hatte er für heute ohnehin genug. Er wollte nachsehen, was über Julian Koch im Internet zu lesen sein würde, und ob er eventuell sogar herausfinden könnte, welche Schule er besuchte.

Natürlich war es für einen sechzehnjährigen Jungen aus dieser Generation genauso üblich, in allen gängigen Internetportalen vertreten zu sein. Leon erkannte ihn fast nicht wieder. Auf den Urlaubsbildern mit Mami auf den Malediven sah er noch brav aus. Inzwischen war er zu einem deutlich auffallenden Revoluzzer mutiert. Er ließ sich mit jungen Frauen ablichten, die man früher als Punkerinnen bezeichnet hätte. Die Damen trugen Lederklamotten, überall Piercings, klappernde Ringe, Ketten und Tattoos. Er kleidete sich passend dazu. Tattoos und Piercings hatte er allerdings noch keine. Dies stellte Leon mit Befriedigung fest. Schließlich handelte es sich um einen Jugendlichen, der dafür die Zustimmung der Eltern benötigte. Vielleicht funktionierte also ausnahmsweise irgendetwas in Richtung Jugendschutz.

Für jeden Personalchef wären die Einträge ein gefundenes Fressen: Angegebene Hobbys waren „Saufen, huren, abhängen, grenzüberschreitende Erfahrungen“.

Na, da hatte Leon natürlich so seine eigenen Vorstellungen, was mit grenzüberschreitenden Erfahrungen gemeint sein könnte.

„Hm, irgendwie kommt wirklich alles mal wieder. Genau solche Typen gab es schon einmal. Verdammt, wo geht der Bengel nur zur Schule. Das wäre jetzt hilfreicher. Da, jaaa, Bingo: Astrid-Lindgren-Gesamtschule, Koblenz. Danke, Julian. Dann werde ich dir und deiner Penne mal einen Besuch abstatten.“

Auch noch die andere Wange hinhalten?

Leon ging zu Fuß vom Münzplatz zur Astrid-Lindgren-Gesamtschule. Sie lag einige Straßen weiter. Ein kleiner Fußmarsch würde ihm guttun und erschien ihm unauffälliger als mit seinem Dienstwagen dort vorzufahren. Plötzlich hielt ein kleiner Wagen mit quietschenden Bremsen direkt neben Leon.

„Hey, Walters, haste ne Panne? Komm, ich nehm dich mit.“ Sein Kollege aus der Sportredaktion war heute so lästig wie eine Schmeißfliege und extrem hilfreich dabei, seine verdeckte Ermittlung auffliegen zu lassen.

„Nein, danke, Herr Kollege, für das nette Angebot. Ich muss etwas zu Fuß erledigen. Fahr du mal allein zu deinen attraktiven Handballdamen, sonst versaue ich dir dort die Quote.“ Leon lächelte dem Kollegen zu und ging weiter. „Schon komisch. Wenn ich wirklich eine Panne hätte, könnte ich wahrscheinlich kreuz und quer durch Koblenz laufen, hätte schon Blasen an den Füßen und niemand würde mir helfen, aber heute?“ Er schüttelte mit dem Kopf.

Da war sie schon: Die Astrid-Lindgren-Gesamtschule, wie er deutlich in großen Buchstaben am Gebäude lesen konnte. Es war ein älteres Gebäude, hässlich und grau, so wie sie in den Siebziger- oder Achtzigerjahren des vorigen Jahrhunderts gebaut wurden. An der Betonfassade waren als einzige Zierde Ornamente eingegossen, natürlich ebenfalls in dezentem Grau. „Grau schafft bekanntlich eine fröhliche Lernatmosphäre und verbessert ungemein die Stimmung“, dachte Leon zynisch. Hie und da hatten sich die Schülergenerationen mit Graffitis Luft gemacht.

In einem ähnlichen Gebäude hatte, vor einer zunehmenden Zahl von Jahren, der etwas jüngere Leon seine Stunden, Tage, Wochen und Jahre absitzen müssen. Er sah in einem Klassenraum im Erdgeschoss einen Lehrer an der Tafel und vor seiner Klasse unterrichten. Welches Fach mochte es wohl gerade sein?

Kurz schweiften seine Gedanken in die Vergangenheit. Leon ging recht gerne zur Schule. Er war ein guter Schüler gewesen. Nur einige wenige Fächer entdeckte er erst nach Ende seiner Schulzeit, wie Deutsch, Geschichte, Sozialkunde. Hier hatte die Lehrerin es einfach nicht geschafft, einen Funken von Begeisterung auf die Schüler überspringen zu lassen. Na ja, jedenfalls nicht auf ihn.

Ein sehr bekannter deutscher Gehirnforscher hatte schon vor 25 Jahren in vielen Vorträgen immer wieder betont, was für ein wirksames Lernen wichtig sei: Eine Atmosphäre ohne Angst zu schaffen gehörte dazu, um mit Begeisterung den Schülern zu vermitteln, wie spannend die Welt sein konnte. Auf keinen Fall sollte man Wissen mit Strafen einprügeln. Es bleibt dann mit viel Glück zwar im Gedächtnis haften, aber gekoppelt mit dem empfundenen Schmerz. Schmerzen schaffen ja bekanntlich selten und nur bei sehr wenigen Menschen wirklich Begeisterung.

Leon wusste noch, wie in der Grundschule das Kopfrechnen im kleinen und großen Einmaleins geübt wurde. Es mussten bei diesen Übungen alle Schüler aufstehen und der schnellste Rechner durfte erleichtert wieder Platz nehmen. Er konnte es zum Glück gut genug, um sich schnell wieder hinsetzen zu können. So viel Glück hatte der kleine Uwe nicht. Als Letzter stand er meistens noch und rechnete selbst dann falsch. Leon sah es bildlich vor sich, wie der kleine Uwe, vor der ganzen Klasse, schön ans Fenster ins Licht gezogen wurde. Frau Werner schnappte sich dann mit ihrer rechten Hand seine Wange und packte sie wie mit einer Zange, zog daran, bis der daran befestigte Kopf ein Stück mit in die Richtung kam, ließ dann los, der Kopf flog zurück und die flache Hand hinterher, zurück auf die Wange. ‚Klatsch’, machte es. Nach mehreren falschen Ergebnissen wurde die Backe rot und irgendwann sogar mit einem Stich ins Blaue. Das wäre allenfalls für den Biologieunterricht nutzbar gewesen, um die Hautdurchblutung zu erklären, wie ein Bluterguss zunächst auf- und später über alle Regenbogenfarben wieder abgebaut würde. Die ganze Klasse schaute hilflos zu und vermutlich nicht nur Leon wusste nicht, wo er noch hinschauen sollte. Verstanden hatte Leon diese Strategie jedenfalls nie. Sie übertrug auch auf ihn eher ein Gefühl von Angst.

„Schaut genau her, das könnte jedem von euch blühen. Also lernt und benehmt euch.“ Das sollte wohl die Botschaft sein.

Vielleicht kam daher auch so sein leichtes Bauchkribbeln, wenn er den Fahrstuhl zum alten Paffrath betrat. Und in diesem Moment verstand er schlagartig, wieso er es kaum ertragen konnte, dabei zuzusehen, wenn einem anderen Menschen ein Unrecht geschah. Es war schlimmer, als selbst angegriffen zu werden. Aber er war stets bemüht, sich nach außen nichts von seinen Ängsten oder auch der Wut auf den Täter anmerken zu lassen.

Jedenfalls verbreitete sich kurze Zeit später, mit einiger Genugtuung, das Gerücht, dass die Eltern von Uwe sich in der Schule beschwert hatten.

„Gäbe es vielleicht eine winzige Spur von Hoffnung in dieser Welt?“, fragte sich damals der kleine Leon. Die Prügelstrafe und solche Erziehungsmethoden waren nämlich eigentlich viele Jahre zuvor aufgegeben worden. Gelernt hatte er persönlich viel bei der Dame, wofür er dankbar sein konnte. Ob jedoch Uwe jemals rechnen gelernt hatte, blieb für Leon leider im Verborgenen. Er hatte da jedenfalls so seine Zweifel. Vielleicht sollte er in Kürze mal nach dem Verbleib und den Rechenkünsten von Uwe schauen.

Ein melodischer Gong holte Leon von seinem kleinen Ausflug in die Vergangenheit wieder zurück. Wegen der Träumerei bekam er durch seine Beobachtung bisher keinen Eindruck, ob sich in der Schule diesbezüglich etwas geändert hatte. Die Schüler strömten aus den zwei Eingängen wie Ameisen aus einem Ameisenhaufen. Es schien große Pause zu sein. „Sehr gutes Timing“, dachte Leon. Er hatte eine gute Beobachtungsposition auf der anderen Straßenseite erwischt und konnte so den ganzen Schulhof überblicken.

Schultüte oder Tüte in der Schule

„Hm, zu nahe heran zu gehen, das könnte vielleicht gefährlich werden. Einen erwachsenen Mann in der Nähe einer Schule müssten die darauf sensibilisierten Lehrkräfte, jedenfalls positiv gedacht, als Pädophilen oder Drogendealer einstufen. Wieso gelang es überhaupt erwachsenen Dealern unbemerkt in die Nähe der Schüler zu kommen?“, fragte sich Leon und beobachtete möglichst viele Details auf dem immer voller werdenden Pausenhof.

Er merkte, dass er sich die Frage vielleicht gerade selbst beantwortet haben könnte. „Wieso mussten es überhaupt Erwachsene sein. Es wäre doch viel genialer, Gleichaltrige auf den Schulhof zu schicken, um den Stoff unters Schülervolk zu bringen. Juristisch wäre denen sicher nichts anzuhaben, wenn sie erwischt würden. Sie hätten sowieso ständigen Kontakt zur Zielgruppe und deren Vertrauen damit ohnehin. Die Dealer könnten mit dieser Vorgehensweise außerdem schön diskret und sicher im Hintergrund bleiben.“ Leon merkte, dass er mit seinen Gedanken dem Ziel ein wenig nähergekommen sein könnte. Er musste jedenfalls auf die Wechselspiele zwischen den Kiddies viel genauer achten.

„Scheiße, jetzt bräuchte ich ein Fernglas. Aber das würde ganz sicher auffallen. Die Dealer würden wohl kaum mit einer Rundumleuchte auf dem Kopf herumlaufen. Warum sollte ich nicht über den Schulhof in die Schule gehen, um als Vater eines zukünftigen Schülers einmal einige Informationen einzuholen? Das wäre doch unauffällig genug. Nur herumstehend gesehen zu werden, würde viel eher auffallen.“

Leon schmunzelte und setzte sich in Richtung Pausenhof in Bewegung.

Er dachte weiter nach. „Würde es wirklich Sinn machen, den Direktor oder einzelne Lehrer derzeit mit in seine Recherchen einzubeziehen? Vermutlich wären diese nicht sehr begeistert, wenn ausgerechnet an ihrer Schule ein Skandal aufgedeckt werden würde. Sollte er vielleicht lieber mit einem Kriminalbeamten sprechen, wie so etwas normalerweise an einer Schule abläuft? Eigentlich würde nichts dagegensprechen. Die Kripo hätte sicher an allem Interesse, was helfen könnte, die Drogenkriminalität abzubauen.“

Leon merkte, dass er sich zwar am eigentlichen Tatort befand, es ihm vermutlich jedoch rein gar nichts nützen würde. Unauffällig könnte er sich in dieser Gruppe nicht bewegen, dafür war er nun einmal eindeutig zu alt.

Er müsste seine Recherchen woanders fortsetzen und würde vielleicht früher oder später zurückkommen müssen.

Leon lief noch eine Runde über das Schulgelände, nahm einige Eindrücke in sich auf, um dann in sein Erwachsenenleben zurückzukehren.

Da er ohnehin schon in der Stadt unterwegs war, ging er in einem kleinen Schlenker zum Koblenzer Polizeipräsidium. An der Pforte erklärte er sein Informationsbedürfnis zum Thema Drogen.

Der Pförtner telefonierte und sagte: „Oh, da haben Sie wirklich Glück, Herr Walters. Normalerweise geht das ohne Termin hier so gut wie nie. Polizeioberkommissar Matthies hat aber gerade ein paar Minuten Zeit, weil just im Moment eine Zeugenvernehmung ausgefallen ist. 2. Stock, Zimmer 208.“

Leon ging durch den Flur, nahm den Fahrstuhl in den zweiten Stock und klopfte an die Tür von Zimmer Nummer 208. ‚POK Matthies’ war an der Tür zu lesen.

„Herein.“

„Guten Morgen, Herr Oberkommissar. Leon Walters, vom Koblenzer Tageskurier. Vielen Dank, dass Sie sich ein paar Minuten Zeit für mich nehmen konnten.“

Hinter dem Schreibtisch saß ein etwa 45-jähriger, drahtiger Mann mit dunklem Oberlippenbart.

„Ja, Sie hatten Glück, mir ist eben ein Termin ausgefallen und in 30 Minuten habe ich erst den nächsten. Was wirklich Sinnvolles lässt sich mit der kurzen Zeit kaum anfangen. Was kann ich für Sie tun, Herr Walters? Bitte setzen Sie sich doch.“

„Danke! Wir schreiben für unsere Zeitung einen Artikel über Drogen im Schulmilieu und ich dachte mir, Sie als Profi könnten mir sicher einige Tipps und Erfahrungen mit auf den Weg geben, um die Recherchen in die richtigen Bahnen zu lenken.“ Leon versuchte möglichst, ihm viel Honig um den Bart zu schmieren.

„Was wollen Sie mit dem Artikel denn bewirken?“, fragte der Kommissar.

„Wir wollen versuchen darzustellen, wie Dealen an Schulen abläuft, was Eltern vorbeugend tun könnten und so weiter.“

„Das klingt vernünftig. Also, zunächst einmal sollten Sie wissen, dass die typischen Dealer auf dem Schulhof gar nicht auffallen. Das mussten wir über einige Jahre erst einmal lernen. Wir suchten lange nach den Erwachsenen mit den bösen Absichten. Es sind jedoch Klassenkameraden oder die älteren Schüler, die den jüngeren Schülern den Blödsinn mit- und beibringen. Erschreckend, oder?“

Leon musste innerlich schmunzeln. Schließlich hatte er mit einer einzigen Überlegung in wenigen Sekunden offensichtlich ein Rätsel gelöst, was die Polizei Jahre beschäftigt zu haben schien, jedenfalls, wenn die Aussage des Kommissars wörtlich zu nehmen war.

„Natürlich stecken in der weiteren Kette die Erwachsenen, die Dealer, Großhändler und so weiter. Die wirklich dicken Fische laufen leider Gottes nicht einfach auf dem Schulhof herum.“

„Ja, das dachte ich mir. Die machen sich die Hände sicher nicht schmutzig und sitzen schön im Warmen.“ Leon gab sich verständnisvoll.

„Am besten gebe ich Ihnen einmal unsere ganzen Lehrfilme und unser Aufklärungsmaterial und natürlich die Pressemappe mit. Dann könnten Sie sich in aller Ruhe einlesen und falls weitere Fragen auftauchen, machen wir einen gemeinsamen Termin aus. Wie wäre das? Ist das ein Angebot?“

„Ja, vielen Dank, Herr Oberkommissar. Das ist mehr, als ich heute erwartet habe. Das klingt sehr gut. Danke.“

„Dann lasse ich Ihnen alles von meiner Kollegin zusammenstellen und Sie nehmen es gleich mit. Hier ist für alle Fälle meine Karte. Sie wissen ja: die Polizei, dein Freund und Helfer. Wenn Sie vielleicht einfach noch einen kurzen Moment vor der Tür Platz nehmen würden? Die Kollegin bringt es Ihnen gleich.“ Polizeioberkommissar Matthies lächelte freundlich und zufrieden.

Die beiden verabschiedeten sich und nach etwa fünfzehn Minuten brachte eine hübsche, blonde Polizeibeamtin mit Pferdeschwanz das Material in einer Stofftasche und übergab es ihm.

„Wow, das ging ja schnell, vielen Dank. Und, wie ich sehe, gibt es nicht nur Freunde und Helfer, sondern auch sehr nette Freundinnen und Helferinnen.“

„Jep, wir sind auf dem Vormarsch und haben sogar bald die Mehrheit“, sagte sie etwas burschikos, dabei lächelte sie verschmitzt und verschwand gleich wieder.

„Schade, mit der wäre ich gerne mal die eine oder andere Streife gefahren“, dachte Leon neidisch.

Er betrachtete das Paket und merkte, dass nun einige Schreibtischarbeit auf ihn zukommen würde. Nur, irgendwie stand ihm heute nicht mehr der Sinn nach trockenem Aktenstudium. Er verließ das Präsidium und ging zurück zu seinem Wagen. Unterwegs überlegte er, ob er nicht Jennifer Koch und ihrem Sohn einen kleinen Besuch abstatten sollte, und fand diese Idee allemal besser als hinter dem Schreibtisch zu sitzen und zu lesen oder Filme über Drogen anzuschauen. Das könnte er immer noch machen. Also zückte er sein Handy, wählte die Nummer von Jennifer Koch und verabredete sich mit ihr.

In der Höhle des Löwen-Babys

Leon fuhr auf direktem Weg zur Wohnung der Familie Koch, denn Jennifer Koch zeigte sich am Telefon spontan bereit, mit ihm zu sprechen. Schon während des Telefonats waren ihr Druck und ihre Ungeduld spürbar. Er parkte direkt vor dem Haus im Schatten unter einem der Bäume der alleeartig angelegten Straße. Aus einem Mietshaus mit mindestens zehn Mietparteien rief sie schon aus dem dritten Stockwerk vom Balkon.

„Ich mache Ihnen auf, Herr Walters.“

Der Türsummer begrüßte ihn bereits und ließ die Tür aus dem Schloss gleiten. Leon konnte sich so die Suche auf den vielen Klingel- und Briefkastenschildern mit teilweise durchgestrichenen, überklebten oder gar nicht erst vorhandenen Namen ersparen. Das Treppenhaus war düster, schmutzig, voller Fahrräder und roch muffig. Leon ahnte bereits Schlimmes, als er sich die drei Stockwerke des Treppenhauses hochschleppte, denn einen Fahrstuhl gab es nicht.

„Guten Tag, Frau Koch“, sagte Leon etwas außer Puste zu der bereits in der offenen Tür wartenden Jennifer.

„Schön, Sie zu sehen, Herr Walters. Kommen Sie doch herein.“ Sie öffnete die Tür und bat ihn mit einer Handbewegung in die gute Stube. Sie trug noch ihre Küchenschürze, nahm sie ab und legte sie im Vorbeigehen auf einen mit Kleidern bedeckten Stuhl.

„Wir haben es ein wenig eng hier, jedoch für uns zwei reicht es. Klein, aber fein“, versuchte sie, die Lage zu entschuldigen.

Leon war überrascht. Mit so viel Liebe hatte Jennifer Koch ihre kleine Wohnung eingerichtet, dass es von außen und vom Treppenhaus her wie ein Kontrast wirkte. Kurz musste er über diese Fähigkeit der meisten Frauen nachdenken, die dem Durchschnittsmann einfach abging. Alleinlebende Männer hatten ihre Wohnung meist sehr funktional, quadratisch, praktisch und gut eingerichtet. Jedenfalls erlebte dies Leon so.

„Schön haben Sie es hier. Man sieht, wie viel Liebe Sie hier hineingesteckt haben.“

„Danke, das ist nett von Ihnen. Mit dem kleinen Einkommen tue ich, was ich kann. Wollen wir hier im Wohnzimmer Platz nehmen?“

„Gerne. Ich habe noch einige Fragen an Sie und dachte: Auge in Auge geht das besser als am Telefon.“

„Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Einen Kaffee oder Tee oder lieber etwas Kaltes?“

„Ein Wasser wäre nett. Ich bin seit Stunden durch die Stadt gelaufen.“

„Kein Problem, bin gleich wieder da.“

In der Küche hörte er Gläserklirren. Kurz darauf kam Jennifer Koch mit zwei Gläsern und einer Flasche Wasser zurück und goss Leon und sich ein Glas Wasser ein.

„Danke.“ Leon nahm einen Schluck und lehnt sich im Sessel ein wenig zurück.

„Was kann ich denn für Sie tun, Herr Walters?“, fragte sie ungeduldig und auch spürbar ein wenig nervös.

„Es ist gar nicht so einfach, in der Schule an die entsprechenden ‚Zielpersonen’, wie wir sagen, heranzukommen. Ich müsste ein wenig mehr Informationen über Julian, seine Clique und sein Umfeld haben. Das würde mir die Arbeit vielleicht erleichtern“, erwiderte Leon und nahm einen Schluck Wasser.

„Klar, gerne. Was wollen Sie wissen?“

„Vielleicht erzählen Sie einfach ein wenig über die Kindheit von Julian, vor, während und nach der ADHS-Diagnose.“

„Okay. Also, von Achims Unfall, dies alles hatte ich Ihnen ja bereits erzählt. Er war meist auf Montage, hatte gut verdient und so konnte ich mich ganz der Erziehung von Julian widmen. Wir haben viel miteinander unternommen und hatten viele Kontakte zu anderen Familien. Es ging uns gut, würde ich sagen. An die Abwesenheit von Achim hatten wir uns mittlerweile gewöhnt. Wir kannten es praktisch gar nicht anders. Julian entwickelte sich ganz normal und prächtig. Im Kindergarten gab es nie Probleme und auch nach der Einschulung lief es gut.“

„Es fing wirklich alles erst nach dem Unfall an?“, fragte Leon interessiert und ein wenig erstaunt.

„Ja, ich denke schon. Vorher ist mir jedenfalls nie etwas bei Julian aufgefallen. Natürlich waren wir als relativ junges Paar vielleicht nicht so abgesichert, wie es hätte sein sollen. Achim hatte ja nie Zeit. ‚Später’, hat er immer gesagt. Tja, und dazu kam es dann nicht mehr. Die Firma hatte eine kleine Lebensversicherung abgeschlossen und wir bekamen Witwen- und Waisenrente. Wirklich üppig ist das nicht, das kann ich Ihnen sagen. Die genossenschaftliche Unfallversicherung weigerte sich zu zahlen, weil sie darin eine grobe, selbst verschuldete Missachtung von Sicherheitsbestimmungen zu sehen glaubte. Damals haben wir erst richtig gemerkt, wie gut Achim vorher verdient hatte.“

„Lassen Sie mich raten. Sie mussten sofort arbeiten gehen, um die Familie über Wasser zu halten?“

„Genau so war es. Julian hatte also nicht nur den Tod seines Vaters zu verkraften, sondern die Mutter, die vorher tagtäglich um ihn herum war, musste außerdem immer häufiger im Schichtdienst zur Arbeit. Julian musste in den Hort.“ Jennifer Koch schaute traurig zu ihm hin und wirkte schuldbeladen bei diesen letzten Sätzen.

„Sie waren Julian trotzdem eine gute Mutter. Sie waren schließlich zu einem hohen Anteil für ihn da. Was haben Sie überhaupt gearbeitet, wenn ich fragen darf?“

„Nichts Besonderes. Im Schichtdienst an der Maschine, Schraubenproduktion. Wir mussten die Schrauben auf Qualität überprüfen und anschließend verpacken. Früher hatten das Maschinen gemacht. Doch die Neuanschaffung, der in die Jahre gekommenen Prüf- und Sortiermaschinen, konnte sich die kleine Firma nicht leisten. Menschliche Arbeitskraft war dort plötzlich wieder gefragt. Zu einem Hungerlohn, natürlich. Die Arbeitszeiten wurden leider immer weiter ausgedehnt und ich war oft nicht zu Hause. Flexibilität wurde von allen Mitarbeitern selbstverständlich erwartet. Es spielte keine Rolle, dass ich eine alleinerziehende Mutter war. Wir brauchten das Geld. Zu allem Überfluss hatten sie mir nach kurzer Zeit die Witwenrente gekürzt. Ich würde zu viel verdienen, hieß es. Dass ich nicht lache.“

„Ja, gerecht ist die Welt nicht. Das fällt mir leider oft auf“, sagte Leon.

„Julian wurde immer zappeliger, träumte in der Schule, fiel in den Leistungen ab. Das ganze volle Programm. Können Sie sich vorstellen, wie sich eine Mutter dabei fühlt?“

„Ich glaube schon. Auf jeden Fall nicht gut.“

„Das können Sie laut sagen. Und einige Supermamis sagten mir obendrein: ‚Aufmerksamkeitsdefizit kann man zweiseitig sehen. Die Kinder haben nicht nur eines, sondern sie bekommen außerdem zu wenig Aufmerksamkeit.’ Ja, das hat mich echt aufgebaut. Danke! Und die Klassenlehrerin stieß ins selbe Horn.“

„Ja, das glaube ich. So eine Übermami kann einem das Leben sicher noch schwerer machen. Der Lehrerin könnte ich noch zugutehalten, sie hat es für Julian vielleicht sogar gut gemeint. Jedenfalls gingen Sie unter diesem Druck mit Julian zum Arzt?“

„Zum Kinder- und Jugendpsychiater. Der machte einige kurze Tests und sagte nach zwei Sitzungen, es sei ganz klar ADHS. Julian habe da eine Stoffwechselstörung und brauche dringend ein Medikament. Sicher habe auch der Tod von Achim mit dazu beigetragen, aber es sei ganz sicher auch ein biologisches Problem im System der Neurotransmitter. Es gäbe da ein neues Medikament und im Handumdrehen hätte ich wieder den lieben, konzentrierten, ausgeglichenen Julian. Tja, was hätten Sie gemacht?“

„Ich weiß es nicht. In dieser Situation habe ich zum Glück nie gesteckt“, antwortete Leon.

„Dann danken Sie Gott dafür. Möge es auch so bleiben. Es ist wirklich nicht leicht.“

„Wie ging es Julian eigentlich unter dem Medikament? Wurden die Probleme damit wenigstens beseitigt oder verringert?“ Leon schaute fragend zu Jennifer Koch.

Er hörte jemanden die Wohnungstür öffnen.

„Ah, jetzt können Sie ihn gleich selbst fragen, wie es sich angefühlt hatte. Julian kommt nach Hause.“

„Das trifft sich ja prima“, sagte Leon.

„Julian, Julian, kommst du mal, wir haben Besuch.“

Der junge Mann kam widerwillig und mit mürrischem Gesichtsausdruck ins Zimmer.

„Lass mich in Ruhe, ich bin müde.“

„Julian, sag doch wenigstens Hallo zu Herrn Walters. Er …“

„Ist mir doch egal, wen du wieder hier herumsitzen hast.“

„Julian“, sagte Jennifer Koch mit fester Stimme.

„Lassen Sie nur, ist schon in Ordnung.“ Leon wollte sie trösten. Er merkte, wie peinlich ihr diese Situation war.

Julian ging ohne ein weiteres Wort in sein Zimmer und knallte die Türe zu.

Um die Situation ein wenig zu entkrampfen, bot Leon an, mit Jennifer Koch etwas essen zu gehen. Nach alldem fühlte sie sich nachvollziehbar nicht imstande, Julian jetzt allein zu lassen.

„Er macht dann nur wieder eine Dummheit. Lassen Sie uns das Gespräch auf morgen verschieben. Dann können wir, wenn Sie möchten, gerne eine Kleinigkeit essen gehen.“

„Gut, sagen wir morgen um 12:00 Uhr beim Italiener in der Altstadt? Kennen Sie den, ganz in der Nähe vom Rathaus?“, fragte er.

„Klar, ich werde dort sein. Danke für Ihr Verständnis“, kam, ohne lange zu überlegen, von ihr die Antwort.

„Machen Sie sich darüber mal keine Gedanken. Wir waren doch alle einmal jung, oder?“ Leon lächelte und verließ die Wohnung. „Ich finde schon allein hinaus“, sagte er abschließend, bevor er wieder die Treppen hinunterging.“

Leon fuhr noch einmal in die Redaktion, um eine kurze Zusammenfassung der bisherigen Recherchen aufzuschreiben. Er wollte danach für heute Feierabend machen, denn er fühlte sich völlig fertig. Das Thema schien nicht ganz spurlos an ihm vorbeizugehen. Die Gefühle der Mutter, die offensichtlich litt, nahmen ihn mehr mit, als er sich eingestehen wollte. Für den Abend müsste er sich dringend einer fröhlicheren Beschäftigung widmen.

Als er von der Arbeit nach Hause kam, ging er zunächst eine Runde joggen. Seit einiger Zeit bewohnte er eine Jugendstilvilla in Koblenz-Oberwerth mit Rheinblick und nur einige hundert Meter vom Rhein entfernt. Er lief gerne abends einfach immer am Fluss entlang und versuchte auf diese Art, von den Themen des Tages abzuschalten. Heute erwartete ihn eine viel schönere Überraschung, die er besser fand, als einfach nur zu joggen.

Er war bestimmt seit einer halben Stunde immer kerzengerade am Rhein entlanggelaufen. Seine Aufmerksamkeit auf die Außenwelt war trotz der schönen Landschaft, die er wie seine Westentasche kannte, auf ein Minimum reduziert, als ihm eine hübsche Joggerin entgegenkam. Schlagartig funktionierten alle Sinnes-Systeme auf Anhieb. Auf einige Meter an ihn herangekommen, erkannte er die junge, hübsche Polizeibeamtin, die ihm die Unterlagen im Präsidium zusammengestellt hatte.

„Ah, das ist ja eine schöne Überraschung“, sagte er lächelnd und ein wenig außer Puste.

„Herr Walters, wie schön, Sie machen Sport am Rhein?“ Die blonde Polizeibeamtin war stehen geblieben und lächelte. Das Treffen schien ihr nicht unangenehm.

„Wollen wir nicht ein paar Meter zusammen weiterlaufen?“, fragte Leon. „Dafür dürfen Sie gerne ‚Leon’ und ‚Du’ zu mir sagen.

„Warum nicht, Leon? Sophie, Sophie Tillmann.“

„Als Polizeibeamtin müssen Sie sicher trainieren, um immer fit zu bleiben?“ Leon versuchte ein Gespräch in Gang zu bringen.

„Oh ja, es ist ja praktisch meine beste Lebensversicherung. Es heißt entweder schnell genug einem Verbrecher hinterherzulaufen oder, wenn es ganz dumm läuft, schnell genug wegzulaufen oder auszuweichen.“ Es klang so, als hätte sie die Frage vorher häufiger beantwortet. „Und nicht zu vergessen, für den Kollegen auf Streife bin ich praktisch seine Lebensversicherung und für ihn quasi mit verantwortlich. Stellen Sie sich einmal vor, der wäre fit, verfolgt mit einem Affentempo einen Täter, gerät in einen Hinterhalt und ich laufe 200 Meter hinterher. Das könnte tödlich für ihn enden.“

„Ja, so habe ich es noch nie gesehen. Für mich ist es eine angenehme und gesunde Freizeitbeschäftigung. So schalte ich abends ab“, erklärte Leon. „Wollen wir vielleicht nachher eine Kleinigkeit essen oder trinken gehen?“ Er sah in der netten, hübschen Polizistin eine schöne Freizeitbeschäftigung für den Abend. Mit ihr könnte er die unangenehmen Themen sowohl verdrängen, eventuell genauso gut besprechen, wenn es sich ergeben sollte. Sie war ja quasi vom Fach.

„Na, du gehst aber ran. Wieso eigentlich nicht? Ich muss erst morgen um 14:00 Uhr zur Spätschicht und meine Mitbewohnerin geht mit ihrem Ex ins Kino. Muss man sich mal vorstellen: mit dem Ex. Bescheuert, oder?“

Leon glaubte, so etwas wie ein Singledasein zwischen den Zeilen zu hören, und damit würde der Abend vielleicht doppelt so spaßig.

„Gut, dann treffen wir uns nach dem Duschen? Was hältst du vom Irish Pub?“

„War lange nicht mehr da, könnte mir jedoch gefallen“, entgegnete Sophie spontan.

„Fein, der Abend ist gerettet.“ Leon lächelte über das ganze Gesicht.

„Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben“, antwortete sie schlagfertig.

Das reizte Leon natürlich. Er liebte schlagfertige Frauen.

Das Laufen mit ihr machte ihm wirklich großen Spaß. Sie hatten fast das gleiche Lauftempo und für eine Frau schien sie extrem gut trainiert. Von der wunderschönen Figur her wären die einzigen Steigerungsmöglichkeiten gewesen, hinter ihr herzulaufen, schwimmen zu gehen oder eine Sauna zu besuchen. Doch wer wusste schon, ob das nicht früher oder später im Bereich des Möglichen liegen würde. Diese Gedanken gefielen Leon. Sie unterhielten sich über Koblenz, den Rhein, ihre Hobbys. Es war eine angenehme gemeinsame Stunde, offensichtlich wirklich für beide, wie Leon vermutete. Sie joggten dann an ihrer Wohnung in der Nähe der Koblenzer Altstadt vorbei und sie verabschiedeten sich für ein knappes Stündchen, damit jeder seiner Körperpflege in Ruhe nachgehen konnte. Leon versprach, Sophie wieder zu Hause abzuholen, denn sie wollten zunächst ins Irish Pub gehen und anschließend einfach sehen, wohin sie der Abend vielleicht noch verschlagen würde.

Karaoke im Irish Pub

Leon kam pünktlich an Sophies Haustür und klingelte.

„Moment, ich komme runter.“

„Mein lieber Schwan, hat die sich feingemacht, nicht wieder zu erkennen“, dachte Leon, als Sophie im kurzen Schwarzen aus der Tür trat. Sie konnte es sich wirklich leisten. Leon glaubte, noch nie so hübsche, wohlgeformte lange Beine gesehen zu haben und musste sich bemühen, nicht zu auffällig hinzusehen. Außerdem trug sie ihr langes blondes Haar mit ganz leichten Wellen offen, frisch gewaschen und geföhnt.

„Hast du einen Waffenschein dabei?“, witzelte Leon.

„Wieso, wie meinst du das?“, fragte Sophie scheinheilig lächelnd.

„Na, toll siehst du aus. Dann werde ich heute wohl nicht lange allein das Vergnügen mit dir haben.“

„Keine Sorge, ich bin eine ganz, ganz treue Seele. Wer mich abholt, darf mich bestimmt später wieder nach Hause bringen. Danke für das Kompliment.“ Sie lächelte Leon bei diesem Satz an und er bekam ganz weiche Knie.

„Gehen wir?“, fragte sie.

„Klaro.“ Er bemühte sich, ein wenig den obercoolen Macho zu mimen, in der selbstironischen Variante.

Sie gingen fröhlich lachend bis zum Irish Pub nebeneinander her.

„Leon, mir ist, als würden wir uns schon zwanzig Jahre kennen.“

„Geht mir ebenso und ist mir wirklich ewig lange schon nicht mehr passiert.“

Sie alberten herum wie Teenies und mir nichts dir nichts standen sie vor dem Pub. An der Eingangstür begrüßte sie ein großes Plakat: Heute Abend Karaoke – einfach trauen und mitmachen. Hauptpreis heute: ein Wochenende für zwei Personen, inklusive Flug, Vollpension sowie einem Musikabend in einem Irish Pub in Irland.

„Fliegen wir zusammen nach Irland?“, fragte Leon.

„Aber selbstverständlich. Welches Lied wollen wir denn darbieten?“ Sophie spielte Leons Spielchen mit. Sie ahnte nicht, dass er keine Witze über solche Themen machte.

Die Atmosphäre im Pub war angenehm. Es war nicht zu voll, doch die Stimmung der meisten Gäste schien gut. Sie setzten sich zunächst im Obergeschoss an einen Tisch, von dem aus sie einen guten Blick über alles hatten.

„Na, du hast wohl gerne den Überblick und den Rücken frei, oder?“, fragte Leon.

„Berufskrankheit, wie bei dir, nehme ich an.“ Sie zwinkerte ihm zu.

Sie tranken ein Kilkenny, ein frisch gezapftes irisches Bier, und prosteten sich zu.

„Auf Irland und unseren Sieg, der so sicher kommen wird, wie das Wasser den Rhein hinunterfließt“, sagte Leon mit einem Augenzwinkern.

„Na, dann auf unseren gemeinsamen Irlandurlaub.“

Sie redeten ziemlich viel belangloses Zeug und hatten, für alle sichtbar, großen Spaß dabei. Gegen 22:00 Uhr hörte man dann die Ankündigung des Karaoke-Wettbewerbs.

„Liebe Gäste, wir bitten um Anmeldungen für den heutigen Karaoke-Wettbewerb. Hauptpreis: ein Irland-Wochenende für zwei. Sie fliegen an einem Wochenende Ihrer Wahl mit Flug, Vollpension und erleben einen unvergesslichen Musikabend in einem Irish Pub in Irland. Also trauen Sie sich. Es lohnt sich.“

„Na, dann wollen wir mal.“ Leon ging zur Bar und gab die Anmeldung für ein Duett mit Sophie ab.

„Ich glaub ’s einfach nicht. Hast du wirklich …“ Sophie war fassungslos.

„Klar und wir werden gewinnen. Du wirst es sehen.“ Leon lachte.

Etwa 30 Minuten später begann der Wettbewerb. Auf einem Bildschirm lief der Text der ausgewählten Songs und es gab eine kleine Bühne im Erdgeschoss, auf der die Auftritte stattfanden. Sophie und Leon sollten auf einem der letzten Startplätze, also ziemlich spät, auftreten.

Die nächste Stunde bot allen Gästen ziemlich viel Spaß, doch musikalisch gesehen, auch häufiger schlimme Ohrenschmerzen.

Sophie und Leon hatten sich einen Song ausgesucht, den sie beide kannten und wurden langsam ein kleines bisschen nervös. Immerhin schauten an die 150 Gäste bei ihrem Auftritt zu.

Ihr Lied klang fantastisch. Sie sangen sich gegenseitig an, wie bei einer Liebeserklärung und das Publikum ging begeistert mit.

„We' ve got tonight

Who needs tomorrow?

Let's make it last

Let's find a way

Turn out the light

Come take my hand now

We've got tonight babe

Why don't we stay?

We've got tonight babe

Why don't we stay?“

Ein tosender Applaus ging durch den Raum und allein dafür schon hatte sich die Teilnahme gelohnt. Sie fühlten sich großartig, hatten eine ordentliche Adrenalinausschüttung und spürten einen richtigen Kick. Sie umarmten sich, gaben sich ein Küsschen und gingen unter Applaus von der Bühne und zurück an ihren Platz. Zwei Darbietungen folgten und anschließend wurden die Wertungen der Gäste angenommen und ausgewertet.

„Was meinst du, Leon? Wer fliegt wohl nach Irland?“, fragte Sophie.

„Das fragst du noch? Waren wir nicht großartig? Das müssen wir unbedingt öfters machen. Ich fand es richtig geil.“ Leon kam gar nicht mehr herunter von seinem Hochgefühl.

„Wir waren wirklich gut. Aber einige andere waren, glaube ich, ebenfalls nicht schlecht. Gleich wird es spannend“, sagte sie.

Sie hielten sich gegenseitig die Hände und warteten auf das Ergebnis. Natürlich wurde, wie üblich, von hinten angefangen. Es gab Trostpreise, die rote Laterne für den letzten Platz als Motivationshilfe und für die drei besten Sänger gab es größere Preise.

„Der dritte Preis, ein Wochenende mit einem Porsche und unbegrenzten Kilometern, geht an: Alina mit What a night. Komm auf die Bühne Alina. Sing es noch einmal für uns und viel Spaß mit dem Porsche wünschen wir dir.“

„Oh nein, sagte Sophie. Jetzt dauert es noch länger. Zweiter oder Erster, Wahnsinn. Sie zitterte am ganzen Leib vor Freude und zerrte immer wieder an Leon.“

„Der zweite Preis, einen Monat freier Verzehr hier im Irish Pub in Koblenz für zwei Personen, geht an: Sebastian mit dem Titel Never give up. Auf Sebastian, zeig es uns. Niemals aufgeben. Und überleg dir schon einmal, mit welcher Süßen du den Gutschein einlösen willst. Na, da sehe ich ganz viele Anwärterinnen im Raum.“

„Das gibt’s doch nicht. Wir fliegen nach Irland. Das kann nicht sein. Die haben uns bestimmt vergessen. Sophie hielt vor Freude die Hände vor das Gesicht.“

„Und hier, liebe Gäste sind sie, die Sieger des heutigen Karaoke-Wettbewerbs – das großartige Duo: Sophie und Leon mit einem Duett vom Anfang des Jahrhunderts We’ve got tonight. Ja, ihr habt es geschafft, heute Nacht. Und bei euch gibt es ja auch keine Probleme, wer als zweites in den Genuss der Irlandreise kommt, nicht wahr? Kommt auf die Bühne und natürlich wollen wir auch den Siegertitel noch einmal hören.“

Das Lied klang fast noch besser als beim ersten Mal und wieder sahen sie aus wie ein Liebespaar, das professionell den Titel einstudiert hatte und täglich auf die Bühne brachte.

Es gab einen riesigen Applaus und der Chef des Irish Pubs überreichte die Reiseunterlagen in überdimensionaler Größe an sie, die es immer noch nicht glauben konnten.

Wieder auf ihrem Platz angekommen, wurde ihnen so langsam bewusst, dass sie nun tatsächlich einen Urlaub zusammen verbringen sollten oder mussten, dabei kannten sie sich fast gar nicht. Doch es war ja nur ein Wochenende und sie fanden sich beide wechselseitig sympathisch.

„Ich könnte verstehen, wenn du vielleicht lieber mit deinem Freund fliegen möchtest“, sagte Leon.

„Ich habe keinen Freund“, antwortete Sophie. „So leicht kommst du aus der Nummer nicht mehr heraus, mein Freund.“

Das war die Antwort, die Leon erhofft hatte, sich jedoch niemals zu erträumen gewagt hätte.

„Natürlich kannst du auch gerne mit deiner Freundin …“

„Es gibt keine. Vielleicht sag ich besser: Es gab keine.“ Leon lächelte Sophie an.

„Na, dann werden wir es wohl miteinander in Irland aushalten müssen, wenn du keine bessere Idee hast“, sagte sie.

Sie verbrachten noch einige Stunden im Pub und nach ihrem Auftritt hatten sie plötzlich viele neue Freunde, die mit ihnen darauf anstoßen und mit ihnen am Tisch sitzen wollten. So kam es, dass beide noch ein wenig das Bedürfnis nach Zweisamkeit verspürten, als sie gegen 2:00 Uhr in der Nacht wieder nach draußen gingen. Sie machten einen kleinen Spaziergang in Richtung Deutsches Eck.

„Danke für den schönen Abend, Leon.“

„Ich danke dir. So viel Spaß hatte ich schon lange nicht mehr“, antwortete Leon.

Sie umarmten und küssten sich leidenschaftlich, wie ein verliebtes Paar.

„Es wäre so schön, wenn diese Nacht nie zu Ende gehen würde“, sagte Sophie.

„Warum? Es gibt doch auch schöne Tage, oder?“